London, Sydney, Waltrop … Lucy Saunders hat kein Problem damit, neben den internationalen Metropolen auch die 30.000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen zu besuchen. Eingeladen wurde sie vom verkehrspolitisch engagierten Fahrradhersteller Hase Bikes. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Lucy Saunders lebt in London, berät Städte auf der ganzen Welt und spricht auf internationalen Kongressen. Ihre Vision sind „Healthy Streets“, also „gesunde“ Straßen. Straßen dienen aus ihrer Sicht nicht nur der Fortbewegung, sondern sind Lebensräume und Begegnungsorte von Menschen. Deren Gesundheit und Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt ihres Ansatzes. Wie groß oder klein eine Stadt ist, spielt dabei keine Rolle: „Veränderungen sind überall möglich. Entscheidend ist immer, dass es Menschen gibt, die sie anstoßen“, sagt sie im Interview beim Fahrradhersteller Hase Bikes. Dessen Geschäftsführerin Kirsten Hase hat die Verkehrsvisionärin nach Waltrop eingeladen. Hase Bikes ist spezialisiert auf Delta Trikes und Tandems, die im Freizeitsport, auf Radreisen, im Familienalltag und im Reha- und Handicap-Bereich auf der ganzen Welt gefragt sind. Hergestellt wird jedes einzelne davon in der Manufaktur auf dem alten Zechengelände in Waltrop wo das Unternehmen von Kirsten und Marec Hase seit 20 Jahren ansässig ist.
Die beiden engagieren sich seit Langem für verkehrspolitische Themen, haben Fahrraddemos organisiert und veranstalten eigene Events. „Obwohl wir überzeugt sind vom Fahrrad als Fortbewegungsmittel, gehen wir jetzt einen Schritt weiter, weg von der Konzentration auf ein Verkehrsmittel hin zu einer ganzheitlichen Stadtplanung“, beschreibt Kirsten Hase ihre Motivation zum Projekt „Lebendige Stadt“. „Waltrop wird, wie so viele Städte, an wichtigen Stellen vom Individualverkehr dominiert. Und weil wir hier leben und arbeiten, möchten wir hier etwas bewegen.“ Insgesamt geht das Ziel von Kirsten und Marec Hase aber über Waltrop hinaus. Sie möchten den Menschen Visionen geben und zeigen, dass der öffentliche Raum lebenswerter gestaltet werden kann. „Healthy Streets kann unserer Meinung nach die oftmals sehr aggressive Diskussion über die Verkehrswende komplett entschärfen“, sagt Kirsten Hase.
Das ist auch Lucy Saunders Bestreben: „Das Wichtigste ist, miteinander ins Gespräch zu kommen und dabei Menschen unterschiedlichen Alters, mit verschiedenen Bedürfnissen und Lebenssituationen einzubeziehen. Ich weiß, dass es einen langen Atem braucht, bis etwas geschieht und Veränderungen spürbar werden, aber es lohnt sich.“ Saunders ist Expertin für öffentliche Gesundheit, außerdem Stadt- und Verkehrsplanerin und hat über viele Jahre den Zusammenhang zwischen städtischen Räumen und menschlicher Gesundheit erforscht. Hieraus hat sie „Healthy Streets“ entwickelt und schon in vielen Städten weltweit angewendet. In London wird gerade ein Konzept, das sie im Auftrag des Bürgermeisters zusammen mit ihrem Team erarbeitet hat, sukzessive umgesetzt. In Vorträgen und Schulungen inspiriert sie Menschen auf der ganzen Welt dazu, Straßen und Städte als Lebensraum zu betrachten und sie gesünder, sicherer und attraktiver zu gestalten. Jetzt ist sie in Waltrop.

Gesunde Straßen, lebendige Stadt

Los geht es an der Sydowstraße, die vom Hase-Bikes-Standort auf dem alten Zechengelände zum Stadtzen-trum führt. Hier gibt es auf den ersten Blick wenig auszusetzen: Bäume am Straßenrand, bepflanzte Vorgärten, Fußwege auf beiden Seiten der recht breiten Straße, auf der an diesem Freitagvormittag nicht viel los ist. Nach 200 Metern bleibt Lucy stehen und fragt: „Was kann man hier verbessern?“ Darauf, dass es keinen Radweg gibt, kommen alle, aber Lucy geht es um etwas anderes: „Können Menschen auf den Fußwegen nebeneinander gehen und sich unterhalten?“ Nein, die Erfahrung haben der Waltroper Bürgermeister, mehrere Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung, ein Vertreter der Sparkasse, die den Besuch von Lucy Saunders mitfinanziert hat, Kirsten und Marec Hase und einige Waltroper Bürgerinnen schon gemacht. Der Fußweg ist schmal und wird an mehreren Stellen durch die Bäume, die die Straße säumen, zusätzlich verengt. Unterhalten kann man sich hier nicht. Aber ist dieser Anspruch nicht zu hoch gegriffen? Nein, sagt Lucy: „Eine gesunde Straße ist ein Ort, an dem sich Menschen gerne aufhalten.“ Das heißt für die Sydowstraße ganz konkret: „Wer hier zu Fuß geht, sollte die Möglichkeit haben, sich auszuruhen und mit anderen ins Gespräch zu kommen. Breitere Gehwege und ein paar Bänke würden die Straße für alle sehr viel angenehmer machen und letztlich dafür sorgen, dass man das Auto öfter mal stehen lässt.“ Wir sind knapp zwei Kilometer vom Ortszentrum entfernt, eine Strecke, die man als fitter Fußgänger in 20 Minuten zurücklegt. Seniorinnen mit und ohne Gehhilfen brauchen länger, ebenso Eltern mit Kindern im Kinderwagen oder auf Laufrädern, Rollstuhl-fahrerinnen, Hundehalterinnen oder Spaziergängerinnen, die einfach miteinander plaudern möchten. Den Fußweg zu verbreitern, wäre an der Sydowstraße kein großes Problem und hätte einen weiteren positiven Effekt: „Im Moment lädt die sehr breite Straße regelrecht zum Rasen ein. Auf einer schmaleren Fahrbahn hätten Autofahrer noch genügend Platz, würden aber vorsichtiger fahren und könnten ihrerseits sicher sein, niemanden zu gefährden“, sagt Lucy. Das ist einer der Punkte, die Kirsten Hase so begeistern und auch die Teilnehmerinnen des Rundgangs überzeugen: „Bei Healthy Streets geht es um eine lebendige Stadt, in der sich alle wohlfühlen, und nicht um die Konkurrenz verschiedener Fortbewegungsmöglichkeiten.“ Dazu braucht es nicht immer gleich die ganz großen und teuren Baumaßnahmen. Lucy Saunders macht auch einfach umzusetzende Vorschläge. Private Anwohnerinnen, Gastro-nominnen oder Einzelhändler einladen, Bänke vor die Tür zu stellen oder Bäume im Vorgarten zu pflanzen, die mittelfristig Schatten spenden. Bordsteine absenken, damit Menschen im Rollstuhl, mit Rollator oder Kinderwagen die Straße leichter überqueren können. Selbst Blumen an Balkonen und Gartenzäunen machen einen Weg einladender.

Kirsten Hase hatte sichtliche Freude an der Besucherin aus London, die es sich auch nicht nehmen ließ, die Ruhrgebietsstadt Waltrop mit der kommunalen Verwaltung zu begehen.

Achtung, Durchgangsverkehr!

An der Berliner Straße in Waltrop ist die Situation zunächst komplizierter. Hier donnert der Durchgangsverkehr – Lkw, Busse und Autos – durch die Stadt. Während in vielen Städten jahrelang um eine Ortsumgehung gestritten wird, hat Lucy auch hier leichter umzusetzende Ideen, um diese Situation zu entschärfen. Für einen weiteren Fußgängerüberweg, der automatisch auch den Durchgangsverkehr verlangsamen würde, müsste man am Straßenrand nur wenige Parkplätze wegnehmen. Bürgermeister Marcel Mittelbach und die Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung greifen diese Idee dankbar auf. Jeder in Waltrop weiß, wie gefährlich es ist, von der Sparkasse auf der einen Seite zu der gegenüberliegenden besten Bäckerei der Stadt und zurück zu kommen. Hier kommt allerdings ein Thema zur Sprache, das auch in der Podiumsdiskussion am nächsten Tag eine Rolle spielen wird: Die Berliner Straße ist eine Landesstraße. Hierfür ist das Land NRW zuständig und muss Veränderungen begutachten, genehmigen und letztlich auch finanzieren. Andere Straßen und Plätze „gehören“ dem Kreis oder der Stadt. Die Zuständigkeiten sind nicht immer klar, die Genehmigungsverfahren oftmals langwierig. Da kann man schon mal die Geduld verlieren.

Unternehmerisch denken?

Fast 100 Menschen sind am nächsten Tag zur Podiumsdiskussion ins „Schaltwerk“, den Ausstellungs- und Veranstaltungsraum von Hase Bikes, gekommen. Kirsten Hase geht in ihrer Begrüßung gleich ans Eingemachte: „Ich bin Unternehmerin und gewohnt, Entscheidungen zu treffen und zügig umzusetzen. Ich freue mich, dass hier heute Entscheiderinnen und Bewohnerinnen unserer Stadt miteinander beraten, was wir in Waltrop verändern können.“ Auf dem Podium sitzen neben Lucy Saunders der Bürgermeister Marcel Mittelbach und Landrat Bodo Klimpel. Eigentlich sollte auch das Verkehrsministerium von NRW vertreten sein, doch dessen Staatssekretär hat kurzfristig abgesagt. Die gute Nachricht: An diesem Nachmittag wird eine weitere Ortsbesichtigung an der Berliner Straße beschlossen, zu dem auch das Ministerium eingeladen werden soll. Drei Tage später sagt der Minister zu. Das freut Marcel Mittelbach, den Bürgermeister, sehr. „Es ist wichtig, Vereinbarungen zu treffen, wie wir weiter vorgehen wollen, selbst wenn wir mit langwierigen Prozessen rechnen müssen.“ Er hat sich viel Zeit genommen für das Projekt „Lebendige Stadt“, weil er weiß, wie wichtig die Verkehrssituation für die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger ist. Demnächst wird er die erste Fahrradstraße der Stadt eröffnen. „Lucy Saunders hat uns weitere, neue Möglichkeiten gezeigt, wie wir das Leben in Waltrop attraktiver machen können.“ Viele Gäste sind ebenfalls begeistert, auch Teilnehmer aus Ratsfraktionen, die die Aktion im Vorfeld sehr kritisch betrachtet haben. Bodo Klimpel, der Landrat des Kreises Recklinghausen, gibt zu bedenken, dass in Deutschland viele Normen und Vorschriften berücksichtigt werden müssen und man nicht einfach mal etwas ausprobieren kann. Den Vorschlag hat Lucy am Marktplatz gemacht. Hier sind Parkplätze für mehr als 150 Autos, nur zweimal in der Woche findet tatsächlich ein Lebensmittelmarkt statt. Der Platz liegt in der prallen Sonne und heizt sich durch die vielen Autos zusätzlich auf. Nur 200 Meter entfernt gibt es weitere Parkmöglichkeiten, die kaum genutzt werden. „Wenn man diese Fläche in einem Parkleitsystem vorrangig anbietet, wird nicht der ganze Marktplatz für den ruhenden Verkehr gebraucht. Vielleicht lässt sich dieses Konzept einmal für ein paar Monate ausprobieren.“ Das ist gar nicht so unrealistisch, weil der Platz mehrmals im Jahr für Feste genutzt wird und die Besucher dann an anderen Stellen parken.
Im Schaltwerk bei Hase Bikes vereinbaren die Gesprächspartner*innen, sich erst einmal mit der Berliner Straße zu beschäftigen. Kirsten Hase: „Wir haben erreicht, was wir im ersten Schritt erreichen wollten: Lucy hat uns konkrete Vorschläge gemacht. Die Menschen haben miteinander geredet und eine Vereinbarung getroffen, wie wir weiter vorgehen möchten. Wir starten mit einer Ortsbesichtigung mit dem Verkehrsminister.“ Das ist auch aus Lucys Sicht ein gutes Ergebnis ihres Besuchs. Zu viele Themen auf einmal führen nur dazu, dass sich die Beteiligten überfordert fühlen. Ihre Tipps für alle, die in ihrer Stadt etwas erreichen möchten: „Fangt mit einer realisierbaren Maßnahme an. Holt möglichst viele Menschen für eine Sache ins Boot. Überfordert die Entscheider nicht mit unterschiedlichen Anfragen. Feiert jeden noch so kleinen Erfolg. Führt immer wieder Gespräche mit allen Gruppen in eurer Stadt. Und das Wichtigste: Stellt euch darauf ein, dass es viel Zeit kosten wird. Aber steter Tropfen höhlt den Stein.“

Lucy Saunders‘ 10 Punkte
für Healthy Streets

1. Jede*r soll sich willkommen fühlen

Deshalb müssen Straßen einladende Orte sein, an denen jede*r spazieren gehen, Zeit verbringen und sich mit anderen Menschen austauschen kann. Das ist wichtig, damit wir alle durch körperliche Aktivität und soziale Interaktion gesund bleiben.

2. Leicht zu überqueren

Menschen möchten ihr Ziel schnell und direkt erreichen. Das dürfen wir ihnen nicht erschweren, sondern müssen unsere Straßen entsprechend gestalten. Frustrierte Menschen machen die Stimmung in einer Stadt immer schlechter.

3. Schatten und Schutz

Sie werden benötigt, damit jede*r die Straße bei jedem Wetter nutzen kann: Wenn die Sonne scheint, brauchen wir Schutz vor der Sonne. Bei Regen und Wind sind wir alle froh über einen Unterschlupf. Schutz und Schatten lassen sich mit Bäumen, Markisen, Kolonnaden etc. leicht realisieren.

4. Orte zum Ausruhen

Viele Menschen empfinden es als anstrengend, längere Strecken zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückzulegen. Sitzgelegenheiten sind daher unerlässlich. Und: Wo Menschen sitzen und sich unterhalten, möchte man auch gerne wohnen.

5. Nicht zu laut, bitte!

Lauter Straßenverkehr ist eine Belastung für die Menschen, die an einer Straße leben, arbeiten oder unterwegs sind, und wirkt sich in vielerlei Hinsicht negativ auf unsere Gesundheit aus. Die Reduzierung des Straßenverkehrslärms schafft eine angenehmere und gesündere Umgebung.

6. Die beste Entscheidung: Laufen und Radfahren

Um gesund zu sein, müssen wir Bewegung in unseren Alltag einbauen. Menschen entscheiden sich zum Laufen oder Radfahren, wenn das für sie die angenehmste Option ist. Gehen und Radfahren oder öffentliche Verkehrsmittel müssen attraktiver sein, als das Auto zu nutzen.

