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Italien treibt die Mobilitätswende voran

Von Kaufprämien über Pop-up-Bikelanes bis hin zu Gesetzesänderungen und „offenen“ Straßen und Plätzen. Italien nimmt Spanien als Vorbild und setzt auf mehr Lebensqualität, nachhaltige Mobilität und das Fahrrad als neues Alltagsverkehrsmittel. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Italien – Radsportnation, Land der Motorroller und Sportwagen jenseits aller CO₂-Limits? Selbst Italiener prägten solche Bilder. Aber das war gestern. Spätestens seit Corona. Statt von einer Mobilitätswende spricht man in Italien jetzt von „Rivoluzione“. Allen voran Verkehrsminister Enrico Giovannini. „Wir stehen vor einer Revolution“, sagte der Minister mit Blick auf Anreize zur Erneuerung der Fahrzeuge in Italien gegenüber der römischen Tageszeitung „La Repubblica“ im Juni dieses Jahres. Die Regierung um den neuen Premier Mario Draghi will 41 Milliarden Euro ausgeben für Infrastruktur und Mobilität aus dem EU-Wiederaufbauprogramm „National Recovery and Resilience Plans“ (PNRR). Allein 600 Millionen Euro sollen in neue Radwege investiert werden. Schon vor der Klimakonferenz in Glasgow wurde angekündigt, ab 2040 keine Fahrzeuge mit Benzin- oder Dieselmotoren mehr neu zuzulassen. Schnell und erfolgreich umgesetzt wurden Fahrrad-Kaufprämien, Pop-up-Bikelanes sowie ein neuer Gesetzeskodex.

Niederlande oder Dänemark? Der Blick geht nach Spanien

Zur Einordnung, wie beträchtlich der Umbruch ist, muss man ihn ins Verhältnis setzen. Zwar blicken Mobilitätsevangelisten auch in Italien gerne auf nördliche Best-Practice-Spitzenreiter wie die Niederlande oder Dänemark. Mitnehmen lässt sich die italienische Gesellschaft damit aber kaum. Zu groß wird der Unterschied zwischen den nord- und südeuropäischen Ländern empfunden. So ist es Machern wie Alessandro Tursi, Präsident des italienischen Fahrradlobby-Verbands „Federazione Italiana Amici della Bicicletta“ (FIAB), sehr recht, wenn in Spanien Städte und das Land bei der Mobilitätswende, der Unfallprävention und beim Thema Tempo 30 vorlegen. „Wenn man hier mit den Niederlanden oder Dänemark kommt, winken die Leute ab und sagen: ‚Okay, das ist Dänemark.´ Deshalb ist das spanische Beispiel wichtig für uns. Spanien ist uns viel näher.“

Corona und Kaufprämien befeuern Fahrradboom

Italien war als erste europäische Nation schwer von Covid-19 betroffen. Die Pandemie gilt als Auslöser für die Wende der römischen Verkehrspolitik im Oktober 2020. Millionen von Berufspendlern sollten in den ohnehin überlasteten Metropolen nicht vom ÖPNV aufs Privatauto umsteigen. Gleichzeitig sollte der Wirtschaft mit Sonderdekreten geholfen werden. Zu den wichtigen Maßnahmen noch unter Ministerpräsident Giuseppe Conte gehörte der „Bonus Bici“. Eine Fahrradprämie in Höhe von bis zu 500 Euro – ausdrücklich auch für den Kauf von E-Bikes und E-Scootern. Dabei erhalten Bürger einmalig einen Gutschein. Fahrradhändler ziehen den Zuschuss vom Preis ab und holen ihn sich vom Staat wieder zurück. 315 Millionen Euro stellte die Regierung dafür bereit. Nach einer Untersuchung der italienischen Umweltorganisation „Legambiente“ wuchs der Fahrradbestand 2020 zum Vorjahreszeitraum enorm. Über 600.000 Fahrräder und Roller wurden neu erworben. Mit einem Plus von 48,4 Prozent katapultierte die Kaufprämie Italien im europäischen Vergleich an die Spitze der Zuwächse. Auch die Fahrradnutzung stieg 2020 drastisch. Besonders im Mai (plus 81 Prozent) und im September und Oktober (plus 73 Prozent).

Mobil per Rad: „BikeMi“ heißt das 2008 ins Leben gerufene öffentliche Fahrradverleihsystem in Mailand. Das System umfasst über 4.600 Fahrräder an 280 Stationen, darunter 1.000 E-Bikes sowie Fahrräder für Kinder.

