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Radverkehrsförderung hat viele Gesichter

Wie nachhaltig und aktiv Menschen tagsüber unterwegs sind, entscheidet sich meist morgens mit dem Schritt vor die Haustür. Städte und Kommunen haben viele Hebel, um die Entscheidung pro Fahrrad, ÖPNV oder Sharing zu beeinflussen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Der einfache Zugang zu umweltfreundlichen Verkehrsmitteln am Wohnort, die Verknüpfung der alternativen Angebote und eine gute In-frastruktur sind der zentrale Hebel, um nachhaltige Mobilität zu fördern. Dabei kommt es auf die Qualität der Angebote und den richtigen Mix entsprechend dem Bedarf vor Ort an. Teilen statt besitzen und Mobility as a Service (MaaS), also der Ansatz, Transport mit eigenen Fahrzeugen durch ein auf den jeweiligen Bedarf abgestimmtes Angebot an Mobilitätsdiensten zu ersetzen, eröffnen heute völlig neue Optionen. Gerade Städte und Kommunen haben vielfältige Push & Pull-Optionen und Fördermöglichkeiten.

„Unser Konzept mit zwei E-Sharing-Wagen und zwei Sigo-Lastenrädern hat uns den Bau der Stellplätze erspart“

Wolf-Bodo Friers, Vorstandsvorsitzender der Baugenossenschaft

(E-)Lastenräder im Viertel oder vom Vermieter

Der einfache Zugang zu umweltfreundlichen Verkehrsmitteln am Wohnort gilt als zentraler Hebel, um nachhaltige Mobilität zu fördern. Gerade die inzwischen technisch weitgehend ausgereiften motorunterstützten Lastenräder entwickeln sich dabei immer mehr zu einem begehrten Autoersatz. Allerdings ist es bei ihnen ähnlich wie mit dem eigenen Pkw: Für manche sind sie ein tägliches Mobilitätstool, für die meisten anderen eine willkommene Ergänzung, zum Beispiel für den Großeinkauf, die Fahrt zum Baumarkt oder einen Ausflug mit Kind, Kegel oder Hund. Sie sind wichtig und nützlich, aber viele brauchen sie relativ selten. Was als Lösung auf der Hand liegt, sind Sharing-Lastenräder, die sich nah am Wohnort ausleihen und idealerweise auch vorab buchen lassen. Schon seit Jahren gibt es sogenannte Freie Lastenräder. Hinter der 2013 in Köln entstandenen und unter anderem mit dem Deutschen Fahrradpreis ausgezeichneten Idee, die Mobilität in der Stadt ehrenamtlich mit kostenfreien Lastenrädern zu verbessern, stehen inzwischen rund 130 Graswurzelinitiativen, die über 400 Lastenräder zur nachbarschaftlichen Nutzung zur Verfügung stellen.
Auf der kommerziellen Seite ergänzen inzwischen auch Bikesharing-Anbieter in Norderstedt, Hamburg und Darmstadt sowie MaaS-Anbieter wie der E-Scooter-Verleiher Voi ihre Flotten durch E-Cargobikes. Regional haben sich in dem noch jungen Wachstumsmarkt verschiedene Anbieter mit unterschiedlichen Modellen etabliert, wie carvelo2go in der Schweiz, cargoroo in den Niederlanden und Donk-EE in Köln. Neu mit einem automatischen E-Cargobike-Verleihsystem auf dem Markt ist das Unternehmen Sigo. Das Darmstädter Start-up hat ein Lastenrad-Sharing-Konzept entwickelt für Kommunen, Stadtwerke, ÖPNV-Betreiber oder Wohnungsgenossenschaften. Sie bieten ein Komplettpaket an mit modernen E-Lastenrädern, einer vollautomatischen induktiven Ladestation sowie einer App für die Buchung und die Abrechnung. Sigo- Lastenrad-Stationen gibt es inzwischen in zwölf Städten. Das Unternehmen installiert die Stationen und übernimmt auch die Wartung der E-Cargobikes.
Ein Beispiel ist die „Baugenossenschaft Langen“. Sie hat im Sommer 2020 ihre erste Sigo-Ladestation in der 40.000-Einwohner-Stadt im hessischen Langen umgesetzt. Zuvor hatte die Genossenschaft eines ihrer Hochhäuser mit über 105 Wohnungen klimafreundlich saniert. Dabei wurde festgestellt, dass laut Stellplatzordnung 27 Stellplätze fehlten. Um den Bau einer Parkpalette mit zwei Etagen zu verhindern, hat die Baugenossenschaft ein Mobilitätskonzept erstellt. „Unser Konzept mit zwei E-Sharing-Wagen und zwei Sigo-E-Cargobikes hat uns den Bau der Stellplätze erspart“, sagt Wolf-Bodo Friers, Vorstandsvorsitzender der Baugenossenschaft. Das neue Sharing-Angebot steht sowohl den Mietern des sanierten Hochhauses zur Verfügung als auch den übrigen Bewohnern des Stadtteils. Die Installation war einfach. Für die Ladestation wurden lediglich ein Fundament und ein 230-Volt-Anschluss benötigt. Die beiden Transporträder werden automatisch in den Ladestationen verriegelt. Für die Ausleihe brauchen die Kundinnen und Kunden nach der Anmeldung nur die Sigo-App. Sobald das Cargobike in der Station steht, wird der Akku kontaktlos über eine Induktionsplatte geladen.

