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Bessere Navigation für Cargobikes

Cargobikes übernehmen einen immer größeren Anteil der Warenzustellungen in den Stadtzentren. Damit die Fahrerinnen und Fahrer nicht an Baustellen, Umlaufgittern oder zu hohen Bordsteinen scheitern, benötigen sie eine fahrzeuggerechte Navigation. Daran sollten Städte arbeiten. Denn bislang fehlen Anwendern die Daten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Noch spielen Lastenräder in Innenstädten für den Wirtschaftsverkehr eine relativ kleine Rolle. Nach Einschätzung von Expert*innen und der Bundesregierung ändert sich das in den kommenden Jahren aber rasant. Fast ein Drittel der Waren könnten dann laut Bundesverkehrsministerium mit sogenannten Heavy Cargobikes zum Kunden gebracht werden. Die Infrastruktur ist dafür jedoch vielfach nicht ausgelegt. Momentan bremsen Hindernisse die Fahrerinnen und Fahrer auf vielen Strecken aus. Ansätze für digitale Lösungen gibt es. Das Projekt „SmartRadL“ oder die App „Cargorocket“ helfen dabei, die Routenplanung für Lastenräder zu optimieren.

17,5 %

Weniger als ein Fünftel der vom ADAC
in einer Untersuchung
gemessenen Radwege war
mindestens 1,60 Meter breit.

Pionierarbeit bei der Cargobike-Routenplanung

Steffen Bengel ist Geograf und Projektleiter am Institut für Arbeitswissenschaften und Technologiemanagement der Universität Stuttgart im Bereich Logistik und Fahrradmobilität. Er begleitet bis 2022 in dem Projekt „SmartRadL“ die Entwicklung einer integrierten Softwareanwendung für ein intelligentes Routen- und Auftragsmanagement für Lastenradverkehre. Dafür arbeitet er mit dem Software-Entwickler FLS und dem Logistikunternehmen velocarrier zusammen. Ein primäres Ziel ist, Lastenradlogistikern eine Software an die Hand zu geben, die Hindernisse in der Stadt von starken Steigungen bis zu hohen Bordsteinkanten bei der Routenplanung berücksichtigt und damit die Effizienz und Wirtschaftlichkeit des Lastenradeinsatzes auf der letzten Meile verbessert. Dafür schaut sich Bengel die Radinfrastruktur genau an und stellt fest: „Auf den Lieferverkehr per Fahrrad sind die Kommunen überhaupt nicht vorbereitet.“ In den Städten ist es bereits heute eng auf den Radwegen. Seit dem ersten Corona-Lockdown sind rund 20 Prozent der ÖPNV-Nutzer und Nutzerinnen dauerhaft aufs Rad umgestiegen. Hinzu kommt, dass immer mehr Zusteller und Dienstleister vom Auto oder Lieferwagen aufs E-Bike oder Cargobike wechseln. Dazu gehören neben Essenszustellern wie Lieferando inzwischen auch Supermärkte wie Rewe oder Lebensmittelzusteller wie Getir, Flink oder Gorillas, die Lieferungen per E-Bike innerhalb von zehn Minuten versprechen. Allein Gorillas hat seit seiner Gründung im Jahr 2020 in neun Ländern ein Netz von 140 Lagern in großen Städten aufgebaut. „Entwicklungen wie diese verstärken den Radverkehr an den Hotspots rund um die Lager zu manchen Tageszeiten um teilweise mehr als 100 Prozent“, sagt Bengel. Es wird also immer enger auf den Radwegen. Außerdem fehlen in den Städten zusammenhängende Netze, und die Radwege, die es gibt, sind oft zu schmal. „Der Automobilclub ADAC hat 2020 in einer Untersuchung in zehn deutschen Landeshauptstädten auf 120 Strecken nachgemessen“, sagt Bengel. Das Ergebnis ist alarmierend. Gerade mal 17,5 Prozent aller gefahrenen Routen entsprachen demnach den Empfehlungen für den Radverkehr und waren mindestens 1,60 bis 2 Meter breit. An sicheres Überholen ist so kaum zu denken.

