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E-Bike-, Fahrrad- und E-Scooter-Boom unter der Lupe

Wie entwickelt sich der Markt für Fahrräder, E-Bikes und Mikromobilität? In Publikumsmedien ist von einem regelrechten Run auf Fahrradläden die Rede. Ein genauerer Blick auf die Zahlen bringt neue Einsichten und einige Überraschungen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Während in der Pandemiezeit die Nutzung von ÖPNV und Bahn eingebrochen ist, verzeichnet die Fahrradindustrie einen regelrechten Run auf die Produkte. Nicht nur in Deutschland und Europa, auch weltweit zog der Markt sprunghaft an. Die nicht absehbare rapide Nachfragesteigerung und viele weitere Faktoren, wie aktuell die weltweite Knappheit an Frachtkapazitäten und Containern stellt die Branche jedoch vor enorme Herausforderungen. „Shutdowns, gestörten Lieferketten, Ladenschließungen, Hygieneauflagen und eine beispiellose Nachfrage bestimmten das Marktgeschehen“, so heißt es vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) der im April die Zahlen für 2020 vorlegte. Dazu wird in Expertengesprächen auch immer wieder die Frage diskutiert, ob und wie lange der Trend anhält und wann ein Abflauen der Nachfrage einsetzen könnte. Für die von kleinen und mittelständischen Unternehmen geprägte Industrie, die ohnehin mit saisonalen Produkten, schnellen Modellwechseln und fortwährender Personalknappheit zu kämpfen hat und sich hohe Lagerbestände beziehungsweise ein Produzieren auf Halde nicht leisten kann, ist das trotz der momentanen Freude am wirtschaftlichen Erfolg langfristig ein Problem.

17 %

Echter Fahrradboom nach
langer Stagnation.
Rund 17 % Zuwachs in 2020.

Um 180 Grad gedreht: Bei Cargo- und Mountainbikes dominieren heute klar motorunterstützte Modelle. Zudem befeuert der Motor das Wachstum.

Markt in Deutschland

2020 wurden in Deutschland mehr als 5 Millionen Fahrräder verkauft. Davon waren 1,95 Millionen, also mehr als ein Drittel (38,7 Prozent) mit einem Motor bestückt. Damit wurden im letzten Jahr 43,4 Prozent mehr E-Bikes verkauft als 2019. Im Vergleich zum Jahr 2018 haben sich die E-Bike-Absatzzahlen damit verdoppelt. Positiv im Hinblick auf die Aspekte Sicherheit und Nachhaltigkeit ist, dass Fahrräder und E-Bikes laut ZIV hierzulande in immer höherer Güte und Ausstattung gekauft werden. Auffällig bei der Betrachtung ist vor allem, dass nach langer Stagnation bei den Gesamtstückzahlen, die den vielfach beschworenen Fahrradboom de facto konterkarierten, der Gesamtabsatz mit einem Plus von 16,9 Prozent auf 5,04 Millionen Einheiten deutlich zulegte. In der Relation ist das ein sehr gutes Ergebnis, allerdings immer noch nicht überragend, denn im Jahr 2000 lag die Zahl mit 5,12 Millionen verkauften Einheiten bereits knapp darüber. Nicht vom Wachstumstrend profitieren konnten Fahrräder ohne Motorunterstützung in den Bereichen Mountainbike (MTB), Holland-, Touren- und Lastenrad. Ebenfalls unverändert zum Vorjahr zeigte sich auch der Absatz von Kinderrädern.

