Große Hitze und Starkregen setzen den Innenstädten zu. Um die Folgen des Klimawandels abzupuffern, müssen Stadtstraßen zukünftig deutlich grüner werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Es sind die Städte, die die Folgen des Klimawandels besonders spüren. Während der Sommermonate ist die Hitze im Zentrum ihr größtes Pro-blem. Die asphaltierten Straßen und die Gebäude heizen sich überproportional stark auf und erwärmen wie riesige Heizkörper die Umgebung bis spät in die Nacht. Zudem führen die hohen Temperaturen zu extremen Regen, der die Abwasserkanäle schnell überlastet und zu Überschwemmungen führt. Verkehrsforscherinnen und -planerinnen sind sich einig: Ein weiter so wie bisher können sich Städte und Gemeinden nicht mehr leisten. Ihre Straßen und Plätze sollten zügig an das veränderte Klima angepasst werden.
Dr. Michael Richter erforscht seit Jahren, wie die klimagerechte Straße aussehen kann. Der Geoökologe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HafenCity Universität (HCU) in Hamburg und Experte für umweltgerechte Stadt- und Infrastrukturplanung. In den vergangenen Jahren hat er mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Rahmen des „BlueGreen-Streets“-Projekts Werkzeuge und Methoden entwickelt, um Städte gezielt abzukühlen. Ein zentraler Hebel ist dabei der Umbau der Straßen. „Im Gegensatz zu vielen Gebäuden gehören die Straßen den Städten. Die Politik und die Verwaltung haben es demnach in der Hand, diese Flächen relativ schnell an die neuen Gegebenheiten anzupassen“, sagt er.
In der Praxis heißt das: auf der Fläche zwischen den Gebäuden ausreichend blaue und grüne Infrastruktur einplanen, also ausreichend Flächen für Wasser, Bäume und Grün anzulegen. „Die zentrale Aufgabe ist, den Wasserkreislauf wieder in Gang zu bringen und über Speichersysteme im Boden das Stadtgrün auch während Trockenperioden mit Wasser zu versorgen“, sagt Richter. Nur wenn das gelingt, können Bäume ihre Aufgabe erfüllen und in den Sommermonaten Wasser verdunsten und die Zentren abkühlen.

„Im Gegensatz zu vielen Gebäuden gehören die Straßen den Städten.“

Dr. Michael Richter, HafenCity Universität Hamburg

Königstraße in Hamburg-Altona: Wo jetzt noch Beton und Asphalt den Eindruck prägen, will die Hansestadt eine „Straße der Zukunft“ errichten.

Blaugrünes Projekt

Einige der Elemente, die Richter mit seinen Kolleginnen und Kollegen entwickelt hat, um Stadtbäume besser mit zu Wasser versorgen, wurden im Rahmen von „BlueGreenStreets“-Projekten bereits in Berlin und Hamburg getestet. Außerdem begleiten die Wissenschaftler den Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG), den Umbau der Königstraße zur „Straße der Zukunft“. Für Hamburg ist das ein Leuchtturmprojekt. Auf der 1,2 Kilometer langen Straße zwischen der Reeperbahn und dem Altonaer Rathaus verknüpft die Hansestadt Klimaschutz und Klimaanpassung mit der Mobilitätswende.
Es ist ein Umdenken in großem Stil. Die Flächen für die Alltagsmobilität sollen dort in den kommenden Monaten grundlegend neu verteilt werden. Geplant ist, die zwei äußersten Fahrstreifen der vierspurigen Straße jeweils zu 2,5 Meter breiten Protected Bikelanes umzubauen und die Gehwege auf 2,65 m zu verbreitern. Zusätzlich werden mehr Grünstreifen angelegt und 47 zusätzliche Bäume gepflanzt. Sie sollen der Straße Allee-charakter verleihen und Grünanla-gen miteinander verbinden, die noch von der Königstraße zerschnitten werden.
Damit sich die Bedingungen für Radfahrende bereits vorher verbessern, wurden 2021 76 Parkplätze am Fahrbahnrand provisorisch entfernt und mit Farbe zu Radwegen markiert. Fahrspuren können relativ schnell mit Farbe, Poller, Baustellenbaken oder Fahrbahnschwellen in alltagstaugliche Radspuren verwandelt werden. Bei Grünanlagen ist das deutlich schwieriger. Trotzdem lohnen sich laut Richter auch hier provisorische Lösungen.
„Pop-up-Lösungen schaffen sofort Entlastung für Anwohnende, Radfahrer und Fußgänger und überbrücken die Zeit bis zum Umbau“, sagt er. Das zeigt das Beispiel vom Jungfernstieg in Hamburg. Der breite Prachtboulevard mit Blick auf die Alsterfontäne wurde 2020 für den privaten Autoverkehr provisorisch gesperrt. Seitdem teilen sich Radfahrer*innen dort die Fahrbahn mit Bussen und Taxis. In der Mitte der vier Fahrspuren wurden Pflanzkübel für Bäume und Blumen aufgestellt sowie Stadtmöbel zum Verweilen. Seitdem überqueren die Menschen entspannt die Straße und nutzen den gewonnenen Raum. Wird der Zeitplan eingehalten, rücken im kommenden Sommer die Baufahrzeuge an. Dann wird die Breite der Fahrbahn baulich reduziert und an der Wasserseite eine vierte Baumreihe angelegt.
Neue Bäume zu pflanzen oder großzügige Grünanlagen anzulegen, funktioniert in der Regel nur beim Sanieren von Straßen oder im Neubau. Selbst dann ist das Pflanzen von Bäumen laut Richter oft schwierig. Das liegt am Erdreich. Der Untergrund ist in Innenstädten stark verdichtet. Unter der Fahrbahn verläuft eine Vielzahl von Kabeln und Rohren für Gas, Strom, Telekommunikation und vieles mehr. Am Jungfernstieg befindet sich außerdem der Zugang zu einer U- und S-Bahnhaltestelle. Neue Bäume zu pflanzen, ist hier eine Herausforderung. Neben dem Platz im Erdreich für ihre Wurzeln fehlt den Bäumen obendrein oft das Wasser.
Wie in vielen anderen Städten war auch in Hamburg lange die Vorgabe: Regenwasser soll schnellstmöglich in die Kanalisation geleitet werden. In der Königstraße soll dieser Prozess nun rückgängig gemacht werden. „Entscheidend ist, dass wir den Wasserkreislauf wieder in Gang bringen“, sagt Uwe Florin, Mitarbeiter der Abteilung „Grün“ beim Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG). Mit Mitarbeitern des „BlueGreenStreets“-Projekts will die LSBG verschiedene neue Systeme testen, um die entsiegelten Flächen zu bepflanzen und zu bewässern. Das saubere Niederschlagswasser von den öffentlichen Flächen wird in der Königstraße direkt zu den Bäumen oder in die Grünflächen geleitet, damit es dort versickern kann. Das entlastet bei Starkregen das Siel und reduziert das Risiko von Überschwemmungen.
Für die Bäume werden außerdem sogenannte Baumrigolen angelegt. Ihr Markenzeichen ist, dass ihre Pflanzmulden größer sind als die herkömmlicher Stadtbäume. Das gilt für die unversiegelte Oberfläche wie für die Pflanzmulde. Zudem leiten die verwendeten Materialien, wie Kies und andere Substrate, das Regenwasser entweder direkt ins Grundwasser und ins umliegende Erdreich oder sie speichern es wie ein Schwamm, um es nach und nach ins umliegende Erdreich abzugeben. Auf diese Weise sollen Bäume Hitzeperioden besser überstehen und an heißen Tagen die Umgebung kühlen.

Vorher, nachher: Der Sankt-Kjelds-Platz in Kopenhagen ist nach dreijähriger Umbauphase kaum wiederzuerkennen.

Bäume machen einen Unterschied

Mehr Bäume sind entscheidend, um das Stadtklima zu verbessern. Sie sind natürliche Klimaanlagen. Ihr Blätterdach hält die Sonnenstrahlen ab und beim Verdunsten von Wasser kühlen sie ihre Umgebung. „Im Idealfall senkt ein ausgewachsener Baum die Temperatur seiner Umgebungsluft um etwa fünf Grad“, sagt Florin. Das steigert die Aufenthaltsqualität und macht Radfahren oder Zufußgehen selbst an heißen Tagen erträglich.
„Wir versuchen blue-green, also mehr Wasser und Grün, inzwischen bei jeder Straßenbaumaßnahme in Hamburg umzusetzen, und es gelingt uns sehr häufig“, sagt Professorin Dr. Gabriele Gönnert, die bei der LSBG den Fachbereich Hydrologie und Wasserwirtschaft leitet. Aber die Flächenkonkurrenz ist groß – auf der Straße wie im Untergrund.
Torsten Perner kennt das aus seinem Alltag. Er ist Verkehrsplaner bei Ramboll, einem international tätigen Beratungsunternehmen, das auch im Bereich Stadt- und Verkehrsplanung tätig ist. „Die verschiedenen Behörden, die Industrie, die Wirtschaftskammer, Umweltverbände und viele andere ringen bei der Planung um jeden halben Meter Straßenraum“, sagt er. Um die Straßen jetzt fit für die Zukunft zu machen und ausreichend Platz für Grünanlagen und für den Rad- und Fußverkehr unterzubringen, sei ein Umdenken bei der Stadt- und Verkehrsplanung notwendig. „Wir müssen die Straße neu denken“, sagt er, „sie ist mehr als Verkehr auf 20 bis 40 Meter Breite.“ Gut gestaltet werde sie zum attraktiven Aufenthaltsraum mit verschiedenen Funktionen, den die Menschen gerne passieren.