7. Menschen fühlen sich sicher

Fußgänger*innen oder Radfahrende fühlen sich sicher, wenn der motorisierte Verkehr ihnen genügend Raum, Zeit und Aufmerksamkeit gibt. Wir können den Verkehr so beeinflussen, dass Autofahrende rücksichtsvoll und langsam fahren. Wenn Wege beleuchtet und freundlich gestaltet sind, haben Menschen weniger Angst, angegriffen zu werden.

8. Was kann ich erledigen, was gibt es zu sehen?

Straßen und Plätze müssen optisch ansprechend sein und es muss Gründe geben, sie zu besuchen: lokale Geschäfte und Dienstleistungen, Gastronomie und Möglichkeiten, mit Kunst, Natur und anderen Menschen in Kontakt zu kommen.

9. Entspannung!

Straßenumgebung macht Angst, wenn sie schmutzig und laut ist, wir uns unsicher fühlen, zu wenig Platz haben oder nicht leicht dorthin gelangen, wo wir hinwollen. Einladende und attraktive Straßen helfen, sich zu entspannen.

10. Saubere Luft

Die Luftqualität wirkt sich auf die Gesundheit jedes Einzelnen aus, besonders aber auf Kinder und Menschen, die bereits gesundheitliche Probleme haben. Die Verringerung der Luftverschmutzung kommt uns allen zugute.


Bilder: Hase Bikes

Cargobikes eignen sich im Stadtverkehr prima als Autoersatz zum Transport von Lasten. Erste Städte und Kommunen testen das Sharing der Schwertransporter. Die Niederländer sind bereits einige Schritte weiter. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


160 elektrische Sharing-Cargobikes stehen zurzeit in den Straßen von Den Haag. Kommerzielle Anbieter wie Cargoroo und BAQME haben sie dort aufgestellt. Die Stadtregierung findet das gut. Sie will die Zahl der Räder bis 2027 sogar auf 1500 steigern. „Unser Ziel ist, in jeder Straße von Den Haag ein Cargobike aufzustellen“, sagt Rinse Gorter, zuständig für Sharing-Mobility in der Gemeinde. Die geteilten Lastenräder sollen es den 550.000 Einwohner*innen leichter machen, auf Autofahrten im Zentrum zu verzichten und die Emissionen zu senken.
Auch in deutschen Großstädten gehören Cargobikes längst zum Stadtbild. Hierzulande sind die Menschen aber vor allem auf eigenen Rädern unterwegs. Die Verkaufszahlen zeigen: Die Transporträder sind beliebt. Im vergangenen Jahr verzeichnete die Sparte Cargobike mit 37,5 Prozent das größte Wachstum in der Fahrradbranche. 212.800 Lastenräder wurden insgesamt verkauft, 165.000 von ihnen hatten einen Motor. Allerdings ist es mit den Transporträdern ähnlich wie mit den Autos: Die meiste Zeit des Tages stehen sie ungenutzt herum. Für Verkehrsforscher ist Sharing deshalb eine sinnvolle Alternative. In Berlin, Düsseldorf, Hamburg oder auch Freiburg haben die Stadtregierungen und kommerzielle Anbieter erste Flotten auf die Straßen gestellt. Allerdings sind die oft zu klein, um Autofahrten im großen Stil zu ersetzen.
Eine Ausnahme ist Berlin. Dort versucht der niederländische Sharing-Anbieter Cargoroo seit 2022 ein engmaschiges Netz aus geteilten E-Cargobikes aufzubauen. Aktuell sind 250 Cargoroos mit den auffälligen gelben Transportwannen in der Hauptstadt unterwegs. Bis zum Sommer soll die Flotte auf 350 wachsen, damit die Nutzenden an ihrem Wohnort idealerweise alle 300 Meter ein Cargoroo finden. Die Leihräder stehen an festen Stationen. Das heißt: Die Räder können nur dort ausgeliehen und zurückgegeben werden. „Das gibt unseren Kundinnen und Kunden Planungssicherheit“, sagt Alexander Czeh, Country Manager von Cargoroo Deutschland.
Außerdem bevorzugen die Bezirksregierungen in Berlin das stationsbasierte Sharing-System. Sie wollen damit die Gehwege von Sharing-Fahrzeugen freihalten. Die Cargoroo-Stationen werden in Berlin nur auf breiten Gehwegen markiert, die ausreichend Platz zum Rangieren bieten. Ansonsten werden sie auf umgewandelten Pkw-Stellplätzen eingerichtet oder an einer Jelbi-Mobilitätsstation der Berliner Verkehrsbetriebe. Nur dort kann die Ausleihe per App beendet werden.
Das stationsbasierte Modell lohnt sich auch für die Sharing-Anbieter. Die Service-Mitarbeiter müssen die Räder nicht einsammeln. Sie checken die Räder zweimal pro Woche an ihrem Standort und wechseln dann die beiden Akkus. Das senkt die Kosten. Auch die Nutzenden haben laut Czeh keine Nachteile. Schließlich sind 80 Prozent Lastenradfahrten Rundfahrten. Wer zum Discounter fährt oder zum Baumarkt, bringt seine Einkäufe anschließend heim.
Cargoroo wirbt damit, dass ihre E-Lastenräder die Verkehrswende vorantreiben. In den Niederlanden teilen sich laut Alexander Czeh rechnerisch zwischen 40 und 60 Kunden ein Cargoroo. „Eine Umfrage unter ihren Nutzerinnen und Nutzern aus Amsterdam zeigt zudem, dass 73 Prozent von ihnen mit unseren Rädern Autofahrten ersetzen“, sagt Czeh. Im kommenden Jahr rechnet er mit ähnlichen Werten für Berlin. „Dann können unsere 350 Räder 625.000 Autokilometer im Jahr ersetzen“, sagt er, und damit rund 100 Tonnen Kohlendioxid einsparen. Damit würde die Cargoroo-Flotte einen wichtigen Beitrag zur Mobilitätswende leisten.

Fahrradkeller 2.0: Die Mobilitätsstation für Lastenräder, Fahrradanhänger und Trolleys ist hell, sicher und komfortabel im Erdgeschoss des Mietshauses untergebracht.

Städte brauchen autoärmere Innenstädte

Die Klimaziele zwingen viele Städte und Gemeinden, den Verkehr in ihren Zentren nachhaltiger zu gestalten. Die bayerische Landeshauptstadt München will bis 2035 klimaneutral werden. Deshalb fördert das städtische Mobilitätsreferat klimafreundliche Alternativen zum Auto. Beim Neubau von Wohnungen können die Bauherren Stellplätze einsparen, indem sie Mobilitätskonzepte einreichen. Damit senken sie die Baukosten und ermöglichen ihren Mietern eine autoarme Mobilität.
Ein Vorreiter auf diesem Gebiet ist die städtische Wohnungsgesellschaft GWG in München. Sie hat bereits an vier Neubau-Standorten Mobilitätsstationen errichtet. Neben Autos, E-Bikes, Trolleys und Fahrradanhängern bietet die GWG auch E-Lastenräder an. Der Clou ist: Die Ausleihe der E-Cargobikes ist kostenlos. Die Mieter müssen lediglich einen Chip beantragen. Untergebracht sind die Räder in hellen Räumen mit Fenstern im Erdgeschoss der Mehrfamilienhäuser. Per Chip schwingt die Tür automatisch auf. Das macht den Fahrer*innen das Rangieren mit den Transporträdern leicht und komfortabel.
Obwohl die Hemmschwelle für die Cargobike-Ausleihe bei der GWG niedrig ist, ist ihre Nutzung kein Selbstläufer. Am Eröffnungstag der beiden Mobilitätsstation in Hardthof im Norden von München ist Steffen Knapp, Architekt und zuständig für die Projektentwicklung im Team Städtebau der GWG, zwei Stunden von Tür zu Tür gegangen und hat die Mieter über das Angebot informiert. „Ich habe sie eingeladen, die Lastenräder vor der Haustür auszuprobieren“, sagt er. Er weiß, die Probefahrt ist wichtig. Die meisten GWG-Mieter saßen noch nie auf einem Lastenrad. Sie brauchen eine Einführung und Unterstützung bei der Probefahrt. Knopps Engagement zahlt sich aus. Rund 40 Prozent der Mieterschaft hat sich fürs Sharing-Angebot registriert. Die E-Cargobikes sind laut Knopp die „Hotrunner“ im Sharing-Angebot. Sie werden am häufigsten ausgeliehen. Bis 2026 plant die GWG, rund 30 weitere Mobilitätsstationen in ihren Wohnprojekten zu etablieren.

40 bis 60

Kunden teilen sich ein
Cargoroo in Amsterdam

70 Lastenräder für Hamburg

Erste Städte beginnen, Cargobikes in das städtische Bike-Sharing-System zu integrieren. In Freiburg im Breisgau können die Kund*innen mittlerweile 20 E-Cargobikes über die städtischen Leihradflotte „Frelo“ ausleihen. In Hamburg bekam das „StadtRad“-Verleih-System bereits 2019 Zuwachs von 19 Cargobikes. Inzwischen ist ihre Zahl auf 37 gestiegen. Eigentlich sollte die Flotte längst 70 Transporträder umfassen, aber Lieferengpässe verzögern seit Monaten den Ausbau. In beiden Städten kommen die Lastenräder gut an. Laut dem Sprecher der Hamburger Verkehrsbehörde wurden sie 2022 rund 3700-mal ausgeliehen. „Im Mai lag der Spitzenwert bei 445 Ausleihen“, sagt er, im Schnitt waren die Nutzenden mit ihnen zwei Stunden unterwegs.

Das Angebot ist vielseitig an der Mobilitätsstation am Bachplätzchen. Neben E-Lastenrädern können die Anwohner*innen auch E-Autos oder E-Scooter leihen und eigene Fahrräder sicher parken.

Mehr Grün mit Mobilitätsstationen

Erste Städte wollen mit ihrem Lastenrad-Sharing-Angebot auch die Aufenthaltsqualität in den Zentren verbessern. In Düsseldorf sind die Transporträder beispielsweise in vielen Wohnquartieren ein Bestandteil der Mobilitätsstationen. Bis 2030 soll das Startup Connected Mobility Düsseldorf GmbH (CMD) im Auftrag der Stadt Düsseldorf 100 Mobilitätsstationen im Zentrum errichten. Damit werden für die Anwohnerinnen nachhaltige Mobilitätsangebote vor Ort geschaffen. Acht Stationen sind bereits fertig. Eine von ihnen ist das Bachplätzchen im Düsseldorfer Stadtteil Unterbilk. Früher parkten 30 Autos auf dem asphaltierten Oval. Im Dezember 2022 ist aus dem Parkplatz ein begrünter Treffpunkt geworden. Zwischen Bäumen und Pflanzen haben die Anwohnerinnen dort nun ausreichend Platz zum Verweilen und zum Boule spielen. Außerdem können sie auf einen Fahrzeug-Pool aus E-Autos, drei E-Lastenrädern, E-Scootern und E-Mopeds zugreifen.
„Platz ist Luxus im Stadtzentrum“, sagt Ariane Kersting, Sprecherin der CMD. Jede Mobilitätsstation soll deshalb auch das Umfeld aufwerten. Neben dem Fuhrpark werden stets neue Grünflächen geschaffen oder Sitzgelegenheiten. Je nachdem, wie viel Platz im Wohnquartier, der ÖPNV-Station oder bei den Unternehmen zur Verfügung steht.
Das neue Mobilitätsangebot in Düsseldorf gefällt den Anwohnern. „Kaum waren die ersten Stationen fertig, riefen uns die Bürger an, und meldeten ebenfalls Bedarf an“, sagt die CMD-Sprecherin. Aber auch hier braucht das Lastenrad-Sharing Starthilfe. „Wir organisieren immer wieder Aktionstage oder Veranstaltungen im Quartier, damit die Menschen Lastenräder ausprobieren können“, sagt sie. In Nutzervideos erklären sie außerdem auf den Social-Media-Kanälen wie die Ausleihe funktioniert und worauf beim Fahren mit Last und Motor zu achten ist.
Lastenrad-Sharing zu etablieren, ist für Ariane Kersting ein Dauerlauf und kein Sprint. „Die Menschen müssen die Chance bekommen, das Angebot in ihrem Alltag auszuprobieren und nach und nach zu integrieren“, sagt sie. Erst wenn ihnen der Zugriff auf die Alternative zum Auto gesichert und komfortabel erscheint, würden sie überhaupt darüber nachdenken, auf ihren Zweitwagen zu verzichten.
Die Integration der Lastenräder an Mobilitätsstationen oder in das städtische Leihrad-System hat für Carina Heinz vom Deutschen Institut für Urbanistik einen großen Vorteil: Es sorgt für mehr soziale Gerechtigkeit in der Mobilität. „Nicht jeder kann oder will 5000 bis 8000 Euro für ein elektrisches Lastenrad ausgeben“, sagt sie. Zwar fördern einige Städte und Bundesländer den Kauf von Lastenrädern über Zuschüsse, aber die Käufer müssen dennoch mehrere Tausend Euro bezahlen. Das ist viel, wenn man das Rad nur ein oder zweimal pro Woche nutzt. Deutlich wirkungsvoller ist aus ihrer Sicht die Förderung von Lastenrad-Sharing direkt über die Kommune. „Der Hebel ist größer. Die Gemeinde erreicht mit diesem Service in kürzerer Zeit eine viel größere Bevölkerungsgruppe“, sagt sie. Im Idealfall auch die Menschen, die sich selbst mit einem Zuschuss kein eigenes Lastenrad leisten können.
Der Schritt vom Besitz zum Teilen ist entscheidend für die Mobilitätswende. Die Anbieter der Sharing-Systeme am Wohnort sind die Wegbereiter des Wandels. Im direkten Vergleich mit vielen niederländischen Städten wie Den Haag steckt das Lastenrad-Sharing in Deutschland noch vielerorts in den Kinderschuhen. Jetzt sind die Städte und Gemeinden am Zug. Sie müssen in den Stadtzentren Millionen kurzer Autofahrten ersetzen, die kürzer sind als fünf Kilometer. Lastenrad-Sharing ist dabei nur ein Baustein von vielen. Aber einer mit großer Wirkung.


