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Cargobikes eignen sich im Stadtverkehr prima als Autoersatz zum Transport von Lasten. Erste Städte und Kommunen testen das Sharing der Schwertransporter. Die Niederländer sind bereits einige Schritte weiter. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


160 elektrische Sharing-Cargobikes stehen zurzeit in den Straßen von Den Haag. Kommerzielle Anbieter wie Cargoroo und BAQME haben sie dort aufgestellt. Die Stadtregierung findet das gut. Sie will die Zahl der Räder bis 2027 sogar auf 1500 steigern. „Unser Ziel ist, in jeder Straße von Den Haag ein Cargobike aufzustellen“, sagt Rinse Gorter, zuständig für Sharing-Mobility in der Gemeinde. Die geteilten Lastenräder sollen es den 550.000 Einwohner*innen leichter machen, auf Autofahrten im Zentrum zu verzichten und die Emissionen zu senken.
Auch in deutschen Großstädten gehören Cargobikes längst zum Stadtbild. Hierzulande sind die Menschen aber vor allem auf eigenen Rädern unterwegs. Die Verkaufszahlen zeigen: Die Transporträder sind beliebt. Im vergangenen Jahr verzeichnete die Sparte Cargobike mit 37,5 Prozent das größte Wachstum in der Fahrradbranche. 212.800 Lastenräder wurden insgesamt verkauft, 165.000 von ihnen hatten einen Motor. Allerdings ist es mit den Transporträdern ähnlich wie mit den Autos: Die meiste Zeit des Tages stehen sie ungenutzt herum. Für Verkehrsforscher ist Sharing deshalb eine sinnvolle Alternative. In Berlin, Düsseldorf, Hamburg oder auch Freiburg haben die Stadtregierungen und kommerzielle Anbieter erste Flotten auf die Straßen gestellt. Allerdings sind die oft zu klein, um Autofahrten im großen Stil zu ersetzen.
Eine Ausnahme ist Berlin. Dort versucht der niederländische Sharing-Anbieter Cargoroo seit 2022 ein engmaschiges Netz aus geteilten E-Cargobikes aufzubauen. Aktuell sind 250 Cargoroos mit den auffälligen gelben Transportwannen in der Hauptstadt unterwegs. Bis zum Sommer soll die Flotte auf 350 wachsen, damit die Nutzenden an ihrem Wohnort idealerweise alle 300 Meter ein Cargoroo finden. Die Leihräder stehen an festen Stationen. Das heißt: Die Räder können nur dort ausgeliehen und zurückgegeben werden. „Das gibt unseren Kundinnen und Kunden Planungssicherheit“, sagt Alexander Czeh, Country Manager von Cargoroo Deutschland.
Außerdem bevorzugen die Bezirksregierungen in Berlin das stationsbasierte Sharing-System. Sie wollen damit die Gehwege von Sharing-Fahrzeugen freihalten. Die Cargoroo-Stationen werden in Berlin nur auf breiten Gehwegen markiert, die ausreichend Platz zum Rangieren bieten. Ansonsten werden sie auf umgewandelten Pkw-Stellplätzen eingerichtet oder an einer Jelbi-Mobilitätsstation der Berliner Verkehrsbetriebe. Nur dort kann die Ausleihe per App beendet werden.
Das stationsbasierte Modell lohnt sich auch für die Sharing-Anbieter. Die Service-Mitarbeiter müssen die Räder nicht einsammeln. Sie checken die Räder zweimal pro Woche an ihrem Standort und wechseln dann die beiden Akkus. Das senkt die Kosten. Auch die Nutzenden haben laut Czeh keine Nachteile. Schließlich sind 80 Prozent Lastenradfahrten Rundfahrten. Wer zum Discounter fährt oder zum Baumarkt, bringt seine Einkäufe anschließend heim.
Cargoroo wirbt damit, dass ihre E-Lastenräder die Verkehrswende vorantreiben. In den Niederlanden teilen sich laut Alexander Czeh rechnerisch zwischen 40 und 60 Kunden ein Cargoroo. „Eine Umfrage unter ihren Nutzerinnen und Nutzern aus Amsterdam zeigt zudem, dass 73 Prozent von ihnen mit unseren Rädern Autofahrten ersetzen“, sagt Czeh. Im kommenden Jahr rechnet er mit ähnlichen Werten für Berlin. „Dann können unsere 350 Räder 625.000 Autokilometer im Jahr ersetzen“, sagt er, und damit rund 100 Tonnen Kohlendioxid einsparen. Damit würde die Cargoroo-Flotte einen wichtigen Beitrag zur Mobilitätswende leisten.

Fahrradkeller 2.0: Die Mobilitätsstation für Lastenräder, Fahrradanhänger und Trolleys ist hell, sicher und komfortabel im Erdgeschoss des Mietshauses untergebracht.

