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Die Verkehrswende braucht mehr Schönheit

Gut gestaltete, schöne Räume beeinflussen das Verhalten der Menschen. Wege und Warteräume für Fußgänger, Radfahrer sowie Bus- und Bahnreisende sind jedoch im besten Fall praktisch. Mehr Schönheit im öffentlichen Raum kann ein Booster sein für den Umweltverbund. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Öffentliche Räume verwandeln: Vor der Gestaltung wurde die Unterführung als öffentliche Toilette missbraucht. Heute lassen sich dort Hochzeitspaare fotografieren.

Lange Zeit wurde die Unterführung des Brooklyn-Queens-Expressway in New York von den Besuchern der umliegenden Bars als öffentliche Toilette missbraucht. Das endete, als die Designer Stefan Sagmeister und Jessica Walsh die Tunnelseiten schick gestalteten, mit dem Schriftzug „Yes“ als Blickfang. Die Gestaltung veränderte die Atmosphäre des Ortes und gab ihm ein komplett neues Image. Die Unterführung ist bei Passanten und Touristen beliebt. Mittlerweile lassen sich sogar Hochzeitspaare vor dem Schriftzug fotografieren. Als Pissoir wird sie nicht mehr genutzt.
„Schönheit kann uns verwandeln. Sie kann verändern, wie wir uns fühlen und wie wir uns benehmen“, erklären Walsh und Sagmeister in ihrem Buch „Beauty“. Aus ihrer Sicht gilt das sowohl für Gegenstände des Alltags als auch für die Stadt- und Verkehrsplanung. In der Forschung, Planung oder dem Design von Mobilität taucht der Begriff „Schönheit“ jedoch praktisch nie auf. Er ist Wissenschaftlern zu unpräzise. Aber auch sie beobachten und erforschen sehr genau, wie Fuß- oder Radwege, Warteräume und auch Stadtmöbel wirken. Der Mensch mit seinen Bedürfnissen und seinen Emotionen rückt zunehmend in den Mittelpunkt, wenn es darum geht, aktive Mobilität zu fördern und zu steigern. Den Experten ist bewusst, dass das Angebot besser werden muss. Und vielleicht auch schöner.
Aber was macht Schönheit oder eine schöne Umgebung überhaupt aus? „Unsere Forschung zeigt, dass Schönheit unseren Blick anzieht und bindet. Unser Blick verweilt bei dem Schönen“, sagt Helmut Leder, Schönheitsforscher und Professor für Psychologie an der Uni Wien. Eine schöne Umwelt erzeuge automatisch eine Sequenz von glücklich machenden Momenten. „Sie wirkt wohltuend, dort bin ich gerne unterwegs, weil ich dort Impulse empfange, die mir guttun“, sagt Leder.
Wissenschaftler wie Helge Hillnhütter verwenden den Begriff der Schönheit nicht. Der Professor und Stadtplaner lehrt an der Norwegischen Universität für Naturwissenschaften und Technik und forscht seit Jahren zum Fußverkehr. Er untersucht, wann Menschen eine Umgebung oder einen Stadtraum als angenehm empfinden. Dazu gehören Aspekte wie: Sicherheit, Grünanlagen, Schaufenster, stimulierende Fassaden, andere Menschen und eine Gestaltung des Stadtraums. „Fußgänger reagieren am meisten auf das, was nicht weiter als fünf bis sechs Meter entfernt ist“, sagt Hillnhütter. Demnach ist ein interessanter Stadtraum nicht zu groß.
„Eine angenehme Stimulanz durch die Umgebung unterstützt positive Emotionen, die das Gehen zu einer angenehmen Erfahrung machen“, sagt Hillnhütter. Wer an großflächigen Fassaden entlanglaufe, empfinde den Weg schnell als langweilig und der Weg erscheint länger. Wenn es obendrein noch dunkel oder laut sei und es übel rieche, summierten sich die negativen Empfindungen. Das führe dazu, dass man beim nächsten Mal vielleicht nicht mehr zu Fuß gehe, sofern andere Optionen bestehen.