Der Steindamm zählt nicht unbedingt zu Hamburgs schönsten Straßen. Dass bei der Umgestaltung der Straße kaum Parkplätze entfernt wurden, ändert daran wenig.

Umdenken nach Milliardenschaden

Wie das aussehen kann, macht Kopenhagen vor. Die dänische Hauptstadt war zwischen 2010 und 2014 dreimal von Starkregen und Überflutungen betroffen. Der stärkste Wolkenbruch im Juli 2011 überflutete Straßen und Keller und verursachte Schäden von fast einer Milliarde Euro. Daraufhin hat die Stadtverwaltung mit dem Kopenhagener Ver- und Entsorgungsbetrieb 2012 den Sky-brudsplan (Wolkenbruchplan) beschlossen. Dieser legt fest, wie die Stadt zukünftig vor Überschwemmungen geschützt werden soll. 300 Projekte wurden innerhalb von drei Jahren identifiziert, die in den nächsten 20 Jahren schrittweise umgesetzt werden, um die Stadt zur Schwammstadt umzubauen.
Dazu gehören der Sankt-Kjelds-Platz und die angrenzende Straße Bryggervangen im Stadtteil Osterbro. Etwa 25 Prozent der Fläche des Platzes und der Straße wurden entsiegelt und zu einem grünen Regenwasserschutzgebiet umgewandelt. Der Boden ist dafür teilweise abgesenkt worden und es wurden 586 neue Bäume gepflanzt. Bei Starkregen kann sich das Wasser in den Vertiefungen sammeln und langsam versickern.
Wer sich die Vorher-Nachher-Bilder anschaut, erkennt die Umgebung rund um den Platz und die Straße Bryggervangen nach dreijähriger Umbauphase kaum wieder. Wo früher der Boden versiegelt war und Autos parkten, laufen heute Passanten auf verwinkelten Wegen zwischen Bäumen und Büschen zur Arbeit, zum Einkauf oder zum Parkhaus. Zahlreiche begrünte Ecken und Nischen mit und ohne Sitzgelegenheiten laden die Anwohner*innen dazu ein, Zeit draußen zu verbringen.
Der Sankt-Kjelds-Platz und die Bryggervangen Straße wurden komplett neu strukturiert. Um Ähnliches in Deutschland zu realisieren, müssten nach den Ramboll-Experten alle Beteiligten Abstriche machen. Stets mit dem Ziel vor Augen, die Straße fit für den Klimawandel zu machen. „Dazu gehört, dass Radfahrer sich mit schmaleren Wegen zufriedengeben, wenn die Straße zu schmal ist“, sagt Perner. Im Gegenzug drosseln Autofahrer ihr Tempo auf 30 km/h, damit Radfahrer sicher unterwegs sind. Das funktioniert momentan jedoch nur in der Theorie. In der Praxis dürfen laut Straßenverkehrsordnung die Verkehrsplaner Tempo 30 nur in Ausnahmefällen anwenden.
Ein schnelles Mittel, um mehr Grün in die Straßen zu bringen, ist laut Perner auch der Umbau von Parkplätzen an Hauptverkehrsstraßen. „Mit dem gezielten Abbau dieser Parkplätze kann schnell viel Fläche für Grün geschaffen werden“, sagt Perner. Für ihn ist das überfällig. Aber viele Städte tun sich damit schwer. Auch Hamburg. Beim Umbau der Hauptstraße Steindamm wurden von den 132 Parkplätzen beispielsweise nur 31 entfernt.
„Bisher ist die Klimaanpassung eine freiwillige Aufgabe von Kommunen“, sagt Richter. Er fordert einen zentralen Klimaanpassungsplan, der bundesweit gültig ist. „Nur so schaffen wir es, schnell von der Phase der Pilotprojekte zur Standardanwendung in der Praxis zu kommen“, sagt er. Die Zeit drängt. Das hat der Sommer 2022 gezeigt.

Zukunft Schwammstadt

Für etliche Stadtplanerinnen und Verkehrsforscherinnen ist die Schwammstadt eine Lösung, um die Städte an die Folgen des Klimawandels anzupassen. Wenn es regnet, sollen die Grünflächen so viel Wasser aufnehmen und speichern wie nur möglich. Richtig angelegt, haben sie eine Doppelfunktion. Sie werden zu einem natürlichen Klärwerk. Die Pflanzen, Erdreich und Mikroorganismen filtern die schädlichen Inhaltsstoffe aus dem Wasser, bevor es tiefer in den Boden sickert.
So können die Grundwasserspeicher wieder aufgefüllt werden und die wie Schwämme vollgesogenen Böden über längere Zeit Wasser an die Pflanzen ringsum abgeben. Berlin investiert massiv in neue Stauräume. Bis 2024 sollen gut 300.000 Kubikmeter Zwischenspeicher entstehen. Bei starken Regenfällen soll das Wasser über Notwasserwege auf Sport- und Spielplätze fließen, um kritische Infrastrukturen zu schützen. Damit soll verhindert werden, dass das alte Mischkanalsystem überläuft und das Schmutz- und Regenwasser ungefiltert samt schädlicher Stoffe in die Gewässer fließt.

Link zu Toolbox A und B

Mit seinen Kolleginnen hat der Wissenschaftler im Rahmen des „BlueGreenStreets“-Projekts die einen Leitfaden nebst Praxisbeispielen entwickelt. Beides soll Planerinnen und Praktiker*innen dabei helfen, Lösungen für ihre Straßenzu entwickeln.

repos.hcu-hamburg.de/handle/hcu/638


Bilder: SLA, Andrea Reidl, stock.adobe.com – Jusee

Schon in den 80er-Jahren befand der niederländische Verkehrsplaner Hans Monderman, Straßenverkehre sollten nach dem Vorbild holländischer Eislaufplätze organisiert werden: Alle fahren wie sie wollen – und achten aufeinander. Dieses Konzept der Anarchie im Straßenraum gewinnt als Shared Space immer mehr Befürworter unter Stadtplanern, wie drei Beispiele zeigen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


In den Niederlanden wird Shared Space oft auch als Verkehrsplanung nach dem anarchischen Vorbild eines Eislaufplatzes beschrieben: Wenn alle fahren wie sie wollen, wird mehr aufeinander geachtet.

In deutschsprachigen Ländern ist häufig auch von Mischflächen oder Begegnungszonen die Rede. Konkrete Designs unterscheiden sich lokal. Denn bei Shared Space handelt es sich weniger um ein Planungsinstrument. Vielmehr geht es um ein ergebnisoffenes Gestaltungsprinzip, das alle Funktionen im öffentlichen Raum (wieder) ins Gleichgewicht bringen soll. Bis heute ist das Verhältnis unter Verkehrsteilnehmern unausgewogen. Dominierte mit dem Paradigma der autogerechten Stadt lange Zeit das Auto, soll es im Shared Space deshalb eher als geduldeter Gast unterwegs sein. Auch von der strikten Separation der Verkehrsteilnehmer in einzelne Fahrspuren wird (mehr oder weniger) abgesehen. Und statt Überregulierung durch Verkehrsschilder setzt Shared Space auf die soziale Verantwortung mündiger Bürgerinnen und Bürger.

