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Schneller zu guter Infrastruktur

Corona, Klimakrise, Verkehrschaos: Kommunen spüren immer deutlicher, dass der Ausbau von Radinfrastruktur schneller vorankommen muss. Warum dauert es oft so lange, und was könnte die Umsetzung beschleunigen? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Eine Spiegel-Meldung aus dem Juni karikierte die aktuelle Planungssituation geradezu: „Bahn baut 83 Oberleitungsmasten auf geplante Radschnellweg-Trasse“, hieß es da. Gemeint war der Radschnellweg Ruhr, der quer durch das Ruhrgebiet laufen soll, von Duisburg nach Hamm. In der Broschüre des Verkehrsministeriums von 2016 wird er als „ab 2020 durchgängig befahrbar“ angekündigt. Derzeit gibt es von geplanten gut 110 Kilometern allerdings nur rund 14 Kilometer, einen großen Teil zwischen Mühlheim und Essen. Man scheint so an den Planungs- beziehungsweise Umsetzungsstillstand gewöhnt, dass die schnelle Alternative für Radfahrende praktisch „vergessen“ wurde. Damit wurden Fakten geschaffen und die Radschnellweg-Route muss wieder umgeplant werden.
Vor dem Hintergrund der langwierigen Prozesse hat sich der Fokus der Diskussionen inzwischen verschoben: Den Verkehrs- und Fahrradinitiativen geht es heute kaum mehr um den „richtigen“ Modus, in dem sich die Radinfrastruktur innerstädtisch darstellt. Farblich gekennzeichneter Radweg auf der Fahrbahn, straßenbegleitend oder Protected Bike Lane als Königsweg – diese Fragen sind in den Hintergrund gerutscht. „Es muss jetzt etwas passieren“, hört man von den Sprecher*innen der Verbände.

„Politisch-strategisches Denken kann Vorgänge beschleunigen.“

Ralph Kaulen, Stadt- und Verkehrsplanung Kaulen

Beschleunigung durch strategische Lösungen

Auch der Leiter des Stadt- und Verkehrsplanungsbüros Kaulen in Aachen, Ralf Kaulen, sieht ein drängendes Zeitproblem. „Bei der Analytik, bei den Zielen Verkehrssicherheit und Klimaschonen herrscht Konsens. Zoff gibt’s, sobald die entsprechenden Maßnahmen geplant werden. Konkret ist es immer die Aufteilung des Platzes. Und da sind Rechtsstreite nicht selten. Schnell könnten zehn Jahre vergehen, bevor es weitergeht. In NRW sei zudem das Kommunalabgabengesetz des Landes problematisch, mit dem Anrainer finanziell an baulichen Veränderungen beteiligt werden. „Dieses Gesetz muss weg“, so die klare Stellung Kaulens. Es führe zu Scheindiskussionen und verschleppe Entscheidungen.
Ein weiterer problematischer Punkt ist für ihn die Platzumverteilung – vor allem auch das Abstellen und Parken von Fahrzeugen. „Ich muss den Menschen erklären können, wo sie in Zukunft ihre Autos lassen – und zwar, bevor ich anfange, die Parkplätze abzubauen“, so Kaulen.
Ein Katalysator hierbei: politisch-strategisches Denken. So nennt er als Beispiel den Leiter des Mobilitätsreferats in München, Georg Dunkel, der viel auf Aufklärung setzt, aber auch sehr strategisch vorgeht, um Entscheidungen zu beschleunigen: Er zeigte, dass die unvermeidliche Parkplatzumwidmung für eine neue Radachse, die durch eine Flanier- und Einkaufsmeile führt, wesentlich besser zu argumentieren ist, als eine Alternative durch ein Wohnviertel. Dort wären 2.000 Parkplätze wegfallen, so nur 900. Das Votum für die Route durch die Flaniermeile war entsprechend eindeutig. Und wie sieht Kaulen Pop-up-Radwege als Beschleuniger? „Dieser Pragmatismus ist gut, aber es geht letztendlich immer um die Knotenpunkte“, sagt der Planer. „Sie machen den Stress, hier muss man zuerst ansetzen und sie sicher gestalten.“