Bilder: Cargoroo, GWG München – Jonas Nefzger, CMD

Zwei aktuelle Beispiele zeigen, dass die Vorstellungen von einheitlichen Ladesteckern für E-Bikes und leichte Elektrofahrzeuge (LEV) kaum unterschiedlicher sein könnten. Schon zu der Frage, ob der Stecker am Fahrrad oder an der Infrastruktur hängen sollte, gehen die Meinungen auseinander. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


„Ein einheitlicher Ladestecker ist ein relevantes Thema, auch für die Industrie.“ Das sagt Tim Salatzki, Leiter Technik und Normung des Zweirad-Industrie-Verbands ZIV. „Der Aufhänger für so ein einheitliches System ist häufig ein öffentlicher Verleih. Aber es gibt auch immer mehr den Wunsch von Privatnutzenden, die ihr Fahrrad zum Beispiel am Supermarkt aufladen wollen oder an Radreisewegen, Gaststätten oder Hotels.“ Bei einer einheitlichen Ladelösung müssten die Nutzer und Nutzerinnen nicht mehr zwingend ein eigenes Ladegerät mitführen und hätten auch im eigenen Haushalt Vorteile. Auch andersherum haben die Besitzer von Gaststätten und Supermärkten, genauso wie die öffentliche Hand, ein Interesse daran, diesen Service anbieten zu können. Der aktuell fragmentierte Markt sei ein Problem, so Salatzki. Zudem ist die Lage etwas komplexer als beispielsweise im Smartphone-Markt, der ab Ende kommenden Jahres EU-weit einheitlich auf USB-C-Buchsen setzen muss. „Wenn ich einen Akku von einem Elektrofahrrad lade, habe ich immer eine Kommunikation zwischen Ladegerät und Batterie. Da hängt vieles ab von Variablen: Wie voll ist die Batterie und wie ist die Temperatur im Akku oder der Umgebung.“

Einer für alle? Der Stecker des Chademo-Konsortiums soll über kleine Adapter auch mit älteren Ladesystemen kompatibel sein. Derzeit ist ein Kommunikationsprotokoll in der Prototypenphase.

Stecker, Buchsen und Adapter

Bisher legen die Hersteller für sich selbst ein System aus, das sie für sicher halten. „Vonseiten der Industrie sehen wir den Wunsch, im Markt einen einheitlichen Stecker anbieten zu können.“ Dementsprechend haben sich einige Akteure aus der Industrie zusammengeschlossen, um ein Kommunikationsprotokoll zu entwickeln, das auf einen bestehenden Stecker aufsatteln soll. Stecker und Buchse sind bereits in der Vornorm ISO/TS 4210-10 aus dem Juli 2020 definiert. Diese unterstützen Spannungen bis zu 42 Volt und Leistungswerte von 800 Watt. Das Kommunikationsprotokoll entsteht im privaten Konsortium Chademo. Dieser Handelsname dürfte einigen Menschen als elektrische Schnittstelle eines Batteriemanagementsystems für Elektroautos bekannt sein und stammt aus Japan. Die Zielstellung sei auch hier eine Norm, erklärt Salatzki. Auch Marktführer Bosch habe sich dem Konsortium angeschlossen. „So ein System wird funktionieren, wenn der Größte dabei ist.“ Auch Panasonic, Yamaha und Shimano seien an Bord und das Interesse der Industrie sei insgesamt groß. „Der Charme von diesem neuen Ladesystem ist, dass ich bestehende Systeme am Markt laden kann“, so Salatzki. Das könne die Industrie über Adapter-Lösungen in der Größe einer Streichholzschachtel realisieren.
Eine generelle rechtliche Pflicht, einen bestimmten Stecker zu benutzen, hält Salatzki für realistisch: „Es ist durchaus abzusehen. Solche Regelungen sind beim Pkw vorhanden oder auch bei Tablets und Handys. Deshalb kann man schon davon ausgehen, dass die Politik sich auch Elektrofahrräder mal ansehen wird.“

„Das Laden ist eigentlich eine untergeschobene Nebenfunktion.“

Hannes Neupert, Extra Energy

Gegenmodell kommt mit Buchse an der Infrastruktur

Hannes Neupert ist Verfechter eines gänzlich anderen Modells. Er hat unter anderem den Verein ExtraEnergy e. V. mitgegründet und ist seit einigen Jahrzehnten im Bereich der Elektromobilität beratend tätig. Ein Vorstoß in Form der Norm IEC TS 61851-3-2, an dem er beteiligt war, geht das Laden grundlegend anders an und sieht vor, dass Kabel und Stecker am Fahrzeug fest installiert ist. Die Idee entstand auf einer Eurobike-Party und geht politisch auf das EU-Mandat 468 aus dem Jahr 2010 zurück. „Die Buchse ist an der Infrastruktur. Das ist ganz entscheidend, weil nur dadurch alles interoperabel ist und die Infrastruktur dann keine Weichteile hat, die leicht durch Vandalismus beschädigt werden können“,
erklärt Neupert. In verschiedenen Projekten zu öffentlicher Ladeinfrastruktur, zum Beispiel von der Deutschen Bahn in Stuttgart, habe man feststellen können, dass die dort an den Ladesäulen verbauten Kabel maximal ein Jahr halten. Spätestens dann fielen sie dem Vandalismus zum Opfer, berichtet Neupert. Die Buchse, die Neupert auch für die öffentliche Infrastruktur vorschlägt, kann drei verschiedene Stecker aufnehmen. Der kleinste der drei besitzt keinen konduktiven elektrischen Kontakt, sondern dient in erster Linie dazu, Fahrräder sicher abstellen zu können. Nebenbei können GPS-Geräte und Lichtanlagen am Fahrrad dennoch Energie abzapfen. Den mit dem Fahrrad verbundenen Stecker schließt die Buchse an der Ladesäule ab. „Der mittlere Stecker ist der, für den wir von der größten Bedeutung am Markt ausgehen. Der ist für Pedelecs und mittelgroße Elektroroller mit Batteriekapazitäten von drei bis fünf Kilowattstunden geeignet“, so Neupert. Er hält Spannungen von 60 Volt sowie Stromstärken von 60 Ampere aus und leistet bis zu 3 Kilowatt. Die maximale Spannung ist so gewählt, dass Fahrradmechatroniker und -mechatronikerinnen die Fahrzeuge noch ohne Hochvolt-Schulung warten und bearbeiten dürfen. Der größte Stecker hält bis zu 120 Volt Spannung aus und ist zum Beispiel für Motorräder gedacht. Alle Stecker erlauben den Fahrzeugen, über Near Field Communication (NFC) mit der Infrastruktur zu kommunizieren.
Dass diese neue Spezifikation für Stecker und Buchse nun existiert, macht sie nicht automatisch zu einer gesetzlichen Verpflichtung. Das soll sie allerdings durch einen Umweg über die CE-Kennzeichnung werden. „Ab September nächsten Jahres wird es gesetzlich verpflichtend werden, den Standard einzuhalten für alle neuen Produkte, die eine CE-Konformität haben wollen. Das ist die Grundlage, um überhaupt in Europa Pedelecs verkaufen zu dürfen“, so Neupert. Der Weg dahin ist durchaus komplex. Um CE-konform zu sein, muss ein Pedelec den Standard EN 15194 erfüllen. Innerhalb dieses Standards gab es bisher zwei Batterienormen, von denen eine veraltete jetzt auf einen Antrag der holländischen Regierung hin gestrichen wurde. Der übrig bleibende Batteriezellenstandard EN 50604-1, der 2017 eingeführt wurde, ist damit unumgänglich und werde um den im Februar 2023 auf Deutsch publizierten Standard IEC TS 61851-3-2 erweitert, erklärt Neupert. In diesem ist das neue Ladesystem spezifiziert.

Der mittlere Stecker dürfte der wichtigste sein, so Hannes Neupert. Alle drei Stecker passen in dieselbe Buchse, die sich statt am E-Bike an der Infrastruktur befindet.

Ausnahmen legal, aber nicht interoperabel

All das bedeutet aber nicht, dass es künftig nur noch E-Bikes mit fest inte­griertem Kabel und Stecker geben kann und wird. Der Weg, den zum Beispiel Marktführer Bosch derzeit schon geht, nennt sich herstellerspezifische Lösung (manufacturer-specific solution) und bleibt weiterhin legal. Wenn es möglich ist, die Batterie zum Laden zu entnehmen, braucht es außerdem kein fest installiertes Kabel. Interoperabel ist diese Lösung dann nicht.
Wenn Kabel und Stecker permanent mit dem Fahrrad verbunden sind, ist das ein großer Eingriff in das Design und dürfte in der Industrie nicht gut ankommen, kommentiert Tim Salatzki den Vorstoß. „Wir gehen davon aus, dass das eher weniger gewünscht ist“, sagt er. Hannes Neupert stimmt in dieser Hinsicht mit Salatzkis Ansicht überein und erwartet zunächst herstellerspezifische Lösungen, um das fest am Rad installierte Kabel zu umgehen: „Meine Erwartung ist, dass die alle vom Stuhl fallen, weil sie überhaupt nicht drauf vorbereitet sind. Ich gehe davon aus, dass es mindestens fünf Jahre braucht, bis die Industrie das halbwegs adaptiert. Ziemlich sicher werden viele einen Sonderweg gehen, weil sie damit ihr Produkt am wenigsten umkonstruieren müssen.“
Allerdings plane die Stadt Hannover beispielsweise, 30.000 Pkw-Parkplätze in Lade- und Parkstationen für E-Bikes und LEVs mit besagter Buchse umzuwandeln. Der öffentliche Druck, deren ganzen Funktionsumfang nutzen zu können oder zumindest einen Adapter bekommen zu können, so erwartet Neupert, dürfte die Indus-trie zum Umdenken bringen. Auch eine solche Station hat Neupert in einem Interreg-Projekt mit öffentlichen Geldern mitentwickelt. Sie lädt die Fahrzeuge au­tark. Solarmodule speisen einen im Boden verschweißten Akku. Noch im Juli dieses Jahres soll in Hannover eine Musterausschreibung für Stationen dieser Art erarbeitet werden. Dass zumindest im September 2024 noch nicht viele E-Bikes und LEVs auf den neuen Stecker oder eine konforme herstellerspezifische Lösung setzen werden, ist dennoch wahrscheinlich. Schließlich sind viele Produkte für diesen Lieferzeitraum bereits jetzt im Vorlauf. Die Behörden, die nicht CE-konforme Produkte zurückrufen können, dürften ebenfalls eine Weile brauchen, um die Änderungen zu implementieren.

Einheitliches Laden kann auch bedeuten, dass die Infrastruktur eine Buchse anstatt eines Steckers bietet. Ein Hauptargument für diese Grundsatzentscheidung ist, Vandalismus zu minimieren.

Bequem parken und Batteriebrände vermeiden

Auch im aktuellen Markt gäbe es bereits Produkte, die so eigentlich nicht legal seien, sagt Neupert. Dazu zählen zum Beispiel Ladekabel mit frei verkäuflichen, runden und orientierungsfreien Steckern. Unterschiedliche Ladegeräte mit demselben Stecker verursachen potenziell Gefahren. „Es geht darum, dass Batteriebrände möglichst ausgeschlossen werden. Eine große Gefahr dafür ist der Anschluss an ein nicht geeignetes Ladegerät, das zum Beispiel von der Spannungslage zu hoch ist und Sicherheitsmechanismen, die mit dem Originalgerät vorhanden sind, aushebelt“, erklärt Neupert.
Theoretisch könnten Hersteller den neuen Ladestandard auch mit Kabeln und Steckern nutzen, die sich vom Fahrrad trennen lassen. Ein großer Vorteil des Entwurfs würde dann aber nicht mehr greifen. „Das Laden ist eigentlich eine untergeschobene Nebenfunktion. Die Hauptfunktion ist, dass du dein Fahrrad oder deinen Roller genau so bequem parken kannst wie dein 150.000 Euro teures Auto.“ Braucht der Eigentümer oder die Eigentümerin das Fahrzeug wieder, sollen sie sich über verschiedene Wege als Eigentümer identifizieren und das Fahrzeug aufschließen können. Im Falle eines Diebstahls würden alle elektronischen Komponenten als gestohlen gebrandmarkt.
Sonderwege, wie den von Salatzki erwähnten Chademo-Stecker, können auch mehrere Unternehmen miteinander gehen. Wenn diese marktbeherrschend sind, muss eine solche Vereinigung aber gewisse Marktaufsichtspflichten übernehmen und Drittanbietern gewähren, kompatible Teile anbieten zu können. Das Chademo-Konsortium wird das Thema auch auf der diesjährigen Eurobike erneut aufgreifen. Wenn dieser Vorstoß die Prototypenphase verlässt und die von Neupert genannte Frist im kommenden Jahr näher rückt, dürfte die Zukunft einheitlicher Ladestecker und Buchsen sich etwas klarer präsentieren.


Bilder: Chademo, Hannes Neupert

Der Velo-City-Kongress ist schon allein durch das internationale Publikum und Themenspektrum ein besonderes Event. Die Ausgabe in Leipzig war gefüllt mit spannenden Programmpunkten und viel Leidenschaft, aber nicht frei von Kritik. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


In der Anzahl der Sessions und Vortragenden übertraf die Velo-City Leipzig alle vor ihr da gewesenen, so Henk Swarttouw, Präsident der European Cyclists‘ Federation (ECF) bei der Eröffnung des Events. Über 1500 Teilnehmer*innen aus rund 60 Ländern waren nach Leipzig angereist, um sich unter dem Motto „Leading the transition“ vom 9. bis 12. Mai über das Fahrradfahren auszutauschen. Knapp 60 Unternehmen und Organisationen stellten ihre Produkte und Projekte im weitläufigen Congress Center Leipzig aus.
Im Zuge des Eröffnungs-Plenums fielen gleich die ersten Forderungen an Politik und Gesellschaft: Für mehr und besseren Radverkehr müssen die verschiedenen Verkehrsgruppen gerechter behandelt und müsse die Fahrradkultur gestärkt werden. „Die Herausforderungen, vor denen Städte weltweit in der Bekämpfung der Klimakrise stehen, sind immens. Umso wichtiger wird es, wie wir in Zukunft das Miteinander in den Kommunen gestalten. Wir brauchen mehr Flächengerechtigkeit im Verkehr zugunsten von klimaschonender Mobilität, einer höheren Verkehrssicherheit und besserer Aufenthaltsqualität. Dem Radverkehr kommt hierbei eine entscheidende Bedeutung zu“, so Thomas Dienberg, Bürgermeister für Stadtentwicklung und Bau in der gastgebenden Stadt Leipzig. Dienberg betonte in seiner Eröffnungsrede zudem, dass kein Verkehrsmodus mehr Freude bringe als das Fahrrad. Leipzig ist nicht die erste deutsche Stadt, in der internationale Radverkehrs-Akteure im Kontext der Velo-City zusammenkamen. Auch die erste Velo-City überhaupt fand 1980 in Bremen und eine weitere Ausgabe 2007 in München statt.