„Wir müssen in Netzen denken, die den gesamten Umweltverbund umfassen, aber auch stets ein Nachtnetz mitdenken.“

Katja Striefler, Fachbereich Verkehr, Region Hannover

Die Reisezeit zu Fuß und im ÖPNV sind identisch

Lange Zeit wurde der Fußverkehr von der Verkehrsforschung vernachlässigt. Hillnhütters Studien zeigen: Das ist ein Fehler. „Wir gehen überall und ständig zu Fuß“, sagt der Wissenschaftler. Selbst Autofahrer gehen vom Parkplatz zu einem Geschäft in einem Einkaufszentrum drei bis sechs Minuten zu Fuß. Eklatant sind jedoch die Wege, die Bus-, S- und U-Bahn-Nutzerinnen zurücklegen. Hillnhütter hat alle Wege-, Warte- und Umsteigezeiten addiert und festgestellt: „Die Reisezeit, die wir als Fußgänger zum Gehen, Warten und Umsteigen im öffentlichen Raum verbringen, ist fast genauso lang wie die Zeit als Passagier im Verkehrsmittel.” Für Städte und öffentliche Verkehrsbetriebe ist das eine wichtige Information. „Meistens wissen wir überhaupt nicht, was während des Teils der Reise passiert, der zu Fuß zurückgelegt wird“, sagt der Professor. Dabei ist die Qualität dieser Wege und auch die Wartesituation ausschlaggebend für die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs. Warten an Haltestellen und auf Bahnsteigen ist in Deutschland jedoch oft kein Vergnügen. Professor Peter Eckart und Prof. Dr. Kai Vöckler von der Hochschule für Gestaltung in Offenbach erforschen seit Jahren unter anderem, wie das Design von Bahnhofshallen, Bahnsteigen und Zu- und Ausgängen das Mobilitätsverhalten der Nutzerinnen beeinflusst. „Räume haben neben ihrer praktischen Dimension auch eine psychische Dimension mit symbolischen und ästhetischen Aspekten“, sagt Eckart. Das bedeutet, die Menschen sollen sich intuitiv in einem Bahnhofsgebäude zurechtfinden. Sie sollen sich aber auch willkommen fühlen, sich also wohl- und wertgeschätzt fühlen.

Vor dem Umbau prüfen Eckart und Vöckler ihre Ideen zu Sitz- und Anlehnmöbeln unter VR-Testbedingungen.

Mehr Komfort für Bahn- und S-Bahnnutzer in Hamburg: Im Bahnhof Harburg wurden bereits Holzmöbel installiert, ebenso an der neuen Vorzeigehaltestelle „Elbbrücken“.

Bessere Sitzmöbel für Warteräume

Für Eckart ist das ein wichtiger Aspekt. Er sagt: „Wenn ich als Kunde die U-Bahn oder S-Bahn nutze, möchte ich mit meinen unterschiedlichen Bedürfnissen wahrgenommen und wertgeschätzt werden.“ Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Viele Warteräume oder Zu- und Ausgänge von S- und U-Bahnhöfen sind vor allem praktisch. Das spiegeln die Sitzmöbel aus Gittergeflecht wider. „Das Gittergeflecht soll Obdachlose davon abhalten, sich dort auszuruhen, und ist zudem leicht zu reinigen“, sagt Eckart.
Mittlerweile hat bei der Deutschen Bahn ein Umdenken begonnen. Mit ihrem Projekt „Zukunftsbahnhof“ will das Unternehmen Fahrgästen und Besucherinnen die Zeit am Bahnhof angenehm gestalten. Vöckler und Eckart haben im Rahmen des Projekts „Zukunftsbahnhof Offenbach“ für eine S-Bahnhaltestelle vorgeschlagen, dort Sitzmöbel aus Holz zu installieren. „Der Pflegeaufwand ist zwar höher, aber bereits das hochwertige Material drückt die Wertschätzung gegenüber dem Kunden aus“, sagt der Professor. In einer Studie mit Kognitionspsychologinnen hat er festgestellt, dass Menschen gerne auf Holzmöbeln sitzen und sie sich wohlfühlen. Infolgedessen erscheint ihnen die Wartezeit kürzer. „Was wiederum die Kundenzufriedenheit steigert“, sagt Vöckler.
Dieser Anspruch muss aus ihrer Sicht auf den gesamten Umweltverbund angelegt werden. „Momentan wird er aber gar nicht als System zusammen gedacht“, sagt Eckart. Weder von der Politik noch von den Planern oder auf organisatorischer Ebene. Das sei aber für die Verkehrswende entscheidend. „Das Ziel muss sein, dass die Menschen, wenn sie aus der U- oder S-Bahn aussteigen, intuitiv erfassen, wo der Ausgang ist, und auf dem Weg dorthin erkennen, was sie in 100 bis 200 Metern an Mobilitätsangeboten vorfinden“, sagt Eckart.
Katja Striefler, zuständig für den Fachbereich Verkehr in der Region Hannover, stimmt dem zu: „Wir müssen in Netzen denken, die den gesamten Umweltverbund umfassen, aber auch stets ein Nachtnetz mitdenken“, sagt sie. Nur dann könne sichergestellt werden, dass Menschen jeden Alters und auch Frauen, den Umweltverbund nutzen. Wer bei der Planung dann noch den Schönheitsaspekt einbeziehe, habe eine lebenswerte Stadt, eine lebenswerte Gemeinde oder ein lebenswertes Dorf.