Integrativ denken, Tempo verringern

„Umsetzung von Infrastruktur-Plänen geht nicht von heute auf morgen“, warnt Burkhard Horn, manche Prozesse bräuchten einfach ihre Zeit. Der „oberste Verkehrsplaner von Berlin“, so ein Bericht in der Berliner Zeitung aus seiner Zeit in der Hauptstadt, hat 25 Jahre in Verwaltungen gearbeitet und ist heute freiberuflicher Berater an der Schnittstelle von Verkehrspolitik und Verkehrsplanung. „Manchmal tun sich Menschen in der Verwaltung schwer mit neuen Dingen, aber auch der Politik fällt es nicht leicht, Konflikte auszutragen.“ Grundsätzlich warnt er davor, sich auf die alleinige Umsetzung von Infrastrukturplänen zu konzentrieren und dabei das große Ganze aus dem Blick zu verlieren. Denn das könne eine Sackgasse sein. Beispiel: Auch hoch frequentierte innerstädtische Straßen sind oft zu schmal, um dort Radwege unterzubringen. „Hier hilft es beispielsweise, Tempo 30 anzuordnen, soweit das die StVO an der jeweiligen Stelle zulässt“, so Horn. „Integrativ zu denken ist immer gut.“ Und: Was man schnell umsetzen könne, das sollte man auch sofort tun, wie eben Tempo 30. „Damit Veränderung sichtbar wird.“ Der politische Wille werde so von der Öffentlichkeit erkannt und aus dem Erfolg provisorischer Veränderungen könne man lernen. Das Zurücknehmen von einfachen Veränderungen ohne großen baulichen Einsatz, wie etwa einem Pop-up-Radweg, sei ist kein Problem – falls es denn nötig werden sollte.

Bei breiten Straßen unproblematisch für Entscheider wie Planer: Radwege, die einen vollen Fahrstreifen einnehmen, sind sicherer und komfortabler als hinzu gezwängte Radspuren.

Zeichen setzen mit pragmatischen Lösungen

Sind Pop-up-Lösungen und Umweltspuren politisch verträglicher als die Neuplanung von Radwegen? Das sehen heute viele Experten und Verbände wie der ADFC in Düsseldorf so. In der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt wurden beispielsweise im Sommer 2020 auf der den Rhein aus der Innenstadt heraus begleitenden Cecilienallee Pop-up-Radwege angelegt. Eine knappe Fahrspur der vierspurigen Straße wurde mit Warnbaken abgegrenzt und für den Radverkehr in Richtung der stark frequentierten Deich-Radwege umgewidmet. „Vom Grundsatz her fanden wir diesen pragmatischen Ansatz gut“, sagt Lerke Tyra, stellvertretende Vorsitzende des ADFC Düsseldorf, „auch wenn wir gern bei der Ausführung beraten hätten. Und auch die Umweltspuren waren von der Idee her gut.“ Dafür waren 2018 auf mehreren Straßen der Innenstadt die rechte von zwei Fahrspuren vorübergehend auf Bus-, Taxi- und Radverkehr umgewidmet worden – was dem damaligen OB Geisel neben viel Lob auch verärgerte Stimmen einbrachte. „Diese Umwidmungen waren ein pragmatisches, schnell umsetzbares Zeichen, dass der politische Wille da ist. Wir wünschen uns zwar eigene Radspuren für mehr Sicherheit und auch mehr Sicherheitsempfinden bei den Radfahrerinnen“, so Tyra, „aber es war ein echter Anfang.“ Beim Düsseldorfer ADFC findet man, dass sich Deutschland nicht nur bei der Form der Radinfrastruktur, sondern auch in deren Entwicklung und Ausbau viel von den Niederlanden abschauen könnte. Lerke Tyra bekommt in Besprechungen mit Expertinnen aus den Niederlanden immer wieder zu hören: „Ihr plant für die Ewigkeit, macht doch einfach mal.“ Damit es schneller geht, sitzt der ADFC in Düsseldorf zusammen mit einem Vertreter des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) in der sogenannten Kleinen Kommission Radverkehr. Hier wird dem Verkehrsausschuss zugearbeitet und die dortige Entscheidungsfindung vorbereitet. Diese Gremienstruktur bringt bereits Zeitersparnisse bei den Entschlüssen.