„Wir müssen verstehen, warum die 15-Minuten-Städte immer beliebter werden. Wir müssen die Städte umformen, ein qualitativ hochwertiges soziales Leben entwickeln, die Gentrifizierung stoppen und eine humanistische Lebensqualität schaffen. Wir müssen eine neue Revolution entwickeln, die Revolution der Nähe.“

Carlos Moreno, Sorbonne-Universität Paris

Lösungen im Vordergrund

Neben der Leipziger Messe und der Stadt Leipzig tritt die ECF als Organisator der Velo-City auf. Geschäftsführerin Jill Warren: „Wenn wir nachhaltigere Verkehrssysteme und lebenswertere Städte und Gemeinden schaffen wollen, ist mehr Radverkehr unerlässlich. Um das grüne und integrative Potenzial des Radverkehrs zu erschließen, müssen wir unsere Ambitionen in stärkere politische Maßnahmen und Aktionen umsetzen. Der Radverkehr muss ein entscheidender Bestandteil einer nachhaltigen und integrativen Zukunft sein, und die Velo-City 2023 ist ein Katalysator, der diesen Wandel vorantreibt.” Neben zweimal täglich stattfindenden Plenen gab es insgesamt 66 parallele Sessions. 430 Speakerinnen und die Besucherinnen berichteten von Lösungen oder erarbeiteten diese gemeinsam.

Wer den Velo-City-Kongress in Leipzig besucht hat, konnte nicht nur Vorträge und Diskussionen hören. In Workshops konnten die Besucher*innen sich auch selbst einbringen.

Perspektivenreiches Programm

Stadtplanung muss perspektivenreich und inklusiv sein. So ließen sich wohl einige Velo-City-Sessions zusammenfassen, ob es um die Bedürfnisse von Kindern geht, um unkorrekte Nutzung von Parkinfrastruktur oder um Frauen, die in der Planung in Entscheidungsprozessen gefördert werden sollen. Gerade benachteiligte Gruppen müssen intersektional, also entlang verschiedener Faktoren, handlungsfähig sein und in Entscheidungen mitgedacht werden. Diese Perspektiven fanden auf der Velo-City durchaus statt, unter anderem in Sessions zu „Women in Cycling“ und Gender Equality. Entlang dieser Erkenntnis wurde jedoch von einem kolumbianischen Plenums-Teilnehmer entschiedene Kritik geäußert. Die Velo-City habe einen blinden Fleck im Hinblick darauf, welche sozialen Klassen sich dort austauschen können. Das betreffe insbesondere Menschen aus dem globalen Süden, die zwar an einer Teilnahme interessiert seien, sich diese aber nicht leisten könnten. Mehr globale Repräsentanz dürfte für einen Kongress mit globalem Anspruch hilfreich sein.

„Wenn wir nachhaltigere Verkehrssysteme und lebenswertere Städte und Gemeinden schaffen wollen, ist mehr Radverkehr unerlässlich.“

Jill Warren, European Cyclists‘ Federation

Neue Infrastruktur reicht nicht

Möglichkeiten, das Radfahren attraktiver zu machen, gibt es viele. Ein Ansatzpunkt sind steuerliche und finanzielle Anreize. Das kann die finanzielle Förderung von Lastenradkäufen sein oder eine Mehrwertsteuersenkung auf Reparaturservices. Wie eine lebenswerte Stadt aussehen kann, zeigte Künstler Jan Kamensky mit einem Video, in dem er die Infrastruktur austauscht. In diesem waren die Gördelerringe in Leipzig zu sehen, die sich von einer lauten, autodominierten Kreuzung zu einer einladenden Parklandschaft wandelten.
Lediglich Fahrrad-Infrastruktur auf ein bestehendes autofreundliches Verkehrsnetz aufzusetzen, könne allerdings nicht genug sein, so Philippe Christ vom International Transport Forum. Auch immaterielle Infrastrukturen in den Köpfen müssen sich ändern. Das Fahrrad kann bestimmte Bevölkerungsgruppen emanzipieren, zeigten Beispiele aus dem US-amerikanischen Detroit und dem brasilianischen São Paulo. Wenn eine Community partnerschaftlich involviert wird und Einfluss darauf hat, wie die Fuß- und Fahrradinfrastruktur gestaltet ist, sorgt das für Identifikation.
Die Bühne der Velo-City wurde auch für diverse Preisverleihungen genutzt. Telraam, ein Anbieter von benutzerfreundlichen Sensoren, die aus den Fenstern von Stadtbewohner*innen Verkehrsdaten sammeln, gewann live auf dem Kongress den mit 17.000 Euro dotierten Smart Pedal Pitch. Jill Warren von der ECF und Kevin Mayne, CEO von Cycling Industries Europe, erhielten den The Cycling Embassy of Denmark Leadership Award. Die ECF-Awards 2023 gingen auch an zwei deutsche Städte. Heidelberg gewann in der Kategorie Cycling Improvement und Essen erhielt den Cycle-Friendly Employer Award. Helsingborg sicherte sich den ECF-Award für Fahrradinfrastruktur und Oslo gewann in der Kategorie Road Safety.

„In der Politik stehen Probleme im Rampenlicht. Radfahren ist keine Herausforderung, sondern der vielleicht wichtigste Baustein, um die Mobilitätsprobleme unserer Zeit zu lösen.“

Thomas Dienberg, Bürgermeister für Stadtentwicklung und Bau Leipzig

Chancen zum Netzwerken

Den Rahmen des inhaltlichen Programms lockerten Stretching-Sessions, Theater- und Musikperformances auf. Umsäumt wurde der Kongress zudem von sozialen Events verschiedener Unternehmen und Verbände und von offizieller Seite. In der Stadt führten die Velo-Citizens ein Bike-Fest und eine Fahrradparade durch. Der Netzwerkfaktor ist nicht zu unterschätzen. Wer sonst im Straßenverkehr oder in Planungskomitees oft mit einer oder wenigen Menschen die Perspektive Fahrrad vertritt, traf in Leipzig auf Gleichgesinnte. Das Fahrrad ist eine Bewegung, eine re-velo-ción. Sie wird in diesem Format im kommenden Jahr fortgesetzt. Dann findet der Velo-City Kongress 2024 in der belgischen Stadt Gent statt.


Bilder: Leipziger Messe – Christian Modla

Für eine gelungene Verkehrswende ist ein intensiver Austausch wichtig. Auf der PolisMobility konnten Fachbesucher*innen, die Aussteller und die Öffentlichkeit diesen finden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Ein Verkehrssystem zu verändern, kann nur im Miteinander funktionieren. Der Radverkehr ist dabei ein zentraler Baustein und hat einen entscheidenden Vorteil, sagt Jessica Strehle, Fachbereichsleiterin Stadtentwicklung, -planung und Mobilitätsinfrastruktur bei der Stadt Aachen. „Radverkehr ist die Mobilitätsart, die Tempo bringt.“ Dennoch muss auch der Radverkehr als Netz geplant und mit dem Fußverkehr im Einklang sein.
Große Stadtplanungsfragen betreffen selten nur einen Verkehrsträger. Bei der PolisMobility in Köln trafen die verschiedenen Modi deshalb aufeinander. Die Veranstaltung versteht sich als 3-in-1-Event. 160 Aussteller und Partner präsentierten auf der Expo ihre Produkte und Lösungen. 200 Speakerinnen bespielten vom 24. bis 26. Mai ein umfangreiches Konferenzprogramm. Am anschließenden Wochenende fand zusätzlich das PolisCamp auf Aktionsflächen in der Kölner Innenstadt statt und brachte die Konferenzthemen in die Öffentlichkeit. Die drei Angebote nahmen insgesamt rund 17.000 Besucherinnen wahr.

Sektorübergreifend handeln

Der Dialog darüber, mit welchen Maßnahmen Städte und Kommunen sich mobilitätsgerecht und lebenswert entwickeln können, war bei der PolisMobility interdisziplinär angelegt. Mobilität sei ein Schnittstellenthema und erfordere gemeinsames, sektorübergreifendes Handeln, so Oliver Frese, Geschäftsführer der Koelnmesse. „Die PolisMobility hat in einem Jahr einen deutlichen Reifeprozess durchlaufen und an Relevanz noch weiter zugelegt. Nicht zuletzt hat die klare Ausrichtung auf die kommunalen Gestalter der Mobilitätswende dem Messevent noch einmal einen wichtigen Schub gegeben. Als relevante Dialogplattform ist uns gelungen, Entscheider der öffentlichen Hand mit Lösungsanbietern in den Austausch zu bringen und damit nachhaltige Impulse für eine mobilitätsgerechte, urbane Zukunft zu setzen.“
Die kommunalen Gestalter*innen waren auch im Kontext der Expo vertreten. Der Ausstellungsbereich Cities + Regions ermöglichte es, sich mit öffentlichen Entscheidungsträgern auszutauschen. Insgesamt zog die PolisMobility sehr verschiedene Aussteller an, etwa aus dem Dienstleistungsbereich, von Verbänden oder E-Mobilitäts-Unternehmen. Durch die inhaltliche Klammer der Infrastruktur sind diese miteinander verbunden, erklärt Prof. Dr. Johannes Busmann, Geschäftsführer des Verlags Müller + Busmann, der die Konferenz inhaltlich ausgestaltete. „Als öffentliche Angelegenheit bildet die Mobilität der Zukunft die Grundlage einer lebenswerten, nachhaltigen Entwicklung und Gestaltung der Städte und Regionen. Neben technologischen Innovationen sind für diese Transformation eine leistungsfähige Infrastruktur, die nur gemeinsam mit den Kommunen und der öffentlichen Hand nachhaltig bereitgestellt werden kann, sowie attraktive Angebote, die das Leben der Menschen erleichtern, notwendig.“
Im Rahmen der PolisMobility fanden auch die Hauptversammlung des Deutschen Städtetages, der Kongress der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW (AGFS) sowie die Fachkonferenz Cargo Bike Sharing Europe statt. Im kommenden Jahr soll die PolisMobility erneut im Mai stattfinden.


Bild: Sebastian Gengenbach

Cargobike-Sharing ist noch deutlich weniger verbreitet als Zeitnutzungsmodelle für Autos, Fahrräder oder E-Scooter. Stellschrauben gibt es bei den Fahrzeugen, den Zielgruppen – und den Finanzen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


„Cargobikes sind wie Drogen“, so Tobias Lochen, Gründer von Sharing-Anbieter Sigo. In dieser Hinsicht hätten ihm wohl die meisten Redner*innen auf der Konferenz Cargobike-Sharing Europe am 24. Mai zugestimmt. Wer die fähige Mobilitätsalternative ausprobiert, wird schnell süchtig danach. „Unsere größte Mission muss es sein, die Menschen auf die Cargobikes zu bekommen“, so die Schlussfolgerung von Lochen. Die Sharing-Räder fungieren nicht nur als Einstiegsdroge für private Lastenradkäufe, sondern haben ihre ganz eigene Daseinsberechtigung. Sie lösen ein Problem, das Cargobikes und Autos gemeinsam haben. Beide sind die allermeiste Zeit ungenutzt.
In Köln fand Cargobike-Sharing Europe im Kontext der Polis Mobility auf dem Messegelände statt. Die Veranstaltung sei in der diversen Pendlerstadt gut aufgehoben, so Frederik Strompen. Er vertrat die Stadt Köln und stellte unter anderem das junge Cargobike-Programm der Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) vor. Die KVB stellt zunächst 15 Lastenräder in drei Stadtteilen zur Verfügung. In Nahverkehrsabos sind 90 Freiminuten wöchentlicher Nutzung enthalten. Für die reguläre Nutzung fallen 9 Cent pro Minute oder maximal 27 Euro am Tag an. Arne Behrensen von Zukunft Fahrrad, der die Konferenz gemeinsam mit Cargobike.jetzt organisierte, kommentiert: „Wenn Sharing richtig organisiert ist, ist es effizienter. Mehr Leute können verlässlich zu günstigen Konditionen Zugriff auf hochwertige Lastenräder haben. Wenn man sich die KVB-Räder anschaut, wer sich solche Räder privat kauft, den Stellplatz und das Geld hat, das ist ein eingeschränkter, kleiner Kreis in der Großstadt. Das ist für KVB-Kunden eine interessante Sache.“

Auf der Konferenz waren einige Anbieter mit Ausstellungsrädern vertreten. Einspurige Lastenräder sind bei Sharing-Angeboten die Norm.

Knackpunkt Geld

Viele offene Fragen im Kontext geteilter Lastenräder betreffen die Finanzierung. Ein Podium zu der kon-troversen Geldfrage wurde sich nicht einig, ob Lastenrad-Sharing überhaupt kostendeckend oder profitabel betrieben werden muss. An einigen Orten ist der öffentliche Nahverkehr schließlich auch nicht kostendeckend. Gerade in der Implementierungsphase können öffentliche Subventionen helfen, Cargobike-Sharing ins Rollen zu bringen. „Das Schlagwort des Tages war für mich ,profitable public fundingʹ. Man kann nicht groß Geld verdienen mit Cargobike-Sharing. Es braucht eine öffentliche Finanzierung, aber die muss natürlich im Sinne der Gesellschaft investiert sein“, so Arne Behrensen. Öffentliches Geld hat den Nachteil, dass es bei politischen Veränderungen auch wegfallen kann und damit die Sharing-Projekte weniger resilient macht. In jedem Fall sei es wichtig, dass Lastenrad-Sharing günstiger als die Pkw-Alternative ist, um konkurrenzfähig zu sein. Der Markt für geteilte Lastenräder ähnele insgesamt eher dem Car- als dem Bike-Sharing. Das Transportieren der Räder innerhalb einer Stadt spielt eine deutlich geringere Rolle als bei gewöhnlichen Sharing-Rädern. Durch die längere Nutzungsdauer passiert es seltener, dass die Menschen die Räder unsauber und hastig parken.
Als soziale Innovation gibt es zudem Projekte, die Lastenräder kostenlos ausleihbar machen. Im Forum Freie Lastenräder sind Anbieter von insgesamt 1100 solcher Lastenräder organisiert. Diese können anstelle von ökonomischer Logik politischen und sozialen Zielen folgen. Projekte wie fLotte Berlin (und Brandenburg) bedienen nicht nur die Stadtzentren, sondern auch eher außerhalb gelegene Viertel. Das Land Brandenburg unterstützt solche Vorhaben mit einer besonderen Kaufprämie. 70 Prozent der Anschaffungskosten trägt die Regierung, wenn ein Cargobike öffentlich nutzbar ist, also als Commons funktioniert.

