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Bremen fährt weiter voran

Der Radanteil in der Hansestadt ist hoch, das Image im Städtevergleich spitze und die Infrastruktur gut. Jetzt will die Stadt die Qualität nochmals deutlich steigern. Dazu gehören das erste Fahrradmodellquartier Deutschlands, Premiumrouten und neue Fahrradbrücken. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


Radfahren gehört seit vielen Jahren in Bremen zur Mobilitätskultur. 25 Prozent der Wege werden hier mit dem Fahrrad zurückgelegt, und im Städtevergleich gibt es immer wieder Bestnoten für die Fahrradfreundlichkeit. Allerdings sind viele Radwege weiter deutlich zu schmal und das Netz ist noch lückenhaft. Die Hansestadt will das in den kommenden Jahren ändern. Dafür gibt es bereits diverse Projekte mit fertigen Planungen und teils bewilligten Bundesfördermitteln. Schöner Radfahren, das geht in der Hansestadt inzwischen vor allem im Stadtteil „Alte Neustadt“. Dort wurde 2019 das erste Fahrradmodellquartier eröffnet. Seitdem gelten dort alle Vorzüge einer Fahrradstraße mit Tempo 30 und Vorrang vor dem Autoverkehr. Das Quartier umfasst zwölf Straßen. Das klingt nicht nach viel, setzt aber neue Qualitätsstandards in der Radverkehrsplanung. Separat betrachtet ist fast jede der zehn umgesetzten Maßnahmen relativ unspektakulär. Ihre Wirkung entfalten sie durch ihr Zusammenspiel und die konsequente Umsetzung jeder einzelnen Maßnahme.

Neue Infrastruktur und das Fahrrad als gleichberechtigtes Verkehrsmittel beim Fahren und Parken. So soll der Anteil des Radverkehrs in Bremen massiv weiter gesteigert werden.

Pkw-Übernutzung zurückgedrängt

Das Modellquartier liegt nur einen Kilometer vom historischen Rathaus entfernt. Doch anders als rund um den gotischen Prachtbau sind die Straßen in der „Alten Neustadt“ eng. Die Gehwege waren schmal und lange Zeit von Fahrrädern und Falschparkern zugestellt. Im Zuge des Umbaus zur Fahrradzone sollte das anders werden. Das Ziel lautete: Vorrang für Fuß- und Radverkehr – beim Fahren wie beim Parken. Als Erstes beendete Michael Glotz-Richter, Referent für nachhaltige Mobilität in Bremen, das „Wild-West-Parken“. „Wir hatten eine Übernutzung durch Pkw“, sagt er. Rechts und links am Fahrbahnrand standen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Häufig stellten die Falschparker ihre Wagen so ab, dass sie weit in die Kreuzung hineinreichten. Das war für Fahrzeuge der Müllabfuhr und der Rettungsdienste problematisch. Sie mussten in den schmalen Gassen Schritttempo fahren und blieben an den zugeparkten Kreuzungen öfters stecken. Um das Parken an Einmündungen und Kreuzungen grundsätzlich abzustellen, wurden deshalb im Rahmen des Projekts die Fußwege an diesen Stellen erweitert. Auf den vorgezogenen Bürgersteigen stellte die Stadt Fahrradbügel auf. Insgesamt 600 im gesamten Quartier. Wer zu Fuß geht, hat heute freie Wege, weil die Fahrräder nicht mehr an Straßenschildern und Gartenzäunen angeschlossen werden und Falschparken verhindert wird. Der Sicherheitsgewinn ist groß. Wenn Kinder und Erwachsene jetzt die Straße überqueren, haben sie die komplette Kreuzung im Blick – und umgekehrt werden sie von den Autofahrenden deutlich früher und besser wahrgenommen.