„Was man schnell umsetzen kann, sollte man auch sofort tun. Damit Veränderung sichtbar wird.“

Burkhard Horn, Berater und Verkehrsplaner

Schnelle Lösungen ohne große bauliche Veränderungen. Die geschützten Radwege in Berlin haben Vorbildfunktion und Signalwirkung.

Einfach mal etwas weglassen?

Wie wäre es mit Pragmatismus bei der baulichen Ausführung der Strecken? Kann man den Bau nicht beschleunigen, indem man „nicht für die Ewigkeit“ baut? Wäre es zum Beispiel beschleunigend für die Fertigstellung des Radschnellwegs Ruhr, bestimmte Abschnitte nicht zu versiegeln? Praxisgerecht wäre das nicht, so Planer Kaulen: „Die bauliche Ausführung macht zeitlich kaum einen Unterschied mehr. Der Weg muss ohnehin so aufgebaut sein, dass dort auch Wartungs- und Rettungsfahrzeuge fahren können. Ob auf den entsprechenden Unterbau nun eine Asphaltdecke oder eine wassergebundene Decke kommt, ist von der Bauzeit her sekundär.“ Außerdem sei, gerade auf Radschnellwegen, die fehlende Asphaltdecke aus Sicht der Radfahrenden eine starke Qualitätseinbuße.

„Einfach mal anfangen. Die Anfeindungen waren anfangs unglaublich, jetzt sind fast alle zufrieden.“

Reinhold Goss, Bicycle Mayor, zur preisgekrönten Initiative #RingFrei

Besser: Pragmatismus als Mut, schnell zu handeln

Im Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin läuft derzeit in Zusammenarbeit mit drei Kommunen ein Projekt zum Thema „Radverkehrsförderung beschleunigen, Planungsprozesse optimieren.“ „Was hemmt den Ablauf, was können Kommunen tun?“, fragt Projektleiter Thomas Stein. „Den Städten ist bewusst, dass es an vielen Stellen an geeigneter Infrastruktur mangelt. Für uns haben wir schon einen wichtigen Punkt herausgearbeitet: Wir müssen Akteure besser zusammenbringen.“ So soll auf Grundlage der Projektarbeit ein Leitfaden-Baukasten für die Kommunen entstehen. Redundante Diskussionen sind oft auch ein Organisations- und Informationsproblem, stellte man fest. Planende und anordnende Abteilungen sollten deshalb grundsätzlich zusammengeführt werden, auch räumlich. Das breite Interesse dafür ist da: Ein Beirat aus 15 Städten unterstützt das Projekt.
Temporäre Lösungen, wie Pop-up-Radwege sind auch hier ein zentraler Punkt. „Erst mal Dinge auf die Straße bringen, dann sehen, was ich damit erreichen kann. Die sogenannte Erprobungsklausel in der StVZO macht es möglich. Pragmatismus folgt aus dem Mut zu handeln“, betont Difu-Experte Thomas Stein.

Entspannt und sicher unterwegs. Der RS1, Radschnellweg Ruhr, wird sowohl werktags von Pendlern als auch am Wochenende viel frequentiert.

