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„Die Kommunen haben einen Schatz an Menschen und Ideen“

Was bürgerliches Engagement alles für eine Stadt bewegen kann, das hat Reinhold Goss, frisch gewählter „Bicycle Mayor“ in Köln, bereits als Mitinitiator und Sprecher der Initiative #RingFrei bewiesen, die 2019 mit dem Deutschen Fahrradpreis ausgezeichnet wurde. Aber das soll erst der Anfang sein. Für ihn kann und sollte Köln mithilfe von breitem zivilgesellschaftlichen Engagement bis 2025 Fahrradhauptstadt werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


In seiner Freizeit ist Reinhold Goss gerne auf dem Rad unterwegs – hier auf der Critical Mass mit einem E-Cargobike des Kölner Sharinganbieters Donk-ee.

Wie kommt man zum Ehrenamt als Bicycle Mayor von Köln und was sind Ihre Ziele?
Es gab viele Menschen, die mich dabei unterstützt haben. Ich freue mich sehr, für zwei Jahre diesem global agierenden Netzwerk anzugehören, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Ausbau des Radverkehrs in Städten zu beschleunigen, indem die Rolle der Zivilgesellschaft besonders hervorgehoben wird. Ich bin übrigens zusammen mit Dr. Ute Symanski, die als Mitinitiatorin der Radkomm-Konferenz und der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ bekannt ist, als Doppelspitze für dieses Amt angetreten. Leider war das aber aus formalen Gründen nicht möglich. Zu den Zielen: Das größte ist sicherlich, Köln bis 2025 zur deutschen Fahrradhauptstadt zu machen.

Köln ist nicht nur als Standort für Automobilbauer und Motorenproduzenten, sondern auch sonst als Autostadt bekannt. Ist das Ziel Fahrradhauptstadt nicht sehr ambitioniert?
Köln hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer autogerechten Stadt entwickelt. Damals wurden die engen Straßen radikal verbreitert und der Autoverkehr hatte Vorrang vor allem anderen. Inzwischen sehen das die Menschen in der Innenstadt anders, über 60 Prozent der Haushalte haben kein eigenes Auto mehr. Dazu kommt, wenn wir den Klimaschutz und die vereinbarten Ziele ernst nehmen, dann sind wir praktisch zum Erfolg verdammt. 2019 war das heißeste Jahr in der Geschichte Europas und Köln war, gemessen an der Durchschnittstemperatur, der wärmste Ort in Deutschland. Wir müssen die Stadt also für die Zukunft konsequent umbauen, unter anderem mit mehr als 50 Prozent Radverkehr und doppelt so vielen Bäumen.

Die gleiche Stelle an den Kölner Ringen. Nach der Umgestaltung gibt es einen klar sichtbaren geschützten Raum für Radfahrende.

Wie würden Sie Ihre Ziele als Fahrradbürgermeister am besten beschreiben?
Fortbewegung muss Spaß machen oder zumindest als angenehm empfunden werden, egal ob es um den Weg zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen oder zu Freunden geht. Dafür brauchen wir eine Infrastruktur, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt – eine solche Infrastruktur verzeiht Fehler. Das ist wirklich wichtig! Außerdem kennt jeder das Sprichwort: „Man kann einem alten Hund keine neuen Tricks beibringen“ – es beschreibt ganz gut unsere besondere Verantwortung, sichere Möglichkeiten für Kinder zu schaffen, ihre Stadt zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu entdecken.

Wollen die Menschen in der Stadt überhaupt mehr Radverkehr?
In den letzten Jahren hat sich hier eine Menge für den Radverkehr getan. Die laufende Umgestaltung der Kölner Ringe auf 7,5 Kilometern mit breiten Fahrradwegen und durchgehend Tempo 30 war sicher ein wichtiger Meilenstein. Wen ich heute mit den Menschen spreche, dann ist mein Eindruck, niemand will zurück. Die allermeisten wollen sogar, dass es schneller vorangeht beim Umbau hin zu mehr Radwegen, auf denen sich auch Schüler und Senioren sicher fühlen, und hin zu mehr Lebensqualität.