Pop-up-Radwege und verordneter Umbau in Städten

Kombiniert wurde die Bike-Prämie mit der Erlaubnis für Kommunen, schnell und kostengünstig Pop-up-Radwegen zu schaffen. Die Umweltorganisation Legambiente errechnete über 193 Kilometer neue temporäre Radwege. Vorreiter sind die Städte Mailand (35 km) und Genua (30 km). Dahinter folgen Rom mit rund 16 Kilometern sowie Turin und Brecia mit je rund 15 Kilometern. Das mag wenig erscheinen. Angesichts der Kürze der Zeit wird der Streckenfortschritt im Dossier „Covid Lanes“ von Legambiente aber positiv gewertet. FIAB-Mann Alessandro Tursi ist sich zudem sicher, dass der quantitative Ausbau der Radinfrastruktur nach der Pandemie auch qualitativ weitergeht. „Für mehr Sicherheit werden die Pop-up-Wege später baulich vom Autoverkehr getrennt.“ Sinn ergibt der symbolträchtige Umbau vor dem Hintergrund der Forderung bzw. dem Ziel, in allen Städten auf einen zweistelligen Prozentsatz des Fahrradanteils im Modal Split zu kommen. Dabei erreichen einige Städte in Italien schon heute Amsterdamer Niveau. In Bozen, Pesaro und Ferrara überschreiten die Radverkehrsanteile teils die 30-Prozent-Marke.
Langfristig hat sich die italienische Regierung hohe Ziele gesetzt. Dazu sollen in den nächsten fünf Jahren die Radwegkilometer in italienischen Städten verdoppelt werden. Dies entspricht auch den EU-Plänen für nachhaltige urbane Mobilität (SUMP), die Städte in Italien unter dem Namen PUMP ausgestalten. Unter Androhung des Entzugs staatlicher Finanzierungen ist die PUMP seit August 2019 für alle Gemeinden mit mehr als 100.000 Einwohnern verpflichtend. Insgesamt sollen so zu den bestehenden 2.341 Radwegkilometern noch einmal 2.626 Kilometer in 22 Städten hinzukommen.

Gesetzesänderungen ermöglichen Wandel

Um die Infrastruktur zu verbessern, wurde zuerst der notwendige gesetzliche Rahmen geschaffen. Der neue Kodex beinhaltet fahrradfreundliche Änderungen der Straßenverkehrsordnung, wie man sie aus anderen europäischen Nationen und Städten kennt. Zur Verbesserung der Sicherheit wurden nicht nur Pop-up-Radwege erlaubt, sondern beispielsweise auch aufgeweitete Radaufstellstreifen (ARAS), die es Radfahrenden ermöglichen, sich an Kreuzungen und Ampeln vor den Autos aufzustellen. In Tempo- 30-Zonen können die Gemeinden nun Einbahnstraßen in Gegenrichtung für Radfahrer freigeben.

+100 %

Langfristiges Ziel:
In den nächsten fünf Jahren
sollen die Radwegkilometer
in italienischen Städten verdoppelt werden.

Starke Nachfrage bei Sharing und Mikromobilität

In Italien nutzen aktuell mehr als acht von zehn Personen private Fahrzeuge. Der öffentliche Personennahverkehr nimmt ab, gleichzeitig nimmt die geteilte Mobilität in den Städten zu. Das geht aus der ersten Ipsos-Legambiente-Umfrage zum Neustart hervor. Neben dem Boom von E-Bikes, nicht zuletzt im Zuge der Bonus-Gutscheine, spielt die Mikromobilität in Italien eine stark wachsende Rolle. Die meisten Dienste starteten nach den harten Lockdowns im Juni und September 2020. So werden nach dem jüngsten Bericht der „Sharing Mobility Observatory“ allein in 38 italienischen Provinzhauptstädten Sharing-Dienste angeboten. Am weitesten verbreitet ist das stationäre Bikesharing, gefolgt von E-Tretrollern, Free-Floating-Bikes sowie Scootern. Spitzenreiter ist Mailand mit 14 Mikromobilitäts-Sharingdiensten, gefolgt von Rom mit 11 und Turin mit 7 Diensten. Die Zahl der geteilten E-Tretroller in italienischen Städten hat sich in nur wenigen Monaten mehr als verfünffacht. Insgesamt wuchs die Fahrzeugflotte von 4.650 im Jahr 2019 auf 27.850 in 2020.