Clock Tower als Wegweiser

Ein Klassiker, der die Aspekte Ästhetik, Wegweisung und Mobilitätsknotenpunkt kombiniert, ist die Turmuhr an englischen Bahnhöfen. „Den Clock Tower findet man an fast jedem Bahnhof in England“, sagt Professor Eckart. Der Wiedererkennungswert sei immens. Jeder in England wisse: Beim Clock Tower ist der Bahnhof. Ein Forschungsprojekt hat laut Eckart gezeigt: Die große Uhr wirkt beruhigend, selbst auf die 18- bis 25-Jährigen. Zudem haben die Reisenden stets die Uhrzeit im Blick. Diesen Aspekt haben die beiden Wissenschaftler auf eine Station am Offenbacher Marktplatz übertragen. Die Ankommenden sehen auf dem digitalen Infowürfel sämtliche Abfahrten von Bus- und S-Bahn nebst Richtungsanzeigen. „Sie wissen sofort, ob sie den Zug noch erreichen oder laufen müssen“, sagt er.
Wie Menschen den dicht bebauten Stadtraum erleben, was ihnen gefällt oder wo ihr Blick hinfällt, wird schon lange untersucht. „Die Technologie ermöglicht uns zu messen, wie der Körper auf die Umgebung reagiert“, sagt Hillnhütter. Demnach brauchen wir eine Umgebung, die uns stimuliert. Eine zentrale Rolle spielt dabei, was wir sehen.
Deshalb sind laut Hillnhütter die Fußgängerzonen in Innenstädten so beliebt. Das bunte Treiben mit Straßenkünstlern, unterschiedlichsten Angeboten von Kunst bis zum Café wirke stimulierend. Wer dort unterwegs ist, schätzt Entfernungen deutlich kürzer ein. Die Distanzempfindung kann laut Hillnhütter in unterschiedlichen Stadträumen variieren und der Unterschied bis zu 30 Prozent betragen.

Vor dem Umbau war die High Line in New York ein vergessener Ort. Heute ist sie eine Oase inmitten der Metropole, die Anwohner und Touristen anzieht.

Ein schöner Verkehr funktioniert besser

Für den Schönheitsforscher Helmut Leder und die Verhaltensbiologin Elisabeth Oberzaucher steht fest: Schönheit und ästhetische Wertigkeit im öffentlichen Raum sind kein „nice to have“. „Mit ihnen funktioniert der Straßenverkehr besser“, sagt Elisabeth Oberzaucher. Ein klassisches Beispiel ist für sie die Mariahilfer Straße in Wien. In der neu geschaffenen Begegnungszone wurde die Fahrbahn mit großzügigen Blumenkübeln und weitläufigen Sitzecken so verjüngt, dass die Autos dort automatisch mit maximal 30 Kilometern pro Stunde oder langsamer unterwegs sind. „Dort funktioniert das Tempolimit über die Gestaltung, man braucht dort keine Schilder“, sagt sie. Die niedrige Geschwindigkeit erzeugt mehr Gleichheit unter den Verkehrsteilnehmern. „Sie begegnen sich eher auf Augenhöhe“, sagt die Wissenschaftlerin. Dieser Respekt setzt sich in der Fußgängerzone fort. Dort sind in den Sommermonaten rund 5000 Radfahrer unterwegs und das Miteinander zwischen Fuß- und Radverkehr funktioniert.
„Diese Begegnung auf Augenhöhe stärkt das individuelle Sicherheitsempfinden, aber erhöht auch die Sicherheit im Allgemeinen“, sagt Elisabeth Oberzaucher. Das sei gut für die Verkehrswende. Denn auf diese Weise entscheiden Menschen über die intuitive Ebene, sich eher aktiv zu bewegen, als ins Auto zu steigen.