„Man kann nicht groß Geld verdienen mit Cargobike-Sharing. Es brauchte eine öffentliche Finanzierung, aber die muss natürlich im Sinne der Gesellschaft investiert sein.“

Arne Behrensen, Zukunft FAhrrad

Identifikationsobjekt Lastenrad

Entstanden war das Forum Freie Lastenräder im Nachgang des Pionierprojekts „Kasimir“, das freie Lastenräder in Köln anbietet. Mit Ausnahme eines historischen, dreirädrigen Kasimir-Lastenrads waren lediglich einspurige Modelle bei der Konferenz ausgestellt. Die Branche scheint sich einig zu sein, dass diese intuitiver nutzbar sind. Insgesamt ist die Suche nach dem perfekten Sharing-Rad aber noch nicht abgeschlossen. Die Räder sollten noch weniger wartungsintensiv werden.
Viele herkömmliche Hersteller sehen gerade noch nicht den Anlass, ein speziell fürs Sharing gedachtes Lastenradmodell zu entwickeln und zu produzieren, so Anita Benassi, Projektleiterin bei der „Transportrad Initiative Nachhaltiger Kommunen“. Gegen Vandalismus gab es einen praktischen Vorschlag. Lokale Inhalte, die das Lastenrad schmücken, helfen den Menschen, sich mit den Fahrzeugen zu identifizieren und sie zu schützen.
Sich mit dem Lastenrad zu identifizieren, gelingt Familien mit kleinen Kindern, der klassischen Zielgruppe von Lastenrädern, besonders gut. Im Marketing sollten Unternehmen sich also eher auf weniger offensichtliche Zielgruppen konzentrieren, so Jaron Borensztajn von Cargoroo. Das können Geschäftsinhaber, Menschen mit Hunden, Studierende oder ältere Menschen sein. Durch eine diversere Gruppe an Nutzer*innen entstehen gleichmäßigere Auslastungen. Sharing-Anbieter können Trainings anbieten und Botschafter in verschiedenen Zielgruppen finden. Lastenrad-Sharing kann sogar in kleinen Städten funktionieren. Das zeigen Erfahrungen aus der Schweiz, wo geteilte Mobilitätsangebote eine längere Tradition haben. Handlungsfelder gibt es also einige. Und auch klassischere Sharing-Angebote könnten sich im Vergleich zu den Cargobikes neu positionieren. „Wieso sollten die normalen Bikes im Bike-Sharing nicht auch eine Cargo-Komponente haben?“, fragt Arne Behrensen. Einige von ihnen arbeiten bereits mit größeren Gepäckträgern und gesteigerten Transportkapazitäten.


Bild: Sebastian Gengenbach

Die letzte Meile mit dem Lastenrad ist bereits Alltag für Logistiker. Wichtiger Umschlagplatz dafür sind Mikrodepots wie das der DB am Berliner Alexanderplatz. Anbieter sowie die Nutzer DPD und CityLog sagen: Das Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft – und wollen weiter ausbauen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Das Mikrodepot dient als letzter oder erster Umschlagpunkt für Sendungen, die meist per Cargobike räumlich nah ausgeliefert werden. Diese Zustellungsform gehört zu den emissionsfreien Lösungen im Wirtschaftsverkehr und könnte langfristig sogar betriebswirtschaftlicher Kostensenkung dienen. Seit 2021 stellt die Smart City DB dafür eigene Immobilien bereit. Der Standort am Alexanderplatz liegt unter einem historischen S-Bahnbogen. Die Stromversorgung des nur 40 Quadratmeter großen Areals wird durch Solaranlagen unterstützt. Als „Multi-User-Depot“ wird es von der DPD und der CityLog gemeinsam genutzt.

Bis zu 80 Pakete können mit einer Cargobike-Ladung zugestellt werden.

Emissionsfreie B2B-Lieferung fürs Handwerk

Wer die Anlieferung der ersten Pakete für die CityLog live erleben will, muss früh aufstehen. Deren Muttergesellschaft, die GC-Gruppe, ein Verbund europäischer Großhandelsunternehmen, bietet Waren im Bereich Sanitär, Heizung und Energie für eingetragene Handwerker. „Für unsere Kunden ist wichtig, dass wir aufgrund unserer Zustelldisposition sagen können: Der Fahrer kommt voraussichtlich 7:15 Uhr. Wenn jemand auf der Baustelle im siebzehnten Stock arbeitet, braucht er eine Weile, bis er unten ist“, erläutert Franz Hollfelder, Last-Mile-Manager. Wer am Vortag online bestellt, erhält seine Waren per Cargo Bike am nächsten Morgen. „Wir machen zuerst die Feindisposition im Softwaresystem, das optimale Touren auf das Smartphone spielt“, sagt Hollfelder. „Sie zeigen dem Zusteller Schritt für Schritt, wo er als Nächstes hinmuss.“ Weil das nicht immer mit der aktuellen Baustellenlage vor Ort übereinstimmt, kann nachjustiert werden.
Für ihre Transporte setzt das Unternehmen auf das Schwerlastenrad „Bring S“ des Augsburger Herstellers Bayk. Das dreirädrige Cargobike schafft eine Zuladung von bis zu 250 Kilo und fasst 1,4 Kubikmeter. Bayk betreibt in der Kommunikation mit CityLog die Weiterentwicklung der Fahrzeuge. „So kriegen wir zum Beispiel andere Scheiben und eine Vollfederung auf die Hinterachse. Das sind Sachen, die wir im täglichen Bedarf festgestellt haben.“ In der Praxis schaffen die Akkupakete rund 35 Kilometer. Deshalb wünscht man sich ebenso die Entwicklung leistungsfähigerer Akkus. Aber es gibt auch indirekte Wünsche an Politik und Verkehrsplaner. Hollfelder: „Innerstädtische Verkehre sind nicht überall auf fahrradgeeignete Wege ausgelegt. Es gibt Baustellen und Fahrspurverengungen. Wobei wir damit besser zurechtkommen als die Autofahrer. Und wir sind nicht alleine unterwegs: Andere Logistiker, Radfahrer, Autofahrer sowie Fußgänger teilen sich die Infrastruktur. Dass man sich die entsprechenden Freiräume und Plätze lässt, ist ein Lernprozess für alle.“
Im Durchschnitt werden etwa 1000 Stopps pro Tag angefahren. „Wenn man das hochrechnen würde, was wir sonst mit Lkws fahren, ist das schon eine signifikante Einsparung. Unabhängig davon, dass der Betrieb eines Fahrrads kostengünstiger ist als der eines Lkws.“
Die CityLog ist in zehn deutschen Städten präsent. Neben dem DB-Depot am Alexanderplatz werden sechs weitere Standorte in Berlin genutzt. Weil die Miete günstig ist, sind sie oft in den Abholexpressmärkten („Abex“) für Handwerker eingebaut. „Das Mikrodepot am Alex war ein Glücksfall“, schwärmt Hollfelder.
Elf Mitarbeiter sind in Berlin bisher beschäftigt. Zu den Herausforderungen gehört auch das Thema Fachkräftemangel. Hollfelder: „Arbeit im Freien, das merkt das Handwerk und das merken wir, ist kein sehr beliebtes Arbeitsumfeld. Mitarbeiter sind den Witterungsbedingungen ausgesetzt. Bei 30 oder 40 Stopps jedes Mal aussteigen, ob Regen, Schnee oder Hagel.“

Anton Auras, DPD-Zusteller:

„Für uns Fahrer ist das Cargobike eine absolute Erleichterung in der Berliner Innenstadt. Zum Beispiel mit den Einbahnstraßen, wie vorm Roten Rathaus, wo man vorne nicht richtig mit dem Auto reinkommt.
Ich kann über den Alexanderplatz fahren und in die kleinen Gassen. Das Lastenrad steht nicht im Weg oder in zweiter Reihe, sondern kann auf Fußgängerwegen parken. Auch die Zustellgeschwindigkeit ist in der Innenstadt besser als mit einem großen Sprinter. Und mit dem ONO habe ich sogar ein Dach überm Kopf, wenn es regnet.“

160 Privatpakete pro Lastenradtour

Etwas später trifft der DPD-Sprinter am Depot ein, der die Pakete für Privatkunden liefert. Zwischen 9 und 10 Uhr findet zügig der Umschlag statt, das Einsortieren der Pakete. Mit einer Cargobike-Ladung können im besten Fall rund 80 Pakete zugestellt werden. Zwei Mal täglich rollen zwei ONO-Bikes ab Depot zur Auslieferung los, damit die Auslieferer bei ihrer Zustellungstour auf die Menge kommen. „Dabei versuchen wir, ein maximales Gewicht von 25 Kilo einzuhalten“, erklärt Thomas Ihrke, Projektkoordinator der DPD. Pakete sollen möglichst klein sein und der so genannte Stoppfaktor, die Anzahl der Pakete je Stopp, möglichst hoch. „Es kommt vor, dass ein Fahrer 120 Stopps mit dem Lastenrad schafft. Multipliziert mit dem Stoppfaktor – mal bekommt ein Kunde auch zwei Pakete – können das an einem Tag schon mal 160 Pakete sein.“
Eine Voraussetzung bei der Suche nach neuen Mikrodepots ist, dass sie in Gebieten liegen, in denen der Privatkundenanteil hoch ist. Das Einzugsgebiet um den Alex gäbe noch ein drittes oder viertes Lastenrad her. Dabei stößt die Kapazität der geteilten Nutzung im Depot allerdings an räumliche Grenzen. Denn die Transporter werden über Nacht verschlossen, um sie vor Vandalismus zu schützen. Ihrke sagt: „Denkbar wäre die Anmietung von Stellplätzen etwa im nahen Parkhaus. Wir brauchen gute Flächen, deren Miete kostendeckend ist, sonst rechnet sich das nicht.“

Standorte hochfahren, betreiben und lernen

Mit dem zweiten Berliner Standort am Alex setzt die Smart City DB den Aufbau eines innerstädtischen Depot-Netzwerks auf eigenen, städtischen oder privaten Flächen fort. Smart-City-Mann Jan Kruska erklärt zum Vorhaben: „Wir verstehen uns als Infrastrukturunternehmen und gehen damit auf Entdeckungsreise. Wir wollen die Mikrodepots hochfahren, betreiben und lernen. Daraus wollen wir ein Betriebskonzept schreiben, das an allen Bahnhöfen eine Option darstellt.“ Hintergrund für neue Mikrodepot-Entscheidungen der Smart City bleibt auch die Unterstützung und Zusage der Kommunen.

Daniel Weiker, CityLog-Fahrer

„Ich fahre von montags bis freitags Pakete aus. Offizieller Start ist um 6:30 Uhr. Wir beladen Heizungs- und Sanitärartikel für Firmensitze oder Baustellen. Für meine Tour nutze ich die Logistik-App Connect Transport. Da klickt man sich von Stopp zu Stopp durch. Vorher plane ich die Route für Berlin am Computer, da kann ich Feinheiten für die Tour optimieren. Wir benutzen Radwege. Sind Radwege unzumutbar, dann die Straße. Das Feedback ist größtenteils positiv. Anfangs kamen sogar Leute und haben Selfies mit dem Lastenrad gemacht.“

Berliner Studie erkennt Potenziale, Logistiker preschen vor

Vielversprechend sind erste Ergebnisse der Mikrodepot-Studie des Landes Berlin, die das Fachmagazin Logistra nennt. Demnach zeigt die Analyse der Stadträume, dass Mikrodepots ein hohes Potenzial besitzen. Wichtig seien gemischte Ansätze mit Single- oder Multi-User-Konzepten wie am Alex. Hinzu kommt das Zusammenspiel von privaten und öffentlichen Playern. Gerade wo es um die Verfügbarkeit von Flächen gehe, kommen Länder und Kommunen, Groß- und Einzelhändler sowie Parkhausbetreiber ins Spiel.
Nach den ersten Erfahrungen blicken auch die Logistiker am Alex positiv in die Zukunft der Mikrodepots und setzen auf deren Ausbau. So ist CityLog mit Smart City in anderen Locations in Hamburg, Köln und Bremen präsent. Franz Hollfelder sagt: „Wir stellen bereits Fahrräder zur Verfügung, ohne dass wir eine Auslastung haben. Unser Gesellschafter ist stark dabei, uns für noch mehr Städte zu begeistern. Bis Ende 2024 wollen wir in Österreich, der Schweiz und Frankreich präsent sein. Wir sind am Anfang einer Entwicklung und werden Ende nächsten Jahres in Deutschland zwischen 60 und 80 Cargobikes auf der Straße haben.“
Die DPD will in der Hauptstadt bis 2030 emissionsfrei zustellen. „Darin ist das Thema Lastenrad Teil eines Gesamtkonzepts“, sagt Thomas Ihrke. Über Modellstufen ist man längst hinaus, versichert der Projektleiter: „Wir sind in Berlin gestartet und sind hier schon mit 29 Lastenrädern unterwegs. Und wir machen in jedem Fall weiter.“

Niedrigschwelliges Konzept

Interview mit Jan Kruska, Smart City, DB

Was sind die Pluspunkte von Mikrodepots?
Es gibt keine exklusiven Endladestationen in den Städten. Das große Fahrzeug braucht Platz zum Halten am jeweiligen Empfangsort. Die stehen oft in zweiter Reihe. Aus kommunaler Sicht haben wir damit ein Verkehrsflussproblem gelöst. Für Unternehmer, die Strafzettel erhalten, ist das ein finanzielles Thema. Mit einem Lastenrad haben sie das alles nicht: Sie können vorfahren, kleine Parkecken nutzen oder handbetrieben im Schritttempo bis zur Haustür rollen. Im hoch verdichteten Gebiet haben wir im Zustellprozess einen Zeit- und Kostenvorteil. Hinzu kommt, dass Fahrerinnen und Fahrer keinen Führerschein benötigen. Damit können neue Arbeitskräfte im Logistikbereich aufgenommen werden, die bisher nicht möglich waren. Betriebswirtschaftlich wird es immer interessanter in Richtung Vergleichsgröße des bestehenden Sprintermodells.

Welche Rolle spielt die Smart City DB bei der Einrichtung?
Bei den Depots schauen wir vermehrt auf unsere Immobilien. Das Verlockende an unserem Konzept ist, dass wir niedrigschwellig einsetzen. Baulich ist ein Depot ein sehr einfaches Konzept. Wir haben hier nur 40 Quadratmeter. In NRW bauen wir gerade an 400. Da sieht man die Spannbreite. Auch am S-Bahnhof Messe Nord, am Omnibusbahnhof ZOB, wollen wir einen Standort eröffnen. Daran merkt man, dass Begriffe wie Messegelände oder Busbahnhöfe eine gute Mischnutzung zum Thema Logistik bekommen. Wir erleben eine gewisse Renaissance des Güterbahnhofs in Verbindung mit städtischem Umfeld.
Die Umsetzung machen wir immer mit den Kommunen, die in dem Segment nicht unbedingt Fachwissen mitbringen. Fördervorhaben vom Bund und der EU kommen als „positive Störfaktoren“ hinzu. Am Ende versuchen wir, einen Plan zu erstellen. Was wir vorantreiben wollen, ist die Vernetzung, indem wir bundesweit mit allen Akteuren in den Dialog treten. Auf der städtischen wie auf der Nutzerseite. So waren die Berliner mal in Hamburg, um zu berichten, damit die nicht alles noch einmal erfinden müssen.

