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Viele Kommunen in Deutschland wollen ihre Radverkehrsnetze ausbauen. Doch welche Routen eignen sich dabei am besten? Das Fehlen von festgelegten Prinzipien zur Bewertung von Radrouten erschwert bisher die entsprechende Planungsarbeit. In Bremen wurde nun ein niederländischer Ansatz verfolgt, um eine bessere Radinfrastruktur für die Vernetzung des jungen Stadtviertels Überseestadt mit dem nahen Stadtzentrum zu planen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Das auf dem ehemaligen Überseehafen errichtete Bremer Stadtviertel Überseestadt bietet Platz für gegenwärtig rund 2300 Wohnungen und über 1100 Unternehmen mit rund 20.000 Beschäftigten. Bis 2030 soll sich die Zahl der Einwohner*innen noch nahezu verdoppeln.

Empfehlungen für die Planung der Breiten und der Art der Radverkehrsinfrastruktur existieren in Deutschland bereits. Sie sind in technischen Regelwerken der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) beschrieben. Jedoch fehlt es an einer gängigen Bewertungsgrundlage für Radrouten, welche sich nicht nur auf die technische Machbarkeit fokussiert. Das Fahrrad zu nutzen, spricht schließlich vor allem dann an, wenn Routen auch komfortabel und attraktiv sind. Das Ziel von Radverkehrsinfrastruktur ist es nicht nur, das Radfahren überhaupt zu ermöglichen und sicher zu machen, sondern auch mehr Menschen für das Radfahren zu begeistern. Nur elf Prozent der Wege in Deutschland werden mit dem Fahrrad zurückgelegt. Zudem fahren weniger Frauen als Männer mit dem Fahrrad und immer mehr Kinder werden mit dem Auto chauffiert, wie beispielsweise die Studie Mobilität in Deutschland zuletzt 2017 feststellte. Die Qualitätskriterien für Radwege zu erweitern, könnte helfen, solche Gruppen anzusprechen.
Eine entsprechende Bewertungsgrundlage wurde nun in einem Projekt für Radverkehrsverbindungen zwischen zwei Gebieten für die Freie Hansestadt Bremen ausgearbeitet. Ziel war, attraktive Radverkehrsrouten für Pendlerinnen zu entwickeln, um den Modal Shift vom motorisierten Individualverkehr (MIV) zum Fahrrad zu unterstützen. Planerinnen in den Niederlanden können bereits seit 1993 auf derartige Gestaltungsprinzipien zurückgreifen. Diese wurden damals im Gestaltungshandbuch für Radverkehr im Rahmen des Radverkehrsmasterplans (Masterplan Fiets program von CROW) dargelegt. CROW ist eine Technologieplattform für Verkehr, Infrastruktur und öffentlichen Raum. Der letzte Stand datiert aus dem Jahr 2017.
Die Europäische Kommission empfiehlt die CROW-Gestaltungsprinzipien jenen EU-Mitgliedsstaaten, die noch keine eigenen Standards, Richtlinien oder Prinzipien für Radverkehrsanlagen entwickelt haben. Die CROW-Prinzipien könnten auch bestehende Richtlinien ergänzen. Diese Prinzipien basieren nicht nur auf objektiver, sondern auch auf subjektiver Sicherheit. Es spielt außerdem eine Rolle, wie komfortabel, kohärent und attraktiv die Routen sind. Auch zugänglich und direkt sollen die Routen laut der CROW-Zielstellung sein. Bewertet wird somit beispielsweise, wie entspannt das Radfahren ist und wie viel Freude es bereitet. Dies ist ein entscheidender Ansatz gemäß den dänischen Verkehrsforscherinnen Mette Møller und Tove Hels. Sie stellten 2008 in der Studie „Cyclists’ perception of risk in roundabouts“ fest, dass „Radfahrende eine Straßengestaltung bevorzugen, die das Verhalten der Verkehrsteilnehmer klar regelt“. Dies führe dazu, dass mehr Menschen häufiger und auf längeren Strecken Rad fahren.

Niederländische Prinzipien

In den Niederlanden bilden die folgenden fünf Prinzipien die Grundlage fast aller Fahrradprojekte. Planer*in-nen berücksichtigen sie, wenn sie Netze planen, fehlende Verbindungen mit Direktheitsanalysen identifizieren oder die Routenwahl bewerten.

Sicherheit:

Sie ist die Grundvoraussetzung für den Radverkehr. Radfahrende sind insbesondere an Kreuzungen gefährdet. Auch fühlen sie sich im Längsverkehr gefährdet, wenn sie gemeinsam mit dem Kfz auf der Fahrbahn geführt werden. Dies ist bedingt durch die Geschwindigkeitsunterschiede, die Fahrzeuggröße oder das Verkehrsaufkommen.

Direktheit:

Direkte Fahrradrouten, reduzierte Entfernungen, Fahrzeiten und Wartezeiten an Lichtsignalanlagen (LSA), das heißt Ampeln, erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit des Fahrrads gegenüber dem motorisierten Verkehr.

Kohärenz und Zugänglichkeit:

Die Routen sollten zusammenhängend und zugänglich sein, sodass Menschen, die mit dem Fahrrad fahren, problemlos ihre Ziele erreichen können. Es wird empfohlen, dass Menschen in städtischen Gebieten nicht mehr als etwa 250 Meter zurücklegen müssen, um das Fahrradnetz, das heißt, entweder Neben-, Hauptrouten oder Radschnellverbindungen/Premiumrouten, zu erreichen. Somit führen die zu bewertenden Routen im besten Fall an Ziel- und Startpunkten vorbei (Umkreis von 250 Metern) oder haben eine gute und direkte Anbindung zu den Routen über das Neben- und Hauptroutennetz. Fahrradrouten sollten auch Verbindungen mit dem öffentlichen Verkehrsnetz beinhalten, um Wegeketten zu optimieren (Intermodalität).