Städte brauchen autoärmere Innenstädte

Die Klimaziele zwingen viele Städte und Gemeinden, den Verkehr in ihren Zentren nachhaltiger zu gestalten. Die bayerische Landeshauptstadt München will bis 2035 klimaneutral werden. Deshalb fördert das städtische Mobilitätsreferat klimafreundliche Alternativen zum Auto. Beim Neubau von Wohnungen können die Bauherren Stellplätze einsparen, indem sie Mobilitätskonzepte einreichen. Damit senken sie die Baukosten und ermöglichen ihren Mietern eine autoarme Mobilität.
Ein Vorreiter auf diesem Gebiet ist die städtische Wohnungsgesellschaft GWG in München. Sie hat bereits an vier Neubau-Standorten Mobilitätsstationen errichtet. Neben Autos, E-Bikes, Trolleys und Fahrradanhängern bietet die GWG auch E-Lastenräder an. Der Clou ist: Die Ausleihe der E-Cargobikes ist kostenlos. Die Mieter müssen lediglich einen Chip beantragen. Untergebracht sind die Räder in hellen Räumen mit Fenstern im Erdgeschoss der Mehrfamilienhäuser. Per Chip schwingt die Tür automatisch auf. Das macht den Fahrer*innen das Rangieren mit den Transporträdern leicht und komfortabel.
Obwohl die Hemmschwelle für die Cargobike-Ausleihe bei der GWG niedrig ist, ist ihre Nutzung kein Selbstläufer. Am Eröffnungstag der beiden Mobilitätsstation in Hardthof im Norden von München ist Steffen Knapp, Architekt und zuständig für die Projektentwicklung im Team Städtebau der GWG, zwei Stunden von Tür zu Tür gegangen und hat die Mieter über das Angebot informiert. „Ich habe sie eingeladen, die Lastenräder vor der Haustür auszuprobieren“, sagt er. Er weiß, die Probefahrt ist wichtig. Die meisten GWG-Mieter saßen noch nie auf einem Lastenrad. Sie brauchen eine Einführung und Unterstützung bei der Probefahrt. Knopps Engagement zahlt sich aus. Rund 40 Prozent der Mieterschaft hat sich fürs Sharing-Angebot registriert. Die E-Cargobikes sind laut Knopp die „Hotrunner“ im Sharing-Angebot. Sie werden am häufigsten ausgeliehen. Bis 2026 plant die GWG, rund 30 weitere Mobilitätsstationen in ihren Wohnprojekten zu etablieren.

40 bis 60

Kunden teilen sich ein
Cargoroo in Amsterdam

70 Lastenräder für Hamburg

Erste Städte beginnen, Cargobikes in das städtische Bike-Sharing-System zu integrieren. In Freiburg im Breisgau können die Kund*innen mittlerweile 20 E-Cargobikes über die städtischen Leihradflotte „Frelo“ ausleihen. In Hamburg bekam das „StadtRad“-Verleih-System bereits 2019 Zuwachs von 19 Cargobikes. Inzwischen ist ihre Zahl auf 37 gestiegen. Eigentlich sollte die Flotte längst 70 Transporträder umfassen, aber Lieferengpässe verzögern seit Monaten den Ausbau. In beiden Städten kommen die Lastenräder gut an. Laut dem Sprecher der Hamburger Verkehrsbehörde wurden sie 2022 rund 3700-mal ausgeliehen. „Im Mai lag der Spitzenwert bei 445 Ausleihen“, sagt er, im Schnitt waren die Nutzenden mit ihnen zwei Stunden unterwegs.

Das Angebot ist vielseitig an der Mobilitätsstation am Bachplätzchen. Neben E-Lastenrädern können die Anwohner*innen auch E-Autos oder E-Scooter leihen und eigene Fahrräder sicher parken.

Mehr Grün mit Mobilitätsstationen

Erste Städte wollen mit ihrem Lastenrad-Sharing-Angebot auch die Aufenthaltsqualität in den Zentren verbessern. In Düsseldorf sind die Transporträder beispielsweise in vielen Wohnquartieren ein Bestandteil der Mobilitätsstationen. Bis 2030 soll das Startup Connected Mobility Düsseldorf GmbH (CMD) im Auftrag der Stadt Düsseldorf 100 Mobilitätsstationen im Zentrum errichten. Damit werden für die Anwohnerinnen nachhaltige Mobilitätsangebote vor Ort geschaffen. Acht Stationen sind bereits fertig. Eine von ihnen ist das Bachplätzchen im Düsseldorfer Stadtteil Unterbilk. Früher parkten 30 Autos auf dem asphaltierten Oval. Im Dezember 2022 ist aus dem Parkplatz ein begrünter Treffpunkt geworden. Zwischen Bäumen und Pflanzen haben die Anwohnerinnen dort nun ausreichend Platz zum Verweilen und zum Boule spielen. Außerdem können sie auf einen Fahrzeug-Pool aus E-Autos, drei E-Lastenrädern, E-Scootern und E-Mopeds zugreifen.
„Platz ist Luxus im Stadtzentrum“, sagt Ariane Kersting, Sprecherin der CMD. Jede Mobilitätsstation soll deshalb auch das Umfeld aufwerten. Neben dem Fuhrpark werden stets neue Grünflächen geschaffen oder Sitzgelegenheiten. Je nachdem, wie viel Platz im Wohnquartier, der ÖPNV-Station oder bei den Unternehmen zur Verfügung steht.
Das neue Mobilitätsangebot in Düsseldorf gefällt den Anwohnern. „Kaum waren die ersten Stationen fertig, riefen uns die Bürger an, und meldeten ebenfalls Bedarf an“, sagt die CMD-Sprecherin. Aber auch hier braucht das Lastenrad-Sharing Starthilfe. „Wir organisieren immer wieder Aktionstage oder Veranstaltungen im Quartier, damit die Menschen Lastenräder ausprobieren können“, sagt sie. In Nutzervideos erklären sie außerdem auf den Social-Media-Kanälen wie die Ausleihe funktioniert und worauf beim Fahren mit Last und Motor zu achten ist.
Lastenrad-Sharing zu etablieren, ist für Ariane Kersting ein Dauerlauf und kein Sprint. „Die Menschen müssen die Chance bekommen, das Angebot in ihrem Alltag auszuprobieren und nach und nach zu integrieren“, sagt sie. Erst wenn ihnen der Zugriff auf die Alternative zum Auto gesichert und komfortabel erscheint, würden sie überhaupt darüber nachdenken, auf ihren Zweitwagen zu verzichten.
Die Integration der Lastenräder an Mobilitätsstationen oder in das städtische Leihrad-System hat für Carina Heinz vom Deutschen Institut für Urbanistik einen großen Vorteil: Es sorgt für mehr soziale Gerechtigkeit in der Mobilität. „Nicht jeder kann oder will 5000 bis 8000 Euro für ein elektrisches Lastenrad ausgeben“, sagt sie. Zwar fördern einige Städte und Bundesländer den Kauf von Lastenrädern über Zuschüsse, aber die Käufer müssen dennoch mehrere Tausend Euro bezahlen. Das ist viel, wenn man das Rad nur ein oder zweimal pro Woche nutzt. Deutlich wirkungsvoller ist aus ihrer Sicht die Förderung von Lastenrad-Sharing direkt über die Kommune. „Der Hebel ist größer. Die Gemeinde erreicht mit diesem Service in kürzerer Zeit eine viel größere Bevölkerungsgruppe“, sagt sie. Im Idealfall auch die Menschen, die sich selbst mit einem Zuschuss kein eigenes Lastenrad leisten können.
Der Schritt vom Besitz zum Teilen ist entscheidend für die Mobilitätswende. Die Anbieter der Sharing-Systeme am Wohnort sind die Wegbereiter des Wandels. Im direkten Vergleich mit vielen niederländischen Städten wie Den Haag steckt das Lastenrad-Sharing in Deutschland noch vielerorts in den Kinderschuhen. Jetzt sind die Städte und Gemeinden am Zug. Sie müssen in den Stadtzentren Millionen kurzer Autofahrten ersetzen, die kürzer sind als fünf Kilometer. Lastenrad-Sharing ist dabei nur ein Baustein von vielen. Aber einer mit großer Wirkung.