Evaluation fördert die Akzeptanz

„Ein numerischer Nachweis von Erfolg im Nachgang ist für die Überzeugungskraft von mutigen Entscheidungen aber oft wichtig“, ergänzt Thomas Stein. Evaluationen der Ergebnisse einer Umstrukturierung seien meist auch relativ einfach zu erhalten. So hat die Technische Universität Dresden einen Leitfaden zur Evaluierung von Radverkehrsanlagen erarbeitet. Sie verweist auf die klassische Verkehrszählung mit mobilen Radargeräten oder den typischen Fahrradzählsäulen. Oft können Städte auch durch Partnerschaften mit Bike-Pendler-Apps, wie Bike Citizens, bereits ohnehin auf viele Daten zum Radverkehr zurückgreifen. Weitere Partner können digitale Sportler-Tracking-Portale mit Handy-Apps wie Strava sein. Allerdings muss dabei zwischen Routen, die vor allem von Freizeitfahrerinnen und Sportlerinnen genutzt werden, und Alltags- beziehungsweise Pendlerstrecken bei der Auswertung unterschieden werden.

Köln: „Pragmatismus ist
Bürger-Mitverantwortung“

Der Umbau des Kölner Sachsenrings ermöglichte eine sichere und schnelle Route vom Westen in die Südstadt.

Nach einer Reihe schlimmer, zum Teil tödlicher Unfälle zwischen Autofahrenden, Radfahrenden und zu Fuß gehenden am Kölner Innenstadtring gründete Reinhold Goss 2016 zusammen mit Mitstreiter*innen, unter anderem aus dem Einzelhandel, die Initiative #RingFrei. Sie setzte sich das Ziel, den Ring, der lange Zeit gleichzeitig Flanier- und Autoposer-Meile war, für alle sicherer und attraktiver zu machen. „Wir trafen nach den Unfällen den Nerv der Zeit“,
erzählt der heutige ehrenamtliche Fahrradbürgermeister der Stadt Köln. Die Bezirksvertretung stellte sich schnell hinter ein 10-Punkte-Papier der Initiative: Von „Tempo 30“, „Umwidmung einer ganzen Fahrspur“ bis hin zu einer begleitenden Kampagne „Radverkehr ist Verkehr“ waren viele wichtige Forderungen darin. Und man ging schnell praktisch an die Sache. Ein Workshop mit verschiedenen Verbänden, der Polizei und Vertretern des Verkehrsausschusses fing 2016 an zu entwickeln. Auch wenn die Verwaltung nach Reinhold Goss zunächst wenig Elan für Veränderungen zeigte, gab es schnell Fortschritte. Ein Aktionstag im September 2017 bestätigte in der Praxis auf einer Strecke von 800 Metern, wie der Kölner Ring fahrradfreundlich werden könnte. „Der Aktionstag war ein voller Erfolg“, so Goss. „2018 wurden dann die ersten Abschnitte des Rings umgebaut, die rechte Fahrspur zur Fahrradspur umgewidmet.“ Er schränkt ein: „Es ist aber heute noch ein Flickenteppich. Wir sind bei 80 Prozent Umsetzung, aber an die wirklich gefährlichen Stellen trauen wir uns noch nicht ran.“ Was ist für ihn das Learning aus dieser Entwicklung? „Wir brauchen zunächst die richtige Vorgehensweise“, resümiert Goss. „Dazu müssen wir immer wieder erst ausprobieren!“ So wie beim Aktionstag, der tatsächlich sehr schnell auch Zweifler überzeugen konnte. „Einfach mal anfangen. Die Anfeindungen waren anfangs unglaublich, jetzt sind fast alle zufrieden“, sagt er. Und die Verwaltung sei stolz, dass man das so gut hinbekommen hat. Ein weiteres Learning: Standards, die für Radverkehr selbstverständlich sind, müssen gleich mitgedacht werden. „Da ist zum Beispiel das freie Rechtsabbiegen an der roten Ampel für den Radfahrer. Wir müssen so weit kommen, dass diese Dinge in die Planung integriert werden.“ Und Tempo 30 sollte immer eine Basis sein. „Die Unfallquote ist jetzt sehr gering. Aber die Hauptsache“, resümiert der Kölner Fahrradbürgermeister, „Pragmatismus ist Bürger-Mitverantwortung.“


Bilder: Georg Bleicher, Philipp Boehme, Reinhold Goss, Stadt- und Verkehrsplanungsbüro Kaulen SVK