Attraktivität:

Die Menschen werden zum Radfahren ermutigt, wenn sie sich sicher fühlen und die Infrastruktur und die Route sich in einer attraktiven und abwechslungsreichen Umgebung befinden.

Komfort:

Das Radfahren sollte angenehm, reibungslos und entspannt sein, um den Komfort der Radfahrenden zu maximieren. Eine angenehme Fahrbahnoberfläche und geringe Lärmemissionen steigern das Komfortgefühl beim Radfahren.

Neben den Prinzipien, welche die Qualität von Radverkehrsverbindungen berücksichtigen, sind auch Herausforderungen zu bewerten. Damit ist gemeint, wie gut ein Vorhaben technisch machbar ist und welche Flächen und welches Budget verfügbar sind. Wichtig ist auch die Planung der Anlagen (Fahrradstraße vs. Fahrradbrücke) und ob bereits eine Radverkehrsanlage vorhanden ist, die zumindest teilweise genutzt werden kann.
Dieser Ansatz wurde in Bremen genutzt und ausgearbeitet. Dort sollen zukünftig besonders intuitive und attraktive Routen entstehen, die zum Radfahren zwischen der Bahnhofsvorstadt und der Überseestadt einladen und so zu einer Verlagerung vom MIV auf das Fahrrad beitragen.

24,8 %

Fast ein Viertel aller Wege werden in Bremen
mit dem Fahrrad zurückgelegt.
Die Hansestadt hat damit den höchsten Radverkehrsanteil
unter den deutschen Großstädten.

Die Tabelle zeigt das Ergebnis der in Bremen entwickelten Prinzipien mit den entsprechenden Kriterien. Die Prozentsätze stellen die Gewichtungen der jeweiligen Prinzipien und Kriterien dar.

Bewertet und gewichtet

Um zu überprüfen, wie die CROW-Prinzipien umgesetzt wurden und wirken, sind für jedes Prinzip verschiedene Kriterien zu erfüllen. Diese wurden im Rahmen eines Workshops mit der Bremer Verwaltung diskutiert und priorisiert. Hierdurch wurden die Kriterien für das deutsche, im Speziellen das Bremer Umfeld überprüft. Anschließend wurden in einer sogenannten Multikriterienanalyse die Kriterien gewichtet, um die Relevanz der Prinzipien (z. B. Sicherheit vor Attraktivität) abbilden zu können. Zusätzlich zu den Prinzipien, welche die Qualitäten aus Sicht der Radfahrenden widerspiegeln, wurden mögliche Herausforderungen definiert. Die Qualitäten sowie die Herausforderungen stehen im gleichen Verhältnis zueinander, das heißt, die Summe aller qualitativen Prinzipien wird im gleichen Maße gewichtet wie die Summe aller Herausforderungen.

Fakten zum Projekt

  • Das Projekt war eine Maßnahme aus dem Integrierten Verkehrskonzept (IVK) Überseestadt.
  • Bereits zum aktuellen Entwicklungsstand weist das Verkehrssystem für Kraftfahrzeuge der Überseestadt täglich mehrfach verkehrliche Überlastungserscheinungen auf.
  • Es werden weitere Pendelbeziehungen zwischen dem Bremer Hauptbahnhof und der Überseestadt erwartet.
Ziele des IVKs:
  • Die verkehrliche Erschließung und Anbindung des Gebietes, insbesondere an das Rad- und ÖPNV-Netz
  • Förderung der Verlagerung auf den Umweltverbund
Projektbearbeitung:
  • Goudappel BV gemeinsam mit Fair Spaces GmbH (damals AEM Accessible Equitable Mobility GmbH)
  • Im Auftrag der Wirtschaftsförderung Bremen GmbH (WFB) unter besonderer Mitwirkung durch die Senatorin für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität, Stadtentwicklung und Wohnungsbau – Team Nahmobilität erarbeitet
  • Mittelzuwendung: Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE)

Praktische Anwendung in Bremen

Sechzehn Routen wurden im Rahmen des Projektes als Optionen zur optimierten Anbindung der Überseestadt an den Hauptbahnhof identifiziert und ausgearbeitet. Aufgrund der Größe des Gebietes wurde es in vier Regionen aufgeteilt: die Bahnhofsvorstadt, Überseeinsel/Süden der Überseestadt, Mitte der Überseestadt und Norden der Überseestadt. Anders als die Überseestadt ist die Bahnhofsvorstadt ein bereits entwickeltes und stark verdichtetes Gebiet mit einem hohen Verkehrsaufkommen. Der Doppelknoten Doventor ist ein etwa 90 Meter langer Straßenabschnitt mit zwei Knotenpunkten im Süden sowie Norden und bildet in vielen Fällen den Drehpunkt zwischen der Bahnhofsvorstadt und den drei Regionen in der Überseestadt. Somit verlaufen die meisten Routen durch die Bahnhofsvorstadt bis zum Gebiet des Doventors sowie vom Doventor in die verschiedenen Regionen der Überseestadt. Die Routen, die nicht über das Doventor laufen, nutzen Wege nördlich des Straßenabschnitts sowie über eine bisher noch nicht vorhandene Brücke.
In einem nächsten Schritt wurden die Routen mit den entwickelten Prinzipien und Kriterien bewertet, um die optimalen Routen zu ermitteln. Im Ergebnis wurden drei Routen in der Bahnhofsvorstadt als Vorzugsvariante ausgewiesen, wobei die dritte Route als langfristiges Projekt zu sehen ist, da hier ein aufwendiges Brückenbauwerk entlang der Bahnlinie notwendig wäre. Für die Abschnitte zu den drei Bereichen der Überseestadt konnte jeweils eine Vorzugsvariante identifiziert werden. Außerdem wurden Verbindungsstücke zwischen den verschiedenen Regionen in der Überseestadt entwickelt und bewertet. Für die Routen zur Überseestadt Süd wurden die Routen, die entlang der Weser verlaufen, nicht als Vorzugsvariante identifiziert, um Konflikte zwischen Fuß- und Radverkehr zu vermeiden.
Völlig problemfrei war die Arbeit mit dem Bewertungsraster nicht. Bereits bestehende beziehungsweise vergangene und zukünftige Routen zu vergleichen, ist manchmal schwer möglich. So wurden zum Beispiel Routen schlechter bewertet, die derzeit mehr Unfälle aufweisen. Routen, die noch nicht existieren, können dagegen nur mit ihrem zukünftigen Zustand bewertet werden und schneiden daher im rein theoretischen Vergleich zu Bestandsrouten im ursprünglichen Zustand bei der Bewertung besser ab. Es ist wichtig, sich genau zu überlegen, welche Situation für welches Kriterium zu bewerten ist, und dies sollte konsequent umgesetzt werden, um ein in sich schlüssiges Ergebnis zu erhalten. Idealerweise sollten alle Kriterien auf die aktuelle oder zukünftige Situation übertragen werden.

