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Die Stadt der kurzen Wege kommt

In den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten haben sich Städte immer wieder neu angepasst und neu erfunden: vor dem Hintergrund von technologischen und sozialen Entwicklungen, Kriegen, Epidemien, Naturkatastrophen, aber auch enormem wirtschaftlichen Wachstum, sprunghafter Bevölkerungszunahme und vielem anderen. Auch heute stehen die Städte vor einem hohen Transformationsdruck – besonders im Verkehrssektor. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Klimawandel. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Die Richtung, in die es bei der anstehenden Transformation der Städte gehen soll bzw. muss, ist in der breiten Bevölkerung noch nicht angekommen. Unter Fachleuten und zunehmend auch in der Politik und in den Verwaltungen gibt es hier jedoch inzwischen einen breiten Konsens, auch wenn über das Wie, das Wann und um die Finanzierung noch diskutiert und gestritten wird. Im Kern geht es dabei um die Notwendigkeit, Städte gleichzeitig klimaneutral zu machen und resilienter gegen die Auswirkungen des Klimawandels. Gegen große Hitzewellen mit Rekordtemperaturen und anhaltender Trockenheit, gegen Starkregen, Stürme und über die Ufer tretende Flüsse und Meere. Dazu kommt die demografische Entwicklung mit immer mehr Älteren und, nicht zu vernachlässigen, weitere wichtige Themen wie soziales Miteinander, allgemeine Lebensqualität und als Kernpunkt bezahlbare Mobilität für alle.

77 %

der Menschen in Deutschland
leben in Städten oder Ballungszentren.

Städte und Umland neu denken

Statistisch gesehen leben fast 70 Prozent aller Deutschen in Orten mit weniger als 100.000 Einwohnern. Warum also, so könnte man fragen, liegt der Fokus auch hierzulande auf den urbanen Zentren? Die Antwort liegt darin, dass im dicht besiedelten Deutschland mit 230 Menschen pro Quadratkilometer nicht klar abzugrenzen ist, wo die Stadt endet und wo das Land beginnt. 77 Prozent der Menschen leben in Städten oder Ballungsgebieten und nur 15 Prozent in Dörfern mit weniger als 5.000 Einwohnern. „Wir haben eine urbanisierte Gesellschaft. Das gilt auch für den ländlichen Raum“, sagt die Geografie-Professorin Ulrike Gerhard von der Universität Heidelberg. „Stadt und Umland gehören zusammen.“ Die Lebensweisen unterschieden sich kaum, Pendlerströme flössen in beide Richtungen. Das gilt in besonderem Maße für Kleinstädte und Dörfer in der Umgebung von Großstädten. Sie prosperieren, während anderswo ganze Regionen massiv unter Landflucht leiden. Vor diesem Hintergrund macht es sicher Sinn, sich über die Funktion von Städten und ihren Problemen Gedanken zu machen.
Einen anderen Ansatz stellen Stephan Jansen und Martha Wanat in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Bewegt Euch. Selber! Wie wir unsere Mobilität für gesunde und klimaneu-trale Städte neu erfinden können“ in den Mittelpunkt. Hier heißt es: „Städte sind die Stätten des Stresses, des Klimawandels, der Pandemien, aber eben seit ihrer Gründung auch die Orte der ganzheitlichen Gesundheit und der Innovation und Transformation für das, was wir Fort-Schritt nennen. Städte verdichten Probleme der Gesellschaft – und sind zugleich Lösungslabore dieser Probleme.“ Anknüpfend an Vordenker wie Prof. Dr. Jan Gehl (u.a. „Städte für Menschen“), Mikael Colville-Andersen (u.a. Copenhagenize) oder Prof. Dr. Carlos Moreno (Konzept 15-Minuten-Stadt) vertreten sie zudem ein Konzept, in dem die Rolle der Mobilität auf eine andere Art definiert wird. „Mobilität ist wichtig, weil sie überall verfügbar sein sollte, aber sie sollte nicht im Mittelpunkt stehen, so wie wir das mit dem Auto in den letzten 100 Jahren getan haben“, so Martha Marisa Wanat. „Im Vordergrund sollte immer das Soziale sein und immer die Lebensqualität der Bewohner*innen des Quartiers – mit Spiel- und Sportplätzen, Grünflächen, Cafés und Läden für Dinge des täglichen Bedarfs.“ Tatsächlich lässt anhand der Vergangenheit gut zeigen, wie sehr die Zunahme des Autoverkehrs dazu beigetragen hat, nachbarschaftliche Beziehungen zu zerstören, Rad- und Fußverkehr zu behindern und das Aussterben der Nahversorgung vor Ort voranzutreiben.