Bilder: Cargoroo, GWG München – Jonas Nefzger, CMD

Können 45-km/h-Roller beziehungsweise -Mopeds im Sharing-Markt bestehen? Wächst der Markt und wenn ja, wo und wie? Und wie umweltfreundlich sind die Angebote eigentlich? Das Technologieunternehmen Invers hat dazu im November einen globalen Marktreport veröffentlicht. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Schlecht sah es noch vor zwei Jahren aus mit der 2016 von der Bosch-Tochter Coup eingeführten 45-km/h- E-Roller-Flotte. Allein in Berlin wurden 1.500 Fahrzeuge des taiwanesischen Herstellers Gogoro erst einmal aus dem Verkehr gezogen. Europaweit waren es sogar 5.000 Roller. Übrig blieb der Anbieter Emmy mit einer Flotte von damals nur rund 2.000 Fahrzeugen und jede Menge frustrierter Kunden, die das Coup-Angebot gerne nutzten. Die Lehre, die Bosch und nachfolgende Anbieter, wie zum Beispiel der Kölner Energielieferant Rheinenergie mit dem kürzlich eingestellten Angebot „Rhingo“ zogen: Ohne eine ausreichend große Fahrzeugflotte und Synergieeffekte macht das Angebot wirtschaftlich kaum Sinn. Von diesen Misserfolgen aber auf das Produkt selbst zu schließen, wäre falsch. Die Fahrzeuge von Coup wurden im Mai 2020 nahtlos in das Portfolio von Tier Mobility übernommen, und auch insgesamt entwickelt sich der Markt für E-Mopeds und ähnliche Hybridfahrzeuge hervorragend.

Invers: Global Moped Sharing Market Report

Das Unternehmen Invers mit Hauptsitz in Siegen und Standorten in Köln und Vancouver, das den Marktreport seit fünf Jahren jährlich erstellt, ist kein Marktforscher, sondern ein hoch spezialisierter Technologieanbieter. Als unabhängiger Partner für Betreiber von Shared-Mobility-Lösungen kennt sich Invers bestens im Markt aus und ist auch international sehr gut vernetzt. Zu den Kunden zählen renommierte Namen wie Share Now, Clevershuttle, Miles, Getaround, Flinkster, Tier, Bounce und Emmy. „Die Studienergebnisse belegen mit Zahlen, was wir in der Zusammenarbeit mit unseren Kunden in der Praxis erleben: Der Markt wächst, weil die Nachfrage nach flexibler Mobilität im urbanen Raum steigt und Mopeds als nachhaltige Sharing-Lösung für mittlere Distanzen im Mobilitätsmix signifikantes Wachstum versprechen“, sagt Alexander Gmelin, Co-Autor der Studie und CPO bei Invers. Moped-Sharing sei der „Hidden Champion“ unter den Sharing-Angeboten und wachse seit der ersten Erhebung im Jahr 2012 kontinuierlich. Rückenwind bekomme der Markt aktuell auch durch die Kapitalgeber. Weltweit seien derzeit rund 110.000 Mopeds als Sharing-Fahrzeuge im Einsatz und 12 Millionen Nutzer registriert. Besonders interessant: Die Zahl der Städte, in denen Moped-Sharing angeboten wird, stieg innerhalb des letzten Jahres um 43 Prozent von 122 auf 175 und die Zahl der Betreiber von Moped-Sharing-Diensten um 13 Prozent auf insgesamt 87 Anbieter.

Deutsche Moped-Sharing-Hotspots 2021. In deutschen Städten boomt das Angebot.