Auf dem 300 Hektar großen Areal des früheren Überseehafens in Bremen entstand in den vergangenen 20 Jahren der neue Ortsteil Überseestadt. Für dessen Anbindung mit dem Fahrrad an das nahe gelegene Stadtzentrum der Hansestadt wurden im Rahmen des Projekts 16 optionale Routen ausgearbeitet.

Kriterien unterschiedlich bewertet

Die Bahnhofsvorstadt ist ein dicht besiedeltes Gebiet mit einem engmaschigen Straßenverkehrsnetz. Die Führungen der Routen und deren Bewertung sind hier um einiges komplizierter als in den Gebieten, die zur Überseestadt führen. Das Beispiel zeigt die Bewertung der Routen in der Bahnhofsvorstadt für das Prinzip Attraktivität. Hierzu gehören die Kriterien

Grüne Route:

Routen, die durch viel Begrünung gekennzeichnet sind

Leuchtturmprojekt:

Radverkehrsverbindung und/oder Ausstattung der Radverkehrsinfrastruktur ist außergewöhnlich

Spaß:

Es gibt schöne Aussichten entlang der Fahrt, Menschen, zum Beispiel in Parks, können beobachtet werden, Route führt entlang von Sehenswürdigkeiten

Soziale Sicherheit:

Wege, die beleuchtet sind und wo sich viele Personen im öffentlichen Raum aufhalten – insbesondere bei Dunkelheit

Die Routen, die entlang der grünen Wallanlagen führen, erhalten die höchsten Bewertungen in dieser Kategorie. Die soziale Sicherheit wiederum ist an belebten Straßen höher als an Abschnitten mit wenig Verkehr und wenigen Menschen auf Geh- und Radwegen. Der Faktor Spaß ist hoch an grünen Abschnitten, an Routen mit geringem Kfz-Verkehr oder auch mit wenig Gegenverkehr. Dasselbe gilt für das Kriterium „Leuchtturmprojekt“: Die Radfahrer*innen sollen die Strecke als attraktiv empfinden und sie als Sehenswürdigkeit mit positiven Gefühlen besetzen. Das gilt auch für die Routen, welche den Fly-over Am Wall der gerade geplanten Premiumrouten von Bremen nutzen. Der Fly-over wird eine Brücke sein, die es Radfahrenden ermöglicht, die Straße ohne Wartezeiten zu überqueren.

Feinabstimmung möglich

Das Beispiel aus Bremen dürfte auch auf andere Gebiete übertragbar sein. So wurden Punkte wie geringe Steigungen in die Bewertung aufgenommen, wohl wissend, dass es in Bremen kaum Steigungen gibt. Der Ansatz kann zudem nicht nur Verwendung finden, um Routenverbindungen zu vergleichen und Vorzugsvarianten zu identifizieren. Das Tool ist auch dafür nutzbar, Radverkehrsnetze und neue Wegeverbindungen mit den Prinzipien und Kriterien zu überprüfen. So können
beispielsweise Schwachstellen des Netzes oder der Route rechtzeitig vor Planungen evaluiert werden. Der niederländische CROW-Ansatz trägt dazu bei, die Radverkehrsinfrastruktur in einem ganzheitlicheren Ansatz zu betrachten. Dies ist ein Schlüsselelement, um zukünftig einen höheren Radverkehrsanteil zu erreichen. Wer den Ansatz lokal anwenden muss, sollte die Situation vor Ort, politische Leitziele und aktuelle Trends betrachten. Die Gewichtung erlaubt dann ein Fein-Tuning auf die jeweiligen Bedürfnisse.

Link zur Studie

WFB Wirtschaftsförderung Bremen GmbH (2022): Machbarkeitsstudie, Standort- und Potenzialanalyse – Radverkehrsverbindung Überseestadt – Bahnhofsvorstadt sowie Fahrradparken in der Überseestadt in Bremen, abrufbar über:

https://sd.bremische-buergerschaft.de/vorgang/?__=UGhVM0hpd2NXNFdFcExjZVDgiAohC_SiABC2zFa4w4M

(Hinweis: AEM Accessible Equitable Mobility GmbH heißt nun Fair Spaces GmbH)


Bilder: stock.adobe.com – Witalij Barida, Fair Spaces – Goudappel, Quelle Tabelle: WFB Wirtschaftsförderung Bremen GmbH (2022)

Der Radanteil in der Hansestadt ist hoch, das Image im Städtevergleich spitze und die Infrastruktur gut. Jetzt will die Stadt die Qualität nochmals deutlich steigern. Dazu gehören das erste Fahrradmodellquartier Deutschlands, Premiumrouten und neue Fahrradbrücken. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