„Wir hatten eine Übernutzung durch Pkw.“

Michael Glotz-Richter
Referent für nachhaltige Mobilität in Bremen

Mehr Sicherheit, Vernetzung und Service

Sicherheit war ein zentrales Thema bei der Planung des Fahrradmodellquartiers, das auch Fahrradzone genannt wird, und es ist erst der Auftakt, um Radfahren in der Stadt insgesamt auf eine neue Qualitätsstufe zu heben. So waren die beiden Hauptstraßen, die das Fahrradquartier eingrenzen, lange ein Sorgenkind der Planer. „Als die Straßen gebaut wurden, hat man die Fußgänger vergessen“, sagt Glotz-Richter. Wenn sie die Straßen queren wollten, mussten sie aufpassen und schnell sein. Denn die beiden Straßen sind die direkten Zubringer zu den Brücken ins Zentrum. Entsprechend hoch ist dort der Auto- und S-Bahn-Verkehr. Im Zuge des Umbaus wurde in der Fahrbahnmitte eine Fahrspur entfernt und für Radfahrer und Fußgänger neu gepflastert. Außerdem wurde sie rot eingefärbt und mit Fahrradpiktogrammen versehen. Diese Querungshilfen, die Verkehrsinseln gleichen, wurden an strategisch wichtigen Stellen für Radfahrer platziert. Denn in den kommenden Jahren soll in der Hansestadt ein sogenanntes Premium-Radroutennetz entstehen. Das ist mit einem Radschnellwegenetz vergleichbar. Die Querungshilfen verbinden später das Fahrradquartier auf direktem Weg mit dem Premiumnetz. Die Fahrradzone ist im Grunde eine Ausweitung der Fahrradstraße. Deshalb gilt dort überall Tempo 30. „Die Geschwindigkeit war allerdings nie ein Problem“, sagt Gunter Mischner, Sprecher des Arbeitskreises Verkehr Neustadt und des ADFC-Landesverbands Bremen. Durch das historische Kopfsteinpflaster gebremst wurde nicht nur, wer Auto fuhr, sondern auch, wer das Rad nutzte. Um für Radfahrende mehr Fahrkomfort zu schaffen, wurde deshalb ein Asphaltband in der Mitte der Fahrbahn aufgebracht. Außerdem gibt es für sie nun sogenannte Servicepunkte im Quartier. An drei Stationen können E-Bikes geladen oder Reifen aufgepumpt werden. Außerdem gibt es an der Hochschule Bremen (HSB), die mit mehreren Standorten im Quartier vertreten ist, eine neue Leihradstation des Bremer Sharing-Systems. Hier befindet sich auch das Sahnehäubchen des Programms: das moderne Fahrrad-Repair-Café. Anwohner können ihre Räder hier warten lassen oder auch Lastenräder ausleihen. Die HSB spielt eine besondere Rolle in der Entstehung des Fahrradquartiers. Steffi Kollmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HSB, hatte die Idee, die Mobilität im Umfeld der Hochschule umzugestalten, und Gunter Mischner vom ADFC angesprochen. Gemeinsam entwickelten sie das Konzept für ein Fahrradquartier und stellten es dem Beirat der Neustadt vor, dem sie beide angehören. Die Idee war nicht komplett neu. Bereits 2015 hatten SPD und Bündnis 90/Die Grünen per Koalitionsvertrag vereinbart, ein Fahrradmodellquartier in Bremen zu schaffen. Seitdem war aber nichts mehr passiert. „Viele unserer Maßnahmen hatte der Beirat sowieso schon lange auf dem Zettel“, sagt Mischner. Entsprechend groß war die Zustimmung in der Politik und bei den Ortsansässigen.

Guter Anschluss und ausreichend Platz: Die neuen Querungshilfen machen das Wechseln der Straßenseite leicht. Die Überwege sollen später ans Premiumradnetz angebunden werden.