Spanien führt vor Taiwan, Deutschland und den Niederlanden

Spanien ist nach den Ergebnissen der Studie nach wie vor weltweit der größte Markt, gefolgt von Taiwan, Deutschland, den Niederlanden sowie Indien und Frankreich. Neu hinzugekommen sind Zypern und Georgien. Das größte Wachstum verzeichnen aktuell Deutschland, die Niederlande und Frankreich. Drei große niederländische Anbieter – GO Sharing, felyx und CHECK – expandierten im letzten Jahr nach Deutschland und trugen so dazu bei, dass der deutsche Markt im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um satte 86 Prozent auf aktuell 13.000 Mopeds im Sharing-Angebot wuchs. Insgesamt ist Westeuropa mit mehr als 36.500 Mopeds im Sharing-Angebot der stärkste Wachstumstreiber der Branche. Beigetragen dazu hat auch Paris. Die Stadt ist Vorreiter bei der Verkehrswende und hat sich zu einem wichtigen Hotspot des europäischen Moped-Sharings entwickelt.
Einen bemerkenswerten Turn-around gibt es bei den Antrieben: 97 Prozent sind inzwischen batterieelektrische Fahrzeuge. Große neue OEMs hätten laut Invers im vergangenen Jahr begonnen zusammenzuarbeiten, um das Laden für Nutzer weiter zu vereinfachen und die Fahrzeuge damit attraktiver zu machen, mit Batterieladenetzwerken und Angeboten zu Akku-Tauschsystemen, die im „Roller-Land“ Taiwan beispielsweise schon länger enorm erfolgreich sind.
Die vollständige Studie gibt es zum Download unter invers.com

Interessante Fakten

Aktuell besitzen fünf Betreiber bis zu 40 Prozent der weltweiten Flotte, vier davon sind in Europa ansässig. Die weltweit größten Anbieter sind GO Sharing, Acciona Mobility, Cooltra, Cityscoot und WeMo. Neben den in Europa üblichen 45-km/h-Rollern gibt es verschiedene Moped-/Fahrrad-Hybride, die die Autoren mit einbezogen haben und die weltweit auf dem Vormarsch sind. Beliebt sind sie primär in Regionen wie Indien (Yulu) oder Pakistan (ezBike) in denen viele Menschen keinen Führerschein besitzen. Die meisten Modelle fahren elektrisch wie Mofas mit ein oder zwei Sitzen und etwa 25 km/h. Die Autoren gehen davon aus, dass Hybridfahrzeuge das Potenzial haben, zu einem neuen, relevanten Fahrzeugtyp für Shared Mobility zu werden. Auch die Öko-Bilanz wird nach den Studienautoren immer besser: Fast alle Fahrzeuge werden inzwischen elektrisch betrieben (97%), die Nutzungsraten steigen und auch die Qualität und die Lebensdauer der Fahrzeuge habe sich in den letzten Jahren deutlich erhöht.


Bilder: Yulu, Invers/mopedsharing.com

Wie nachhaltig und aktiv Menschen tagsüber unterwegs sind, entscheidet sich meist morgens mit dem Schritt vor die Haustür. Städte und Kommunen haben viele Hebel, um die Entscheidung pro Fahrrad, ÖPNV oder Sharing zu beeinflussen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Der einfache Zugang zu umweltfreundlichen Verkehrsmitteln am Wohnort, die Verknüpfung der alternativen Angebote und eine gute In-frastruktur sind der zentrale Hebel, um nachhaltige Mobilität zu fördern. Dabei kommt es auf die Qualität der Angebote und den richtigen Mix entsprechend dem Bedarf vor Ort an. Teilen statt besitzen und Mobility as a Service (MaaS), also der Ansatz, Transport mit eigenen Fahrzeugen durch ein auf den jeweiligen Bedarf abgestimmtes Angebot an Mobilitätsdiensten zu ersetzen, eröffnen heute völlig neue Optionen. Gerade Städte und Kommunen haben vielfältige Push & Pull-Optionen und Fördermöglichkeiten.

„Unser Konzept mit zwei E-Sharing-Wagen und zwei Sigo-Lastenrädern hat uns den Bau der Stellplätze erspart“