Waren besondere Abstimmungen am Alex nötig?
Wir haben uns im Vorfeld abgestimmt mit dem Senat und dem Bezirk Mitte. Rein praktisch auch mit dem Denkmalschutz. Der wollte das Depot nur zulassen, wenn die historische Baufläche sichtbar ist, die noch in Restfläche vorhanden ist. Sie sehen den Sandstein und den Schaufenstereffekt. Die Logistiker hätten gerne eine Milchglasfolie gehabt. Wir haben als DB gesagt: Man soll sehen, was Logistik ist. Und man soll auch die Cargobikes sehen. Gerade an einem Punkt, wo viele Touristen vorbeikommen, der auch Showcase ist.

Und wie sieht die bisherige Bilanz aus?
Seit 2021 haben wir schon eine gewisse Spielzeit am Alex. Erfahrungswert ist, dass die beiden Nutzer noch dabei sind und ihr Volumen eher gesteigert haben. Abgesehen von kleinen Veränderungen im betrieblichen Ablauf. Und wir sind sehr glücklich, dass eine Langfristperspektive eingebaut ist. Das heißt, dass die Projekte mit Ende des Förderzeitraums fortgeführt werden können. Die Chancen dafür sind größer, wenn ich mit drei, vier Jahren starte. Dann kann auch die Akzeptanz bei Bürgern und Anrainern hergestellt werden. Prinzipiell kann man sagen, dass dieser eher theoretische Ansatz, dass Ware über Nacht in die Stadt kommt, kurz gebrochen wird bei der Zustellung und dann mit einem zweiten, kleineren Fahrzeug zugestellt wird, jetzt durch verschiedene Praxisbeispiele bestätigt ist. 


Info Mikrodepot-Studie:

https://www.berlin.de/sen/uvk/mobilitaet-und-verkehr/verkehrspolitik/forschungs-und-entwicklungsprojekte/laufende-projekte/mikro-depots-1301035.php


Bilder: Wscher, Jan Kruska

Mehr Raum in den Städten und Kommunen für Bewegung, Menschen und ein gutes Leben. Wie soll das gehen? Die Stadt London hat dazu das Konzept Healthy Streets zusammen mit der inzwischen weltweit tätigen Beraterin Lucy Saunders entwickelt und in die Planung implementiert. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Der Ansatz, aktuelle Entwicklungen sorgfältig zu analysieren, in die Zukunft zu denken und langfristig gesellschaftlich wünschenswerte Richtungen vorzugeben, hört sich nach einem sinnvollen Plan an. London hat genau das gemacht und dafür zusammen mit Lucy Saunders, einer Spezialistin für öffentliche Gesundheit und Verkehr, eine neue Leitlinie entwickelt, die sich an der Gesundheit der Bewohner und nicht mehr nur an der Leistungsfähigkeit des Verkehrs orientiert. Im Jahr 2014 wurde der sogenannte Healthy Streets Approach in den ersten Gesundheitsaktionsplan der Organisation Transport for London (TfL) aufgenommen, die sich in der Stadt um alle Belange des Verkehrswesens kümmert – inklusive denen der Radfahrer und Fußgänger.

Unterschätzt: Verkehr und Gesundheit

Um den Sinn des Ansatzes verständlich zu machen, geht Lucy Saunders in ihren Vorträgen zuerst auf fünf große Faktoren ein, die im Bereich Verkehr unser Umfeld und unsere Gesundheit beeinflussen: Physische Aktivität, Verletzungen, Luftqualität, Lärm und Trennungen/Abschneiden des direkten Zugangs. Alle fünf Faktoren würden uns im Hinblick auf unseren Lebensstil, unser Wohlbefinden, unsere Leistungsfähigkeit und körperliche und seelische Erkrankungen stark beeinflussen. Dazu kommen vielfältige Wirkzusammenhänge: Ein Beispiel ist die Verletzung durch Verkehrsunfälle, die nicht nur die physische Gesundheit betrifft, sondern auch das Umfeld traumatisiert und darüber hinaus allgemeine Ängste auslöst und damit unser Verhalten mitbestimmt. Ängste seien ein wesentliches Entscheidungskriterium für die bevorzugte Art der Fortbewegung. Ein anderer im Hinblick auf die Gesundheit zentraler und trotzdem stetig unterschätzter Faktor sei der grundlegende Mangel an Bewegung. Er tauche in der Statistik zwar nachgeordnet als Ursache für Erkrankungen und vorzeitige Todesfälle auf, sei aber ursächlich mitverantwortlich für viele schwere Erkrankungen wie Fettleibigkeit, Herzkrankheiten, Schlaganfälle, hoher Blutdruck, Diabetes oder auch Depressionen. Der Mangel an körperlicher Aktivität sei derzeit die größte Bedrohung für die Gesundheit der Londoner, heißt es dazu bei Transport for London.

Britische Langzeitstudie mit 300.000 Pendlern vorgestellt

Eine kürzlich veröffentlichte, groß angelegte Langzeitstudie, die mehr als 300.000 Pendlern in England und Wales im Zeitraum von 1991 bis 2016 untersuchte, hat ergeben, dass ein aktiver Lebensstil das Risiko, schwer zu erkranken oder frühzeitig zu sterben, deutlich senken kann. Grundlage für die Untersuchungen der Wissenschaftler der Cambridge University und des Imperial College London war die Begleitung verschiedene Pendler über einen Zeitraum von 25 Jahren: 66 Prozent fuhren mit dem Auto zur Arbeit, 19 Prozent nutzten öffentliche Verkehrsmittel, 12 Prozent gingen zu Fuß und nur 3 Prozent fuhren mit dem Fahrrad. Nach den Machern der Studie ergänzen die Ergebnisse vorhandene Erkenntnisse über die positiven gesundheitlichen Auswirkungen von körperlich aktiven Pendelverkehrsmitteln, insbesondere Radfahren und Zugfahren, und legen nahe, dass alle sozioökonomischen Gruppen davon profitieren könnten. Festgestellt wurde unter anderem, dass diejenigen, die mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhren, eine um 20 Prozent geringere Rate vorzeitiger Todesfälle aufwiesen. Zudem sahen die Forscher eine um 24 Prozent reduzierte Sterblichkeitsrate bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zu denen Herzinfarkt und Schlaganfall gehören, sowie eine um 16 Prozent reduzierte Sterblichkeitsrate bei Krebs und eine um 11 Prozent reduzierte Rate bei der Krebsdiagnose. Weniger positive Auswirkungen gab es bei den Fußgängern. Die Krebsdiagnosen lagen hier aber immer noch um 7 Prozent niedriger als bei den ÖPNV- oder Autopendlern.

Mehr Informationen thelancet.com

Von der Erkenntnis zum Konzept

Wie soll man diese komplexen Probleme lösen? „Nicht mit einfachen Antworten“, so Lucy Saunders. Der Healthy Streets-Ansatz sei ein komplexes System von politischen Entscheidungen und Strategien zur Schaffung einer gesünderen, integrativeren Stadt, in der die Menschen zu Fuß gehen, Rad fahren und öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Im Wesentlichen gehe es dabei nicht nur darum, Menschen Mobilität zu ermöglichen, sondern sie einzuladen und Anreize zu schaffen für einen anderen Lebensstil. Was hierzulande zwar oft diskutiert, bislang aber nur in einem geringen Maß als Leitlinie festgeschrieben oder umgesetzt wird, ist in London längst ein von Bürgermeister und Verwaltung beschlossenes Konzept, das die Zielrichtung bis zum Jahr 2030 vorgibt. So heißt es in der Strategie von Transport for London: „Unser Zweck als integrierte Verkehrsbehörde ist es, London mobil zu halten, zu wachsen und das Leben vor Ort zu verbessern.“ Die Qualität der Gesundheit sei untrennbar verbunden mit der Form der Mobilität und den Anreizen, Wahlmöglichkeiten und Angeboten für die Art und Weise der Fortbewegung.

Zehn Indikatoren für eine gesündere Stadt

Immer wieder betont Lucy Saunders, dass Healthy Streets keine idealisierte Vision für Modellstraßen sei. Beim Konzept ginge es vielmehr um einen langfristigen Plan, um die Wahrnehmung der Bevölkerung und der Besucher zu verbessern und allen dabei zu helfen, aktiver zu sein und von den gesundheitlichen Vorteilen zu profitieren. Da 80 Prozent des Verkehrs in London auf den Straßen stattfänden, sei es wichtig Straßen zu schaffen, die angenehm, sicher und attraktiv sind. Auf der anderen Seite dürften Faktoren wie Lärm, Luftverschmutzung, schlechte Zugänglichkeit, fehlende Sitzgelegenheiten oder mangelnder Wetterschutz keine Barrieren aufbauen für Menschen und hier insbesondere die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Um die Qualität messbar zu verbessern, hat die Expertin in ihrem Konzept zehn evidenzbasierte Indikatoren dafür entwickelt, was Straßen zu attraktiven, gesunden und integrativen Orten macht. Die Arbeit in Bezug auf diese Indikatoren trage dazu bei, eine gesündere Stadt zu schaffen, in der alle Menschen einbezogen seien, gut leben könnten und in der Ungleichheiten abgebaut würden.

Milliarden-Investitionen und hoher Nutzen

Mobilitätswende in Zeiten von Corona? Wir haben Lucy Saunders, die Erfinderin des Healthy-Streets-Konzepts zu ihrer Einschätzung und Notwendigkeiten für die Zukunft befragt.

Frau Saunders, Sie sind mit Experten auf der ganzen Welt vernetzt und beobachten die Situation nicht nur in London sehr genau. Was verändert sich gerade?
Wir haben aktuell sehr viele unerfahrene und unsichere Radfahrer, die für lange Zeit nicht Rad gefahren sind, oder die jetzt damit anfangen wollen. Was jetzt in vielen Ländern dringend nötig wäre, ist, dass wirklich große Anstrengungen unternommen werden, um den Menschen genug sicheren Raum zu geben.

Vielerorts werden ja neue Räume für Radfahrer freigemacht, Stichwort Protected Bikelanes.
Was wir aktuell sehen, das sind viele kleine Lösungen in verschiedenen Städten mit ganz viel Publicity drum herum. Aber wenn wir genau hinschauen, dann sehen wir, dass es wirklich nur sehr kleine Teile der In­frastruktur sind, die jetzt für das Fahrrad freigemacht werden. Es wird bislang nicht realisiert, dass Radfahrer überall und auf jeder Straße sichere Räume brauchen. Ich sehe selbst jetzt nicht, dass das passiert. Zudem bin ich auch besorgt, dass die Menschen nach der Corona-Krise sagen, okay ihr habt doch jetzt eure Fahrrad-Infrastruktur, also seid jetzt einfach still und hört auf, immer weiter über Radfahren zu reden. Wir wollen doch jetzt zurück zum Business-as-usual.

Sehen Sie die aktuellen Entwicklungen trotzdem positiv oder gibt es hier Risiken?
Wir haben ein großes Risiko von viel mehr Autos auf den Straßen, weil den Menschen empfohlen wird, keine öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, und sie meinen, dass sie keine andere Option haben. Auf den Fußwegen ist viel zu wenig Platz und der Umstieg aufs Rad sieht für sie nicht leicht aus. Sie wissen nicht, was für ein Fahrrad sie kaufen oder welche Kleidung sie tragen sollen. Dazu brauchen sie unterstützende Informationen und vielfach auch Trainings, damit sie lernen, dass Radfahren wirklich eine Option ist als echtes Verkehrsmittel.

Was ist ihre Empfehlung in Bezug auf eine bessere Gesundheit?
In allen Ländern kann man sehen, dass nur ein Bruchteil der empfohlenen physischen Aktivität erreicht wird. Da, wo Menschen ihre Bewegung durch Sport bekommen, sehen wir einen großen Einbruch im Alter von Anfang 30, also dann, wenn andere Dinge wichtiger und zeitraubend werden, wie die Familie und der Job. Auf der anderen Seite wissen wir, dass Menschen ihren Lebensstil anpassen, wenn sie in einer bewegungsfördernden Umgebung leben, wo das Radfahren und Zufußgehen zur täglichen Routine gehört und das dann auch für ihr Leben beibehalten. Wenn wir also mehr Bewegung über das ganze Leben bis ins Alter haben wollen, dann müssen wir auf Zufußgehen und Radfahren als tägliche Aktivität setzen.

Erläuterungen zu den zehn Indikatoren für Healthy Streets

Everyone feels welcome
Straßen müssen ein einladender Ort sein, an dem jeder gehen, Zeit verbringen und sich mit anderen Menschen austauschen kann. Der beste Test dafür ist, ob die gesamte Gemeinschaft, insbesondere Kinder, ältere Menschen und Behinderte, diesen Raum gerne nutzen.

People choose to walk and cycle
Die Menschen werden zu Fuß gehen und Rad fahren, wenn dies für sie die attraktivsten Optionen sind. Das bedeutet, dass Gehen und Radfahren sowie öffentliche Verkehrsmittel bequemer, angenehmer und attraktiver sein müssen als die Nutzung des privaten Autos.

People feel relaxed
Die Straßenumgebung kann uns beunruhigen – wenn sie schmutzig und laut ist, wenn sie sich unsicher anfühlt, wir nicht genug Platz haben, oder wenn wir nicht leicht dorthin gelangen können, wo wir hinwollen. All diese Faktoren sind wichtig, um unsere Straßen einladend und attraktiv zu machen.

Easy to cross
Unsere Straßen müssen für alle leicht zu überqueren sein. Das ist wichtig, weil die Menschen es vorziehen, direkt und schnell dorthin zu gelangen, wo sie hinwollen. Wenn wir ihnen das schwermachen, werden sie frustriert aufgeben. Das hat Auswirkungen auf unsere Gesundheit, auf unsere Städte und Kommunen und lokale Unternehmen.

Clean air
Die Luftqualität wirkt sich auf die Gesundheit eines jeden Menschen aus, besonders aber auf einige der verletzlichsten und am stärksten benachteiligten Menschen – Kinder und Menschen mit gesundheitlichen Problemen.

Not too noisy
Straßenverkehrslärm beeinträchtigt unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden in vielerlei Hinsicht. Die Verringerung des Lärms schafft ein Umfeld, in dem die Menschen bereit sind, sich Zeit zu nehmen und miteinander zu interagieren.

Places to stop and rest
Regelmäßige Möglichkeiten zum Anhalten und Ausruhen und Sitzgelegenheiten sind unerlässlich, um Umgebungen zu schaffen, die für alle Menschen integrativ sind, und um Straßen zu einladenden Aufenthaltsorten zu machen.

People feel safe
Der motorisierte Straßenverkehr kann dazu führen, dass sich Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad unsicher fühlen. Die Menschen müssen sich aber auch vor unsozialem Verhalten, unerwünschter Aufmerksamkeit, Gewalt und Einschüchterung sicher fühlen.