Radfahren gehört seit vielen Jahren in Bremen zur Mobilitätskultur. 25 Prozent der Wege werden hier mit dem Fahrrad zurückgelegt, und im Städtevergleich gibt es immer wieder Bestnoten für die Fahrradfreundlichkeit. Allerdings sind viele Radwege weiter deutlich zu schmal und das Netz ist noch lückenhaft. Die Hansestadt will das in den kommenden Jahren ändern. Dafür gibt es bereits diverse Projekte mit fertigen Planungen und teils bewilligten Bundesfördermitteln. Schöner Radfahren, das geht in der Hansestadt inzwischen vor allem im Stadtteil „Alte Neustadt“. Dort wurde 2019 das erste Fahrradmodellquartier eröffnet. Seitdem gelten dort alle Vorzüge einer Fahrradstraße mit Tempo 30 und Vorrang vor dem Autoverkehr. Das Quartier umfasst zwölf Straßen. Das klingt nicht nach viel, setzt aber neue Qualitätsstandards in der Radverkehrsplanung. Separat betrachtet ist fast jede der zehn umgesetzten Maßnahmen relativ unspektakulär. Ihre Wirkung entfalten sie durch ihr Zusammenspiel und die konsequente Umsetzung jeder einzelnen Maßnahme.

Neue Infrastruktur und das Fahrrad als gleichberechtigtes Verkehrsmittel beim Fahren und Parken. So soll der Anteil des Radverkehrs in Bremen massiv weiter gesteigert werden.

Pkw-Übernutzung zurückgedrängt

Das Modellquartier liegt nur einen Kilometer vom historischen Rathaus entfernt. Doch anders als rund um den gotischen Prachtbau sind die Straßen in der „Alten Neustadt“ eng. Die Gehwege waren schmal und lange Zeit von Fahrrädern und Falschparkern zugestellt. Im Zuge des Umbaus zur Fahrradzone sollte das anders werden. Das Ziel lautete: Vorrang für Fuß- und Radverkehr – beim Fahren wie beim Parken. Als Erstes beendete Michael Glotz-Richter, Referent für nachhaltige Mobilität in Bremen, das „Wild-West-Parken“. „Wir hatten eine Übernutzung durch Pkw“, sagt er. Rechts und links am Fahrbahnrand standen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Häufig stellten die Falschparker ihre Wagen so ab, dass sie weit in die Kreuzung hineinreichten. Das war für Fahrzeuge der Müllabfuhr und der Rettungsdienste problematisch. Sie mussten in den schmalen Gassen Schritttempo fahren und blieben an den zugeparkten Kreuzungen öfters stecken. Um das Parken an Einmündungen und Kreuzungen grundsätzlich abzustellen, wurden deshalb im Rahmen des Projekts die Fußwege an diesen Stellen erweitert. Auf den vorgezogenen Bürgersteigen stellte die Stadt Fahrradbügel auf. Insgesamt 600 im gesamten Quartier. Wer zu Fuß geht, hat heute freie Wege, weil die Fahrräder nicht mehr an Straßenschildern und Gartenzäunen angeschlossen werden und Falschparken verhindert wird. Der Sicherheitsgewinn ist groß. Wenn Kinder und Erwachsene jetzt die Straße überqueren, haben sie die komplette Kreuzung im Blick – und umgekehrt werden sie von den Autofahrenden deutlich früher und besser wahrgenommen.

„Wir hatten eine Übernutzung durch Pkw.“

Michael Glotz-Richter
Referent für nachhaltige Mobilität in Bremen

Mehr Sicherheit, Vernetzung und Service

Sicherheit war ein zentrales Thema bei der Planung des Fahrradmodellquartiers, das auch Fahrradzone genannt wird, und es ist erst der Auftakt, um Radfahren in der Stadt insgesamt auf eine neue Qualitätsstufe zu heben. So waren die beiden Hauptstraßen, die das Fahrradquartier eingrenzen, lange ein Sorgenkind der Planer. „Als die Straßen gebaut wurden, hat man die Fußgänger vergessen“, sagt Glotz-Richter. Wenn sie die Straßen queren wollten, mussten sie aufpassen und schnell sein. Denn die beiden Straßen sind die direkten Zubringer zu den Brücken ins Zentrum. Entsprechend hoch ist dort der Auto- und S-Bahn-Verkehr. Im Zuge des Umbaus wurde in der Fahrbahnmitte eine Fahrspur entfernt und für Radfahrer und Fußgänger neu gepflastert. Außerdem wurde sie rot eingefärbt und mit Fahrradpiktogrammen versehen. Diese Querungshilfen, die Verkehrsinseln gleichen, wurden an strategisch wichtigen Stellen für Radfahrer platziert. Denn in den kommenden Jahren soll in der Hansestadt ein sogenanntes Premium-Radroutennetz entstehen. Das ist mit einem Radschnellwegenetz vergleichbar. Die Querungshilfen verbinden später das Fahrradquartier auf direktem Weg mit dem Premiumnetz. Die Fahrradzone ist im Grunde eine Ausweitung der Fahrradstraße. Deshalb gilt dort überall Tempo 30. „Die Geschwindigkeit war allerdings nie ein Problem“, sagt Gunter Mischner, Sprecher des Arbeitskreises Verkehr Neustadt und des ADFC-Landesverbands Bremen. Durch das historische Kopfsteinpflaster gebremst wurde nicht nur, wer Auto fuhr, sondern auch, wer das Rad nutzte. Um für Radfahrende mehr Fahrkomfort zu schaffen, wurde deshalb ein Asphaltband in der Mitte der Fahrbahn aufgebracht. Außerdem gibt es für sie nun sogenannte Servicepunkte im Quartier. An drei Stationen können E-Bikes geladen oder Reifen aufgepumpt werden. Außerdem gibt es an der Hochschule Bremen (HSB), die mit mehreren Standorten im Quartier vertreten ist, eine neue Leihradstation des Bremer Sharing-Systems. Hier befindet sich auch das Sahnehäubchen des Programms: das moderne Fahrrad-Repair-Café. Anwohner können ihre Räder hier warten lassen oder auch Lastenräder ausleihen. Die HSB spielt eine besondere Rolle in der Entstehung des Fahrradquartiers. Steffi Kollmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HSB, hatte die Idee, die Mobilität im Umfeld der Hochschule umzugestalten, und Gunter Mischner vom ADFC angesprochen. Gemeinsam entwickelten sie das Konzept für ein Fahrradquartier und stellten es dem Beirat der Neustadt vor, dem sie beide angehören. Die Idee war nicht komplett neu. Bereits 2015 hatten SPD und Bündnis 90/Die Grünen per Koalitionsvertrag vereinbart, ein Fahrradmodellquartier in Bremen zu schaffen. Seitdem war aber nichts mehr passiert. „Viele unserer Maßnahmen hatte der Beirat sowieso schon lange auf dem Zettel“, sagt Mischner. Entsprechend groß war die Zustimmung in der Politik und bei den Ortsansässigen.