Wolf-Bodo Friers, Vorstandsvorsitzender der Baugenossenschaft

(E-)Lastenräder im Viertel oder vom Vermieter

Der einfache Zugang zu umweltfreundlichen Verkehrsmitteln am Wohnort gilt als zentraler Hebel, um nachhaltige Mobilität zu fördern. Gerade die inzwischen technisch weitgehend ausgereiften motorunterstützten Lastenräder entwickeln sich dabei immer mehr zu einem begehrten Autoersatz. Allerdings ist es bei ihnen ähnlich wie mit dem eigenen Pkw: Für manche sind sie ein tägliches Mobilitätstool, für die meisten anderen eine willkommene Ergänzung, zum Beispiel für den Großeinkauf, die Fahrt zum Baumarkt oder einen Ausflug mit Kind, Kegel oder Hund. Sie sind wichtig und nützlich, aber viele brauchen sie relativ selten. Was als Lösung auf der Hand liegt, sind Sharing-Lastenräder, die sich nah am Wohnort ausleihen und idealerweise auch vorab buchen lassen. Schon seit Jahren gibt es sogenannte Freie Lastenräder. Hinter der 2013 in Köln entstandenen und unter anderem mit dem Deutschen Fahrradpreis ausgezeichneten Idee, die Mobilität in der Stadt ehrenamtlich mit kostenfreien Lastenrädern zu verbessern, stehen inzwischen rund 130 Graswurzelinitiativen, die über 400 Lastenräder zur nachbarschaftlichen Nutzung zur Verfügung stellen.
Auf der kommerziellen Seite ergänzen inzwischen auch Bikesharing-Anbieter in Norderstedt, Hamburg und Darmstadt sowie MaaS-Anbieter wie der E-Scooter-Verleiher Voi ihre Flotten durch E-Cargobikes. Regional haben sich in dem noch jungen Wachstumsmarkt verschiedene Anbieter mit unterschiedlichen Modellen etabliert, wie carvelo2go in der Schweiz, cargoroo in den Niederlanden und Donk-EE in Köln. Neu mit einem automatischen E-Cargobike-Verleihsystem auf dem Markt ist das Unternehmen Sigo. Das Darmstädter Start-up hat ein Lastenrad-Sharing-Konzept entwickelt für Kommunen, Stadtwerke, ÖPNV-Betreiber oder Wohnungsgenossenschaften. Sie bieten ein Komplettpaket an mit modernen E-Lastenrädern, einer vollautomatischen induktiven Ladestation sowie einer App für die Buchung und die Abrechnung. Sigo- Lastenrad-Stationen gibt es inzwischen in zwölf Städten. Das Unternehmen installiert die Stationen und übernimmt auch die Wartung der E-Cargobikes.
Ein Beispiel ist die „Baugenossenschaft Langen“. Sie hat im Sommer 2020 ihre erste Sigo-Ladestation in der 40.000-Einwohner-Stadt im hessischen Langen umgesetzt. Zuvor hatte die Genossenschaft eines ihrer Hochhäuser mit über 105 Wohnungen klimafreundlich saniert. Dabei wurde festgestellt, dass laut Stellplatzordnung 27 Stellplätze fehlten. Um den Bau einer Parkpalette mit zwei Etagen zu verhindern, hat die Baugenossenschaft ein Mobilitätskonzept erstellt. „Unser Konzept mit zwei E-Sharing-Wagen und zwei Sigo-E-Cargobikes hat uns den Bau der Stellplätze erspart“, sagt Wolf-Bodo Friers, Vorstandsvorsitzender der Baugenossenschaft. Das neue Sharing-Angebot steht sowohl den Mietern des sanierten Hochhauses zur Verfügung als auch den übrigen Bewohnern des Stadtteils. Die Installation war einfach. Für die Ladestation wurden lediglich ein Fundament und ein 230-Volt-Anschluss benötigt. Die beiden Transporträder werden automatisch in den Ladestationen verriegelt. Für die Ausleihe brauchen die Kundinnen und Kunden nach der Anmeldung nur die Sigo-App. Sobald das Cargobike in der Station steht, wird der Akku kontaktlos über eine Induktionsplatte geladen.

Flexibel leihen, statt besitzen. Cargobikes sind eine gute Ergänzung. Ideal für den Einkauf, Kinder- oder Hundetransport, Ausflüge ins Grüne mit großem Gepäck oder auch für Unternehmen.

Städte und Kommunen als Vermittler

Städte und Kommunen können mit unterschiedlichen Angeboten den Einsatz von Lastenrädern vor Ort fördern. Im vergangenen Jahr hat die Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundlicher Kommunen (AGFK) in Baden-Württemberg eine Cargobike-Road-show für 14 Kommunen gebucht. Der Hintergrund ist, dass die Transporträder mit und ohne Motor immer noch eine relativ junge Fahrzeuggattung sind und potenzielle Nutzer, Käufer oder Multiplikatoren vor Ort eine ausführliche Beratung und Fahrtests im direkten Vergleich benötigen. Das Roadshow-Konzept entwickelt und umgesetzt haben die beiden Cargobike-Experten Arne Behrensen (cargo bike.jetzt) und Wasilis von Rauch (Bundesverband Zukunft Fahrrad, BVZF). Zweimal im Jahr sind sie mit zwölf Rädern unterwegs und stellen in AGFK-Mitgliedskommunen auf zentralen Plätzen die verschiedenen Modelle vor, beraten Interessierte und lassen die Fahrzeuge ausgiebig testen. Neben Privatleuten können auch viele Unternehmen von E-Cargobikes in ihrem Fuhrpark mit Blick auf Flexibilität, Kostenersparnis und Nachhaltigkeit profitieren. Es gibt also noch viel zu tun für die Länder, Kommunen und örtlichen IHKs.

Welche Angebote gibt es eigentlich auf dem noch jungen Cargobike-Markt? Und welches ist das geeignete Modell? Die von der AGFK in Baden-Württemberg initiierte Cargobike-Roadshow gibt Antworten.

Poller als modale Filter, wie links in Hamburg, sind nicht schön, aber zweckmäßig. Noch besser geht es mit mobilen Bäumen und Bänken, mit denen Kreuzungen zu klimafreundlichen beruhigten Aufenthaltszonen werden.