„Auf den Lieferverkehr

per Fahrrad sind die Kommunen überhaupt nicht vorbereitet.“

Steffen Bengel, Institut für Arbeitswissenschaften
und Technologiemanagement der Universität Stuttgart

Problem erkannt: Daten und Lösungen sind gefragt

In Interviews mit den Zustellern fand Bengel außerdem heraus: Poller, fehlende Bordsteinabsenkungen und Einbahnstraßen bremsen Cargobikes auf ihren Touren immer wieder aus. Aktuell kommen die Fahrerinnen und Fahrer mit den Tücken auf den Strecken klar. „Viele von ihnen sind Fahrradenthusiasten“, sagt Bengel. Sie kennen ihre Stadt, ihre Routen und Schleichwege, die sie selbst mit sperriger Ladung im Heck oder im Anhänger passieren können. Aber je mehr des Wirtschaftsverkehrs aufs Lastenrad verlegt wird, umso wichtiger wird eine zugeschnittene Tourenplanungssoftware. Denn die Hindernisse auf der Strecke sind vielfältig. Manchmal sind beispielsweise die Verkehrsinseln in der Mitte der Straße so schmal, dass die Lastenräder oder ihre Anhänger beim Stopp bis auf die Fahrbahn reichen. Auch in geöffneten Einbahnstraßen kann es für sie bei Gegenverkehr extrem eng werden. Ein Problem sind auch aktuelle Baustellen. Eine Routing-App für Lastenräder könnte diese Aspekte bei der Tourenplanung berücksichtigen. Aber dafür fehlen bislang noch die Daten. „Infrastrukturdaten von Radwegebreiten bis zu Bordsteinhöhen sind entweder gar nicht oder nur sporadisch vorhanden oder nicht frei zugänglich“, sagt Bengel. Das gelte auch für Live-Informationen zu Behinderungen wie Außenveranstaltungen, Baustellen oder Demonstrationen.
Im November 2020 schilderte Steffen Bengel beim Hackathon des Ministeriums für Verkehr Baden-Württemberg das Problem mit der Datenlücke. Unter den Expertinnen für Verkehrsgestaltung, Daten-Providern und kreativen Entwicklerinnen waren auch Alexandra Kapp, David Prenninger und Henri Chilla. Die drei kannten einander nicht, wollten aber eine Routing-App für Lastenräder entwickeln. Das Verkehrsministerium in Baden-Württemberg unterstützte ihre Idee mit 25.000 Euro. Der Student und die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen gründeten das Start-up Cargorocket und veröffentlichten im Mai 2021 den bundesweit ersten „Cargobike-Index“, der inzwischen die Lastenradtauglichkeit vieler Straßen in ganz Deutschland zeigt. Ein paar Wochen später folgte ihre App. „Beides sind keine fertigen Produkte“, betont Entwickler David Prenninger. Das Trio habe damit einen Diskurs eröffnen und zeigen wollen, welche Standards Lastenräder brauchen, um als Autoersatz in der Stadt unterwegs sein zu können, und welche Daten für ein Routing notwendig sind.

„Infrastrukturdaten für Cargobikes sind entweder gar nicht oder nur sporadisch vorhanden oder nicht frei zugänglich.“

Steffen Bengel, Universität Stuttgart

Sammeln von Daten in Heimarbeit

Auch sie erkannten schnell: Infrastrukturdaten zu sammeln, ist in Deutschland schwierig. „Die Daten, die beim Bund, den Ländern und Kommunen existieren, sind kaum zugänglich“, sagt Alexandra Kapp, die im Team für die Geodaten zuständig ist. Allein um die Höhen von Baden-Württembergs Bordsteinen zu erfahren, hätten sie in jeder, der mehr als 1.000 Kommunen nachfragen müssen. Um sich Zeit und mögliche Absagen zu ersparen, nutzten sie die freie Weltkarte OpenStreetMap (OSM). „Viele Radwege, Bordsteine, Drängelgitter oder Poller sind dort bereits gemappt“, sagt Kapp. Was fehlt, sind die Informationen zu den Radwegebreiten, wie viel Platz rechts und links der Poller verbleibt oder ob die Oberflächen der Radwege glatt sind oder Holperpisten ähneln. Kurzum, es geht um Straßentypen, Oberflächen und Barrieren. Um die fehlenden Daten zu ergänzen, organisierte das Trio im April 2021 einen sogenannten Mapathon. Das ist ein koordiniertes Mapping-Event, bei dem Freiwillige in ihrer Stadt Informationen über die Wegbeschaffenheit sammeln und zu den OpenStreetMap-Daten hinzufügen.
Das Sammeln der Daten ist bislang Handarbeit. Die Mapper*innen messen vor Ort die Breite der Radwege oder die Höhe der Bordsteine und ergänzen die Werte in der OpenStreetMap. „Für die Barrieren gibt es eigene Tags wie ‚bollard‘ (Poller) oder ‚cycle_barrier‘ (Umlaufgitter)“, sagt Kapp. Neben der Art der Barriere kann zudem die maximale Breite über „width“ oder „maxwidth:physical“ sehr genau getaggt werden. Das System von OSM sei selbsterklärend und funktioniere gut, sagt Kapp. In Ulm wurde seit dem Mapathon aus ihrer Sicht relativ viel gemappt. Für 26 Radwege wurden die Daten ergänzt. „Die Tag-Vollständigkeit ist dort von 20 auf 32 Prozent gestiegen“, sagt Kapp. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: 68 Prozent der Radwege bleiben ungemappt.