Bürger wollen Veränderungen

Ein Selbstläufer war das Projekt trotzdem nicht. Denn Bremen ist chronisch unterfinanziert. Nachdem ein Büro mit Mitteln aus der Bremer Verkehrsbehörde einen Projektantrag geschrieben hatte, bewarb sich das Verkehrsressort um Mittel aus der Nationalen Klimaschutzinitiative (NKI). Mit Erfolg: Der Bund steuerte 2,4 Millionen Euro bei, rund eine Million Euro zahlte das Land Bremen und fast 100.000 Euro kamen von der HSB. Aber das reichte noch nicht. „Am Ende wurde das Geld knapp“, sagt Mischner. Das hatte unterschiedliche Gründe. „Wir waren anfangs zu bescheiden“, sagt er. „Wir haben zu wenig Geld beantragt.“ Während der Bauphase habe der Beirat auch immer wieder mal berechtigte Änderungsvorschläge vorgebracht, die dann umgesetzt wurden. Das größte Pro-blem aber war, dass die Baukosten in der Zeit gestiegen sind. Einige Maßnahmen konnten deshalb gegen Ende des Umbaus nicht mehr umgesetzt werden. „In der Lahnstraße ist das Geld ausgegangen“, sagt Mischner. Die Zufahrt in die Straße wurde noch gepflastert. Dann war Schluss. Das Parkkonzept konnte nicht mehr verwirklicht werden. Deshalb werden dort weiterhin die Gehwege von falsch geparkten Autos zugestellt. In dieser Straße wird deutlich, dass das Projekt nur funktioniert, wenn alle Maßnahmen umgesetzt werden. Das spüren auch die Anwohnerinnen und Anwohner und wollen mehr davon. „Alle im Stadtteil profitieren von der Veränderung“, sagt Mischner. In der „Alten Neustadt“ werde inzwischen mehr Fahrrad gefahren als zuvor, die Fußgänger hätten freie Wege und im Sommer werde auch mal ein Stuhl auf den Gehweg gestellt. „Das Auto wird ein Stück zurückgedrängt“, sagt er. Den Bewohnern aus den anliegenden Stadtteilen gefalle das, „sie wollen weitere Verbesserungen.“ Die sollen auch kommen. Bremen will in den kommenden Jahren die Radinfrastruktur massiv umbauen. Acht Kilometer vom Zentrum entfernt in Osterholz soll in dem Stadtteil Blockdiek das zweite Fahrradquartier „Ellener Hof“ entstehen. Dort gibt es ein anderes Parkkonzept als in der „Alten Neustadt“. „Wir wollen das Autoparken nur am Rand des Gesamtquartiers zulassen“, erläutert Glotz-Richter. Das geht, weil das Viertel als Klima- und Fahrradquartier neu gebaut wird. Die Ziele: Den Radverkehr stärken, Treibhausgas-Emissionen reduzieren und dadurch insgesamt die Lebensqualität im Quartier für alle steigern.

Fahrradfreundlich und weniger Staus

Mehrfach wurde Bremen in der Vergangenheit als einer der fahrradfreundlichsten Städte in Deutschland ausgezeichnet. Im ADFC-Fahrradklimatest belegte die Hansestadt 2019 den ersten Platz in der Kategorie „Städte mit mehr als 500.000 Einwohnern“. Luft nach oben verrät dabei die Endnote 3,5. Auch beim Copenhagenize-Index, der die fahrradfreundlichsten Städte der Welt auszeichnet, erzielte Bremen 2019 mit dem elften Platz als beste deutsche Stadt ein hervorragendes Ergebnis. In der Wertung erhielt Bremen 58,9 Prozentpunkte, Spitzenreiter Kopenhagen kam auf 90,2 Prozent.
Trotz oder gerade wegen der hohen Fahrradfreundlichkeit gehörte Bremen nach einer Untersuchung des Navigationsanbieters Tomtom zu den wenigen deutschen Städten, in denen der Autoverkehr im Jahr 2019 flüssiger lief als im Vorjahr. Von 26 untersuchten deutschen Städten stiegen in 18 die Staus und die allgemeine Verkehrsbelastung an, am stärksten in Wiesbaden um acht Prozentpunkte. Bremen verzeichnete dagegen eine Abnahme um drei Prozentpunkte.

Landesweiter Ausbau und neue Brücken

Auch landesweit setzt Bremen auf die Stärkung des Radverkehrs. Bereits 2014 hat die Verkehrsbehörde in ihrem Verkehrsentwicklungsplan ein Netz aus neun Premiumrouten festgelegt. Das sind Fahrradwege für den Alltags- und Pendlerverkehr. Sie entsprechen in etwa den Qualitätsstandards von Radschnellwegen. Die längste Premiumroute soll über eine Länge von 35 Kilometern von Blumenthal-Farge im Westen der Stadt bis in den Osten nach Hemelingen verlaufen. Ein rund zwei Kilometer langes Teilstück davon in der Innenstadt soll noch in diesem Jahr gebaut werden. Die Strecke führt „Am Wall“ entlang, einer einseitig bebauten historischen Wohn- und Geschäftsstraße mit Blick auf die Parkanlage „Bremer Wallanlage“. Nach dem Umbau soll die Straße zur Einbahnstraße werden und eine kleine Barriere den Radverkehr vor dem Autoverkehr schützen. Damit baut Bremen die erste geschützte Fahrradstraße der Stadt. Auch ein anderes Problem soll künftig gelöst werden: Bremen ist eine Stadt am Wasser und die Weser teilt die Stadt in zwei große Teile. Bislang gibt es nur wenige Querungen für Fuß- und Radverkehr. Das soll nun anders werden. In den kommenden Jahren ist der Bau von drei Brücken geplant. Für die Entscheidung, welche Brücke zuerst gebaut wird und an welcher Stelle, wurde für die Planung unter anderem auf Radverkehrsdaten zurückgegriffen, die über die Fahrrad-App von „Bike Citizens“ gesammelt wurden.

