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So kommt die Verkehrswende auf die Strasse

Die Mobilitätswelt wandelt sich in rasantem Tempo. Innovative Produkte und vor allem ihr konsequenter Einsatz können Teil der Lösung hin zu weniger Autoverkehr und mehr Umweltverträglichkeit sein. Wir haben uns unter anderem auf den Messen Eurobike und IAA Mobility umgeschaut und viele smarte Bike-basierte Lösungen für die Mobilitätswende entdeckt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Lastenräder: Boom und enorme Vielfalt

Während die Politik die beliebten „Schweizer Messer der Fahrradmobilität“ noch kritisch beäugt, boomen Lastenräder aktuell in zwei Bereichen: einmal bei Familien und Kleinunternehmen und zum Zweiten bei professionellen Anwendungen, zum Beispiel als Schwerlastrad (Heavy Cargobike) für Lieferdienste. Während man im ersten Bereich mit aktuell über 100.000 verkauften Rädern pro Jahr von einem Markthochlauf sprechen kann, der sich durch Sharingmodelle und Fördersysteme sicher noch befeuern lässt, befindet sich der zweite Markt gerade erst am Anfang – wobei die Aussichten mehr als vielversprechend sind. Was beide Märkte auszeichnet, ist die enorme Vielfalt an Produkten, technischen Lösungen für alle Anforderungen und eine Vielzahl von Anbietern. Aktuell verwischen dabei auch die Grenzen. So werden zum Beispiel äußerlich fast normale Fahrräder mit langem Radstand und besonders belastbaren Komponenten so ausgelegt, dass gleich zwei Kinder auf dem verlängerten Gepäckträger mitgenommen werden können, wie beim Modell Multicharger Mixte vom deutschen E-Bike-Spezialisten Riese & Müller (r-m.de). Andere Modelle kommen als besonders schmales Dreirad, wie vom Kölner Anbieter Chike (chike.de) oder als vollgefederte Premiummodelle mit aufwendigen Lenkkonstruktionen, wie das frisch mit dem Eurobike-Award in Gold ausgezeichnete Cargoline FS 800 von Kettler (kettler-alu-rad.de). Familien sind begeistert, und auch Sebastian Schweinsteiger als Werbegesicht der erfolgreich neu etablierten Kettler Alu-Rad GmbH findet diese Art der Mobilität super.

Gleam: Familienausflug im Nutzfahrzeug

Zu den bekannten Konzepten kommen mehr und mehr neue Entwicklungen, wie das dreirädrige Pedelec-Modell Escape des jungen Wiener Unternehmens Gleam. Es soll für handwerkliche Unternehmerinnen mit Familie oder aufwendigem Hobby eine Alternative zum Auto bieten. Der Vorteil: Das Chassis nimmt auf der etwa 60 cm breiten und bis 120 cm langen Ladefläche im Heckbereich verschiedene Transportmodule auf. Auch ein hoher Planenaufbau ist möglich. Mit dem Aufbaumodell Life kann man zum Beispiel mit zwei Kindern unter einer klassischen Kinderanhänger-Plane mit Sichtfenstern durch die Stadt oder ins Grüne rollen. Das Schöne an den Modulen: Sie lassen sich dank Schnellverschlüssen in wenigen Minuten wechseln. Ein technisches Schmankerl ist die aufwendige Neigetechnik. Durch das System kann man sich mit dem Dreirad wie mit einem einspurigen Fahrzeug in die Kurve legen. Auch Höhenunterschiede lassen sich dadurch dynamisch ausgleichen. Ermöglicht wird so auch beladen eine harmonische, intuitive Fahrweise mit viel Fahrspaß und eine sehr hohe Kippsicherheit. Das Gleam wiegt 70 Kilogramm, das maximale Systemgewicht beträgt 270 Kilogramm. Bei einem Fahrerinnen-Gewicht von 75 Kilogramm kann die Fracht also bis zu 125 Kilogramm wiegen. Und dann geht’s flott am Stau vorbei.