„Mobilität sollte nicht im Mittelpunkt stehen, so wie wir das mit dem Auto in den letzten 100 Jahren getan haben. Im Vordergrund sollte immer das Soziale sein und immer die Lebensqualität der Bewohner*innen des Quartiers.“

Martha Marisa Wanat

Gesunde Stadt der kurzen Wege

Anfang des Jahres hat AGFS-Vorständin Christine Fuchs im Veloplan-Interview (Ausgabe 01/2022) die neuen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e.V. beschrieben. „Unsere Vision ist die einer gesunden Stadt. Die Frage ist, wie vereinbaren wir die Bedürfnisse der Nahmobilität mit einer grünen Infrastruktur (…) sowie einer blauen Infrastruktur, mit der wir für eine Bewässerung sorgen und Städte besser vor Hochwasser schützen.“ Nicht zu vergessen seien neben Umweltgesichtspunkten auch Umfeldthemen, also Aufenthaltsqualität, Stadt der kurzen Wege, Bewegung, Sicherheit etc. „Wir vertreten die Auffassung, dass sich die Nahmobilität und die grüne und blaue Infrastruktur hervorragend ergänzen.“
Wie das aussehen kann, hat Carlos Moreno, Professor für komplexe Systeme und intelligente Städte an der Pariser Sorbonne ausgearbeitet und zusammen mit der Bürgermeisterin von Paris Anne Hidalgo in Teilen in der französischen Hauptstadt bereits umgesetzt. Die Stadt der Nahmobilität oder der kurzen Wege ist für ihn eine 15-Minuten-Stadt, das heißt alles, was die Menschen benötigen, ist innerhalb von einer Viertelstunde ohne Auto erreichbar – für das Umland geht er von 30 Minuten aus. Dieses Konzept beschreibt er als einen neuen, „holistischen“ Ansatz: Zum einen würde damit der nachhaltige Konsum in der Nachbarschaft gefördert und zum zweiten die Lebensqualität in den Quartieren und Stadtvierteln bleibend erhöht. Mit dem Konzept verbunden ist für ihn die Notwendigkeit, angesichts der Klimakrise unsere Gewohnheiten zu ändern. “Wir müssen einen neuen Lebensstil entwickeln“, erläutert Prof. Moreno. Die polyzentrische 15-Minuten-Stadt sei mit verschiedenen kaskadierenden Effekten dazu der richtige Weg. „Wir müssen einen neuen Weg aufzeigen, wir brauchen Transformation und wir brauchen ein Bekenntnis dazu.“

Die achtspurige Avenue des Champs Élysées zählt wohl zu den bekanntesten Stadtstraßen der Welt. Bis 2030 soll dort der Autoverkehr weitgehend verdrängt werden.

Großer Veränderungsdruck

„Die Politik und die Bevölkerung sind in Deutschland sehr träge, wenn es um Veränderungen im Verkehr geht“, sagt Lars Zimmermann vom Hamburger Büro Cities for Future. „Aber der Veränderungsdruck ist da und vielen ist klar, dass die Veränderungen viel schneller und stärker passieren müssen.“ Die Mission des Büros ist es, Städten, Gemeinden und Unternehmen zu helfen, die Klimaziele zu erreichen und damit gleichzeitig lebenswertere Städte zu gestalten. Für Lars Zimmermann, der fast ein Jahrzehnt in den Niederlanden gelebt hat, ist der Wandel möglich und machbar: „Die Zukunftsvision für Deutschland ist in den Niederlanden bereits Realität!“ Letztlich käme es auf den Willen an. „Der Wandel ist möglich, aber wir brauchen ein ganz anderes Tempo.“ Letztlich hätte die Corona-Pandemie eindeutig gezeigt, was alles machbar sei, wenn man Veränderungen wolle. Diese Erkenntnis lasse sich auch auf andere Bereiche übertragen. Dem Radverkehr müsse im Rahmen einer Gesamtstrategie eine höhere Priorität eingeräumt werden als dem Autoverkehr. Radfahren müsse als einfachste, logischste und selbstverständlichste Verkehrsart etabliert werden, die für alle den größten Benefit bietet. Insgesamt sieht er große Chancen für einen grundlegenden Wandel. „Die Ausgangsvoraussetzungen für Veränderungen waren noch nie so gut.“