Mehr Aufmerksamkeit durch Verunsicherung

Deutschland gilt als das Land mit den weltweit meisten Verkehrsschildern. Etwa 20 Millionen davon regeln, was auf den Straßen erlaubt und verboten ist. Wer als Radfahrerin oder Autofahrerin aus dem gewohnten Schilderwald in ein schilderloses Areal einfährt, ist zunächst irritiert. Gerade dieses Gefühl der Unsicherheit ist im Shared Space jedoch beabsichtigt. Untersuchungen aus Schweden und Holland zeigen, dass Verkehrsteilnehmer*innen in nicht regulierten Situationen eher stimuliert werden, miteinander zu kommunizieren, als wenn Verkehrsschilder und Spuren das Verhalten regeln. Darauf weist auch der Psychologe Pieter de Haan vom Kenniscentrum Shared Space im niederländischen Leeuwarden hin: „Ist ein Schema auf den ersten Blick nicht klar, weil neue und ungewisse Ereignisse eintreten, ist die Person alarmiert. Als Reaktion darauf passt sie ihr Verhalten an. Sie verlangsamt ihre Geschwindigkeit, schaut sich um und beobachtet andere Menschen.“
Dabei bringt Shared Space eigentlich nur zurück, was es schon einmal gab. „Zwar hat man das Konzept als eine neue Idee eingeführt“, erläutert de Haan. „Aber geht man 100 Jahre zurück, gab es überall Shared Space. Ende der 1920er-Jahre, als die ersten Wagen auftauchten, wurden Regeln eingeführt. Es folgten Ampeln und die Trennung der Verkehrsteilnehmer nach Fahrspuren.“ So begann man, mit Verkehrszeichen zu kommunizieren. Die eigene Vorfahrt wurde von Ampeln und Schildern erteilt, anstatt situativ von anderen Verkehrsteilnehmern per Handzeichen oder Blickkontakt. Die Kommunikation wurde monodirektional.
Stures Fahren nach Verkehrszeichen kann dazu führen, dass das eigentliche Verkehrsgeschehen aus dem Blick gerät. Mitunter überfährt ein Rechtsabbieger, dessen Ampel Grün zeigt, einen Fußgänger, der ebenfalls bei Grün die Straße quert. De Haan: „Shared Space reaktiviert die soziale Kommunikation. Schilder sind dann nicht mehr nötig.“

In Deutschland ist Bohmte in Niedersachsen ein Vorreiter bei der Umsetzung von Shared Space – mit deutlichen Effekten für die Verkehrssicherheit.

Probieren geht über Studieren

In Deutschland gehört die Gemeinde Bohmte in Niedersachsen seit 2008 zu den Vorreiterprojekten. Vor der Änderung der konventionellen Infrastruktur stand eine mutige Entscheidung. „Mord und Totschlag“ prophezeiten Hannoveraner Verkehrsplaner dem Vorhaben. „Probieren geht über Studieren“, lautete die Antwort des damaligen Bürgermeisters Klaus Goedejohann. Zehn Jahre später resümierte er in der FAZ (24.07.2018) das Unfallgeschehen: „Im Durchschnitt ein Leichtverletzter im Jahr.“
In Bohmte ging man das Konzept in Form eines großen Kreisverkehrs an. Bahnhofsvorplatz und zentraler Platz wurden im Zuge der Umsetzung als Schwerpunkte definiert. Um eine langsamere und vorsichtigere Fahrweise zu erzwingen, wurde die Fahrbahnbreite dazwischen unter sechs Meter verringert. Straße wie Gehwege wurden auf das gleiche Niveau gesetzt, allerdings farblich markiert. Sämtliche Verkehrsschilder wurden demontiert. Die letzte Tafel vor Einfahrt in den Shared Space verweist auf die Tempo-30-Zone davor. Der Abbau von Schildern und Ampeln entlastete Bohmte übrigens auch finanziell. Den Großteil der 2,1 Millionen Euro für die baulichen Eingriffe steuerte die Gemeinde selbst bei. Eine halbe Million kam aus dem damaligen Infrastrukturprogramm Interreg North Sea Region Programme der EU.

Shared Space statt vierspuriger Straße auf dem Duisburger Opernplatz.

Auf die Verkehrsstärken kommt es an

Das Ergebnis: Nach einer ersten Zufriedenheitsanalyse der Fachhochschule Osnabrück bescheinigten Anwohner wie Gewerbetreibende dem Areal eine neue Aufenthaltsqualität. Klassische Bedenken lokaler Händler über Umsatzeinbußen bestätigten sich nicht. Im Gegenteil wird der Effekt der Außenwirkung von Bohmte als geschäftsfördernd eingeschätzt. So freut sich auch Modehaus-Inhaber Hubertus Brörmann in der FAZ: „Als hier noch eine Ampel stand, … habe man permanent aufheulende Motoren gehört. Nun sei der Lärm gleichmäßiger und insgesamt weniger geworden. […] Dreimal habe es da so richtig gescheppert. Wenn jetzt an anderen Stellen was passiere, dann, weil die regelversessenen Menschen zu wenig mitdenken würden.“
Hinzu kommen ein verbesserter Verkehrsfluss und seltene Staus. Ein Tempo von bis zu 40 km/h wird kaum überschritten. Wenig geändert hat sich an der Zahl von knapp 13.000 Autos, die jeden Tag über die historische Bremer Straße brettern. Sie bildet mit Rathaus, Kirche, Bahnhof und Einzelhandel den Ortskern. Der neue Gemeinderat Lutz Birkemeyer, selbst Radfahrer und Befürworter des Shared Space, benennt die Ursache: „Der überregionale Verkehr angebundener Landesstraßen sorgt dafür, dass das Konzept in Bohmte nicht vollständig zur Geltung kommt.“
Aus demselben Grund hapere es in der Praxis noch an der Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer: Die schiere Übermacht des Autos verdrängt Radfahrende an den Straßenrand. Deshalb hält Birkemeyer das Shared-Space-Konzept an weniger befahrenen Straßen für sinnvoller. Auch unter Expert*innen ist von maximalen Verkehrsstärken die Rede, damit ein Shared Space Sinn ergibt. Die Zahlen schwanken zwischen 8000 bis 25.000 täglichen Durchfahrten. Oder darüber. Das Land Bremen setzt auf ein Mittelmaß und empfiehlt in einem Papier, die Verkehrsstärke von 15.000 Kraftfahrzeugen bei zweistreifigen Straßen nicht zu überschreiten.

„Shared Space reaktiviert die soziale Kommunikation. Schilder sind dann nicht mehr nötig.“

Pieter de Haan, Kenniscentrum Shared Space

Barrierefreiheit und optimale Sichtbeziehungen

Auch der Duisburger Opernplatz ist ein stark frequentiertes Areal. Wo einst eine vierspurige Straße vor dem Theater verlief, befindet sich heute ein Shared Space. Die einheitlich mit Pflaster gestaltete Fläche ist als verkehrsberuhigter Bereich ausgeschildert und sieht Schrittgeschwindigkeit vor. Die dort mündende Mosel- sowie Neckarstraße sind in den Shared Space eingebunden und als Tempo-30-Zone ausgewiesen. Verbleibende Fahrspuren wurden auf eine pro Richtung reduziert und durch einen Mittelstreifen getrennt. Die Ränder mit Flachborden und dunklem Pflaster abgesetzt. Radfahrerinnen können hier überall fahren, Fußgän-gerinnen besitzen Vorrang.
Kerngedanke der Planungsphilosophie im Shared Space ist, dass Fußgängerinnen, Radfahrerinnen und Autofahrer*innen per Blickkontakt interagieren. Sehbehinderte Menschen sind von dieser Möglichkeit jedoch ausgeschlossen. Deshalb sind im Duisburger Shared Space, ähnlich wie in Bohmte, Fahrbahnkanten taktil erfassbar. So können auch sehbehinderte Menschen sie queren. Malte Werning, Pressesprecher der Stadt Duisburg, beobachtet auch eine gesteigerte Solidarität und Rücksichtnahme verschiedener Gruppen untereinander. Zudem haben sich die Kfz-Verkehrsmengen seit dem Umbau um etwa ein Drittel reduziert. Und es gibt weniger Staus als zuvor. Werning sagt: „Erkennbar ist eine merkliche Entschleunigung des Kfz-Verkehrs.“ Er räumt allerdings ein, dass Autofahrer offenbar noch Nachholbedarf haben: „Die Vermeidung von illegalem Parken braucht viel Kontrolle und damit hohen Personaleinsatz.“ Denn Parken ist am Opernplatz nicht mehr gestattet. Das Parkverbot optimiert die Sichtbeziehungen, die für den Shared Space entscheidend sind. Dafür wurden auch störende Barrieren beseitigt und auf feste Einbauten oder eine Bepflanzung verzichtet.

In der Berliner Maaßenstraße werden Verkehrsteilnehmer*innen mit Erklärtafeln begrüßt.