Flexibel leihen, statt besitzen. Cargobikes sind eine gute Ergänzung. Ideal für den Einkauf, Kinder- oder Hundetransport, Ausflüge ins Grüne mit großem Gepäck oder auch für Unternehmen.

Städte und Kommunen als Vermittler

Städte und Kommunen können mit unterschiedlichen Angeboten den Einsatz von Lastenrädern vor Ort fördern. Im vergangenen Jahr hat die Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundlicher Kommunen (AGFK) in Baden-Württemberg eine Cargobike-Road-show für 14 Kommunen gebucht. Der Hintergrund ist, dass die Transporträder mit und ohne Motor immer noch eine relativ junge Fahrzeuggattung sind und potenzielle Nutzer, Käufer oder Multiplikatoren vor Ort eine ausführliche Beratung und Fahrtests im direkten Vergleich benötigen. Das Roadshow-Konzept entwickelt und umgesetzt haben die beiden Cargobike-Experten Arne Behrensen (cargo bike.jetzt) und Wasilis von Rauch (Bundesverband Zukunft Fahrrad, BVZF). Zweimal im Jahr sind sie mit zwölf Rädern unterwegs und stellen in AGFK-Mitgliedskommunen auf zentralen Plätzen die verschiedenen Modelle vor, beraten Interessierte und lassen die Fahrzeuge ausgiebig testen. Neben Privatleuten können auch viele Unternehmen von E-Cargobikes in ihrem Fuhrpark mit Blick auf Flexibilität, Kostenersparnis und Nachhaltigkeit profitieren. Es gibt also noch viel zu tun für die Länder, Kommunen und örtlichen IHKs.

Welche Angebote gibt es eigentlich auf dem noch jungen Cargobike-Markt? Und welches ist das geeignete Modell? Die von der AGFK in Baden-Württemberg initiierte Cargobike-Roadshow gibt Antworten.

Poller als modale Filter, wie links in Hamburg, sind nicht schön, aber zweckmäßig. Noch besser geht es mit mobilen Bäumen und Bänken, mit denen Kreuzungen zu klimafreundlichen beruhigten Aufenthaltszonen werden.

Ruhigere Straßen durch modale Filter

Wesentlich für Lebensqualität vor Ort und die Wahl des Verkehrsmittels sind auch die Gegebenheiten und die In-frastruktur. In Wohngebieten leiden Fußgänger und Radfahrer oft unter zu viel und zu schnellem Autoverkehr. Das gilt sowohl für Kleinstädte wie für Großstädte. Eine relativ einfache, aber effektive Lösung, um den ungewollten Autoverkehr zu reduzieren oder komplett auszusperren, sind sogenannte modale Filter. Dazu gehören Poller, Blumenkübel, aber auch Verkehrsschilder für Einbahnstraßen. Die Idee dahinter ist, einzelne Straßen oder Wohnviertel gezielt zu beruhigen. Hochbeete und Pflanzkübel werden so platziert, dass die Straße oder der Platz für zu Fuß Gehende und Radfahrende gut passierbar bleibt, Autos aber nicht durchkommen. Für sie wird die Straße durch das Hindernis zur Sackgasse beziehungweise sie werden auf einen Umweg geleitet. Werden Blumenkübel nur am Seitenrand aufgestellt, bremsen sie den Autoverkehr durch die verringerte Fahrbahnbreite ab. Das bietet sich an, wenn beispielsweise Busse und Rettungsdienste Nebenstraßen passieren sollen. Autofahrende, die Nebenstrecken ansonsten gerne im Alltag als Abkürzung nutzen, werden durch das verringerte Tempo oder die erfolgte Umleitung erfolgreich abgeschreckt. Mithilfe der Modalen Filter können aber auch kleinräumige Fußgängerzonen in Stadtvierteln angelegt werden. Das lohnt sich beispielsweise vor Schulen oder öffentlichen Einrichtungen wie Schwimmbädern, Marktplätzen oder Theatern. Die Verkehrsberuhigung wertet diese Orte häufig auf. In Wien ist auf diese Weise zum Beispiel vor einer Schule eine große Fläche für Roller- und Radfahrende entstanden. Manchmal wird der Abschnitt auch in einen sogenannten Pocket Park verwandelt. Das sind Miniatur-Grünflächen zwischen dicht gebauten Häusern.