Unternehmen reagieren

Den Veränderungsdruck spüren mittlerweile nicht nur Fachleute aus den Bereichen Stadtplanung und Verkehr oder Lokalpolitiker; auch die Unternehmen sehen für sich und mit Blick auf die Kundinnen und Kunden einen deutlichen Veränderungsbedarf. Bei größeren Unternehmen spielen dabei die ESG-Kriterien (Environmental Social Governance, deutsch: Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) der Vereinten Nationen bzw. die daraus resultierenden Maßnahmen der EU eine immer größere Rolle. Unternehmen müssen sich heute beispielsweise fragen, wie die Umweltbilanz ihres Fuhrparks aussieht oder wie die Mitarbeitenden ins Unternehmen kommen. Die Deutsche Telekom arbeitet beispielsweise aktuell an einer App für Mobility as a Service und will ab dem 1. Januar 2023 bei neuen Geschäftsfahrzeugen ausschließlich auf Elektromodelle setzen.
Auch der Handel sieht mehr und mehr die Notwendigkeit für kurze Wege und gute Erreichbarkeit ohne Auto. Beispiel Ikea: Statt großflächiger Häuser auf der grünen Wiese gibt es jetzt sogenannte Planungsstudios, die eine Brücke bauen zwischen dem Angebot im Internet und dem Erlebnis vor Ort. In den wenige Hundert Quadratmeter großen Geschäften wird ein ausgewähltes Sortiment gezeigt, inklusive Musteroberflächen oder -stoffen. Kunden können sich beraten lassen, planen und sich die ausgesuchte Einrichtung, alternativ zur klassischen Abholung, bequem nach Hause liefern oder auch direkt aufbauen lassen. Andere Anbieter, wie die Rewe-Gruppe, arbeiten im Lebensmittelhandel mit innovativen Filialkonzepten und speziell auf die Bedürfnisse vor Ort ausgerichteten Angeboten. Dazu gehören Mini-Shops in hochfrequentierten Lagen, wie Einkaufsstraßen, Bahnhöfen oder Tankstellen, ebenso wie Geschäfte mit einem breiten Feinkost-Sortiment und angeschlossener hochwertiger Gastronomie, die auch gut situierte Kunden zum Stöbern und Verweilen einlädt. Auch die Discounter drängen inzwischen in die Innenstädte und passen das Konzept und das Sortiment entsprechend an. Statt Großpackungen und Einkaufswagen gibt es alles für den täglichen Bedarf, Frischwaren und auch gekühlte Getränke. Dem Vernehmen nach arbeitet man sowohl bei Aldi als auch bei der Schwarz Gruppe (Lidl und Kaufland) mit Hochdruck daran, bestehende Filialen mit großen Parkflächen zu Lade- und Mobilitätsstationen auszubauen und viele kleine Filialen neu in den Vierteln und nah bei den Menschen zu eröffnen.

Die urbane Zukunft kommt

Wie sehen Städte und Stadtzentren künftig aus? Was folgt nach dem Niedergang der großen Kaufhäuser und wie gestaltet man die Transformation? Auch hier lohnt sicher ein Blick in die französische Hauptstadt. Bis 2030 zu den Olympischen Spielen in Paris 2024 soll die viel befahrene Champs-Élysées für 250 Millionen Euro komplett umgestaltet und zu dem werden, was sie einmal war: eine Prachtstraße mit viel Platz zum Flanieren und Verweilen – nicht nur für Touristen, sondern auch wieder für die Einwohner der Stadt. Wer nicht so lange warten will, kann sich auch bei der „Urban Future 2023“ informieren. Europas größtes Event für nachhaltige Städte findet im kommenden Jahr vom 21. bis 23. Juni in Stuttgart statt. Zur hochkarätigen Konferenz, auf der sich „Zukunftsmacher“ und „top-level city leaders from hundreds of cities in Germany, Europe and beyond“ treffen, werden 2.500 Gäste erwartet. Mehr unter urban-future.org


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