Vielfach wird darüber geklagt, dass die Stadt unattraktiver würde, wenn man das Autofahren zurückdrängt.
Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen intelligenter mit dem zur Verfügung stehenden Raum umgehen. Ein Beispiel: Vielfach wird die potenziell mangelnde Erreichbarkeit von Geschäften per Auto als kritisch angesehen. Dabei zeigen die Daten, dass ein bedeutender Teil des Verkehrs in der Innenstadt reiner Durchgangsverkehr ist. Im Klartext: Wenn es auf der Autobahn einen Stau gibt, leitet das Navi die Autofahrer mitten durch die Stadt. Und was die Parkplätze angeht. zeigen Untersuchungen, dass die Parkhäuser nicht ausgelastet sind, während auf der Straße auch Fahrradstreifen und Lieferzonen zugeparkt werden. Hier spielen sicher das oft geringe Entdeckungsrisiko und niedrige Bußgelder eine Rolle.

Manche Geschäfte klagen, ihr Kunden könnten sie nicht mehr erreichen.
Für mich gehört das mit zu den immer wieder gerne wiederholten Mythen. Kurz vor einem Ladengeschäft zu parken, ist auch heute legal praktisch unmöglich und andere Städte wie Maastricht zeigen, dass die Menschen sehr gerne vom Parkhaus zu Fuß zum Geschäft gehen und die Aufenthaltsqualität genießen. Auch hier ändert sich inzwischen einiges, denn die Ladenbesitzer registrieren sehr genau, dass ein besseres Umfeld zu höheren Umsätzen führt. Dazu kommt, dass sie auch selbst gerne mit dem Fahrrad kommen und die Situation damit durch eine neue Brille sehen.

„Wir müssen die Stadt für die Zukunft konsequent umbauen, unter anderem mit mehr als 50 Prozent Radverkehr und doppelt so vielen Bäumen.“

Mehr Platz für Radfahrende durch bis zu 2,50 m statt 0,95 m Breite und mehr für zu Fuß Gehende durch die Führung auf der Straße.

Aktuell hat man den Eindruck, dass Konflikte zwischen Autofahrenden und Radfahrenden, aber auch zwischen Radfahrenden und zu Fuß Gehenden zunehmen. as kann man dagegen tun?
Grundsätzlich geht es meiner Erfahrung nach vor allem darum, mehr gemeinsame Sache zu machen und nicht zu spalten. Konkret verzeichnen wir in der Pandemie einen starken Anstieg im Rad- und Fußverkehr. Das führt natürlich zu Konflikten, wenn es nicht mehr Raum gibt. Das haben wir übrigens auch vorher schon auf den Kölner Ringen so gesehen. Wichtig ist auch, zu realisieren, dass wir alle Fußgänger sind und viele sowohl Auto- und Radfahrer. Lösungen wären relativ schnell möglich. So könnten zum Beispiel schnell Pop-up-Radwege eingerichtet werden, um die Situation auf gemeinsam genutzten Wegen zu entspannen. Für mehr Sicherheit könnte Tempo 30 angeordnet werden und mehr Fahrradstraßen könnten entstehen.

Damit würde dem Autoverkehr allerdings wieder Platz weggenommen. Ist das akzeptabel?
Neben verkehrstechnischen Belangen wird es immer wichtiger auch ökologische, stadtklimatische, ökonomische, gesundheitspolitische und soziale Aspekte zu berücksichtigen. Dazu muss man natürlich zuerst Daten erheben und mit Zielen verknüpfen. Ein Beispiel aus der Praxis: ehrenamtliche Aktivisten erstellen regelmäßig auf Basis öffentlich verfügbarer Daten Analysen. So entstand erstmals eine Karte, auf der die Bildungseinrichtungen im Umfeld der Kölner Ringe erfasst wurden.

„Es gibt eine Menge an fachlichem Know-how und den Willen, sich in die Materie einzuarbeiten. Zudem kennen Bürger die Situation vor Ort oft am besten.“

Wie viele Bildungseinrichtungen gibt es entlang der Kölner Ringe und welche Schlüsse kann man daraus für den Verkehr ziehen?
Bei der Analyse kam man auf über 80 Bildungseinrichtungen, darunter die Technische Hochschule, eine Gesamtschule, Gymnasien, Berufsschulen und verschiedene private Bildungsträger. Viele Schüler, Studenten und Lehrkräfte kommen aus dem Nahbereich mit dem Fahrrad. Trotzdem wurde dem Durchgangsverkehr bislang eine deutlich höhere Priorität eingeräumt. Das müssen wir schnell ändern.