Things to see and do
Straßenumgebungen müssen für Menschen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind, visuell ansprechend sein, sie müssen den Menschen Gründe bieten, sie zu nutzen – lokale Geschäfte und Dienstleistungen, Möglichkeiten zur Interaktion mit Kunst, Natur und anderen Menschen.

Shade and shelter
Schatten und Schutz kann es in vielen Formen geben – Bäume, Markisen, Kolonnaden – und sie sind notwendig, um sicherzustellen, dass jeder bei jedem Wetter die Straße benutzen kann. Bei heißem Wetter benötigen Menschen genauso Schutz wie bei Regen und Wind.

Lucy Saunders

ist Spezialistin für öffentliche Gesundheit, Urbanistin und Verkehrsplanerin. Sie schuf den Healthy Streets Approach, einen evidenzbasierten Rahmen für die Entscheidungsfindung auf allen Ebenen, um das Thema Gesundheit im Stadtverkehr, im öffentlichen Bereich und in der Planung zu verankern. Aufbauend auf ihrem Erfolg in London teilt sie nun ihr Fachwissen mit Städten und Regionen weltweit. Der Name Healthy Streets ist rechtlich geschützt.

Mehr Informationen unter healthystreets.com


Bilder: www.brompton.de – pd-f, Lucy Saunders

Critical Mass, die kritische Masse, steht bereits seit rund drei Jahrzehnten für eine anarchische und viel beachtete Form des Protests für eine bessere Fahrradinfrastruktur. Seit wenigen Jahren gibt es mit der Kidical Mass quasi einen Ableger, der in Deutschland und einigen anderen Ländern die Verkehrswende aus Kinder- und Familienperspektive befeuert. Der Erfolg der jungen Bewegung ist beachtlich. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


„Kinder dürfen nicht mit dem Rad zur Schule kommen“, als Line Jungbluth das Schreiben der zukünftigen Grundschule ihrer Kinder in den Händen hielt, konnte sie es kaum glauben. Jahrelang war sie mit ihren Kindern per Fahrrad und Laufrad zur Kita gefahren – auf Gehwegen oder geschützten Radwegen. Seit ihrem Umzug von Hannover zurück in ihre Heimatstadt Remscheid im Bergischen Land war das nicht mehr so einfach. In Remscheid sind Radwege Mangelware und Fußwege häufig von Autos zugeparkt. Kindern fehlt zum Radfahren oftmals der Platz. Dass es ihnen zusätzlich auch noch verboten wird, wollte die Ärztin nicht hinnehmen. Mit einer Gruppe von Eltern und Radfahrenden hat sie im Frühjahr 2022 zur ersten Kidical Mass in Remscheid aufgerufen, einer Familien-Fahrraddemo mit Kindern.
Die Remscheider Gruppe gehört zu einer weltweiten Bewegung, die ihren Namen Kidical Mass bei den Fahrradaktivisten der Critical-Mass-Bewegung angelehnt hat. An 200 Orten stiegen im vergangenen Jahr 90.000 Erwachsene, Kinder und Jugendliche aufs Rad, um für eine bessere Verkehrsinfrastruktur für Minderjährige zu demonstrieren. Die Jüngsten der Gesellschaft trifft die jahrzehntelange Verkehrsplanung pro Auto besonders – in kleinen Gemeinden ebenso wie in Großstädten. Das zeigt der Blick auf die Teilnehmenden. In Bad Boll in Baden-Württemberg (5.000 Einwohner) gingen 130 Radfahrende zur „Kidical Mass“ auf die Straße, in Remscheid 250 und in Köln 2000. Gemeinsam fordern sie ein reformiertes Straßenverkehrsrecht, das die Sicherheit von Kindern in den Mittelpunkt stellt.
„Seit Jahren wird von der Verkehrswende geredet, doch es passiert viel zu wenig. Wir passen unsere Kinder an eine Umwelt mit immer mehr Autos an und stecken sie in Warnwesten, anstatt die Infrastruktur zu verbessern und unsere Straßen an die Bedürfnisse der Kinder anzupassen“, sagt Simone Kraus. Diesen Missstand wollte sie nicht länger hinnehmen. Mit ihrem Partner Steffen Brückner war die Kölnerin 2020 eine der Mitbegründerinnen des bundesweiten Kidical-Mass-Aktionsbündnisses.

„Wir passen unsere Kinder an eine Umwelt mit immer mehr Autos an und stecken sie in Warnwesten.“

Simone Kraus, Kidical Mass Köln

Den deutschen Fahrradpreis haben Simone Kraus und Steffen Brückner für ihre Aktion „Platz da für die nächste Generation“ bekommen.

Forderung nach Pollern & Co.

Zunächst engagierten sich die beiden bei „Aufbruch Fahrrad“, der Initiative, die in Nordrhein-Westfalen das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz auf den Weg gebracht hat. Aber das reichte ihnen bald nicht mehr. „Wir begannen den Radverkehr zunehmend aus Kinderperspektive zu betrachten“, sagt Simone Kraus. Für diese Zielgruppe sei die neue Radin-frastruktur, die aktuell vielerorts gebaut werde, oft nicht sicher genug. Als Beispiel nennt sie den neuen Radweg entlang der Kölner Ringe. Dort entsteht auf einer Strecke von sieben Kilometer auf der Fahrbahn ein Radweg in Kfz-Spurbreite. „Das ist ein riesiger Erfolg“, sagt sie. Aber bevor Kinder und Jugendliche dort allein unterwegs sein könnten, sei eine bauliche Trennung vor dem Autoverkehr notwendig. Etwa in Form von Pollern, handhohen Bauelementen oder einer Art Bordstein.
Die Radinfrastruktur, die die vierfache Mutter fordert, ist in Kopenhagen seit Jahrzehnten Standard und wird auch vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) als Ideal-lösung beschrieben. Die Philosophie hinter der physischen Trennung ist: eine Radinfrastruktur für 8- bis 80-Jährige zu planen, die Fehler verzeiht und auch das Nebeneinanderfahren ermöglicht. „Wenn Kinder auf ihrem Rad allein durch die Stadt fahren können, ist die Radinfrastruktur für alle sicher“, sagt Simone Kraus. In Köln sei das bislang in keinem Quartier möglich.
Neben der fehlenden Radinfrastruktur sind auch Falschparker ein massives Problem für Kinder. „Die Autos blockieren die Gehwege, die sie zum Radfahren oder zum Zufußgehen nutzen“, sagt Simone Kraus. Sie versperrten Ladeflächen, parkten weit in die Kreuzungen hinein und gefährdeten die Kinder beim Überqueren der Straßen. „Die Stadt Köln hat das Problem zwar erkannt, aber es mangelt an Umsetzungswillen, um die Situation zu ändern“, sagt sie.

Der Anblick ist selten Remscheid: Mit lautem Klingeln radeln Kinder und Erwachsene bei der „Kidical Mass“ über die Straßen im Bergischen Land.

Gehwege freiräumen

Vielerorts ist das Problem allerdings auch hausgemacht. Etwa, wenn die Verwaltung das sogenannte aufgesetzte Parken anordnet. Das war lange in der Hans-Potyka-Straße im Stadtteil Lennep in Remscheid der Fall. Die Straße verbindet auf direktem Weg ein Neubaugebiet mit drei Schulen, zwei Kindergärten und einem Sportzentrum. Den parallel verlaufenden Gehweg konnten die Kinder auf einer Seite jedoch nicht nutzen, weil die Verwaltung ihn zum Parken freigegeben hatte. Stoßstange an Stoßstange standen dort Pkw. „Was an Platz übrig blieb, reichte für die Kinder nicht aus, noch nicht mal, wenn sie hintereinander herliefen“, sagt Line Jungbluth. Als sie auf das Problem hinwies, riet die Verwaltung, auf den gegenüberliegenden Gehweg auszuweichen. Dafür mussten die Kinder aber die Straße queren. „Das war gefährlich, weil ein Zebrastreifen oder eine Verkehrsinsel fehlt“, sagt die Ärztin. Ein Jahr lang schrieb sie Mails an die Verwaltung, um eine Lösung zu finden. Schließlich schaffte die Verwaltung das aufgesetzte Parken in der Hans-Potyka-Straße ab.
Als Kidical-Mass-Mitorganisatorin setzt sie sich nun dafür ein, dass die Gehwege für Kinder konsequent freigehalten werden und die Radinfrastruktur ausgebaut wird. „Damit die Kinder überhaupt eine Chance haben, selbstständig zur Schule oder zu ihren Freunden zu gehen oder zu fahren“, sagt sie. Als sie selbst noch in Remscheid zur Schule ging, hatten sie und ihr Freundeskreis diese Freiheit.

Schulstraßen für Autos sperren

Vor ihrer ersten Fahrraddemo im Frühjahr 2022 hat sich das Remscheider Team Tipps bei der Kidical Mass in Köln geholt. Simone Kraus und Steffen Brückner bieten regelmäßig Online-Workshops an, in denen sie über die Ziele informieren und wie eine Kidical Mass organisiert wird.
Bei ihrer ersten eigenen Familien-Fahrraddemo im Herbst 2018 in Köln hatte es in Strömen geregnet. Trotzdem kamen 100 Teilnehmende zu der Ausfahrt. Ein halbes Jahr später waren es 700 und im Herbst 2020 bereits 1500.
Achtmal sind sie im vergangenen Jahr mit Eltern und Kindern durch Köln gefahren. Mal über die Rheinbrücken, mal durch die Innenstadt. Die Ausfahrt ist für das Kidical-Mass-Team nur eine Maßnahme von vielen, um die Situation für Kinder vor Ort zu verbessern. Im Sommer 2021 hat die Initiative das Wiener Modell der „Schulstraße“ in die Stadt gebracht und im Herbst eine Woche lang mit Eltern und Lehrern an der Vincenz-Statz-Grundschule ausprobiert. Das Konzept ist einfach: Die Straße vor einer Schule wird 30 Minuten vor Unterrichtsbeginn und -ende für den motorisierten Verkehr per Baustellenbake oder Schrankenzaun komplett gesperrt. Auch Anwohner dürfen nicht passieren. „An der Vincenz-Statz-Grundschule hat die Sperrung die Situation im direkten Umfeld der Schule für Kinder, Eltern und Lehrer*innen enorm entspannt“, sagt Simone Kraus. In der Straße seien stets viele Pkw unterwegs, weil sie die Strecke als Abkürzung zwischen zwei Hauptverkehrsstraßen nutzen.

Kidical-Mass-Aktionen in Köln: Die Politik sollte die Kinder nicht unterschätzen. Sie wissen genau, wie sichere Schul- und Radwegen aussehen können

Politik gibt Rückenwind

Sieben Schulstraßen-Aktionen an sechs Grundschulen hat Kidical Mass in Köln in den vergangenen eineinhalb Jahren durchgeführt. Manche als Tagesaktion, andere im Rahmen einer Aktionswoche. Zu den Abschlussveranstaltungen luden sie die politischen Vertreterinnen und Vertreter der demokratischen Parteien des Bezirks ein, die auch kamen. „Die Rückmeldungen aus der Politik sind durchweg positiv“, sagt Simone Kraus. Verschiedene Bezirke wollen an ausgewählten Schulen oder bezirksweit nun Schulstraßen nach Wiener Vorbild einführen. Die Stadt Köln hat das Konzept aufgegriffen und wird bald erste Pilotprojekte zur Schulstraße in der Domstadt starten.
Für die Aktivistin ist das nur ein erster Schritt. Sie fordert die Stadt Köln auf, dauerhaft autofreie Schulstraßen einzuführen und ein zusammenhängendes Kinderradwegenetz. Das soll die einzelnen Schulstandorte miteinander verbinden und viele Freizeitwege der Kinder einbeziehen. Aus ihrer Sicht wäre das der Grundstein für ein lückenloses Radnetz, das alle Menschen nutzen können.
Die Kidical-Mass-Bewegung agiert lokal und bundesweit. Im vergangenen Jahr hat das Bündnis rund 87.000 Unterschriften für die Petition gesammelt „Uns gehört die Straße! Wir fordern ein kinderfreundliches Straßenverkehrsrecht“. Die Unterschriften hat Simone Kraus mit ihren Mitstreitenden sowohl dem Bundesverkehrsminister Volker Wissing übergeben als auch den Verkehrs-ministerinnen der Länder. Das zeigte Wirkung. „Wir haben es geschafft, dass ‚Mobilität von Kindern‘ ein Tagesordnungpunkt bei der Verkehrsministerkonferenz im Herbst 2022 war“, sagt sie. Die Diskussion wurde allerdings auf die nächste Sitzung im März 2023 vertagt. Dann treffen sich die Verkehrsminister und Verkehrsministerinnen in Aachen, 75 Kilometer von Köln entfernt. Simone Kraus sagt: „Wir werden dort sein, um die Politikerinnen an unsere Forderungen zu erinnern.“

Importiert aus Amerika

Die Idee zur Kidical stammt aus den USA und ist ein Ableger der Critical Mass (kritische Masse). 1992 startete die erste Critical Mass in San Francisco. Die Radfahrenden treffen sich scheinbar zufällig und unorganisiert und fahren gemeinsam durch die Stadt. Ziel ist es, auf die Radfahrenden als Verkehrsteilnehmerin-nen hinzuweisen. In Deutschland gelten Radfahrende, wenn sie mit 16 oder mehr Personen gemeinsam unterwegs sind, als Verband und dürfen zu zweit nebeneinander als Kolonne auf der Straße fahren, selbst wenn parallel ein benutzungspflichtiger Radweg verläuft. Die Critical Mass findet inzwischen weltweit statt. Vielerorts starten sie am letzten Freitagabend eines Monats. Ihr Ziel ist es, als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmerinnen wahrgenommen zu werden. Inzwischen ist daraus eine weltweite Bewegung geworden.
In der Stadt Eugene, etwa 160 Kilometer südlich von Portland, gingen 2008 erstmals Radfahrer*innen mit ihren Kindern auf die Straße. Die Idee hatte der Fahrradaktivist Shane Rhode, der in Eugene für einen Bezirk das Programm „Sichere Schulwege“ leitet. Jonathan Maus zitiert ihn auf seinem Blog „Bike Portland“ dazu: „Die Fahrradbewegung (Critical Mass) ist erwachsen geworden, und jetzt hat sie auch Kinder!“


Bilder: Amrei Kemming, verenafotografiert, Hermann Jungbluth, Stefan Flach, stock.adobe.com –Belikova Oksana

Bewegungsräume im urbanen Umfeld werden immer wichtiger für unsere bewegungsarme Gesellschaft. Sie sind heute auch Wegbereiter für die Mobilitätswende, vor allem, was die Flächen für Kinder und Jugendliche betrifft. Ein Erfahrungsüberblick über Bedürfnisse, Chancen und Möglichkeiten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Urbane Bewegungsräume werden oft unterschätzt oder missverstanden. Besonders Flächen, auf denen Kinder und Jugendliche sich in verschiedenen Sportarten austoben können, sind in vielerlei Hinsicht wichtig für die Gesellschaft und deren Gesundheit. Mittelbar sogar auch für die Mobilitätswende, wie noch zu sehen sein wird. Daher fordern Experten mehr solche urbanen Areas wie Skateparks oder Pumptracks oder die Kombinationen von möglichen Formen. Im September 2022 veranstaltete das Mountainbike-Tourismus-Forum zu diesem Thema ein digitales Fachpanel „Biken Urban“, um den Blick für die Zusammenhänge zu schärfen, ihre Chancen und Möglichkeiten auszuloten und Praxis-erfahrungen zu teilen. Dabei waren Vertreterinnen von Wissenschaft und Planungsbüros sowie Entschei-derinnen und Planer*innen aus Gemeindeämtern sowie der Chefredakteur von Veloplan, Markus Fritsch. Die eingebrachten Expertisen und Erfahrungen konnten wir als Grundlage für diesen Beitrag nutzen.