Hohe Aufenthaltsqualität

Der Shared Space in der Berliner Maaßenstraße ist als Begegnungszone ausgewiesen. Zu den angestrebten Zielen gehörten geringere Kfz-Geschwindigkeiten, eine höhere Aufenthaltsqualität und ein rücksichtsvolleres Miteinander aller Verkehrsarten sowie bessere Querungsmöglichkeiten für Fußgängerinnen. Zugleich sollten die Verkehrsabwicklung und die Belieferung von Gewerbebetrieben möglichst beibehalten werden. Im Rahmen der Umgestaltung wurden eine Tempo-20-Zone mit eingeschränktem Halteverbot ausgewiesen. Parkplätze sowie Flächen für den fließenden Kfz-Verkehr wurden reduziert. Hinzu kamen urbane Begegnungsflächen mit Möblierung sowie neu gestaltete Querungsstellen. Ganz ohne weitere Beschilderung kommt man in der Maaßenstraße nicht aus. So werden Verkehrsteil-nehmerinnen an allen Zugängen von Tafeln begrüßt, die entscheidende Spielregeln erläutern: „Die Begegnungszone ist eine Straße für alle. Rücksicht und Achtsamkeit gehen vor – egal ob zu Fuß, mit dem Rad, im Auto oder beim Liefern und Laden. Alle haben Platz – Rad- und Autofahrende auf der Fahrgasse. Parken ist hier nicht erlaubt, Halten nur zum Liefern und Laden.“
Zwar entstand die Begegnungszone in der Maaßenstraße im Rahmen von Modellprojekten mit fußverkehrsfördernden Maßnahmen. Übergeordnetes Ziel ist aber ein Miteinander von Fuß-, Rad- und Autoverkehr im Verkehrsraum. Beim Ortsbesuch erweist sich das Areal als echte Flaniermeile. Geschäfte, Cafés und Restaurants sowie die Aufenthaltsbereiche davor sind gut frequentiert. Radfahrerinnen und Fußgängerinnen trauen sich gleichermaßen auf die Straße. Ein von der Verkehrsverwaltung beauftragter Vorher-Nachher-Bericht macht ebenfalls Mut: Auch im Berliner Beispiel ist die Kfz-Verkehrsmenge um rund ein Drittel gesunken. Bereits die Kurvenführung bei der nördlichen Einfahrt vom Nollendorfplatz her in die Begegnungszone erzwingt eine Verlangsamung des Kfz-Verkehrs. Der Anteil der Fahrzeuge, die mehr als 30 km/h fahren, sank von 47 Prozent auf 9 Prozent. Wurde vor dem Umbau in Fahrtrichtung Nord schneller gefahren als in südlicher Richtung, liegen die Fahrgeschwindigkeiten mittlerweile in beiden Richtungen ähnlich niedrig.
Während die Anzahl der Fußgän-gerinnen nach der Umgestaltung um rund 30 Prozent stieg, ist der Anzahl der Radfahrenden dem Bericht nach weitgehend konstant geblieben. Wegen des Rückbaus früherer Radwege nutzt der überwiegende Teil der Radfahrenden die Fahrgasse anstelle der Gehwege. Diese wurden gegenüber dem Vorher-Zustand deutlich entlastet. Zwar wird gelegentlich auch die Aufenthaltsfläche gequert. In der Regel klappt das aber. Konflikte zwischen Radfahrenden und Fußgängerinnen wurden nicht beobachtet.

„Erkennbar ist eine merkliche Entschleunigung des Kfz-Verkehrs.“

Malte Werning, Stadt Duisburg

Voraussetzung Partizipation

Jeder Shared Space besitzt eigene lokale Herausforderungen. In Berlin stand der Wunsch nach niedrigeren Kfz-Geschwindigkeiten bei der Öffentlichkeitsbeteiligung im Vordergrund. Ähnlich gingen in Bohmte und Duisburg dem konkreten Shared- Space-Projekt Versammlungen, intensive Diskussionen und Workshops voraus. Denn nicht zuletzt gelingt „Shared Space“ nur in Konsens von kommunaler Politik, Anrainern und Gewerbetreibenden. Die Akzeptanz für einen Kulturwandel im Verkehrsraum hängt entscheidend von dieser Partizipation ab.
Pieter de Haan formuliert das so: „Sicherheit ist nicht die erste Idee von Shared Space. Unser Ziel ist es, einen schönen Platz für Menschen zu gestalten. Der Raum ist der Raum der Menschen, wo sie sich aufhalten und in dem sie interagieren: Vielleicht gibt es dort Läden oder Cafés. Wie es am Ende genau aussieht, hängt von dem Kontext und der lokalen Kultur ab. Also versuchen wir auch, das Design der Umgebung gemeinsam mit den Anwohnern an diese Kultur anzupassen. Nur so erhält Shared Space eine Identität.“

Shared Space Basics

Gute Voraussetzungen für Shared Space

  • An örtlichen (Haupt-)Geschäftsstraßen, Quartiersstraßen und Plätzen
  • Fußgänger- und Radverkehr bestimmen das Straßenbild
  • Hoher Querungsbedarf von Fußgängerinnen und Radfahrerinnen
  • Die tägliche Kfz-Verkehrsstärke liegt bei max. 15.000 Kfz.
    (Je nach Gestaltungselementen und Geschwindigkeitsniveau sind höhere Belastungen denkbar.)
  • An Straßenabschnitten mit einer Länge von 100 bis 800 m
  • Möglichkeit der Anordnung von Grün- und Aufenthaltsbereichen
  • Ausweisung als verkehrsberuhigter Bereich

Partizipation
Shared Space immer gemeinsam mit Bürgern, Gewerbetreibenden, Verkehrsplaner und Entscheidungsträger vor Ort konzipieren.

Nivellierung
Shared Space weitgehend höhengleich gestalten. Ggf. den Straßenraum mit Begrünung, Einbauten oder eingesetzten Flachborden gliedern, sofern dadurch Sichtbeziehungen nicht behindert werden. Eine Trennung der Fahrbahn vom Seitenraum oder die Kanalisierung des fließenden Verkehrs kann notwendig sein.

Rückbau von Beschilderung und LSA
Shared Space weitgehend ohne Lichtsignalanlagen, Beschilderung und Markierung gestalten. Als verkehrsberuhigten Bereich ausweisen, um dem Fußgängerverkehr rechtlich Vorrang zu geben, geringe Geschwindigkeiten abzusichern und das Parken zu regeln.

Gute Sichtbeziehung
Die funktionierende Kommunikation der Verkehrsteilnehmer*in-nen untereinander bedingt gute Sichtbeziehungen. Sichtbehindernde Einbauten im Straßenraum entfernen. Dazu gehört die Einschränkung des Parkens.

Barrierefreiheit
Shared-Space-Abschnitte barrierefrei und mit Rücksichtnahme auf die Anforderungen spezieller Gruppen wie Kinder und ältere Menschen gestalten. Die Nivellierung der Fläche im Shared Space ist bereits ein Vorteil für Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung. Hinzu kommen Blindenleitsysteme, z. B. durch den Einbau von Bodenindikatoren zur Querung.


Bilder: Reyer Boxem, Lutz Birkemeyer, Uwe Köppen, Wolfgang Scherreiks

Vom 20. bis 21. September fand im zeitlichen Rahmen der IAA Transportation die dritte Nationale Radlogistikkonferenz in Hannover statt. Die Branche zeigte auf, wie professionell sie agiert und dass sie mit großen Schritten ein „Erwachsenwerden“ des Wirtschaftszweigs vorbereitet. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Eine Fahrrad-Demo? Ist denn schon Freitag? Nein, es war ein Donnerstag im September. Und die Fahrradkolonne mit vielen kleinen und großen Lastenrädern hatte ein Ziel. Viele Teilnehmerinnen der Radlogistikkonferenz fuhren gemeinsam zum Messegelände Hannover, um dort Logistikgrößen und Publikum auf der IAA Transportation auf sich aufmerksam zu machen und zu zeigen: Radlogistik ist gekommen, um zu bleiben, und hat große Ziele. Um diese in den nächsten Jahren zu erreichen, muss die Branche bei rechtlichen Rahmenbedingungen und Standardisierungen an einem Strang ziehen, so der Tenor der Konferenz. Diese fand im Kongresszentrum Hannover eine Bühne, wo neben den vielen Rednerinnen auf der von Nico Lange moderierten Bühne, über 25 Unternehmen ihre Produkte präsentierten und im Außenbereich Testfahrten anboten. Die Veranstaltung begann am Dienstag mit einem Exkursionstag, der mehr als 100 Menschen an verschiedene für die Radlogistik relevante Orte in Hannover führte. Nach begrüßenden Worten, unter anderem von Oberbürgermeister Belit Onay, besuchte die Gruppe einen Mini-Hub in einem Parkhaus, eine Zustellbasis am Güterbahnhof von DHL, die Fahrradkurierfirma Tretwerk sowie weitere Orte. Das Land Niedersachsen und die Stadt Hannover traten bei der Konferenz als Unterstützer auf.
Am zweiten Konferenztag standen nach der Eröffnung durch Tom Assmann, Vorsitzender des Radlogistikverbands Deutschland (RLVD), und drei Grußworten, unter anderem vom Parlamentarischen Staatssekretär Oliver Luksic, inhaltliche Fragen im Vordergrund. Diese wurden in einigen Panels zunächst mit Input gefüllt und anschließend diskutiert. Die Branche entwickelt sich dynamisch weiter. Martin Seißler von Cargobike.jetzt war an der Organisation des Events beteiligt: „Es war ja die dritte Radlogistik-Konferenz und wir sehen jedes Mal eine Steigerung der Zahl der interessanten Modelle und eine technische Weiterentwicklung. Das ist sehr schön, zu sehen, und auch wichtig für die, die Lastenräder am Ende nutzen wollen. Wir wollen eine erwachsene Branche werden und haben am Anfang der Konferenz noch mal die 30 Prozent der Logistik in den Innenstädten als machbares Ziel propagiert. Die Schwelle der technischen Entwicklung nehmen wir immer besser.“
Es gibt viele Fragen, die es im jetzigen Stadium zu klären gilt, damit der optimistischen Aussicht der Radlogistik-Unternehmen nichts im Weg steht. „Wir sehen auch, dass das hier die Leitveranstaltung für die Branche der Radlogistik ist. Hier trifft sich einmal im Jahr die Branche und kann sagen, wo sie steht. Ich bin sehr zufrieden, wie das Ganze auch in den Panels weiterentwickelt wurde“, so Seißler.