Ruhigere Straßen durch modale Filter

Wesentlich für Lebensqualität vor Ort und die Wahl des Verkehrsmittels sind auch die Gegebenheiten und die In-frastruktur. In Wohngebieten leiden Fußgänger und Radfahrer oft unter zu viel und zu schnellem Autoverkehr. Das gilt sowohl für Kleinstädte wie für Großstädte. Eine relativ einfache, aber effektive Lösung, um den ungewollten Autoverkehr zu reduzieren oder komplett auszusperren, sind sogenannte modale Filter. Dazu gehören Poller, Blumenkübel, aber auch Verkehrsschilder für Einbahnstraßen. Die Idee dahinter ist, einzelne Straßen oder Wohnviertel gezielt zu beruhigen. Hochbeete und Pflanzkübel werden so platziert, dass die Straße oder der Platz für zu Fuß Gehende und Radfahrende gut passierbar bleibt, Autos aber nicht durchkommen. Für sie wird die Straße durch das Hindernis zur Sackgasse beziehungweise sie werden auf einen Umweg geleitet. Werden Blumenkübel nur am Seitenrand aufgestellt, bremsen sie den Autoverkehr durch die verringerte Fahrbahnbreite ab. Das bietet sich an, wenn beispielsweise Busse und Rettungsdienste Nebenstraßen passieren sollen. Autofahrende, die Nebenstrecken ansonsten gerne im Alltag als Abkürzung nutzen, werden durch das verringerte Tempo oder die erfolgte Umleitung erfolgreich abgeschreckt. Mithilfe der Modalen Filter können aber auch kleinräumige Fußgängerzonen in Stadtvierteln angelegt werden. Das lohnt sich beispielsweise vor Schulen oder öffentlichen Einrichtungen wie Schwimmbädern, Marktplätzen oder Theatern. Die Verkehrsberuhigung wertet diese Orte häufig auf. In Wien ist auf diese Weise zum Beispiel vor einer Schule eine große Fläche für Roller- und Radfahrende entstanden. Manchmal wird der Abschnitt auch in einen sogenannten Pocket Park verwandelt. Das sind Miniatur-Grünflächen zwischen dicht gebauten Häusern.

„Gute Park&Ride- und Bike+Ride-Anlagen sind ein Schlüsselelement, um den Autoverkehr aus der Stadt herauszuhalten“

Martin Niebendahl, Radverkehrskoordinator der Region Hannover

Anreiz für Umsteiger: Bike+Ride-Anlagen im Umland

„Gute Park+Ride- und Bike+Ride-Anlagen sind ein Schlüsselelement, um den Autoverkehr aus der Stadt herauszuhalten“, sagt Martin Niebendahl, Radverkehrskoordinator der Region Hannover. Damit potenzielle Fahrradpendler und -pendlerinnen tatsächlich umsteigen, sollten die Bike+Ride-Anlagen im Umland strategisch platziert werden und modernen Sicherheits- und Qualitätsstandards entsprechen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts hat die Region Hannover eine moderne Bike+Ride-Abstellanlage entwickelt und im vergangenen Jahr an zwei Haltestellen entlang einer Schnellbuslinie im Umland aufgestellt. In Langenhagen (33.000 Einwohner) nördlich von Hannover und in Pattensen (13.000 Einwohner) 15 Kilometer südlich der Landeshauptstadt wurden jeweils für rund 150 Fahrräder überdachte abschließbare Garagen mit Doppelstockparkern und einigen Bügelstellplätzen für Lastenräder, Anhänger und Liegeräder gebaut. Außerdem gibt es vor Ort Schließfächer und fest installierte Luftpumpen. Die beiden Anlagen sind Pilotprojekte für die weiteren Anlagen, die in den kommenden Jahren entstehen sollen. 1,5 Millionen Euro investiert die Region Hannover jährlich für ihre Bike+Ride-Offensive an Haltestellen im Umland. An einigen Bus- und Bahn-Haltestellen sollen erstmals Stellplätze für Fahrräder entstehen oder die vorhandenen Anlagen deutlich verbessert werden. „Ein Kernpunkt der Anlagen ist das digitale Zugangssystem“, so Martin Niebendahl. Die Türen werden über eine Karte oder per App geöffnet. Damit will die Region Hannover den Kommunen Arbeit ersparen. Die Region baut zwar die Anlagen, aber die Kommunen betreiben sie anschließend. Die Digitalisierung soll Vorgänge wie die Schlüsselvergabe oder die Prüfung der Monatskarte ersetzen.

Umsteigen leicht gemacht. B+R-Anlagen sind praktisch und bringen Bahn und ÖPNV mehr Kunden.

Carsharing mit Dienstwagen im ländlichen Raum

Carsharing ist in kleinen Städten und in ländlichen Kommunen oft unrentabel, weil die meisten dort sowieso einen eigenen Wagen besitzen. Der Mitinhaber der Mobilitätsberatung EcoLibro, Michael Schramek, will dort trotzdem das Teilen von Autos eta-blieren, vor allem, um den Kauf von Zweit- und Drittwagen zu reduzieren. Deshalb hat er 2016 mit anderen Experten „Regiomobil“ gegründet. und verschiedene Modelle für den ländlichen Raum entwickelt. Eins wird bereits im Rahmen des Pilotprojekts „Betriebliches Mobilitätsmanagement im Schwalm-Eder-Kreis“ umgesetzt.
Seit rund zwei Jahren teilen sich die Mitarbeitenden der Stadtverwaltung Homberg, der dortigen Kreisverwaltung, der Kreissparkasse des Schwalm-Eder-Kreises sowie der KBG Kraftstrom-Bezugsgenossenschaft Homberg ihre Dienstwagen. Momentan sind sieben Autos des Carsharing-Anbieters Regio.Mobil im Einsatz. Einige werden abends von Mitarbeitenden der Kreisverwaltung in die benachbarten Kleinstädte wie Treysa (ca. 8.700 Einwohner) und Malsfeld (ca. 4.000 Einwohner) gefahren, wo sie das bestehende Carsharing-Angebot ergänzen oder die ersten Carsharing-Fahrzeuge vor Ort sind. Am Wohnort und am Arbeitsplatz stehen die Carsharing-Dienstwagen an festen Stationen, wo sie außerhalb der Arbeitszeiten von jedermann gebucht werden können. Die Mitarbeitenden, die mit den Dienstfahrzeugen unterwegs sind, benötigen für den Arbeitsweg keinen eigenen Pkw mehr. Eine Mitarbeiterin hat bereits ihren Privatwagen verkauft. Das Angebot kommt gut an und soll ausgeweitet werden.
In Thüringen sind außerdem elf Fahrgemeinschaften mit rund 80 Personen unterwegs, die Schrameks Modell des „pulsierendes Carsharing“ nutzen. Dort stellt Regio.Mobil den Unternehmen 7- oder 9-Sitzer-Autos zum Teilen für den Arbeitsweg zur Verfügung. Die Mitarbeiter „mieten“ dabei lediglich einen Sitzplatz im Fahrgemeinschaftsbus. „Der Betrag ist deutlich günstiger als die Nutzung eines eigenen Pkw“, sagt Schramek. Während der Arbeitszeit stehen die Fahrzeuge dem eigenen Unternehmen oder auch den umliegenden Firmen zur Verfügung. Abends oder am Wochenende werden die Mehrsitzer unter anderem von Vereinen für gemeinsame Fahrten genutzt. Von dem Angebot profitieren die Partner und Privatpersonen. Die Unternehmen und Verwaltungen senken ihre CO2– Bilanz, insbesondere, wenn ihre Mitarbeitenden Fahrgemeinschaften bilden. Außerdem senken sie ihre Fuhrparkkosten durch die Privatnutzung abends und am Wochenende.