Mehr: gleam-bikes.com

Carette: echter Kofferraum fürs Fahrrad oder E-Bike

Selbst der Transport von kleinen Gütern auf dem Fahrrad kann eine hohe Hürde im Alltag darstellen, wenn man das Fahrrad oder E-Bike unbeaufsichtigt abstellen muss. Mit speziellen abschließbaren Boxen für Lastenräder ist das kein Problem. Aber auch Fahrradanhänger können hier mithalten. Damian Corby stellte auf der Eurobike 2021 den „Kofferraum ohne Auto“ vor. Ein Anhänger mit Holzchassis, 40 Kilogramm Nutzlast, 70 Litern Inhalt und in verschiedenen Ausstattungsvarianten. Ein wesentlicher Punkt ist der Schutz der Fracht durch die steife Konstruktion: Die Basis des Carette bildet ein robuster Alu-Käfig, die Form geben ringsum stabile Seitenwände und eine Bodenplatte aus witterungsbeständigem Furnierholz. Die Carette-Version mit Holzdeckel kann mit einem Vorhängeschloss gesichert werden. Im Gegensatz zum klassischen Stoffanhänger kommt ein potenzieller Dieb hier nicht per Aufschlitzen des Gewebes an Beute. Innerhalb der Box sorgt eine Lkw-Plane für Wasserdichtigkeit. Das Ganze besticht nicht nur optisch, sondern auch durch eine sehr einfache Handhabung.

Mehr: carette.bike

Bicylift: Palette ans E-Bike

Klassische Transportpaletten sind aus dem Warenverkehr nicht wegzudenken. „Eine Bike-Alternative zum Lkw-Transport muss Paletten-Kompatibilität aufweisen“, schlussfolgerte der Franzose Charles Levillain und gründete vor fünf Jahren die Firma Flexilift. Mit dem Fahrradanhänger Bicylift lassen sich Europaletten mit dem Standardmaß 80 x 120 Zentimeter und bis zu 200 Kilogramm Zuladung ohne weitere Hilfsmittel aufladen und transportieren. Die Palette muss nicht von einem Gabelstapler oder Hubwagen auf den Hänger gehievt werden. Dazu wird zunächst eine Art Gabel quer in die Aussparungen der Palette eingelegt. Die beiden Arme des einachsigen Hängers greifen dann diese Gabel links und rechts auf. Also einfach ankoppeln und losfahren. Beim Verzögern verhindern automatische Auflaufbremsen an beiden Rädern, dass schwere Fracht das Fahrrad oder E-Bike weiterschiebt. So kann man per Bike Palettengebinde zustellen, die sonst aufwendig umgepackt werden müssten. Weiterer Vorteil: Mit dem Bicylift darf man sich auch in für Fahrrad-Lieferverkehr freigegebenen Fußgängerzone bewegen. Und für die letzten Meter lässt sich der innovative Schwerlastanhänger auch als Handkarren nutzen.

Mehr: fleximodal.fr

Podbike Fricar: Pedelcar als neue Pendlerlösung

Hindernisse, das Auto in größerem Stil durch E-Bikes zu ersetzen, sehen viele hauptsächlich in geringerem Komfort, weniger passiver Sicherheit und eingeschränkten ransportkapazitäten. Hier können „Pedelcars“ Problemlöser sein: Meist vierrädrige Fahrzeuge mit E-Bike-Technik und schützender Karosserie. Die norwegische Firma Podbike stellte gerade ihr erstes Modell vor. Unternehmensgründer Per Hassel Sørensen konzipierte 2016 das Fahrzeug in seiner Masterarbeit: Der „Frikar“ ist ein Vierrad, die Motoren unterstützen die Tretkraft bis 25 Stundenkilometer. Das etwa 80 Kilogramm schwere, futuristisch anmutende Fahrzeug hat einen seriellen Hybrid-Antrieb. Die Pedale treiben hier einen Generator an, der Strom in den Akku einspeist. Der wiederum gibt die Energie an die beiden Motoren im Hinterrad ab. Der Frikar ist gefedert, sein Fahrgestell ist aus Aluminium, die Karosserie aus recyceltem und wiederum recycelbarem thermoplastischen Kunststoff. „Wir wollten ein Fahrzeug, das wirklich nachhaltig ist. Und der wesentliche Faktor dafür ist die Produktion“, sagt Podbike CTO Sørensen. So sind Verbindungen im Alu-Chassis nicht energieintensiv geschweißt, sondern vernietet und geklebt. Hinzu kommt, dass der Frikar ein europäisches Produkt ist. „Wenige Komponenten kommen aus Asien. Ein Großteil der Zulieferer sitzt in Europa“, erklärt Åge Højmark, der als Co-CEO fungiert. „Wir wollten in vielerlei Hinsicht zeigen, dass man auch nachhaltig produzieren kann.“ 1.800 Frikar-Exemplare sollen 2022 in Deutschland produziert werden. Als Partner dazu fand man den Fahrradhersteller Storck. Seine Fachhandelspartner werden auch die Wartung des neuen Pedelcars übernehmen.
„Das Fahrzeug zielt ab auf Komfort und Spaß und braucht extrem wenig Platz“, sagt Per Hassel Sørensen. Bei der kürzlichen Launch-Tour durch Deutschland konnten Fachjournalisten den Frikar erstmals testfahren. Erster Eindruck: Einstieg bei nach hinten geschwungener Kanzel, Sitz, Bedienung – tatsächlich ist der Komfort des Pedelcars enorm hoch und auch eine Heizung ist optional erhältlich. Anders als viele Velomobile hat der Frikar einen geschlossenen Boden, sogar mit Teppich. Die Zuhause-Atmosphäre gehört zum Autonahen Konzept: „Der Frikar ist kein Pedelec für Menschen, die ohnehin Rad fahren. Es ist ein Fahrzeug für Menschen, die kein Fahrrad benutzen wollen.“ Das Gefühl der Sicherheit in der geschlossenen Kanzel entspricht in etwa dem eines kleinen Autos. Die Rundumsicht durch das Kunststoffglas-Dach ist sehr gut. Der Frikar setzt sich leichtfüßig in Bewegung, die 80 Kilogramm kommen zügig auf Tempo und das Lenken ist intuitiv und einfach. Die Trittfrequenz wird automatisch, ohne Schaltung, geregelt. Auch die Federung ist enorm komfortabel. An allen vier Rädern gibt es hydraulische Scheibenbremsen, die definiert verzögern. Insgesamt erinnert vieles ans Auto, ist aber simpler – etwa der Rückwärtsgang, der beim Zurücktreten automatisch eingelegt wird. Hinter dem Fahrersitz gibt es Platz für einen Kindersitz oder den großen Einkauf. Highlight beim Parken: Der Frikar kann auch hochkant abgestellt werden. Bis zu acht Fahrzeuge sollen laut Hersteller so auf einen Autoparkplatz passen. Der Einstiegspreis des Frikar soll bei knapp 5.000 Euro liegen, also ungefähr auf der Höhe eines guten Lastenrads.