Lastenräder aller Couleur fanden nicht nur in Vorträgen und auf Podien der Konferenz statt. Gut zwei Dutzend Unternehmen stellten ihre Fahrzeuge und Produkte im Foyer aus und boten Testfahrten an.

Politische Herausforderungen

Auf politischer Seite gibt es aktuell noch starke Hemmnisse für die Radlogistik. Zum einen sind schmale Radwege vor allem für Schwerlastenräder mit mehreren Hundert Kilo Gewicht nicht geeignet. Zum anderen ist die finanzielle Förderung nicht hoch genug, als dass sie völlig selbstverständlich mit teils um 40 Prozent rabattierten Verbrennertransportern konkurrieren kann. Gerade lokale Förderprogramme sind zudem oft schnell ausgeschöpft. Um in der Konkurrenz bestehen zu können, will der Radlogistikverband aber vermeiden, dass die Radlogistik Dumping-Preise einführt. Vielmehr müssen Verbrenner-Vans teurer werden, die derzeitigen Niedrigpreise können als Marktversagen gewertet werden. „Die Politik darf mutiger werden“, forderte Martin Schmidt, stellvertretender RLVD-Vorsitzender in seinem Resümee der Veranstaltung. Das Verbrennerverbot ab 2035 sowie die derzeit steigenden Treibstoffkosten dürften der Radlogistik in die Karten spielen. Gerade kleinere, reine Elektrofahrzeuge könnten der Branche aber künftig Marktanteile streitig machen.
Auch in der Bevölkerung sollen Lastenräder noch besser als Lösung bekannt werden. Wenn der Wert der Serviceleistung Lieferung mehr geschätzt würde, hätten die Radlogistiker leichteres Spiel. Eine größere Präsenz von Lastenrädern auf der letzten Meile dürfte auch die Chancen bei städtischen Vergabeverfahren erhöhen. Hier, so berichtet Matthi Bolte-Richter, Geschäftsführer des Kieler Radlogistikunternehmens Noord Transport, müssen die Logistiker oft erst mal vermitteln, wie leistungsfähig moderne Lastenräder sind, und werden so benachteiligt. „Das Lastenrad ist häufig einfach ausgeblendet“, bestätigte auch Jonas Kremer, RLVD-Fachvorstand Politik. Wenn ein Flottenanteil an Elektrofahrzeugen über Quoten geregelt ist, würden Lastenräder oft nicht mitgezählt und können damit ihr Potenzial nicht ausspielen.

„Wir schreiben jetzt Spielregeln, das ist eine einmalige Chance“

Martin Schmidt, Radlogistikverband Deutschland

Technische Feinheiten

Die Teilnehmerinnen in drei optionalen Workshops bearbeiteten Themen, die die Branche stärker vereinen könnten. Es ging um eine deutschlandweite Buchungsplattform für Radlogistik-Dienstleistungen, digitale Schnittstellen durch offene KEP-Standards (Kurier-, Express- und Paketdienst) und darum, was zu beachten ist, wenn die Branche Aufbauten und Wechselsysteme standardisiert. „Wir schreiben jetzt Spielregeln, das ist eine einmalige Chance“, kommentierte Martin Schmidt abschließend. Normen, die Lastenräder betreffen, werden von der Industrie gut angenommen, haben laut Tim Salatzki vom Zweirad-Industrie-Verband aber Lücken, was die Sicherheit im Schwerlastsegment betrifft. Es sollte im Interesse der Branche sein, diesem Thema proaktiv zu begegnen, wie es beispielsweise durch den Verhaltenskodex im Verkehr des RLVD bereits beispielhaft geschehen ist. Wenn es schwere Unfälle geben sollte, könnte das dem Ruf der Lastenräder schaden. In einer Paneldiskussion, in der auch Luise Braun von Onomotion und Wasilis von Rauch von Zukunft Fahrrad sowie Jonas Kremer sprachen, wurde die Möglichkeit einer eigenen Kategorie für Schwerlastenräder als sinnvoll bewertet. Diese dürfe allerdings kein Monstrum an Regulierungen mitbringen, so der Tenor der Runde. Schulungen für Schwerlastenräder könnten zielführend sein, eine Führerscheinpflicht lehnte die Gruppe allerdings entschieden ab. Weiteren Input gab es auch zu den Fahrerinnen der Lastenräder. Diese sind in Österreich bereits mit einem Tarifvertrag aufgestellt. Es gilt, hier auch in Deutschland die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, StVO-Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit den Kund*innen zu vermitteln. Die Menschen, die die Räder fahren, sind das Rückgrat der Branche, verrichten eine körperlich schwere Arbeit und müssen entsprechend gewürdigt werden. Sie brauchen gute Konditionen ohne Dumping-Löhne und Scheinselbstständigkeiten, auch damit die wachsende Branche in Zukunft keinen Personalmangel hat.

Empfangskomitee oder Randnotiz? Die Last-Mile-Area auf der IAA Transportation sorgte bei den ausstellenden Unternehmen für gemischte Gefühle.

Mit Versendern vernetzen

Als Positivbeispiel hingegen kürte der RLVD den Radlogistikversender des Jahres. Der Preis ging an die Memo AG, die Bürobedarf in Kooperation mit 13 verschiedenen Radlogistikdiensten ausliefern lässt. Den Versendern soll in der vierten Konferenzausgabe eine größere Rolle zukommen. Diese könnte sich auch in anderer Hinsicht von der diesjährigen Veranstaltung unterscheiden, sagt Martin Seißler. „Ich habe das Gefühl, wir müssen das Programm vielleicht ganz weglassen, weil die Leute die ganze Zeit netzwerken wollten. Aber so funktioniert es natürlich nicht. Wir wollen das Thema Netzwerken aber besser koordinieren, professionalisieren und etwas zielgerichteter gestalten. Und wir wollen auch die Versender mehr zu Wort kommen lassen, ihnen eine Bühne bieten und klarmachen, wie wichtig sie in diesem ganzen Prozess sind.“ Auch eine Art Speeddating, um die Akteure effizienter zu vernetzen, wäre dazu ein möglicher Weg.

Links: Das Schwerlastenrad von Fulpra bietet bis zu 3000 Liter Stauraum und 350 Kilogramm Zuladung.
Rechts: Die Mobilitätsstation des Unternehmens Fairventure lädt dank Solarmodulen und eingeschweißter Batterie autark Elektrofahrzeuge auf.

Das Fahrzeugkonzept der ZF-Tochter Brakeforce One (links) hat Platz für kühle Getränke. Deutlich mehr kühlen Stauraum bieten die Aufbauten von Wello (rechts).

IAA Transportation – Radlogistik als Teil des Ganzen

Am Tag nach der Konferenz sind viele Teilnehmerinnen dann mit ihren Lastenrädern und -anhängern publikumswirksam auf der IAA Transportation eingefahren. Der Nutzfahrzeugableger der Internationalen Automobilausstellung fand zeitgleich in Hannover statt. Die zeitliche Überschneidung war nicht zufällig, vielmehr war die Radlogistikkonferenz in Zusammenarbeit mit der Fachmesse geplant worden. Auch auf der IAA Transportation selbst waren Lastenräder präsent. Es gab einen gesonderten Ausstellungsbereich für die Letzte-Meile-Logistik, die Last-Mile-Area. Ein Cargobike-Parcours bot die Möglichkeit, viele Modelle zu testen. Im Nachgang der publikumswirksamen Einfahrt verlieh die Fachzeitschrift Logistra ihren jährlichen Award „International Cargobike of the Year“. Die ersten Plätze konnten sich die Hersteller Riese & Müller für das Modell Transporter 2, Mubea für das Schwerlastenrad Cargo und Nüwiel für den Anhänger eTrailer sichern. Überlaufen war die Last-Mile-Area nicht. Neben den Award-Gewinnern gab es dennoch auch ein paar Produktneuheiten zu entdecken. Der Hersteller Urban Arrow präsentierte ein neues Bremssystem, das auf Motocross-Technik setzt. Rytle hatte mit dem auffällig grün überdachten Schwerlastenrad Movr3 eine neue Produktgeneration im Gepäck. Und Mubea zeigte neben einer Variante des prämierten Modells Cargo für Gärtnerinnen, Landschaftsarchitektur und Co. einen dreirädrigen E-Scooter, der ab dem kommenden Jahr produziert werden soll.
Auf dem großen Hannoveraner Messegelände fanden sich zwischen den großformatigeren Cargo-Exponaten an wenigen Stellen vereinzelte Lastenräder, ein Symbol für die zukünftige Verknüpfung der Transportmittel. Ob diese Verknüpfung von der restlichen Branche wirklich ernst genommen wird, bleibt abzuwarten. Eindeutig bewerten ließ sich das Standing der Radlogistik in der gesamten Branche aber nicht. Manch ein Aussteller fühlte sich auf der Sonderfläche etwas an den Rand gedrängt, andere verstanden sich in der Lage am westlichen Eingang in der Halle 13 eher als Empfangskomitee der Fachmesse. In den Vorträgen, die auf mehreren Bühnen gehalten wurden, fand das Thema Radlogistik höchstens als Randnotiz statt. Dabei könnte aber auch die ausgelagerte Konferenz des RLVD eine Rolle gespielt haben.