Genauer Blick auf Pedelecs lohnt

Vor allem die Zahlen im Mountainbike-Sektor und bei Lastenrädern zeigen klar, dass es sich lohnt, beim Thema E-Bike/Pedelecs genau hinzuschauen und eine neue Perspektive einzunehmen. Pedelecs, so die bis vor wenigen Jahren weitverbreitete Meinung, sind vor allem etwas für Ältere oder weniger sportliche Menschen. Die dazugehörigen Bilder aus den Anfangszeiten haben sicher alle noch im Kopf. Aber mit der Realität der Verkaufszahlen und den Nutzergruppen haben sie längst nichts mehr zu tun. So hat sich das Verhältnis im Mountainbike-Sektor zwischen E-Bikern und „normalen“ MTBlern längst um 180 Grad gedreht. Erstmals stellten im Jahr 2019 E-MTBs das Gros der verkauften Mountainbikes mit 360.400 während die sogenannten Biobikes nur auf 215.500 kamen (Gesamt: 575.900). Im vergangenen Jahr hat dieser Trend den Markt hierzulande noch einmal drastisch verändert und die Gattung Mountainbike zudem insgesamt deutlich populärer gemacht: Allein 585.000 E-MTBs wurden 2020 verkauft. Das ist mehr als der Gesamtmarkt 2019. Dazu kommen nochmals 151.200 Bio-MTBs, was in Summe eine Stückzahl von 736.200, also ein Plus von mehr als 25 Prozent macht. Eine ganz ähnliche Entwicklung zeigt sich bei Lastenrädern: Über 100.000 Cargobikes wurden 2020 verkauft, davon rund drei Viertel (78.000) mit Motorunterstützung. Zum Vergleich: 2019 betrug die Gesamtsumme der verkauften Lastenräder 76.000. Also auch hier nicht nur ein Boom bei den motorunterstützten Bikes, sondern auch insgesamt eine Steigerung um satte 25 Prozent. Die Motorunterstützung sorgt also für neue Attraktivität und neue Optionen in der Nutzung und wird, analog zu Produktinnovationen in anderen Bereichen, in den verschiedensten Ausprägungen vielfach zum neuen Standard. Insofern macht es fachlich künftig wohl wenig Sinn, wie früher, generalisierend von Pedelec-Fahrer*innen zu sprechen und sie damit als eine mehr oder minder homogene Gruppe mit besonderen Eigenschaften und Risiken zu beschreiben.

„Ein E-Trotti hat 0,7 PS und wiegt 0,015 Tonnen – der ideale Protagonist der Smart City der Zukunft.“

Professor Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsforscher und Leiter des Züricher ZHAW-Studiengangs Verkehrssysteme

S-Pedelec-Absatz bleibt weit hinter den Möglichkeiten

Deutlich hinter den eigentlichen Möglichkeiten zurück blieben in Deutschland die Absatzzahlen bei schnellen E-Bike 45/S-Pedelecs. Obwohl sie für Langstreckenpendler eine ideale umweltfreundliche und gesunde Autoalternative sind, werden sie im Gegensatz zu unseren Nachbarn in Belgien, den Niederlanden und der Schweiz bislang weiter ausgegrenzt. Bei den Verkaufszahlen spielen sie hierzulande nach wie vor nur eine verschwindend kleine Rolle. 9.800 Stück verzeichnete der ZIV für 2020 und damit eine Steigerung von immerhin 35 Prozent zu 2019 (6.800 Stk.). Branchenkenner schätzen die Zahl allerdings als zu hoch gegriffen ein. Die Bundesregierung denkt laut Nationalem Radverkehrsplan 3.0 zwar offiziell darüber nach, ob S-Pedelecs außerorts nicht auch auf Radwegen fahren dürfen und damit rechtlich nicht auf die für sie hochgefährliche Bundesstraße gezwungen werden, im Live-Interview ließ Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer allerdings durchblicken, dass er von einer gemeinsamen Wegbenutzung nichts halte. Die Unterschiede bei den Geschwindigkeiten seien einfach zu groß. Kann man das so stehen lassen? Wohl kaum. Eine Ad-hoc-Umfrage in einem S-Pedelec-Forum ergibt, dass die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit bei den meisten Nutzern zwischen 30 und 35 km/h liegt. Der Motor unterstützt bei einem Pedelec bis 25 km/h – plus zugelassener Toleranz kommt man auf 27 km/h. Macht einen Nettounterschied von 3 bis 8 km/h. Nutzer haben der Umfrage zufolge keine gefährlichen Situationen auf Radwegen, berichten aber von massiven Problemen auf Landstraßen mit Autos und Lkw mit 70 bis 100 km/h, wo sie ja eigentlich fahren sollten. Zur Relation: Mercedes-AMG arbeitet gerade an einem sogenannten Hypercar mit Straßenzulassung und kombiniert dafür einen V6-Motor mit einem Elektroantrieb. 1.000 PS, 350 km/h Spitzengeschwindigkeit, Beschleunigung von 0 auf 200 in 6 Sekunden. Auf der Autobahn ebenso legal wie in der Tempo-30-Zone oder in der Spielstraße.