Mehr: podbike.com

Heavy Cargo: Autozulieferer Mubea steigt aufs Rad

Auch bei Schwerlasträdern lohnt sich sowohl für Kommunen wie auch für Unternehmen als Anwender oder Dienstleister ein genauer Blick auf neue Produkte, den Markt und die Technik. Denn stadtverträgliche, umweltfreundliche und CO₂-neutrale Citylogistik wird ein immer wichtigeres Thema. Die nötigen Produkte dafür sind inzwischen da und sie werden schnell weiterentwickelt. Neu ist, dass auch ein weltweit tätiger Automobilzulieferer wie Mubea, nach Unternehmensangaben Weltmarktführer für die Entwicklung und Herstellung von Fahrwerks-, Karosserie- und Motorkomponenten, mit dem Schwerlastrad „Urban_M CARGO“, ernsthaft in das Thema einsteigt. Das inhabergeführte Familienunternehmen aus Attendorn im Sauerland erwirtschaftet mit weltweit 14.000 Mitarbeitenden einen Jahresumsatz von über zwei Milliarden Euro. Dr. Stefan Cuber, Kopf der neuen Mubea Business Unit Micromobility erläutert im Gespräch auf der IAA Mobility, dass Mubea als Leichtbauspezialist für hoch beanspruchbare Federkomponenten und verwandte Produkte das notwendige Know-how mitbringe, um Lastenräder für Business-Anwendungen zu entwerfen und zu bauen. Für einen aller Voraussicht nach hochdynamischen Markt noch wichtiger: Das Hochskalieren, also die Produktion in großer Stückzahl, sprich einigen Tausend oder Zehntausend Einheiten pro Jahr an unterschiedlichen Standorten in Deutschland, Europa und weltweit, sei in den bestehenden Werken problemlos on demand möglich. Erste Schritte würden mit der Kleinserienfertigung aktuell bereits gemacht. Neu sei laut Dr. Cuber beim Mubea Cargobike, dass hier Know-how aus dem Automobilbau und Leichtbau mit hochleistungsfähigen Komponenten zu einem neuen Gesamtsystem verbunden wird: GFK-Zentralmodul, Doppel-Querlenkerachsen mit Feder-Dämpferbein und Stabilisatoren, eigenentwickelte Siebenspeichenfelgen mit Mopedreifen, viel davon selbst entwickelt und generell „so wenig Fahrradteile wie möglich“, so Dr. Cuber. Denn für die hohen Belastungen im Alltag seien Fahrradteile nicht ausgelegt. Jakub Fukacz, Head of PR/Marketing, berichtet über sehr positive Rückmeldungen aus einem laufenden Praxistest bei Hermes. Ein Eindruck, der sich auf dem Schotter-Testtrack der Messe inklusive Steigung bestätigte. Das Fahren ist erstaunlich leicht, der Wendekreis klein, und es macht einfach Spaß, mit dem Urban_M CARGO, das es als offene Variante und mit Fahrerkabine geben soll, selbst schwieriges Gelände und engste Kurven zu meistern. Gesamteindruck: Zusammen mit neuen Komponenten und Konzepten hat Mubea, neben Unternehmen wie Onomotion, Citkar, A-N.T. Cargo und vielen anderen, sicher das Potenzial zum echten Gamechanger.