Guter Anschluss und ausreichend Platz: Die neuen Querungshilfen machen das Wechseln der Straßenseite leicht. Die Überwege sollen später ans Premiumradnetz angebunden werden.

Bürger wollen Veränderungen

Ein Selbstläufer war das Projekt trotzdem nicht. Denn Bremen ist chronisch unterfinanziert. Nachdem ein Büro mit Mitteln aus der Bremer Verkehrsbehörde einen Projektantrag geschrieben hatte, bewarb sich das Verkehrsressort um Mittel aus der Nationalen Klimaschutzinitiative (NKI). Mit Erfolg: Der Bund steuerte 2,4 Millionen Euro bei, rund eine Million Euro zahlte das Land Bremen und fast 100.000 Euro kamen von der HSB. Aber das reichte noch nicht. „Am Ende wurde das Geld knapp“, sagt Mischner. Das hatte unterschiedliche Gründe. „Wir waren anfangs zu bescheiden“, sagt er. „Wir haben zu wenig Geld beantragt.“ Während der Bauphase habe der Beirat auch immer wieder mal berechtigte Änderungsvorschläge vorgebracht, die dann umgesetzt wurden. Das größte Pro-blem aber war, dass die Baukosten in der Zeit gestiegen sind. Einige Maßnahmen konnten deshalb gegen Ende des Umbaus nicht mehr umgesetzt werden. „In der Lahnstraße ist das Geld ausgegangen“, sagt Mischner. Die Zufahrt in die Straße wurde noch gepflastert. Dann war Schluss. Das Parkkonzept konnte nicht mehr verwirklicht werden. Deshalb werden dort weiterhin die Gehwege von falsch geparkten Autos zugestellt. In dieser Straße wird deutlich, dass das Projekt nur funktioniert, wenn alle Maßnahmen umgesetzt werden. Das spüren auch die Anwohnerinnen und Anwohner und wollen mehr davon. „Alle im Stadtteil profitieren von der Veränderung“, sagt Mischner. In der „Alten Neustadt“ werde inzwischen mehr Fahrrad gefahren als zuvor, die Fußgänger hätten freie Wege und im Sommer werde auch mal ein Stuhl auf den Gehweg gestellt. „Das Auto wird ein Stück zurückgedrängt“, sagt er. Den Bewohnern aus den anliegenden Stadtteilen gefalle das, „sie wollen weitere Verbesserungen.“ Die sollen auch kommen. Bremen will in den kommenden Jahren die Radinfrastruktur massiv umbauen. Acht Kilometer vom Zentrum entfernt in Osterholz soll in dem Stadtteil Blockdiek das zweite Fahrradquartier „Ellener Hof“ entstehen. Dort gibt es ein anderes Parkkonzept als in der „Alten Neustadt“. „Wir wollen das Autoparken nur am Rand des Gesamtquartiers zulassen“, erläutert Glotz-Richter. Das geht, weil das Viertel als Klima- und Fahrradquartier neu gebaut wird. Die Ziele: Den Radverkehr stärken, Treibhausgas-Emissionen reduzieren und dadurch insgesamt die Lebensqualität im Quartier für alle steigern.

Fahrradfreundlich und weniger Staus

Mehrfach wurde Bremen in der Vergangenheit als einer der fahrradfreundlichsten Städte in Deutschland ausgezeichnet. Im ADFC-Fahrradklimatest belegte die Hansestadt 2019 den ersten Platz in der Kategorie „Städte mit mehr als 500.000 Einwohnern“. Luft nach oben verrät dabei die Endnote 3,5. Auch beim Copenhagenize-Index, der die fahrradfreundlichsten Städte der Welt auszeichnet, erzielte Bremen 2019 mit dem elften Platz als beste deutsche Stadt ein hervorragendes Ergebnis. In der Wertung erhielt Bremen 58,9 Prozentpunkte, Spitzenreiter Kopenhagen kam auf 90,2 Prozent.
Trotz oder gerade wegen der hohen Fahrradfreundlichkeit gehörte Bremen nach einer Untersuchung des Navigationsanbieters Tomtom zu den wenigen deutschen Städten, in denen der Autoverkehr im Jahr 2019 flüssiger lief als im Vorjahr. Von 26 untersuchten deutschen Städten stiegen in 18 die Staus und die allgemeine Verkehrsbelastung an, am stärksten in Wiesbaden um acht Prozentpunkte. Bremen verzeichnete dagegen eine Abnahme um drei Prozentpunkte.