Pionierstadt Mailand: „offene Straßen und Plätze“

Norditalienische Städtchen wie Ferrara oder Cesena genießen über Italien hinaus den Ruf, Fahrradstädte zu sein. Zu den neuen fahrradfreundlichen Pionierstädten zählt die Metropole Mailand. Mit dem im April 2020 verkündeten Programm „Strade Aperte“ (offene Straßen) setzt man auf eine fahrrad- und fußgängerfreundliche Stadt. Zu den Maßnahmen gehört die Pop-up-Fahrradinfrastruktur mit 35 Kilometern neuen Radwegen. Bereits vorhandene Tempo-30-Zonen werden ausgeweitet. Die Bürgersteige wurden infolge des Abstandsgebots während der Pandemie verbreitert, vorhandene Fußgängerzonen ausgebaut. Neben den Strade Aperte gehören die „Piazze Aperte“ (offene Plätze) zur Strategie der lombardischen Metropole. Dabei geht es um nichts weniger als die Rückeroberung städtischer Räume für die Bewohner der 1,4-Millionen-Einwohner-Stadt. Nach Angaben der Kommune wurden bereits 15 Plätze umgestaltet, weitere 10 sieht der Strategieplan vor. Schon vor der Pandemie führte die Stadt eine City-Maut ein. Für die Zufahrt zur historischen Altstadt innerhalb des Stadtmauerrings ist tagsüber an Werktagen ein gebührenpflichtiges Ticket erforderlich. Die Zufahrten werden mit Kameras überwacht.
Zum umkämpften Symbol der Veränderung wurde der acht Kilometer lange Corso Buenos Aires im Stadtzentrum. Mit als Erstes wurden auf der populären Einkaufsstraße Radspuren markiert und die Fußwege verbreitert. Wie in anderen europäischen Städten gab es vor der Umgestaltung heftige Debatten. Dass sich das Bewusstsein ändert, sobald sich die Vorteile offenbaren, zeigten die Lokalwahlen Anfang Oktober 2021. Rechten Parteien gelang es nicht mehr, mit einer autozentrierten Mobilitätspolitik an den Urnen zu punkten. Darauf weist auch Fahrrad-Lobbyist Tursi hin. „Die Rechten stellten sich dagegen. Sie sagten: ‚Die Straße gehört den Leuten‘, und meinten, den Autos. Sie organisierten einen Flashmob, indem sie symbolisch die Fahrradroute zertrümmerten. Aber sie haben die Wahlen haushoch verloren.“ Dem Mailänder Bürgermeister Beppe Sala, der für die fahrradfreundliche Verkehrspolitik steht, bescherten die Wähler dagegen eine weitere Amtszeit. Und auch düstere Wirtschaftsprognosen infolge seiner Politik erwiesen sich als falsch. Die Neue Züricher Zeitung berichtet im Oktober 2021 in einem Artikel: „… den Ausbau des Radwegnetzes in Mailand, unter Salas Führung gegen heftigen Widerstand aus Rechts- und Autokreisen vorangetrieben, hat die Wirtschaft bisher anscheinend ohne Schaden überstanden.“

Bei den Lokalwahlen in Mailand im Oktober gehörte die Fahrradinfrastruktur zu den zentralen Themen. Zum umkämpften Symbol für Veränderungen wurde die Hauptverkehrsstraße Corso Buenos Aires.

Maßgaben für die Planung: Neue Radwege, Verengung auf zwei Autospuren und Tempo 30.

Autostadt Turin: Ritterschlag von Fahrradlobbyisten

Mit über 214 Radkilometern liegt die weltberühmte italienische Autostadt Turin nach der „Clean Cities“-Legambiente-Umfrage auf dem vierten Platz unter den Städten mit der höchsten Anzahl von Radwegen. Hinter Bologna, Rom und Mailand. Zählungen ergaben, dass der Fahrradverkehr 2021 sogar gegenüber dem Pandemie-Monat Mai 2020 um 50 Prozent gestiegen ist. Das darf sich auch die lokale Politik anrechnen. Entsprechend erhielt die piemontesische Hauptstadt einen kleinen Ritterschlag von der FIAB. Der Radverband kürt fahrradfreundliche Städte regelmäßig nach Kriterien wie „urbane Mobilität“, „Governance“ oder „Kommunikation“. Hervorgehoben wurde neben der Erweiterung der Tempo-30-Zonen die Umsetzung der neuen Radwege, Aufstellstreifen vor Ampeln und Kreuzungen sowie Geschwindigkeitsbegrenzungen bis auf 20 km/h quasi über Nacht.
Die Basis für eine nachhaltige Mobilität legten dabei bereits die Vorgängerregierung unter der Stadträtin für Verkehr und Infrastruktur Maria Lapietra und der „Biciplan“ (Fahrradplan) aus dem Jahr 2013. Der sieht unter anderem die Steigerung des Modal Split von 3 auf 15 Prozent sowie die Schaffung von 10 Haupt- und 4 Kreisrouten vor. Auch der frisch gewählte Bürgermeister Stefano Lo Russo setzt darauf, den immer noch hohen Anteil der städtischen Fahrten mit dem Auto von 42 Prozent durch die Förderung der Nutzung von Fahrrädern und ÖPNV zu senken. Deshalb soll der Turiner Biciplan erweitert werden. Mit einer besser vernetzten Radinfrastruktur und Ausweitung der Tempo-30-Zonen. Großes Vorbild ist dabei Frankreich. Bis Weihnachten wird die beispielhaft verkehrsberuhigte Zone im Viertel Vanchiglia fertig, in der Fußgänger und Fahrräder priorisiert werden. Das Projekt umfasst neue Fußgängerzonen, Verbreiterung der Bürgersteige, markierte Radwege, Fahrradabstellplätze sowie Begrünungen.