Kommunen leisten mit einer geeigneten Infrastruktur und den nötigen Daten einen wichtigen Beitrag, um den Einsatz von Cargobikes im Wirtschaftsverkehr zu erleichtern.

Vorausschauende Planung durch Kommunen nötig

Die Standards, die Cargorocket entwickelt hat, inspirieren auch Steffen Bengel und sein Team für ihre Routingsoftware. Außerdem profitieren sie von den neuen Daten in OSM, die seit dem Mapathon hinzugekommen sind. Das gilt für alle Anbieter von Tourenplanungssoftware, die OSM nutzen. Hier wünscht sich Bengel künftig deutlich mehr Unterstützung durch die Kommunen. Denn indem sie ihre Daten zur Radwegeinfrastruktur zur Verfügung stellen, machen sie den Einsatz von Cargobikes im Wirtschaftsverkehr wesentlich leichter. „Am besten werden die Daten in ein offenes, bewährtes System wie OpenStreetMap eingespeist“, sagt Bengel. Dort kann jeder auf die Daten zugreifen und weitere Tools zum Einsatz von Lastenrädern für Gewerbetreibende oder auch für Privatleute entwickeln. Neben dem Routing ist für ihn auch das Parken beim Kunden relevant. „Momentan halten die Zusteller je nach auszuliefernder Ware alle 50 Meter auf dem Gehweg“, sagt er. Erreicht die Radlogistik tatsächlich einen Marktanteil von 30 Prozent der Warenzustellung in der Innenstadt auf der letzten Meile, kann das zum Problem werden. Um das Zuparken von Gehwegen durch Zusteller*innen auf Cargobikes zu vermeiden, sollten die Kommunen jetzt Strategien entwickeln, um das Parken in der Innenstadt zu erleichtern.

Fazit und Aufgaben

Dass der Anteil von Cargobikes am Gesamtverkehr steigt, ist notwendig, absehbar und gewünscht. Auch der Boom der Logistik durch E-Commerce und neue Lieferservices wird nach Meinung der Experten weitergehen. Projekte wie SmartRadL und Cargorocket helfen Radlogistikern dabei, die Vorteile der Cargobikes auf der Kurzstrecke effektiver auszuspielen. Die Kommunen können und sollten sie unterstützen, indem sie die passende Infrastruktur für Cargobikes von Lieferdiensten und privaten Anwendern in der Planung ab sofort immer mitdenken. Das gilt für die Erhebung und Freigabe von Infrastrukturdaten ebenso wie für die Planung von ausreichend bemessenen Radwegen oder Stellflächen im gesamten Stadtgebiet.


Cargorocket:
OpenStreetMap plus X

Die meisten Straßen im Cargobike-Index basieren weiterhin ausschließlich auf OSM-Datenmaterial. Das heißt: Sämtliche Straßen von der Bundesstraße über den Fußweg bis zum Feldweg sind dort erfasst. Die App Cargorocket übersetzt mit ihrem Index jede Straßenkategorie in eine Empfehlung für Lastenräder. Die App ermittelt dann anhand dieser und der getaggten Daten die beste Strecke durch die Stadt.


Bilder: stock.adobe.com – antoine-photographe, Steffen Bengel, Cargorocket