Fazit: gute Lösungen sind da

Die eine Lösung, die für jede Kommune passt, gibt es nicht. Aber die Ansätze und Angebote sind mittlerweile so vielseitig, dass selbst kleinere oder ländliche Kommunen Lösungen finden, um den Menschen vor Ort nachhaltige Mobilität leichter zu machen. Für viele Projekte gibt es zudem momentan finanzielle Unterstützung vom Bundesverkehrsministerium.

Tink: So funktioniert Sharing mit Lastenrädern

Wo sind die besten Stellplätze für Cargobikes im Sharing in einer Stadt und wie schützt man die Räder vor Vandalismus? Antworten auf diese und viele weitere Fragen kennt die Transportrad Initiative nachhaltiger Kommunen (Tink) und gibt sie gerne weiter. Seit 2015 sammelt das Tink-Team um Marco Walter und Dr. Friederike Wagner Erfahrungen mit kommunalen Mietradsystemen für Lastenräder. In Norderstedt sind inzwischen 39 Tink-Lastenräder mit und ohne Motorunterstützung im Verleih und in Konstanz am Bodensee 26 Räder. Am Bodensee kommt das Angebot besonders gut an. Dort ersetzt die Hälfte der Nutzer*innen Autofahrten mit den Transporträdern. Deshalb soll ihre Zahl 2022 auf 70 aufgestockt werden. Die Förderanträge laufen noch. Mittlerweile berät das Tink-Team Kommunen beim Aufbau von Mietsystem für Lastenräder, entwickelt für sie passgenaue Sharing-Konzepte und unterstützt beim Erstellen von Förderanträgen. Die Informationen haben sie in einem Ratgeber für Kommunen zusammengefasst. Die Infobroschüre kann auf der Tink-Webseite bestellt werden: www.tink.bike


Bilder: Martin Randelhoff, Cargobike Roadshow – Katja Täubert, Cargobike Roadshow – Andreas Lörcher, Region Hannover – Ines Schiermann, Philipp Böhme, Ajuntament de Barcelona

Seit 2019 gibt es beim Sharing-Anbieter Tier, der neben E-Tretrollern auch 45-km/h-Motorroller im Programm hat, das unabhängige Netzwerk „Women of Tier“. Warum gerade bei neuen Mobilitätsformen mehr weibliche Perspektiven wichtig sind, haben wir die Tier-User-Researcherin Nastya Koro gefragt und Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan, die Micromobility-Anbieter und Kommunen zu geschlechterspezifischen Unterschieden in der Mobilität berät. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Mehr Frauen: Wer sich durch die Pressebilder von Tier klickt, stellt fest, dass hier sehr oft junge Frauen zu sehen sind. Dem Selbstbild von Tier folgend fast immer auch mit Helm.

Warum braucht es auch oder mehr weibliche Perspektiven in der Mikromobilität?
Ines Kawgan-Kagan: Weibliche Perspektive fehlt leider immer noch häufig in der Verkehrsplanung und in den Projekten. Der „Standard“ ist eher den männlichen Bedürfnissen und Anforderungen angepasst. Das hat den Effekt, dass die Lebensrealität vieler Frauen nicht ausreichend berücksichtigt wurde und wird.

Warum ist das aus Ihrer Sicht so?
Nastya Koro: Historisch gewachsen sind in Berufen rund um Mobilität und Verkehr erheblich mehr Männer tätig. In der EU zum Beispiel sind gerade einmal ein Fünftel der Arbeitskräfte weiblich. Das führt dazu, dass die Mobilitätsprodukte immer noch sehr männerzentriert sindInes Kawgan-Kagan: Die Themen sind stark von technischen Details und Infrastruktur geprägt. In diesen Bereichen finden wir mehr Männer als Frauen. Dass sich mehr Männer als Frauen für diese Themen interessieren, ist übrigens nichts, was uns „in den Genen liegt“. Bereits Kinder werden so von der Gesellschaft sozialisiert, dass es eher männliche Themenfelder gibt und eher weibliche. Alles rund ums Auto ist sehr männlich konnotiert in unserer Gesellschaft.