Vorbild Barcelona: „Piazze Aperte“ (offene Plätze) sollen auch in Mailand neue Räume schaffen für die Einwohner*innen. 15 Plätze wurden bereits umgestaltet, weitere 10 sollen noch kommen.

Bologna: „Bikemania“ und bald Tempo 30

Bologna in der Emilia-Romagna besitzt eine fahrradfreundliche Tradition. Die Zeitung La Repubblica spricht inzwischen sogar von einer regelrechten „Bikemania“. Wie in Mailand gibt es eine Verkehrsbeschränkte Umweltzone. Für die Schaffung neuer Radwege setzt die Kommune 1,8 Millionen Euro ein. „Dank solcher Ressourcen verändert die Stadt langsam ihr Gesicht“, beschreibt die Zeitung die neue Raumordnung. Auch hier knüpft der Pandemie-Schub an bestehende Projekte an. Ein Meilenstein ist die 2015 vollendete 8,4 Kilometer lange Ringroute. Beliebt vorrangig bei Pendlern und „auf bestem europäischen Niveau“ – so Stadtrat Andrea Colombo. Bereits seit zehn Jahren werden an sogenannten T-Days regelmäßig drei T-förmig aufeinander zulaufende Hauptstraßen im historischen Stadtzentrum komplett für den motorisierten Verkehr gesperrt. Der nächste Meilenstein soll die stadtweite Einführung von Tempo 30 sein. Unterstützt wird das Projekt von der Kampagne „Bologna 30“, die dafür mehr als 5.000 Unterschriften sammelte.

Veränderungen auch in Mittel- und Süditalien

Nicht verleugnen lässt sich das in vielerlei Hinsicht zu beobachtende Nord-Süd-Gefälle in Italien. Auch aufgrund klimatischer und topografischer Bedingungen wurde das Fahrrad bisher unterschiedlich stark als urbanes Verkehrsmittel genutzt. Doch selbst die Römerinnen und Römer haben das Radfahren als Verkehrsmittel in der Pandemie entdeckt. 150 Kilometer neue Radwege sind für die Kapitale zudem angekündigt. Auch Richtung Bari lohnt ein Blick. Das städtische Post-Lockdown-Projekt „Open Space“ umfasst hier die Umgestaltung öffentlicher Plätze, Ausweitung von Parkzonen und Einschränkung des motorisierten Individualverkehrs, während gleichzeitig das Angebot der E-Mikromobilität als Sharing verstärkt wird. Zusätzlich werden neue Tempobegrenzungen eingeführt. Und selbst im heißen Palermo auf Sizilien ist man auf den Geschmack gekommen und will die bestehen 48 Radkilometer auf 155 km ausbauen. Eine City-Maut gibt es dort übrigens schon länger.

Der Lockdown führte in Bari „zu einer allgemeinen Krise wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Art, mit vorhersehbaren kurz-, mittel- und langfristigen negativen Auswirkungen“. Dem begegnet die Stadt mit einem umfassenden Programm für nachhaltige Mobilität und öffentlichen Raum.


„Es ergibt sich ein neues Bewusstsein für Fortbewegung, Gesundheit und Umwelt.“

Alessandro Tursi, FIAB

„Wie der Beginn einer Revolution“

Interview mit FIAB-Präsident Alessandro Tursi

Signore Tursi, wie verhalf die Pandemie den Italienern aufs Fahrrad?
Es ist noch gar nicht lange her, da betrachtete man das Fahrrad in Italien als Sportmaschine oder Freizeitspielzeug. Aber wir waren auch die erste Nation in Europa, die hart von der Pandemie getroffen wurde. Zwei Monate verbrachten wir zu Hause in der Wohnung. Mit harten Restriktionen. Ich habe diese Lage für ein Bild benutzt: Stellen Sie sich vor, Menschen sind daran gewöhnt, sich mit Whiskey zu betrinken. Für zwei Monate können sie keinen bekommen, fangen an Wasser zu trinken und sagen sich: „Das ist doch viel gesünder!“ Übertragen ergibt sich ein neues Bewusstsein für Fortbewegung, Gesundheit und Umwelt.