Landesweiter Ausbau und neue Brücken

Auch landesweit setzt Bremen auf die Stärkung des Radverkehrs. Bereits 2014 hat die Verkehrsbehörde in ihrem Verkehrsentwicklungsplan ein Netz aus neun Premiumrouten festgelegt. Das sind Fahrradwege für den Alltags- und Pendlerverkehr. Sie entsprechen in etwa den Qualitätsstandards von Radschnellwegen. Die längste Premiumroute soll über eine Länge von 35 Kilometern von Blumenthal-Farge im Westen der Stadt bis in den Osten nach Hemelingen verlaufen. Ein rund zwei Kilometer langes Teilstück davon in der Innenstadt soll noch in diesem Jahr gebaut werden. Die Strecke führt „Am Wall“ entlang, einer einseitig bebauten historischen Wohn- und Geschäftsstraße mit Blick auf die Parkanlage „Bremer Wallanlage“. Nach dem Umbau soll die Straße zur Einbahnstraße werden und eine kleine Barriere den Radverkehr vor dem Autoverkehr schützen. Damit baut Bremen die erste geschützte Fahrradstraße der Stadt. Auch ein anderes Problem soll künftig gelöst werden: Bremen ist eine Stadt am Wasser und die Weser teilt die Stadt in zwei große Teile. Bislang gibt es nur wenige Querungen für Fuß- und Radverkehr. Das soll nun anders werden. In den kommenden Jahren ist der Bau von drei Brücken geplant. Für die Entscheidung, welche Brücke zuerst gebaut wird und an welcher Stelle, wurde für die Planung unter anderem auf Radverkehrsdaten zurückgegriffen, die über die Fahrrad-App von „Bike Citizens“ gesammelt wurden.

Das Fahrrad-Repair-Café ist das Herzstück des Bremer Modellquartiers. Hier kann, wer mag, Räder selber reparieren oder reparieren lassen, Kaffee trinken oder an Veranstaltungen teilnehmen.

Radfahrende liefern wichtige Daten

Seit 2013 arbeitet Bremen mit dem Grazer Unternehmen Bike Citizens zusammen und bietet unter „Bremen Bike it“ verschiedene Möglichkeiten an wie Fahrrad-Navigation oder Vorschläge für Ausflüge mit dem Rad. Außerdem können die Nutzer im Zuge von verschiedenen Kampagnen immer mal wieder kleine Preise gewinnen. Mit diesen Angeboten verführt Bike Citizens Radfahrer dazu, ihre täglichen Wege zu tracken und diese Daten mit der Stadt zu teilen. Über eine Million Kilometer haben die Bremerinnen und Bremer auf diesem Weg in den vergangenen Jahren gesammelt. Ihre Routen werden auf sogenannten Heatmaps angezeigt. Je häufiger ein Straßenabschnitt befahren wird, umso intensiver wird seine Färbung. Neben den zurückgelegten Strecken werden per GPS auch das Tempo und die Stopps registriert. Die Daten gleicht „Bike Citizens“ mit dem Kartendienst OpenStreetMap (OSM) ab. Mithilfe verschiedener Analyse-Tools kann das Unternehmen so genau abbilden, an welchen Kreuzungen Radfahrer lange warten müssen, zu welcher Tages- und Jahreszeit sie unterwegs sind, welche Schleichwege sie nutzen und welche Wege sie meiden. Langfristig kann diese Datensammlung die Grundlage künftiger Planungen werden. „Momentan bestätigen wir mit ihnen vor allem unsere aktuelle Planung“, sagt Anne Mechels, die in der Bremer Senatsverwaltung die Nahmobilität plant. Dazu gehört der Bau der ersten der drei Rad- und Fußgängerbrücken über die Weser. Sie soll die Wilhelm-Kaisen-Brücke entlasten, die Hauptverkehrsader für Radverkehr Richtung Innenstadt. Das GPS-Datenanalyse-Tool „Bike Citizens Analytics“ zeigt bereits jetzt: 28 Prozent der Radfahrenden werden die neue Querung nutzen, weil ihre Wege kürzer werden. Für die Verkehrsplaner ist diese Erkenntnis wichtig. Erstmals können sie mithilfe von Radverkehrsdaten konkrete Aussagen über die Wirksamkeit von Bauvorhaben treffen. Sie liefern objektive Argumente für oder gegen den Bau von Radinfrastruktur. Für den Autoverkehr existieren diese Datenanalysetools und Verkehrsmodelle seit Jahrzehnten. Für den Radverkehr ist das neu.

Das wurde im Modellquartier umgesetzt.

  1. „Holperfreies“ Radfahren
  2. Umwandlung in Fahrradstraßen
  3. Anschluss an Premiumrouten
  4. Raum und Sicherheit mit Gehwegnasen
  5. Querungshilfen auf Hauptverkehrsstraßen
  6. Fahrradparken
  7. Fahrrad-Repair-Café
  8. Umgestaltung Campus Neustadtswall
  9. Sharing-Station für Fahrräder und Lastenräder
  10. Service-Stationen / E-Bike-Ladestation

Bilder: stock.adobe.com – Pascal, Visualisierung: Stadt Bremen, Michael Glotz-Richter, Qimby – Phillipp Böhme, stock.adobe.com – parallel dream, Stadt Bremen

Zwischen Sightseeing und Lifestyle: Radtouren in der Stadt sind eine Nische – aber mit viel Potenzial. In Zeiten von Corona könnte daraus ein neuer Markt entstehen. Eine Tour durch Hamburg und Erfahrungen aus Bremen und Berlin machen Lust auf mehr. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Sightseeing per Fahrrad: Entspannter kann man eine Stadt kaum erkunden. Die Guides präsentieren die Sehenswürdigkeiten oft aus ungewöhnlichen Perspektiven.