„Wir schaffen die 30 Prozent Radlogistik“

Dr.-Ing. Tom Assmann, Vorstandsvorsitzender des Radlogistikverbandes Deutschland

Wie beurteilen Sie die diesjährige Radlogistikkonferenz?
Wir sind sehr zufrieden mit der Veranstaltung. Sie war gut besucht und wir haben gezeigt, dass Radlogistik ein hochinnovativer Bereich ist. Ein Bereich, der die Technologie so weit entwickelt hat, dass sie ausgerollt werden und in der Breite in den Städten in Deutschland den Verkehr entlasten und sicher machen kann. Wir sind bereit, im großen Game um die letzte Meile vollständig mitzuspielen und sie auch in der Zukunft zu gestalten. Wir schaffen die 30 Prozent Radlogistik.

Wie wird sich die Branche in nächster Zeit weiterentwickeln?
Wir werden nächstes Jahr deutlich mehr Lastenräder auf den Märkten sehen. Ich höre das in den Gesprächen, dass eigentlich überall große Absatzzugewinne zu verzeichnen sind und dass die Akteure trotz der Weltlage positiv in die Zukunft schauen, weil Lastenfahrräder und -anhänger die Transportmittel der Zeit sind. Wir sparen 90 Prozent Energie pro Kilometer ein und haben günstigere und klimagerechte Fahrzeuge. Deswegen können wir positiv gestimmt sein, hoffen aber, dass da nicht noch größere Probleme in den Lieferketten kommen.

Was sind die größten Herausforderungen für die Branche?
Eine wichtige Frage auf politischer Ebene ist, wie man Radlogistik in die Breite der kommunalen Planung bekommt. Die Kommunen müssen die Radlogistik, die Flächen und die In-frastruktur standardmäßig mitplanen, sodass unsere Fahrzeuge supereinfach, komfortabel und schneller als ein Sprinter überall genutzt werden können. Das ist die eine Herausforderung, die andere ist, wie wir auf europäischer Ebene einen harmonisierten Rechts- und Standardrahmen schaffen, damit diese Fahrzeuge überall in der EU sicher, zuverlässig und kostengünstig auf Radwegen betrieben werden können.

Am hinderlichsten ist also die Politik?
Ein großes Hemmnis ist auch, dass insgesamt noch zu viel Zögern da ist. Nicht unbedingt in der Logistikbranche, die Logistikakteure sehen, sie müssen da reingehen und werden das auch tun. Aber insbesondere abseits des klassischen Paket- und Postgeschäftes, wo Lastenräder sich gut entwickeln, da braucht es noch mehr Berührungspunkte, und es braucht mehr und bessere Förderung, damit auch kleine und mittlere Unternehmen umsteigen können und sagen: „Ein Lastenfahrrad ist günstiger und es ist besser für mein Unternehmen.“ Es ist Marktversagen, dass das Leasing von E-Autos im Moment besser gefördert wird als das Leasing von E-Lastenfahrrädern.

Berührungspunkte habt ihr auch auf eurer Exkursion schaffen wollen. Was hat dort die größte Neugier und die meisten Gespräche ausgelöst?
Wir hatten tolle Gespräche, die gesamte Exkursion entlang. Es gab ein wirklich wunderbares Grußwort von Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay, der klar gezeigt hat, dass es Städte gibt, die bereit sind, den Weg zu einer klimagerechten, zu einer lebenswerteren und zu einer autoärmeren Stadt zu gehen. Das hat mir sehr gut gefallen, genau wie unsere letzte Station bei unserem neuen Mitglied Modes. Die kommen ursprünglich aus dem klassischen Umbau von Vans für Personen mit Behinderung und haben jetzt als neues Geschäftsmodell den Service von Lastenrädern mitaufgenommen und zeigen, dass sie die Transformation hin zu nachhaltiger Mobilität gehen.

Die Radlogistik-Konferenz fand während der IAA Transportation statt und machte dort mit einer kollektiven Einfahrt auf die Messe auf sich aufmerksam. Was waren die Hintergründe dieser Entscheidung?
Es war die richtige Entscheidung, diese Veranstaltung parallel zur IAA Transportation zu machen und zu zeigen: Wir als Radlogistik sind da und wir sind bereit, unser 30-Prozent-Ziel bis 2030 umzusetzen. Jetzt ist es auch an den etablierten Akteuren, die Zeichen der Zeit zu erkennen und zu sagen, dass es neue Formen der Mobilität und neue Formen der gewerblichen Logistik in der Stadt braucht. Deswegen fand die Konferenz auch hier und in Abstimmung und Kooperation mit der IAA statt. Das war ein Angebot der IAA, dass wir mit unseren Ausstellern und unseren Lastenfahrrädern auf die Messe kommen und dem Publikum dort das zeigen konnten, was wir eben auch auf der Konferenz hier gezeigt haben: Die Technik ist da, kauft sie, setzt sie ein und fahrt damit.


Bilder: Ulrich Pucknat, Sebastian Gengenbach, Jana Dünnhaupt – OVGU

Am 22. und 23. November tagten viele Mobilitätsplaner*innen und weitere Fachleute auf der Fahrradkommunalkonferenz. In Aachen fanden sie inspirierende Praxisbeispiele vor und konnten sich zu den drängenden Themen austauschen, die Planungsvorhaben derzeit noch ausbremsen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Die Konferenz trug das Motto „Mobilitätswende umsetzen – Gute Pläne und jetzt Strecke machen“. Viele Rednerinnen nahmen Bezug auf den Leitsatz und wünschten sich eine Macher-Mentalität und mehr Geschwindigkeit dabei, die Pläne umzusetzen. Das Vortrags- und Diskussionsprogramm diente dazu, über den Tellerrand der eigenen Kommune zu blicken und sich von Projekten im ganzen Bundesgebiet, zum Beispiel aus dem Kreis Coesfeld oder Hannover, inspirieren zu lassen. Unter der Moderation von Totinia Hörner bot die Bühne einen Gesprächsraum für Menschen aus der Planung, Verbandsarbeit oder Forschung. Rund 300 Mobilitätsfachleute kamen in der Veranstaltungsstätte „Das Liebig“ in Aachen zusammen. Weitere Interessierte nutzten den Livestream. Zumindest vor Ort blieb es aber nicht bei passivem Zuhören. In zwei Slots bot die Veranstaltung je vier Arbeitsgruppen, die zu Schwerpunkten wie Radentscheiden, digitalen Planungstools und Kreuzungssituationen arbeiteten. Die gastgebende Stadt Aachen bot zudem ein Exkursionsprogramm zu wichtigen Orten und Themen der dortigen Verkehrswende an. Auf diesen Touren und am Veranstaltungsort selbst sollten die Teilnehmerinnen sich miteinander austauschen und vernetzen.
Als Flaschenhals der Radverkehrsentwicklung scheint neben dem fehlenden neuen Straßenverkehrsgesetz der Fachkräftemangel zu wirken. Ein Lösungsansatz dafür können Fachkräftekampagnen sein, wie sie die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte (AGFS) ins Leben gerufen hat. Es sei aber auch wichtig, die Fachkräfte besser zu bezahlen, um ein zu starkes Lohngefälle zum privaten Sektor zu verhindern. Steigende Kosten bei baulichen Maßnahmen kommen als weitere Schwierigkeit hinzu.