Mehr: mubea.com/de/urban-m

Pendix: vom Fahrrad zum E-Bike mit Doppelmotor

Ein Fahrrad zum E-Bike nachzurüsten, ist dank ausgereifter Lösungen wie vom vielfach ausgezeichneten Hersteller Pendix heute kein Problem mehr. Sinn macht das Update mit dem Mittelmotor-System nach Einschätzungen von Experten und angesichts des vergleichsweise hohen Preises natürlich nicht für jedes Fahrrad. Aber es gibt genügend passende Anwendungsmöglichkeiten, zum Beispiel für Lastenräder, die sich mit Motorunterstützung deutlich besser fahren lassen, aber auch das Lieblings-Tourenbike, Spezialräder für besonders große oder kleine Menschen, Spezialräder für Radfahrende mit Handicap usw. Für Erstausrüster auf der IAA Mobility vorgestellt wurde ein neues Antriebskonzept mit Heckmotor. Der Pendix eDrive IN kommt dabei als Standardsystem sowie als Seriell-Hybridvariante auf den Markt. Bei der seriellen Variante haben die Pendix-Ingenieure den Mittelmotor zu einem Generator umfunktioniert. Damit entfallen zum einen viele mechanische Komponenten und zum anderen können so bei Lastenrädern parallel auch zwei Heckmotoren angesteuert werden. Das neue Antriebssystem verfügt über 70 Nm Drehmoment, bietet eine Anfahrhilfe sowie die Möglichkeit, rückwärts zu fahren. Durch die Produktion im sächsischen Zwickau sowie die Zusammenarbeit mit lokalen und europäischen Lieferanten können sich Kunden laut Pendix auf kurze Wege und kurze Lieferzeiten verlassen.


Mehr: pendix.de

VeloHUB: Reclaim Urban Space

Nach einem viel beachteten Auftritt auf der Münchner Messe IAA Mobility ist der Prototyp des sogenannten VeloHUB inzwischen auf einer Roadshow durch verschiedene deutsche Städte. Das mit dem German Design Award ausgezeichnete und für den Deutschen Nachhaltigkeitspreis nominierte modulare System schafft unter dem Motto Reclaim Urban Space auf „zwei SUV-Stellplätzen“ neue Räume in Städten. Begehbar und erlebbar wurde der voll funktionsfähige Prototyp, der mit Standardkomponenten individuell konfigurierbar ist, am Eingang zum erweiterten Messegelände in der Münchner Innenstadt. Von der Dachterrasse aus, die zum Beispiel mit Solarmodulen und Beeten ausgestattet werden kann, gab es ganz neue Ausblicke – unter anderem im Gespräch mit den Mit-Initiatoren Danusch Mahmoudi von Designit und Andreas Hombach vom Metallbauer WSM. „VeloHUB ist ein modulares System, das sich an die unterschiedlichen Bedürfnisse in unseren Städten anpasst, einen Mehrwert für die Bürger schafft und unsere innerstädtische Kultur aufwertet“, so Danusch Mahmoudi. „Es ermutigt die Menschen, alternative Mobilitätslösungen zum Auto zu nutzen, und positioniert das Fahrrad als die wichtigste urbane Mobilitätslösung.“ Ausgestattet ist der Prototyp aktuell mit intelligenten Schlössern von Abus Security Tech, einer Ladebank, Lade-Schließfächern und einer Bike-Repairstation. „Das System kann dank eines ausgeklügelten Konzepts und dem Einsatz von hochbelastbaren und haltbaren Standardkomponenten schnell produziert, aufgebaut und bei Bedarf schnell versetzt werden“, erläutert Andreas Hombach von WSM. Der Metallbauer WSM gehört unter anderem im Bereich Fahrradabstellanlagen zu den führenden Anbietern und erarbeitet zum Beispiel auch Konzepte für Microhubs in der Fahrradlogistik. Fazit: Eine tolle Lösung, um eine Stadt wieder anders zu erleben, oder auch für Unternehmen, zum Beispiel als Mobilitätshub, aber auch als Treffpunkt, Bühne, Showroom etc.

Mehr: designit.com


Bilder: Riese & Müller, Kettler Alurad, Chike, Gleam, Carette, Fleximodal, Georg Bleicher, Reiner Kolberg, Pendix