Volle Strände, leere Innenstädte: Corona trifft vor allem die Städte schwer, die sonst von Tourismus, Messen und Veranstaltungen profitieren. Die Tourismusbranche muss insgesamt umdenken und neue attraktive Angebote suchen. Experten sehen den Radtourismus hier als weiteres Standbein. Das Segment boomt zwar seit Jahren, allerdings vor allem im Bereich der Radreisen. City-Sightseeing per Fahrrad für Urlauber und Thementouren für Einheimische könnten gezielt weiterentwickelt und vermarktet werden. Und auch das Label „Fahrradstadt“ wirkt auf viele Reisende anziehend.

Entspannt die Stadt kennenlernen

Die Wetter-App hat für den Tag eine Mischung aus Wolken und Sonne versprochen. Perfekte Bedingungen für eine Sightseeing-Tour per Fahrrad. Vier Deutsche und drei Niederländer warten an diesem Juli-Morgen vor der Tür des Tourenanbieters „Hamburg City Cycles“ auf ihre Leihräder. Seit 2009 bietet Lars Michaelsen Sightseeing-Touren per Rad in der Hafenstadt an. Als er startete, war sein Angebot noch ein Novum. „Die ersten drei Jahre mussten wir immer wieder erklären, dass wir keine Sportreisen veranstalten. Die Leute kannten das Produkt nicht“, sagt er. Stramme Waden brauchen die Teilnehmer nicht, um mit den Guides mitzuhalten. In dreieinhalb Stunden legen die Gäste nur rund 13 Kilometer zurück. „Das würde man auch zu Fuß schaffen“, sagt Michaelsen. Mit dem Rad ist es allerdings deutlich entspannter.
Unser erster Stopp an diesem Tag liegt 20 Meter oberhalb der berühmten Hafenstraße und des Alten Elbtunnels. Das Gebäude mit dem riesigen Kuppeldach und den imposanten Steinportalen markiert den Eingang zu dem 420 Meter langen Tunnel. Er wurde 1911 für die Hafenarbeiter eröffnet. Sie sollten bei jedem Wetter und zu jeder Tages- und Nachtzeit sicher die Elbe queren können. Im Sommer 2019 wurde er für Autos gesperrt. Seitdem haben Fußgänger und Radfahrer den Zubringer von der einen Elbseite zur anderen komplett für sich. Das kommt gut an. Nun sind dort doppelt so viele Menschen unterwegs wie zuvor.

Sicher unterwegs trotz fehlender Routen

Auf Schleichwegen lotst uns Tourenleiterin Emilie zur Elbphilharmonie. So entspannt sind Radfahrer selten in der Hafenstadt unterwegs. Hamburg will zwar Fahrradstadt werden, aber von dem Ziel sind die Planer noch weit entfernt. Viele Pendler meiden mit dem Rad das Zentrum, weil sie das Fahren auf den schmalen Radstreifen im Berufsverkehr abschreckt. Die Guides umfahren diese Strecken. „Wir fahren lieber 200 Meter mehr und eine weitere Kurve als auf den Radstreifen“, sagt Michaelsen. Schließlich sollen sich auch ungeübte Radfahrer während der Tour sicher fühlen.

77 %

der Radreisenden wollen nicht nur abseits der Zentren
unterwegs sein, sondern Kultur und Bewegung verbinden,
wie die ADFC-Radreiseanalyse 2020 zeigt.


Mittendrin statt nur Zuschauer

An diesem Morgen ist wenig los auf den Straßen. Die Touristenströme sind noch nicht zurück in der Hafenstadt. Selbst der Kai ist leer. Wir stoppen an der Elbphilharmonie, in der neuen Hafen City und am Rand der Speicherstadt, dem größten zusammenhängenden Lagerhauskomplex der Welt. Der Duft von gerösteten Kaffeebohnen weht herüber, eine Barkasse fährt laut dröhnend durch den schmalen Zollkanal und die Möwen ziehen kreischend ihre Kreise. Das ist Hamburg – hautnah. Michaelsen ist überzeugt: „Wer einmal mit dem Rad eine Stadt erkundet hat, setzt sich anschließend nicht mehr in einen Bus“. Denn beim Radfahren bekomme man mehr von der Atmosphäre einer Stadt mit. „Man erfasst die Stadt mit allen Sinnen“, sagt er. Außerdem ist man flexibler. Auf zwei Rädern schafft man zwar weniger Sehenswürdigkeiten, dafür sieht man nicht nur seine Seite der Busreihe, sondern das komplette Stadtbild. Mehr noch: Man wird ein Teil von ihr. Für eine kurze Zeit ist man mittendrin und schwimmt im Strom der Gruppe mit. Will man sich im Vorbeifahren etwas genauer ansehen, reduziert man das Tempo oder hält spontan an.

Entdeckerreise auf verwinkelten Pfaden

Ein weiterer Vorteil: Man kann per Rad durch kleine Gassen fahren, die für den Autoverkehr gesperrt sind. Die Deichstraße ist so eine. Hier soll 1842 der „Große Brand“ ausgebrochen sein, der weite Teile der Altstadt und das alte Rathaus zerstört hat. Dort machen wir Kaffeepause. Im „Café am Fleet“, einem Mix aus Café und Museum für außergewöhnliche Blechdosen und Reklameschilder. „Urig, wie ein Kolonialwarenhändler aus meiner Kindheit“, sagt eine Tour-Teilnehmerin aus Karlsruhe. Sie ist mit einer Freundin für drei Tage in Hamburg. Zuvor waren sie auf Rügen. „Eigentlich hatten wir zu dritt Spanien gebucht“, sagt sie. Aufgrund von Corona wurde die Reise storniert und sie mussten kurzfristig umplanen. Ein Reisebüro hat ihnen die Fahrt auf die Ostseeinsel und nach Hamburg organisiert – ebenso die Stadtrundfahrt per Rad.