Erwartungshaltungen managen

Kommunen müssen bei Änderungen im Straßenverkehr genau verdeutlichen, warum diese von kollektivem Interesse sind, da die Vorstellungen der Zivilgesellschaft mitunter weit auseinandergehen. Auch Professorin Dr. Jana Kühl sieht das gesellschaftliche Selbstverständnis als einen Schlüsselfaktor der Verkehrswende. Derzeit würden Konflikte von der Straße auf die Fuß- und Radwege verlagert. „Man hat gelernt, zu improvisieren“, beschreibt sie das Dasein der Radfahrerinnen, die mit Mängeln umgehen müssen. Im Kfz-Verkehr gäbe es auf der anderen Seite eine tief in der Gesellschaft verwurzelte Erwartungshaltung. Ausgerichtet wurde die Fachtagung vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr und dem Mobilitätsforum Bund. Unterstützend wirkte das Deutsche Institut für Urbanistik (DIfU). Dagmar Köhler, Teamleiterin im Forschungsbereich Mobilität am DIfU sagt: „Die Konferenz in Aachen steht für Innovationskraft, Zusammenarbeit und Verstetigung für eine umweltfreundliche, gesunde Mobilität – auch wenn die Sonne mal nicht scheint. Ein besonderer Schwerpunkt war in diesem Jahr die Fokussierung auf den Menschen – und zwar nicht nur mit Blick auf Rad fahrende Bürgerinnen: Nie zuvor tauschten sich die Radverkehrsfachleute so intensiv über Organisationsstrukturen, Prozessabläufe, Changemanagement und den Umgang mit Radentscheiden der Zivilbevölkerung aus Sicht der Verwaltungen aus. Ein weiteres Fokusthema war die Gestaltung komfortabler und sicherer Radwege und Kreuzungen.“ Wie sich diese Herausforderungen und der Fokus im nächsten Jahr verändert haben werden, wird sich in Regensburg zeigen. Die Stadt an der Donau ist dann nämlich gastgebende Kommune der Fahrradkommunalkonferenz.


Bild: Doris Reichel

Als großes Finale des ersten Konferenztages wurde in Aachen der Plan F Award vergeben. Dieser Preis soll vorbildliche Projekte aus der Praxis hervorheben, mit denen Kommunen den Radverkehr fördern. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Carolin Kruse, Geschäftsführerin von Fair Spaces, prämierte diese gemeinsam mit Schirmfrau Rebecca Peters, der Bundesvorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs. Der erste Platz ging an die Verbandsgemeinde Wallmerod, die ihren Preis, ein fünftägiges Audit mit Fair Spaces, einer niederländischen Professorin und einigen Student*innen bereits durchgeführt hat. Herausgekommen ist dabei ein Ad-hoc-Radaktionsplan für Radwege und Fahrradkultur. Auch die Zweit- und Drittplatzierten, die Stadt Aachen und der Zweckverband Landfolge Garzweiler, erhielten ein Audit, das online stattfand beziehungsweise stattfindet.
Namensgeber des Awards ist das Projekt Plan F. In diesem arbeitet Fair Spaces gemeinsam mit dem Software-Unternehmen FixMyCity an vier Punkten. Neben einer interaktiven Website soll ein übersichtliches Radverkehrs-Handbuch entstehen. Mit dem Plan F Check sollen Kommunen sich selbst evaluieren können und passende Handlungsempfehlungen erhalten. Außerdem umfasst das Projekt einen interaktiven E-Learning-Kurs. Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr fördert Plan F im Kontext des Nationalen Radverkehrsplans.
Auf der Website identifiziert das Projekt-Team neun Handlungsfelder der kommunalen Radverkehrsförderung, darunter zum Beispiel Bildung und Trainings, Services, Wirtschaft und Verkehrsberuhigung. Neben den Gesamtgewinnern wurden zwei bis drei Projekte pro Handlungsfeld hervorgehoben. Auch über die auf dieser Seite zusammengestellten Erstplatzierten hinaus ist die Internetpräsenz von Plan F eine Best-Practice-Goldgrube. Neben Kurztexten zu den prämierten Maßnahmen und Projekten findet sich dort eine Mappe mit allen 66 Bewerbungen zum Download.

Preisträger des Plan F Awards:

Infrastruktur
Verbandsgemeinde Wallmerod: Wäller ALLEn-Weg

Der Wäller ALLEn-Weg soll, wie der Name schon sagt, allen zur Verfügung stehen. Auf zwölf Kilometern verbindet er zwei Verbandsgemeinden und ist dabei nicht nur mit dem Rad, sondern auch mit Rollstuhl oder Kinderwagen komfortabel befahrbar. Den ersten Preis der Gesamtwertung in Form eines Audits nahm die Verbandsgemeinde bereits im Oktober wahr.

Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
Aachen: Kommunikation rund um den Radentscheid

Aachen hat in der Gesamtwertung den zweiten Platz belegen können. Neben den Kommunikationsmaßnahmen zwischen Verwaltung, Radentscheid und Stadtgesellschaft wurde auch eine Bildungskampagne mit dem dritten Platz in der entsprechenden Kategorie bedacht. Sie heißt FahrRad und adressiert Grundschulkinder.

Governance
Zweckverband LANDFOLGE Garzweiler: Rheinisches Radverkehrsrevier

Im Zweckverband LANDFOLGE Garzweiler arbeiten verschiedene Kommunen zusammen.
Ihr gemeinsames Ziel ist, ein durchgängiges regionales Radverkehrsnetz zu erschaffen. Dafür gab es den dritten Platz in der Gesamtwertung des Plan F Awards.

Bildung und Trainings
Landkreis Osnabrück: Bike to School

Services
Gelsenkirchener Fahrradservice-Stationen

Multimodalität und Nahmobilität
Fellbach: Automatisiertes Fahrradparkhaus / Verkehrsverbund Rhein-Neckar GmbH: VRNradbox (jeweils zweitplatziert)

Wirtschaft
kein Preis vergeben

Tourismus und Freizeitverkehr
Morsbach: Fahrrad-Schnitzeljagd

Verkehrsberuhigung
Neuss: Fahrradachse Innenstadt

Mehr Informationen zum Projekt und die komplette Liste der prämierten Projekte: https://plan-f.info/


Bild: Fair Spaces

Antwerpen ist ein Aufsteiger in den Fahrrad-Charts. Die flämische Metropole tut viel für den Radverkehr – als Ergebnis rechter Politik. Der Anteil der Radlerinnen wächst. Doch Velo-Aktivistinnen sehen die Stadt an einem kritischen Punkt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Antwerpen, größte Stadt in Belgien und Europas zweitwichtigster Hafenstandort, wurde jüngst mit dem dritten Platz unter den „The World’s Most Bicycle-Friendly Cities“ ausgezeichnet.

Die Stadt liegt in einem Fahrradland, ist flach und seit Jahrzehnten gehören Fahrräder zum Stadtbild. Doch als Vorreiter in Sachen Fahrradfreundlichkeit hat sich die belgische Hafenstadt Antwerpen in der Vergangenheit nicht aufgedrängt. Im August frohlockte jedoch der konservative Vizebürgermeister Koen Kennis auf Twitter: Die Großstadt unweit der Nordseeküste, wo Kennis unter anderem die Verkehrspolitik verantwortet, hatte soeben den dritten Platz im „The World’s Most Bicycle-Friendly Cities“-Index erreicht, publiziert von der Versicherung Luko. Zwischen den bekannten Fahrradhochburgen Utrecht, Kopenhagen, Münster und Amsterdam überraschte der Name Antwerpen dann doch. Die öffentliche Freude des Politikers rief prompt allerdings auch ein Echo bei Fahrradaktivist*innen hervor, die über die Methodik der Rangliste schimpften und allerlei offene Themen ansprachen. So sehen die Unfallstatistiken in Antwerpen nicht gerade erfreulich aus, aber es gibt viele Radläden und autofreie Aktionstage, was das Ranking positiv beeinflusste. Doch aus welchen Motiven auch immer ein Versicherungsunternehmen eine solche Übersicht veröffentlicht – für den Blick auf eine spannende Fahrradstadt bietet sie einen berechtigten Anlass.

„Ich möchte keine Stadt wie Amsterdam haben, wo sich das Zentrum nur Reiche und Touristen leisten können. Das heißt aber nicht, dass wir Autos anziehen wollen.“