„Alles, was uns in urbanen Räumen umgibt, ist mittlerweile von Menschen gestaltet.“

Helmut Leder, Schönheitsforscher und Professor für Psychologie an der Uni Wien

Die Nordbahntrasse ist ein Aushängeschild von Wuppertal. Sie ist Radlerparadies, Veranstaltungsort, Touristenmagnet und kurbelt zudem noch die Wirtschaft an.

Stimulierende Wirkung von Grünanlagen

Eines der bekanntesten Beispiele, wie die Umgestaltung eines Raums sein Umfeld zum Positiven verändern kann, ist die High Line in New York. Die 2,6 Kilometer lange stillgelegte Hochbahntrasse sollte eigentlich abgerissen werden. Seit ihrer letzten Fahrt Ende der 1980er-Jahre verkam die Trasse immer mehr und mit ihr die Viertel entlang der Strecke. Abfallberge, Kriminalität, Drogen und der Straßenstrich prägten die Gegend. Dann gründete sich eine Nachbarschaftsinitiative, die die Trasse begrünen wollte. Die Idee fand Zuspruch. Heute ist die High Line eine Oase am Rand Manhattans für die Anwohner. Zwischen den Grünflächen finden regelmäßig Veranstaltungen statt und es werden wechselnde Kunstobjekte ausgestellt. Mit der High Line veränderte sich auch ihre Umgebung. Die drei Distrikte, die sie quert, sind zu Szenevierteln geworden mit Galerien, Cafés und renovierten Straßenzügen.
Dass diese Erfolgsgeschichte reproduzierbar ist, zeigt die Nordbahntrasse in Wuppertal. Die Bürgerinnen und Bürger der Stadt haben die vergessene und zugewucherte Bahnlinie in den vergangenen 17 Jahren in eine 23 Kilometer lange Flaniermeile für Radfahrerinnen und Fußgängerinnen umgebaut. Heute verbindet der Freizeitweg im Norden der Stadt fünf Bezirke miteinander und beschert Wuppertal einen immensen Image-Wandel: von der Pleitestadt zum Radlerparadies. Seit ihrer Eröffnung haben sich entlang der Trasse Restaurants, Geschäfte und Freizeiteinrichtungen angesiedelt. Wer im Norden der Stadt lebt und arbeitet, nutzt die Flaniermeile zum Pendeln mit dem Fahrrad.
Die High Line und die Nordbahntrasse haben das Leben in den angrenzenden Vierteln verändert. Die Anwohnerinnen haben einen neuen Freiraum in Laufnähe. Menschen jeden Alters sind dort zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs und erleben gleich mehrere schöne Momente: die grüne Umgebung, die Ruhe durch den fehlenden Autoverkehr, den Blick aus der Vogelperspektive auf die umliegenden Stadtteile und immer wieder auch Kunstobjekte auf der Route. „Wenn die Bewegungsumgebung so attraktiv gestaltet ist, dann bedeutet das nicht nur, dass wir sie gerne für aktive Mobilität nutzen, sondern, dass wir uns dort auch lieber aufhalten. Das bedeutet, wir entschleunigen“, sagten Leder und Oberzaucher. Hinzu kommt: Es werden Freizeitfahrten mit dem Auto vermieden. Die Anwohnerinnen kommen zu Fuß oder per Rad zur Nordbahntrasse.
„Alles, was uns in urbanen Räumen umgibt, ist mittlerweile von Menschen gestaltet“, sagt Helmut Leder. Wir können durch eine schöne, ästhetische Gestaltung des öffentlichen Raums das Wohlbefinden der Menschen in der Stadt enorm heben. Er sagt: „Wenn wir es nicht tun, verschenken wir das eigentliche Potenzial unserer engen Städte.“


Bilder: Stefan Sagmeister, Maggie Winters, OIMD, Andrea Reidl, Friends of the High Line – Timothy Schenck, Friends of the High – Line Liz Ligon, Christa Mrozek – Wuppertalbewegung