„Alles, was mit Fahrrad fahren zu tun hat, ist angesagt, und das nicht erst seit Corona.“

Christian Tänzler, Pressesprecher VisitBerlin

Wachstum in der Nische

„Die Hälfe der Kunden bucht im Voraus, die anderen kommen spontan“, sagt Michaelsen. Die Kompakt-Tour startet jeden Morgen um 10.30 Uhr. Zwar hat Michaelsen auch eine englische Variante im Programm, aber „Tourismus in Hamburg ist zu 75 Prozent deutschsprachig.“ Viele Gäste kämen aus dem Münsterland und Sauerland. Und es werden immer mehr. Der Städtetourismus in Hamburg ist in den vergangenen fünf Jahren jedes Jahr um fünf Prozent gewachsen. Das spürt auch Michaelsen. Sein Geschäft lief gut vor Corona. Neben den Touristen buchten viele Vereine, Firmen oder Schulklassen bei ihm Führungen für Wandertage oder Betriebsausflüge. Hinzu kamen Gruppen, die Geburtstage feierten, oder Junggesellenabschiede. Sie machen im Regelbetrieb die Hälfte seines Umsatzes aus. Obwohl sein Geschäft stetig wächst, sagt er: „Sightseeing mit dem Fahrrad ist immer noch eine Nische.“ Das Segment ist klein, aber ausbaufähig und bietet gerade in der aktuellen Zeit eine gute Alternative.

Städte müssen schnell umdenken

„In vielen Städten findet jetzt in der Branche das große Umdenken statt, um die deutschen Touristen anzusprechen“, sagt Iris Hegemann vom Deutschen Tourismusverband (DTV). Die internationalen Besucher aus England, Italien oder Spanien dürfen oder können dieses Jahr nicht in die Städte reisen. Hamburg fehlen die Besucher der vielen Musicals, Festivals und Messen. Sie machen etwa zwei Drittel aller Übernachtungsgäste aus. Anfang Juli lag die durchschnittliche Auslastung der Hotels in der Hansestadt bei 20 Prozent. In anderen Städten wie Berlin sieht es nicht besser aus. Diese großen Zahlen können natürlich nie durch Radtouristen ersetzt werden. Aber seit Jahren zeigt sich: Der Radtourismus liegt im Trend. „Er ist ein flächendeckendes Thema und wächst in allen Regionen. Die Städte werden sich dem Thema mehr widmen müssen“, sagt die Expertin. 77 Prozent der Radreisenden wollen nicht nur abseits der Zentren unterwegs sein, sondern Kultur und Bewegung verbinden, wie die ADFC-Radreiseanalyse 2020 zeigt. Aber bevor für sie ein Abstecher in die Städte attraktiv ist, müssen diese laut Hegemann noch viel Basisarbeit leisten.

Bremen lockt mit App

Zur Basis für attraktive Touren gehört neben einer sicheren und selbsterklärenden Infrastruktur für Radfahrer auch ein digitales Routenangebot. „Radtouristen sind oftmals Individualisten“, weiß die DTV-Expertin. Sie seien gerne auf eigene Faust unterwegs. Bremen hat das bereits vor Jahren erkannt und reagiert. Die Wirtschaftsförderung hat mit „Bike it“ eine Fahrradnavigations-App für die Region bei Bike Citizens aus Graz in Auftrag gegeben, die sich jeder Radler kostenlos herunterladen kann. Neben der Navigation und einer Radroutenplanung gibt es dort bereits 15 Thementouren. Die richten sich nicht nur an Städtetouristen auf Sightseeing-Tour oder Reiseradler, die die Stadt erkunden wollen: „Bike it“ ist vor allem auch für Neubürger interessant, die ihre Stadt entdecken wollen, oder Einheimische, die nach neuen Wegen vor der eigenen Haustür suchen.

„Fahrradstadt“ als langfristiger Publikumsmagnet

In Berlin gibt es sowohl Online-Angebote als auch geführte Touren. 163 km umfassen die Themenrouten für Radfahrer laut Christian Tänzler, Pressesprecher von VisitBerlin. Manche der Wege seien gut ausgebaut, manche müssten saniert werden. Für ihn hat Radtourismus aber zukünftig noch eine andere Facette. „Alles, was mit Fahrrad fahren zu tun hat, ist angesagt“, sagt er, „und das nicht erst seit Corona.“ Deshalb ist für ihn das Label „Fahrradstadt“ langfristig ein Markenzeichen für grüne, lebenswerte urbane Zentren. Berlin arbeitete bereits seit Jahren mit zunehmendem Erfolg daran, dieses Image zu erreichen. „Radfahren ist hier Teil des Lifestyles geworden“, der Anteil der Radfahrer wachse seit Jahren. Die vergangenen Monate haben dieses Bild international noch einmal verstärkt. Die Bilder der Pop-up-Bike-Lanes gingen um die Welt. Berlin wurde zum Vorreiter für eine krisensichere Radinfrastruktur. „Die Menschen sehen: In Berlin fahren alle Fahrrad“, sagt Tänzler. Das wollten Touristen während ihres Aufenthalts ebenfalls erleben, zum Teil des Lebensstils zu werden und auf Rädern durch die Kieze zu cruisen. Auf den Pop-up-Bike-Lanes sei das noch einfacher und bequemer als zuvor. Von diesen Gästen will er künftig noch mehr in die Stadt locken. Die Reiseradler seien bereits da. „Ich habe noch nie so viele Langstreckenradler in der Stadt gesehen wie in den vergangenen Wochen.“ Sie blieben ein bis zwei Nächte und radelten dann weiter, oftmals in Richtung Norden in die nächste Fahrradstadt: Kopenhagen.


Bilder: Thomas Kakareko, Andrea Reidl,