„Gute Park&Ride- und Bike+Ride-Anlagen sind ein Schlüsselelement, um den Autoverkehr aus der Stadt herauszuhalten“

Martin Niebendahl, Radverkehrskoordinator der Region Hannover

Anreiz für Umsteiger: Bike+Ride-Anlagen im Umland

„Gute Park+Ride- und Bike+Ride-Anlagen sind ein Schlüsselelement, um den Autoverkehr aus der Stadt herauszuhalten“, sagt Martin Niebendahl, Radverkehrskoordinator der Region Hannover. Damit potenzielle Fahrradpendler und -pendlerinnen tatsächlich umsteigen, sollten die Bike+Ride-Anlagen im Umland strategisch platziert werden und modernen Sicherheits- und Qualitätsstandards entsprechen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts hat die Region Hannover eine moderne Bike+Ride-Abstellanlage entwickelt und im vergangenen Jahr an zwei Haltestellen entlang einer Schnellbuslinie im Umland aufgestellt. In Langenhagen (33.000 Einwohner) nördlich von Hannover und in Pattensen (13.000 Einwohner) 15 Kilometer südlich der Landeshauptstadt wurden jeweils für rund 150 Fahrräder überdachte abschließbare Garagen mit Doppelstockparkern und einigen Bügelstellplätzen für Lastenräder, Anhänger und Liegeräder gebaut. Außerdem gibt es vor Ort Schließfächer und fest installierte Luftpumpen. Die beiden Anlagen sind Pilotprojekte für die weiteren Anlagen, die in den kommenden Jahren entstehen sollen. 1,5 Millionen Euro investiert die Region Hannover jährlich für ihre Bike+Ride-Offensive an Haltestellen im Umland. An einigen Bus- und Bahn-Haltestellen sollen erstmals Stellplätze für Fahrräder entstehen oder die vorhandenen Anlagen deutlich verbessert werden. „Ein Kernpunkt der Anlagen ist das digitale Zugangssystem“, so Martin Niebendahl. Die Türen werden über eine Karte oder per App geöffnet. Damit will die Region Hannover den Kommunen Arbeit ersparen. Die Region baut zwar die Anlagen, aber die Kommunen betreiben sie anschließend. Die Digitalisierung soll Vorgänge wie die Schlüsselvergabe oder die Prüfung der Monatskarte ersetzen.

Umsteigen leicht gemacht. B+R-Anlagen sind praktisch und bringen Bahn und ÖPNV mehr Kunden.