Das Fahrrad-Repair-Café ist das Herzstück des Bremer Modellquartiers. Hier kann, wer mag, Räder selber reparieren oder reparieren lassen, Kaffee trinken oder an Veranstaltungen teilnehmen.

Radfahrende liefern wichtige Daten

Seit 2013 arbeitet Bremen mit dem Grazer Unternehmen Bike Citizens zusammen und bietet unter „Bremen Bike it“ verschiedene Möglichkeiten an wie Fahrrad-Navigation oder Vorschläge für Ausflüge mit dem Rad. Außerdem können die Nutzer im Zuge von verschiedenen Kampagnen immer mal wieder kleine Preise gewinnen. Mit diesen Angeboten verführt Bike Citizens Radfahrer dazu, ihre täglichen Wege zu tracken und diese Daten mit der Stadt zu teilen. Über eine Million Kilometer haben die Bremerinnen und Bremer auf diesem Weg in den vergangenen Jahren gesammelt. Ihre Routen werden auf sogenannten Heatmaps angezeigt. Je häufiger ein Straßenabschnitt befahren wird, umso intensiver wird seine Färbung. Neben den zurückgelegten Strecken werden per GPS auch das Tempo und die Stopps registriert. Die Daten gleicht „Bike Citizens“ mit dem Kartendienst OpenStreetMap (OSM) ab. Mithilfe verschiedener Analyse-Tools kann das Unternehmen so genau abbilden, an welchen Kreuzungen Radfahrer lange warten müssen, zu welcher Tages- und Jahreszeit sie unterwegs sind, welche Schleichwege sie nutzen und welche Wege sie meiden. Langfristig kann diese Datensammlung die Grundlage künftiger Planungen werden. „Momentan bestätigen wir mit ihnen vor allem unsere aktuelle Planung“, sagt Anne Mechels, die in der Bremer Senatsverwaltung die Nahmobilität plant. Dazu gehört der Bau der ersten der drei Rad- und Fußgängerbrücken über die Weser. Sie soll die Wilhelm-Kaisen-Brücke entlasten, die Hauptverkehrsader für Radverkehr Richtung Innenstadt. Das GPS-Datenanalyse-Tool „Bike Citizens Analytics“ zeigt bereits jetzt: 28 Prozent der Radfahrenden werden die neue Querung nutzen, weil ihre Wege kürzer werden. Für die Verkehrsplaner ist diese Erkenntnis wichtig. Erstmals können sie mithilfe von Radverkehrsdaten konkrete Aussagen über die Wirksamkeit von Bauvorhaben treffen. Sie liefern objektive Argumente für oder gegen den Bau von Radinfrastruktur. Für den Autoverkehr existieren diese Datenanalysetools und Verkehrsmodelle seit Jahrzehnten. Für den Radverkehr ist das neu.

Das wurde im Modellquartier umgesetzt.

  1. „Holperfreies“ Radfahren
  2. Umwandlung in Fahrradstraßen
  3. Anschluss an Premiumrouten
  4. Raum und Sicherheit mit Gehwegnasen
  5. Querungshilfen auf Hauptverkehrsstraßen
  6. Fahrradparken
  7. Fahrrad-Repair-Café
  8. Umgestaltung Campus Neustadtswall
  9. Sharing-Station für Fahrräder und Lastenräder
  10. Service-Stationen / E-Bike-Ladestation

Bilder: stock.adobe.com – Pascal, Visualisierung: Stadt Bremen, Michael Glotz-Richter, Qimby – Phillipp Böhme, stock.adobe.com – parallel dream, Stadt Bremen