Brauchen Städte mehr Mitarbeit von ehrenamtlichen Aktivisten?
Wenn man schnelle Veränderungen anstrebt, und die brauchen wir, wenn wir auf die Klimaziele schauen, dann auf jeden Fall. Die Kommunen haben einen Schatz an Menschen und Ideen. Es gibt eine Menge an fachlichem Know-how und den Willen, sich in die Materie einzuarbeiten, zum Beispiel beim ADFC, beim VCD oder beim Verein Fuß e. V. Zudem kennen Bürger die Situation vor Ort oft am besten.

Wie kann man das ehrenamtliche Engagement mit einbinden?
Unsere Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat eine Verwaltungsreform angeschoben, die vieles verbessert. Darüber hinaus gibt es die berechtigte Forderung nach mehr Offenheit der Verwaltung nach außen, um das enorme Potenzial zu heben und deutlich schneller voranzukommen bei der Planung und Umsetzung. Es lohnt sich, mit möglichst vielen Gruppen, Parteien und Organisationen in den Dialog zu treten und zu bleiben. Man könnte zum Beispiel Aktivisten ein Planungsbüro zur Seite stellen, um zu konkreten und fachlich fundierten Vorschlägen zu kommen.

Weltweites Netzwerk der Fahrradbürgermeister

Das Bicycle Mayor Network ist nach eigener Definition eine globale Initiative, um den Fortschritt des Radverkehrs in Städten zu beschleunigen, indem es die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Durchsetzung dauerhafter, gemeinschaftlich getragener Veränderungen hervorhebt und unterstützt. Bicycle Mayors sollen „Change-Maker“ und das „menschliche Gesicht und die Stimme der Radverkehrsförderung“ in einer Stadt sein. Dabei geht es nicht nur um Mobilität, sondern auch darum, die Umweltverschmutzung zu bekämpfen, die Zahl der Verkehrstoten zu senken, Gemeinschaften zu stärken, soziale Barrieren abzubauen und einen besseren Zugang zu wichtigen Dienstleistungen und wirtschaftlichen Möglichkeiten zu gewährleisten. Das Netzwerk wurde 2016 mit Amsterdams erstem Fahrradbürgermeister ins Leben gerufen und ist seitdem auf über 100 Botschafter aus Städten in mehr als 30 Ländern angewachsen.

Reinhold Goss

ist selbstständiger IT-Consultant und war lange Zeit Vorsitzender der Kölner Stadtschulpflegschaft, also der Vereinigung der Elternvertretungen aller Kölner Schulen. Zum Thema Sicherheit für Radfahrer kam der passionierte Amateur-Rennradfahrer durch mehre schwere und zum Teil tödliche Unfälle in der Kölner Innenstadt, verursacht durch abbiegende Lkws und Imponierfahrten von Autofahrern und illegale Straßenrennen. Zu den prominentesten Raseropfern gehört dabei der Sohn des damaligen Kölner Oberbürgermeisters Fritz Schramma, der 2001 an den „Ringen“, der überregional bekannten Amüsier- und Flaniermeile, als unbeteiligter Fußgänger ums Leben kam.
Er ist Mitinitiator und Sprecher der mit dem Deutschen Fahrradpreis ausgezeichneten Initiative #RingFrei, die sich für Tempo 30 und einen umfassenden fahrrad- und fußgängerfreundlichen Umbau der Ringstraße entlang der ehemaligen Stadtmauer einsetzt und ist bestens auch über die Radverkehrsszene hinaus vernetzt. Als Bicycle Mayor für Köln hat sich der engagierte und ausdauernde Netzwerker unter anderem vorgenommen, den Dialog mit Organisationen zu suchen, die dem Radverkehr eher skeptisch gegenüberstehen, neue Projekte wie die Fahrradrikscha-Initiative „Radeln ohne Alter“ voranzutreiben und die Themen Vision Zero und sichere Schulwege für Kinder und Jugendliche als Ziele zu verankern.


Bilder: Radkomm – verenafotografiert.de, Reinhold Goss – privat, Reinhold Goss – #RingFrei, Qimby – Reinhold Goss – #RingFrei, Screenshot bycs.org, Reinhold Goss – privat