Was sind konkrete Unterschiede in der Mobilität?
Ines Kawgan-Kagan: Frauen zeigen typischerweise ein anderes Verkehrsverhalten, haben andere Bedürfnisse, Erfahrungen und andere Erwartungen an ihre Mobilität. Unterschiedliche Aufgaben im Alltag auch aufgrund von der Kinderbetreuung, die immer noch meistens von Frauen übernommen wird, haben da einen sehr großen Einfluss. Aber nicht nur Kinder sind ein Faktor; Sicherheit, Barrierefreiheit und der Einsatz von Technik sind für Unterschiede verantwortlich. Wir sprechen auch immer über statistisch nachweisbare Unterschiede und keine Stereotype oder Klischees.

„Der Standard ist eher den männlichen Bedürfnissen und Anforderungen angepasst.“

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan, AEM Institute

Wie steht es um die weibliche Perspektive im Bereich Mikromobilität?
Nastya Koro: Gerade in den innovativen Bereichen sehen wir sehr viel mehr Männer als Frauen. Der Fokus liegt dabei meist darauf, was mit einer bestimmten neuen, skalierbaren Technik möglich ist, und weniger darauf, die Mobilität strategisch nachhaltig zu gestalten. Dadurch kommt es auch dazu, dass sehr viel mehr Männer an Micromobility interessiert sind und diese dann auch eher nutzen als Frauen.
Ines Kawgan-Kagan: Bei diesen Unterschieden steckt wieder sehr viel unterschiedliche Sozialisation drin, die dazu führt, dass Frauen sich auch tendenziell wenig mit mobilitätsbezogenen Themen beschäftigen. Das in Kombination mit einer Start-up-Kultur führt zu einem geringen Anteil an Frauen.

Sollten es spezielle Angebote für Frauen geben?
Ines Kawgan-Kagan: Jein! Das Angebot selbst sollte nicht speziell Frauen ansprechen, also zum Beispiel ein Roller speziell für Frauen ist nicht zielführend. Es muss für so viele Menschen wie möglich nutzbar sein. Um das aber zu erreichen, sollte es Maßnahmen geben, die Frauen gezielt ansprechen und deren Bedürfnisse decken. Es geht darum, einen inklusiven Ansatz zu verfolgen, der sich mit den Bedürfnissen und Anforderungen verschiedener Personengruppen befasst. Dazu müssen diese bekannt sein, um sie dann zu berücksichtigen.
Nastya Koro: Genau das haben die „Women of Tier“ mit einem Moped-Fahrtraining speziell für Frauen getan. In einem geschützten Raum konnten Frauen unsere Mopeds ausprobieren. Frauen antizipieren viel mehr, wenn es um die Sicherheit neuer Angebote geht. Wir konnten so die Hemmschwelle abbauen, sich zum ersten Mal auf ein Moped zu setzen.

„Gerade in den innovativen Bereichen sehen wir sehr viel mehr Männer als Frauen“

Nastya Koro, Tier

Wie kann die weibliche Perspektive besser integriert werden?
Ines Kawgan-Kagan: Durch die Förderung von Frauen in den Arbeitsbereichen. Diverse Teams bieten genau diese vielen unterschiedlichen Perspektiven, die es braucht, um Angebote inklusiv zu gestalten. Wichtig ist dabei auch, dass Frauen auch in Entscheidungspositionen sein müssen, damit diese Perspektiven dann tatsächlich Einfluss nehmen können. Um das zu erreichen, sollten Frauen in der Branche sichtbar gemacht und typische Arbeitskulturen, die Frauen eher abschrecken, geändert werden.
Nastya Koro: Ein hervorragender Ansatz sind dabei Netzwerke für Frauen in der Branche, damit sie sich austauschen, vernetzen und voneinander lernen können. Mit nur 22 Prozent beschäftigten Frauen in der Mobilitätsbranche werden ihre Stimmen oft nicht gehört. Also dachten wir – Ligia, Galuh, Sadie und ich – wir sollten an unserem Arbeitsplatz etwas dagegen tun, und haben unsere Grassroots-Initiative „Women of Tier“ aus diesem Bedürfnis heraus gegründet. Im Laufe der Zeit war das Management mehr und mehr überzeugt, der Einstellung von Frauen für Führungspositionen Vorrang einzuräumen, was zu einer diverseren Verteilung in der Führung und einem empathischeren Verständnis für die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer führte. Darüber hinaus wurde mit Moped-Trainings, Veranstaltungen und Podcasts mit weiblichen Vorbildern eine Community geschaffen, um Frauen in der Mobilität ins Rampenlicht zu rücken und mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Belegschaft und in der Nutzer*innen-Basis zu thematisieren.

Es geht also nicht nur um mehr Frauen, sondern um ein anderes Verständnis?
Ines Kawgan-Kagan: Am Ende bleibt festzuhalten, dass allein mehr Frauen hier nicht automatisch mehr Kompetenz schaffen. Es geht vielmehr darum, dass alle, die in diesem Bereich arbeiten, die Unterschiede kennen und berücksichtigen. Immerhin handelt es sich um die Hälfte der Bevölkerung.


Nastya Koro

… ist User Researcherin bei Tier. Zu ihren Aufgaben gehört die Nutzerforschung im Hinblick auf urbane Mobilität, Multimodalität, Zukunftstrends und geschlechtsspezifische Unterschiede. Bei der Initiative „Women of Tier“ befasst sie sich unter anderem mit Webinaren, Podcasts und Veranstaltungen zur Stärkung von Frauen in der Mobilität.

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan

… ist Mitgeschäftsführerin AEM Institute. Das Unternehmen unterstützt bei der Umsetzung von gerechter und umweltfreundlicher Mobilität, mit dem Schwerpunkt Gender- und Accessibility-Beratung – unter anderem mit Inhouse-Trainings und interaktiven E-Kursen.


Bilder: AEM Institute, Tier