Ein Skateplatz ist ein niederschwelliges Bewegungsangebot. Kinder und Jugendliche müssen keinem Verein beitreten oder sich anmelden, um sich hier sportlich auszutoben.

Warum sind Pumptracks wichtig?

Für den Veranstalter Mountainbike-Tourismus-Forum war es naheliegend, sich mit Urban Biking zu beschäftigen. „78 Prozent der deutschen Bevölkerung leben in Städten. Menschen müssen sich aber wohnortnah erholen können, was diese Bewegungsräume ermöglichen. Auch soziale Aspekte sind aber nicht zu vernachlässigen. Pumptrack und Co. stellen für junge Menschen sozial gerechte Möglichkeiten dar, sich zu entwickeln, denn mit ihnen sind Kinder und Jugendliche von Vereinsstrukturen unabhängig“, erklärt Nico Graaff, Geschäftsführer des Forums. „Für uns ist es ein wichtiges Anliegen, zu zeigen, was diese Bewegungsräume können und wie die Kommunen sie realisieren können.“
Dass Bewegung an sich ein wesentlicher Grundpfeiler unseres Lebens und der Gesellschaft ist, ist unbestritten. Bewegung unterstützt die körperliche wie mentale Gesundheit und ermöglicht, wie schon vor Jahrzehnten bestätigt, auch schon in jungen Jahren erhöhte Lern- und Aufnahmefähigkeit. Ganz wesentlich ist aber auch, dass diese Bewegungsräume für junge Menschen soziale Fähigkeiten trainieren. Pumptracks, Skater- und Rollparks sind Orte, an denen Spaß gemeinsam erlebt wird, an denen aber auch Social Skills wie gegenseitiger Respekt und Rücksichtnahme praktisch erlernt werden.
Und der Bezug zur Mobilitätswende? „Spaß am Fahrradfahren und Mobilitätswende sind verknüpft“, erklärt Markus Fritsch von Veloplan. „Wer als Kind oder Jugendlicher mit dem Rad aufwächst, wird auch als Erwachsener eher das Fahrrad nutzen.“ Dazu kommt: Heute bekämen Kinder das Radfahren als bedrohlich vermittelt. Wer jedoch durch den Fahrspaß auf dem Pumptrack oder anderen Rad-Parcours sein Fahrrad spielerisch beherrscht, der oder die lernt dadurch auch für die sichere und selbstbewusste Radbeherrschung auch im Straßenverkehr.
Dass es nötig ist, Kinder nicht nur ans Radfahren zu führen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, dabeizubleiben, erklärt Ulrich Fillies, Gründer und Beiratsvorsitzender der Aktion Fahrrad, die sich um mehr Radfahr-Initiativen in den weiterführenden Schulen bemüht. Die Kinder machten in der Grundschule den Fahrradführerschein, „doch dann verschwindet das Fahrrad wieder aus dem Blickfeld“. Wie auch die Schulen das Fahrrad in den Unterricht implementieren können, ohne auf diese Areale zurückgreifen zu können, dafür hat er als Gründer der Aktion Fahrrad jede Menge Tipps für Lehrer. Der Verein hat die Schulmeisterschaften aufgebaut, aber auch Geschicklichkeitswettbewerbe lassen sich gut an Schulen organisieren. Und mit den Klimatouren regt Aktion Fahrrad zum Fahrradpendeln zur Schule an, bei dem Kilometer gesammelt und in CO2-Ersparnis umgerechnet werden.

Herausforderung Realisation

Doch warum ist es so schwer, Bewegungsräume zu planen und einzurichten? Oft sind die Bedürfnisse den Entscheiderinnen in den Gemeinden gar nicht bewusst, weiß Stephan Schlüter aus eigener Anschauung. Er ist Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr in Kempten. Schließlich haben die Youngster kaum eine Lobby, ganz im Gegensatz zu den Fußball- oder sonstigen Vereinen anderer Sportarten. Hier fehlt die Vertretung, und daher auch langjährige Erfahrung der Menschen in den Ämtern, die mit ihnen zu tun haben. Welcher Bedarf bei den jungen Menschen da ist, muss erst kommuniziert werden (s. Kasten), und dazu fehlen derzeit feste Strukturen. Umgekehrt helfen beispielsweise auch Rennradvereine nicht weiter, wenn es um Pumptracks geht. Auch in diesen Vereinen kennt man die Bedürfnisse der jungen Radfahrer und Radfahrerinnen nicht, die jenseits von schmalen Rennradreifen unterwegs sind und Radsport eher als spielerische Artistik erleben, wie auf dem BMX-Rad. Auch Jan Kähler, Leiter der Sportentwicklungsplanung und Bereichsleiter Sport der Landeshauptstadt Hannover meint, „die Bedürfnisse der einzelnen Gruppen sind bei den Gemeindeämtern unbekannt“. Sie wissen nicht, wie viele Menschen Rad fahren oder Radsport betreiben. Das Thema Bewegung zu platzieren, sei immer schwierig. Schlüter hat viel Erfahrung mit diesen Herausforderungen und fordert Entscheiderinnen und Planer*innen auf: „Bezieht die Menschen mit ein, macht Öffentlichkeitsarbeit, geht raus auf die Straße und lasst euch sagen, was die Leute wirklich brauchen.“
Noch ein Widerstand, wenn auch diesmal ein innerer, steht den Bewegungsräumen entgegen: Während den Sportvereinen meist eindeutige Entscheidungs- und Planungsabteilungen in den Gemeinden zugeordnet sind, sieht das bei genannten Projekten, die meist auch ungewohnt und fremd für die Administration sind, anders aus. Hier hilft „die gleiche Kaffeemaschine auf dem Flur“, so Schlüter: der vor allem in kleineren Behörden einfache, direkte Dienstweg und die aktive Vernetzung.

„Wir sollten nicht nur die Sportstätte promoten, sondern vor allem auch die Bewegungsflächen“

Stephan Schlüter, Stadt Kempten

Der Skatepark in Gersthofen wurde im Zuge der Sanierung einer existierenden Anlage als langlebige Ortbetonanlage errichtet. Statt aufgestellter Elemente werden Tables & Co. dabei mit dem Untergrund in Betonbauweise modelliert.

In Flächen-Konkurrenz zur Shopping-Mall

Schließlich ist da, vor allem in der Großstadt, auch die Flächenkonkurrenz. Ein Projekt, zu dem die Entscheider in den Ämtern wenig Bezug haben, hat es da grundsätzlich etwas schwerer, seine Fläche zur Verfügung zu bekommen. Denn womit man Erfahrung hat, das lässt sich gut einschätzen, man ist mit seinen gemachten Erfahrungen, etwa mit Turnhallen, auf der sicheren Seite. Auch hier zählt Aufklärungsarbeit in Sachen Pumptrack und Skatepark. Aber andererseits können diese Areale auch einfacher in vorhandene Strukturen eingefügt werden. Eine Möglichkeit ergibt sich, wie der Hannoveraner Kähler betont, gelegentlich in multifunktionaler Nutzung: die Schulhöfe nach Schulschluss öffentlich zugänglich machen und hier entsprechende Optionen zur Verfügung zu stellen. Doch grundsätzlich hängt auch die Wahrnehmung von solchen Möglichkeiten nach wie vor von einzelnen Personen in den Ämtern ab.
Überhaupt, so weiß auch Veloplan-Herausgeber Markus Fritsch: Manche planen und handeln sehr schnell, andere brauchen Jahre für eine Realisation. „Man hat in unterschiedlichen Städten doch auch immer unterschiedliche Ausgangssituationen, das bemerken wir auch am Feedback, dass wir von den Lesern und Leserinnen zurückbekommen.“ Die Strukturen für Entscheidungen für ein Projekt sind nie dieselben – wie eben auch die Menschen, die an den entscheidenden Positionen sitzen.

Bedenken ausräumen

Bleibt eine konkrete Herausforderung, die es Bedenkenträger*innen oft leicht macht: die Kosten. Doch Zahlen helfen da weiter, sie zu überzeugen: Kai Siebdrath vom Bauunternehmen Schneestern, das viel Erfahrung mit der Planung und Realisation von Bewegungsräumen wie Skateparks hat, rechnet vor: „Der Durchschnitts-Pumptrack hat etwa 500 Quadratmeter reine Baufläche und kostet um die 200.000 Euro.“ Ein vergleichsweise niedriger Betrag, der Projektgegnern wenige Argumente geben dürfte.
Aber auch jenseits vom Geld gibt es, nach Schneestern, überzeugende zielführende Argumente. Bei durchschnittlicher Nutzerzahl ergeben sich im Jahr unzählige Stunden, in denen die Kids nicht auf ein Handydisplay gucken und stattdessen beim Spiel Millionen von Kalorien verbrauchen, was ihrer Gesundheit zugutekommt. In größeren Städten könne man sogar mit dreimal so viel Nutzungsintensität rechnen wie in kleinen Gemeinden.

Ein Urban Sports Park, wie hier in Salem, ist ein vielseitiges Rollsportangebot für alle Altersgruppen.

Förderung derzeit einfach

Professor Robin Kähler ist Vorsitzender der IAKS (International Association for Sports and Leisure Facilities). Das ist ein internationaler Verband aus Unternehmen, Kommunen, Vereinen und Dienstleistern, die sich für Sportstätten und Bewegungsräume auf vielerlei Ebenen einsetzen. Kähler weiß: Momentan werden Sportstätten und Bewegungsräume sehr gut gefördert. Allerdings gibt es bei Letzteren mehr Erklärungsbedarf, weil, wie wir schon gesehen haben, Skateparks und Pumptracks bei den Entscheider*innen noch nicht so präsent sind.
Dabei müsste Radfahren aber als Ganzes umfassender gefördert werden, fordert Kähler. Wichtig sei es, Institutionen wie den ADFC mit einzubinden. „Ein Netzwerk hilft da weiter“, sagt er.
Ein wesentlicher Punkt in der deutschen Administration: Es gibt bislang keine einheitlichen Förderstrukturen für Skate-Anlagen, Dirtparks oder Pumptracks. Das muss aber nicht nur von Nachteil sein, meint Projektleiter Schlüter aus Kempten. „Sprecht immer mit den zuständigen Leuten“, erklärt er. Kommunikation mit den direkten Ansprechpartnern, auch jenseits der üblichen Instanzen, zählt besonders da, wo feste Förderungsstrukturen nicht vorhanden sind und Förderung davon abhängt, wie klar die Wichtigkeit des Projekts zu erkennen ist.

Städteplanung ist kein Wunschkonzert? Manchmal doch!

Wünsche können in Erfüllung gehen, auch was den städtischen Raum anbelangt: „Wir brauchen eine Jumpline für Kids!“ schrieben zwei Schulkinder in Kempten an den Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr, Stephan Schlüter. Gemeint ist dabei ein Mountainbike- oder BMX-Rad-Parcours mit Sprunghügel für Kinder. Schlüter wollte das Projekt ausführen, andere Stellen hatten Gründe dagegen. Der Oberbürgermeister der Stadt, selbst Lehrer und mit dem Bewegungsdefizit der Schülerinnen vertraut, wusste: Die jungen Menschen in Stadt brauchen einen solchen Park. Innerhalb weniger Monate wurde ein entsprechender Park mit Jumpline umgesetzt. „Das konnten wir“, erzählt der Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr, „weil wir visionär gearbeitet haben“. Soll heißen: Eine erste Planung für urbane Bike-Angebote lag im Tiefbauamt, dessen Ent-scheiderinnen einen entsprechenden Bedarf schon geahnt hatten, bereits in der Schublade und konnte den entsprechenden Gremien rasch vorgelegt werden. Dazu kommt: Schlüters Abteilung sitzt im Tiefbauamt Kempten. „Wir können vieles bereits auf dem kurzen Dienstweg klären.“

In Zukunft wird noch mehr gepumpt

„Grundsätzlich hat sich die Einstellung von Kommunen zu Anlagen wie Pumptracks und Rollsport-Flächen klar zum Positiven verändert“, erklärt Dirk Scheumann, Gründer und CEO des Unternehmens Schneestern, das Action Sports Parks plant und baut oder bei solchen Projekten unterstützt. Dass diese Bewegungsräume in den letzten Jahren einen Boom erfuhren, sieht er als logisch an, unabhängig von zeitweiligen Einflüssen wie der Corona-Pandemie. „Da sind auch ein paar technische Entwicklungen zusammengekommen“, sagt er und verweist beispielhaft auf den Scooter, mit dem die Kids ihre Tricks machen – ein Produkt, das so vielleicht zehn Jahre alt ist. Dazu kommen die verschiedensten Versionen des Fahrrads von BMX bis zum Dirt Bike. Scheumann glaubt, dass sich die positive Entwicklung zu mehr Flächen für die Jugendlichen und Kinder noch verstärken wird. Zum einen durch das wachsende allgemeine Verständnis, dass auch diese Bewegungsräume gebraucht werden, zum anderen, weil auch eine Weiterentwicklung dieser Flächen ansteht: „Heute treffen im Skatepark Biker oder Skater auf spielende Kinder“, erklärt er. „Da gibt es durchaus Konfliktpotenzial.“ Für eine breitere Nutzung müssen auch für die jüngeren Nutzerinnen bedarfsgerechtere Möglichkeiten geschaffen werden. Dazu will Schneestern schon bald ein neues Produkt vorstellen, das zusammen mit Wissenschaftlerinnen entwickelt wurde. Denn klar ist: Je jünger die Menschen sind, die den Spaß an der Bewegung erleben können, umso gesünder wird und bleibt unsere Gesellschaft. Und desto besser stehen die Chancen für ein Gelingen der Mobilitätswende.


Bilder: Matthias Schwarz, Vanessa Zeller, Janik Steiner, Matthias-Schwarz