Radlogistik Verband legt erstmals Zahlen vor

Der Radlogistik Verband Deutschland (RLVD) hat in diesem Jahr zum ersten Mal die Situation der Branche systematisch erfasst. Demnach erwirtschafteten ca. 100 kleine und mittelständische Unternehmen mit 2.600 Beschäftigten 2020 rund 76 Millionen Euro Umsatz. Positiv: Bei mehr als 1,6 Millionen Kilometer zurückgelegter Wege per Lastenrad in 2020 sei kein Unfall mit schweren Folgen an Menschen entstanden. Die Branche steckt aktuell noch in den Kinderschuhen, aber die Aussichten sind laut RLVD sehr gut. „Damit wir jedoch das Potenzial für saubere Städte besser ausschöpfen können, braucht es mehr Anstrengungen der Politik, Lastenräder und Logistik per Lastenrad zu fördern“, betont RLVD-Vorstand Martin Schmidt. Der Verband spricht sich unter anderem für einen zügigen Ausbau der Radinfrastruktur, mehr Aktivitäten von Kommunen zur Planung urbaner Logistik und eine Förderpolitik in ähnlicher Höhe wie bei E-Pkw aus.

Revolution in Frankreich: E-Tretroller (franz. „Trottinettes Électriques“) werden gern geliehen und gekauft und überholen bei den Absatzzahlen sogar E-Bikes.

Boom in Frankreich: E-Tretroller überholen E-Bike-Verkäufe

Wer sich aktuelle Bilder aus den Städten Frankreichs anschaut, ist verblüfft. Neben Fahrrädern und E-Bikes mischt sich inzwischen eine große Zahl von E-Tretrollern („Trottinettes Électriques“) in den Verkehr. Das Wachstum kommt dabei längst nicht mehr nur durch die Verleihflotten. Immer mehr Menschen entdecken nach der Probierphase E-Scooter als ständige Begleiter für sich. Eine Untersuchung des französischen Fachverbands für Mikromobilität FP2M zeigt die weite Verbreitung und rasant steigende Absatzzahlen. Demnach gibt es nach nur wenigen Jahren bereits mehr als zwei Millionen Nutzer in Frankreich. Der E-Scooter sei das zweite Jahr in Folge das bevorzugte Mittel für elektrische urbane Mobilität, noch vor E-Bikes, so die Studie. 640.000 Einheiten wurden im Jahr 2020 verkauft. Verglichen mit 478.000 Stück im Jahr 2019 entspricht das einer Steigerung von 34 Prozent. Der Umsatz wuchs im gleichen Zeitraum um 8,3 Prozent und erreichte 206,6 Millionen Euro. Das zeigt klar, dass die Durchschnittspreise gesunken sind. Gute Scooter liegen heute zwischen 350 und 800 Euro und sind damit deutlich günstiger als E-Bikes. Zum Markterfolg tragen die niedrigen Anschaffungs- und Unterhaltskosten wohl ebenso bei wie der hohe praktische Nutzen auf der Kurzstrecke, als flexibler Zubringer zu Bus, Bahn oder dem nächsten Carsharing-Auto und nicht zuletzt das gute Image. „Schnittig und emotional“, so charakterisiert Professor Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsforscher und Leiter des Züricher ZHAW-Studiengangs Verkehrssysteme die hier unter dem Namen „E-Trottis“ bekannten Scooter. „Sie beschleunigen rasant, sind einfach zugänglich und mit dem Elektroantrieb schön bequem“. Die „manchmal nicht ganz regelkonforme Verwendung“ verweise auf eine Art „Robin-Hood-Gefühl“, das die Scooter vielfach vermittelten. Thomas Sauter-Servaes empfiehlt Kommunen und insbesondere Anbietern im öffentlichen Verkehr, die Mikromobilität zu umarmen. Ideal seien Verbundtickets zur nahtlosen Nutzung von Sharing-Angeboten und verkehrspolitische Weichenstellungen, die den nötigen Platz schaffen. „Ein E-Trotti hat 0,7 PS und wiegt 0,015 Tonnen – der ideale Protagonist der Smart City der Zukunft.“


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