Welchen Beitrag leistete die Politik?
Regierungsinstitutionen begannen die Radinfrastruktur zu finanzieren. Mit mehr als 300 Millionen Euro zum privaten Kauf von Fahrrädern, E-Bikes und E-Kickscootern. In Rom, Mailand, Turin, Bologna, Florenz und Genua sorgten die Bürgermeister für neue Pop-up-Radwege, die einfach auf die Straße gemalt wurden. Zur gleichen Zeit änderte die Regierung die Straßenverkehrsordnung. Neben den neuen Radwegen gab man Einbahnstraßen für Radfahrer frei, erlaubte Radaufstellstreifen vor Ampeln. Italien rief 600 Millionen Euro von der Europäischen Union für den Radverkehr ab. Selbst wenn das nur zwei Prozent von dem Budget sind, das Italien von der EU wegen der Pandemie erhält. Bezogen auf die Verhältnisse hier erhielten die großen Städte auf einmal viel Geld zur Förderung der Radinfrastruktur. Alles zusammengenommen war das wie der Beginn einer Revolution.

Welche Bedeutung hat das Beispiel Mailand?
Der Corso Buenos Aires gilt als Fallstudie. Dort wurde ein Anstieg täglicher Radfahrten von 4.000 auf 10.000 registriert. Gerade hat man damit begonnen, die für Mailand symbolische Fahrradroute als getrennte Spur zu befestigen. Bei den Lokalwahlen Anfang Oktober gehörte die Fahrradinfrastruktur zu den zentralen Themen. Die Rechten stellten sich dagegen. Sie sagten: „Die Straße gehört den Leuten“ und meinten, den Autos. Sie haben die Wahlen haushoch verloren. Daher bin ich zuversichtlich, dass sich auch im rechten Spektrum die Erkenntnis durchsetzt, dass der Krieg gegen Radfahrer ein Bumerang ist.

Wie steht es aktuell um Tempo 30 in Italien?
Im Moment liegt die gesetzliche Höchstgeschwindigkeit bei 50 km/h. Wir drängen auf Gesetzesänderungen für Tempo 30 in Wohngebieten. Derzeit ist es eine freiwillige Entscheidung der Bürgermeister, die Geschwindigkeit weiter zu reduzieren. Das spanische Beispiel ist sehr wichtig für uns. Wenn man in Italien mit den Niederlanden oder Dänemark kommt, winken die Leute ab. Uns ist Spanien viel näher. Was in Spanien möglich ist, ist auch in Italien vorstellbar.

Welche Rolle spielt die Mikromobilität?
Die E-Kickscooter heißen bei uns „Monopattini“. Anders als in Deutschland kamen sie spät in Italien an, erst kurz vor Corona. Während der Pandemie wuchs das Thema gigantisch. Jetzt sind sie auch in mittelgroßen und kleinen Städten präsent. Ich lebe selbst in einer Stadt an der adriatischen Küste, Giulianova – mit nur 24.000 Einwohnern. Selbst wir haben so ein Sharing-System.

Wie nachhaltig ist die neue Radverkehrspolitik?
Während der Pandemie nutzen die Menschen lieber private Fahrzeuge als öffentliche Verkehrsmittel. Deshalb haben wir einerseits mehr Radfahrer, andererseits mehr Autofahrer. Die neu eingeführten Regeln gelten jedoch dauerhaft. Alle Kommunen können jetzt die Infrastruktur erweitern. Mit wenig Geld werden Pop-up-Radwege umgesetzt. Auch die bleiben dauerhaft. Für mehr Sicherheit werden diese Pop-up-Wege später baulich vom Autoverkehr getrennt.
Ich glaube, dass es auch in der Regierung ein neues Bewusstsein für eine andere Mobilität gibt. Verkehrsminister Enrico Giovannini hat angekündigt, für den nächsten Haushalt weitere 100 Millionen Euro für touristische Radreiserouten und für urbane Radwege bereitzustellen. Wir sind sehr optimistisch, dass die Draghi-Regierung weiter an dem fahrradfreundlichen Kurs festhält. Ich glaube, Italien verändert sich.


Bilder: stock.adobe.com – Frédéric Prochasson, Qimby.net – Markus-Fedra, Cumune di Milano, Cumune di Milano, Cristina Santoni, Comune di Bari