Carsharing mit Dienstwagen im ländlichen Raum

Carsharing ist in kleinen Städten und in ländlichen Kommunen oft unrentabel, weil die meisten dort sowieso einen eigenen Wagen besitzen. Der Mitinhaber der Mobilitätsberatung EcoLibro, Michael Schramek, will dort trotzdem das Teilen von Autos eta-blieren, vor allem, um den Kauf von Zweit- und Drittwagen zu reduzieren. Deshalb hat er 2016 mit anderen Experten „Regiomobil“ gegründet. und verschiedene Modelle für den ländlichen Raum entwickelt. Eins wird bereits im Rahmen des Pilotprojekts „Betriebliches Mobilitätsmanagement im Schwalm-Eder-Kreis“ umgesetzt.
Seit rund zwei Jahren teilen sich die Mitarbeitenden der Stadtverwaltung Homberg, der dortigen Kreisverwaltung, der Kreissparkasse des Schwalm-Eder-Kreises sowie der KBG Kraftstrom-Bezugsgenossenschaft Homberg ihre Dienstwagen. Momentan sind sieben Autos des Carsharing-Anbieters Regio.Mobil im Einsatz. Einige werden abends von Mitarbeitenden der Kreisverwaltung in die benachbarten Kleinstädte wie Treysa (ca. 8.700 Einwohner) und Malsfeld (ca. 4.000 Einwohner) gefahren, wo sie das bestehende Carsharing-Angebot ergänzen oder die ersten Carsharing-Fahrzeuge vor Ort sind. Am Wohnort und am Arbeitsplatz stehen die Carsharing-Dienstwagen an festen Stationen, wo sie außerhalb der Arbeitszeiten von jedermann gebucht werden können. Die Mitarbeitenden, die mit den Dienstfahrzeugen unterwegs sind, benötigen für den Arbeitsweg keinen eigenen Pkw mehr. Eine Mitarbeiterin hat bereits ihren Privatwagen verkauft. Das Angebot kommt gut an und soll ausgeweitet werden.
In Thüringen sind außerdem elf Fahrgemeinschaften mit rund 80 Personen unterwegs, die Schrameks Modell des „pulsierendes Carsharing“ nutzen. Dort stellt Regio.Mobil den Unternehmen 7- oder 9-Sitzer-Autos zum Teilen für den Arbeitsweg zur Verfügung. Die Mitarbeiter „mieten“ dabei lediglich einen Sitzplatz im Fahrgemeinschaftsbus. „Der Betrag ist deutlich günstiger als die Nutzung eines eigenen Pkw“, sagt Schramek. Während der Arbeitszeit stehen die Fahrzeuge dem eigenen Unternehmen oder auch den umliegenden Firmen zur Verfügung. Abends oder am Wochenende werden die Mehrsitzer unter anderem von Vereinen für gemeinsame Fahrten genutzt. Von dem Angebot profitieren die Partner und Privatpersonen. Die Unternehmen und Verwaltungen senken ihre CO2– Bilanz, insbesondere, wenn ihre Mitarbeitenden Fahrgemeinschaften bilden. Außerdem senken sie ihre Fuhrparkkosten durch die Privatnutzung abends und am Wochenende.

Fazit: gute Lösungen sind da

Die eine Lösung, die für jede Kommune passt, gibt es nicht. Aber die Ansätze und Angebote sind mittlerweile so vielseitig, dass selbst kleinere oder ländliche Kommunen Lösungen finden, um den Menschen vor Ort nachhaltige Mobilität leichter zu machen. Für viele Projekte gibt es zudem momentan finanzielle Unterstützung vom Bundesverkehrsministerium.

Tink: So funktioniert Sharing mit Lastenrädern

Wo sind die besten Stellplätze für Cargobikes im Sharing in einer Stadt und wie schützt man die Räder vor Vandalismus? Antworten auf diese und viele weitere Fragen kennt die Transportrad Initiative nachhaltiger Kommunen (Tink) und gibt sie gerne weiter. Seit 2015 sammelt das Tink-Team um Marco Walter und Dr. Friederike Wagner Erfahrungen mit kommunalen Mietradsystemen für Lastenräder. In Norderstedt sind inzwischen 39 Tink-Lastenräder mit und ohne Motorunterstützung im Verleih und in Konstanz am Bodensee 26 Räder. Am Bodensee kommt das Angebot besonders gut an. Dort ersetzt die Hälfte der Nutzer*innen Autofahrten mit den Transporträdern. Deshalb soll ihre Zahl 2022 auf 70 aufgestockt werden. Die Förderanträge laufen noch. Mittlerweile berät das Tink-Team Kommunen beim Aufbau von Mietsystem für Lastenräder, entwickelt für sie passgenaue Sharing-Konzepte und unterstützt beim Erstellen von Förderanträgen. Die Informationen haben sie in einem Ratgeber für Kommunen zusammengefasst. Die Infobroschüre kann auf der Tink-Webseite bestellt werden: www.tink.bike


Bilder: Martin Randelhoff, Cargobike Roadshow – Katja Täubert, Cargobike Roadshow – Andreas Lörcher, Region Hannover – Ines Schiermann, Philipp Böhme, Ajuntament de Barcelona