Koen Kennis,
Vizebürgermeister

Mobilität als beherrschendes Thema

Wer sich an das Antwerpen der 90er-Jahre erinnert, wird bei der Fahrt ins Stadtzentrum überrascht sein. Wo es früher Schlaglöcher, graue Wände, heruntergekommene Gebäude und sehr viel lauten Autoverkehr gab, hat sich das Bild heute verändert. Autos sind immer noch viele da, aber Antwerpen ist eine helle Stadt im Wandel, in der Verkehr ganz oben auf der politischen Tagesordnung steht. Koen Kennis, der Vizebürgermeister, gehört ebenso wie das Stadtoberhaupt Bart De Wever der N-VA an, einer separatistisch-nationalistisch flämischen Gruppe, die seit 2012 regiert, aber bei der Wahl 2018 zu einer Koalition mit den Sozialisten gezwungen wurde. In Kennis‘ Ressort fällt auch die Verantwortung für die Finanzen. „Aber wenn ich mir meine Arbeitsverteilung anschaue, hat der größte Anteil mit Mobilität, Infrastruktur und Verkehr zu tun“, sagt der Politiker. Ein riesiges Projekt beherrscht seit Jahrzehnten das Geschehen: der Lückenschluss der Ringautobahn, die Antwerpen umgibt. Hier geht es inzwischen nicht mehr nur um eine mehrspurige Verbindung im Norden der Stadt. Es geht um „The Big Link“ – die große Verbindung.
Seit mehr als fünf Jahren kursiert dieser Begriff, mit dem ein gesamter Umbauprozess der Stadt gemeint ist. Denn es geht zum einen um den lange fälligen Lückenschluss der Ringstraße in der Handels- und Hafenstadt, zum anderen aber inzwischen auch um die Umgestaltung des öffentlichen Raums und der Verkehrsbeziehungen in Antwerpen. Es geht um bessere Anbindungen, mehr Parkflächen, eine unterirdische Führung des motorisierten Verkehrs – und um bessere Lebensqualität. In diesem Prozess hat die Stadtverwaltung nicht nur Experten eingebunden, sondern auch die Bürger und die Zivilgesellschaft. „Es gibt in diesem Verbund etliche Vertreter, die klar gegen Autos sind, und in diesem Projekt bleiben wir im Gespräch miteinander. Wir verfolgen das Ziel, den Modal Split in unserer Stadt zu verändern, das wird Arbeit für ein Jahrzehnt sein, aber wir brauchen einen Modal Shift, damit die Stadt für alle erreichbar bleibt“, sagt Kennis, dessen Partei im konservativen Spek-trum eher dem rechten Rand zugeordnet wird.
Sieht man die neue Rangliste oder Antwerpens positive Bewertung im Copenhagenize-Index, fährt man mit offenen Augen durch Einfallstraßen und die City, dann muss man sich schon über die Auseinandersetzungen wundern, die Kennis mit den politischen Widersachern führt. In Antwerpen fällt es nicht schwer, neu gebaute Fahrradwege, Brücken für Fußgängerinnen und Radfahrerinnen, spezielle Ampeln und weitere Infrastruktur zu finden, die man sich in vielen deutschen Städten wünschen würde. Es fällt aber auch nicht schwer, mit dem Auto überall hinzufahren, wenn man nicht im Stau steckt – bis ins Herz der Stadt und unter den Bahnhof kommt man bequem, ohne große Einschränkungen oder Kosten. Antwerpen ist eine Großstadt im Wandel, die sich in vielem von anderen Städten unter den fahrradfreundlichen Großstädten unterscheidet. Anders als im nahe gelegenen Gent, im niederländischen Musterbeispiel Amsterdam, in Münster oder anderen vergleichbaren Städten treibt keine grüne politische Gruppe den Umbau voran, gibt es keine Strafgebühren oder Abschaffung von Parkplätzen auf großer Linie. „Wahrscheinlich sind wir in der Minderheit“, sagt auch Renaat Van Hoof, der Vorsitzende des Radfahrerverbands (Fietserbond) in Antwerpen.

In Antwerpen wurde in den letzten Jahren viel Infrastruktur für den Radverkehr neu errichtet.

Investment findet Anerkennung

Die Ausgangslage ist also spannend: Eine klar konservative Bewegung verantwortet politisch die Modernisierung einer international einflussreichen, florierenden Handels- und Wissenschaftsstadt. Von den Radak-tivistinnen und der grünen Opposition wird Kennis als Autopolitiker angegriffen. Doch er sieht das anders. Das Auto gehöre eben zur Mobilität. „Wenn du die Mobilität tötest, tötest du die Stadt“, sagt Kennis, man halte Menschen aus der City, wenn man – wie beispielsweise in Oslo – die Zufahrt für Autos beschränke. „Ich möchte keine Stadt wie Amsterdam haben, wo sich das Zentrum nur Reiche und Touristen leisten können. Das heißt aber nicht, dass wir Autos anziehen wollen“, sagt der Politiker. Zugleich verweist er auf den Umbau, der tatsächlich stattfindet. Seit 2020 widmet Antwerpen Stück für Stück Straßen im historischen Stadtkern um, Parkplätze verschwinden dort, die Straßen werden zu „Wohnstraßen“ mit Tempo 20 und Vorrang für Fußgänger. Geht es um die Gesamttendenz für Radfahrerinnen, dann stützen die Praktikerinnen den Eindruck, den wir beim Besichtigen der Stadt gewinnen. „Wir haben viele Besucher aus den Niederlanden, und von denen höre ich sehr viel Gutes über die Entwicklung in Antwerpen“, sagt Gaston Truyens, der für die Organisation Antwerp By Bike sowohl Spaziergänge als auch Radtouren leitet. „Die Investitionen der vergangenen zehn Jahre haben dazu geführt, dass sich Radfahrende sicherer fühlen“, sagt der ehemalige Manager eines Golfclubs, der selbst erst spät zum Fahrradfahrer wurde. Koen Kennis, der zuständige Politiker, lässt keine Zweifel, dass Fahrräder für ihn wichtige Elemente der Verkehrswende sind. Er setzt auf drei Faktoren, um den Anteil der Nut-zerinnen zu erhöhen: Harte Faktoren, also den Bau von Infrastruktur, weiche Faktoren, also das „Nudging“ der Menschen, etwa durch gezielte Ansprache der Belegschaften in Unternehmen, und die digitale Unterstützung der modernen Mobilität, etwa durch das Verzahnen von Informationen und das Zusammenführen von ÖPNV und Mikromobilität in Apps und an Hubs in der Stadt. Es ist bemerkenswert, dass auch Kriti-kerinnen der Stadtregierung viele Erfolge einräumen. Allen voran investiert die Kommune ebenso wie die flämische Regionalregierung und die Region Antwerpen massiv ins Netzwerk der Radwege, vor allem in eine separate Infrastruktur für die Velos. „Man muss sagen, dass die neue Stadtverwaltung hier in den vergangenen zehn Jahren eine qualitativ hochwertige Infrastruktur geschaffen hat, mit breiteren Radwegen und weiteren baulichen Maßnahmen“, sagt der Bauingenieur Dirk Lauwers, der sich als Experte für urbane Mobilität einen Namen gemacht hat und an der Universität in Antwerpen lehrt. Im Rathaus verweist man darauf, dass es für Radfahrerinnen mehr Brücken gebe als in Kopenhagen – die lägen zwar nicht so attraktiv über Wasser, seien aber sehr sinnvoll für den sicheren Verkehr. Das große Leuchtturmprojekt in Sachen Radmobilität ist jedoch eines am Fluss und zugleich ein großer Zankapfel. Kennis und seine Verbündeten wollen es unbedingt haben. Es geht um eine Radbrücke über die Schelde, um Antwerpen mit den Kommunen im Westen zu verbinden. 2023 oder 2034 soll die Arbeit an dem Bau beginnen, sofern die Finanzierung geklärt und die politischen Entscheidungen getroffen werden. „Es geht darum, Hunderte von Millionen in Fahrradinfrastruktur zu investieren“, sagt Koen Kennis, „das ist wichtig, weil es weitere Effekte hervorrufen kann.“ Durch eine solche Brücke über den breiten Fluss, der hier beim international relevanten Seehafen schon ins Meer übergeht, erwartet die Politik sich nicht nur einen symbolischen Erfolg, sondern weniger Auto-pendlerinnen in den Tunneln und einen positiven Einfluss auf den Modal Shift in der Region. Koen Kennis kann in seinen Präsentationen darauf verweisen, dass der Anteil der Radfahrerinnen am Verkehr bei allen Fahrten im langfristigen Trend gewinnt – während der Pkw-Anteil hier langsam zurückgeht. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang sei auch das Bikesharing, das Antwerpen bereits 2011 einführte. Antwerpen hat hier mit „Velo“ ein eigenes System mit inzwischen 305 Stationen, an denen Kunden mit einer Mitgliedskarte die Räder leihen können. Inzwischen stehen mehr als 5.200 Leihräder zur Verfügung, in jüngster Zeit setzt die Region hier auch auf eine Kooperation mit dem E-Sharing-Bike-Anbieter Donkey Republic. „Zugleich werden immer mehr Verbindungen in die Stadt fertiggestellt, und so wird Radfahren in die Stadt immer attraktiver“, sagt Kennis.

„Das Problem ist, dass die Stadtregierung viel für Fahrräder (…) tun möchte, solange sie dafür nicht Autos Platz wegnehmen muss.“

Renaat Van Hoof, Fietserbond

Investitionen in Fahrradparkanlagen sollen dazu beitragen, den innerstädtischen Anteil des Pkw-Verkehrs auf 20 bis 15 Prozent zu drücken.

Seit 2011 gibt es in Antwerpen ein Bikesharing-Angebot mit derzeit über 5200 Leihrädern.

Ambitionierte Ziele für die Stadt

Über diesen Erfolg sind sich beinahe alle einig. Doch die Frage ist, wie man mit dem Pull-Effekt umgehen soll. Und hier ist Antwerpen ebenso spannend. Kennis nennt das Ziel für die Transportregion: Der individuelle Pkw-Verkehr soll auf 50 Prozent gedrückt werden, was für die innere Stadt wohl eher einen Anteil von 20 bis 25 Prozent bedeuten werde. „Das ist natürlich eine Herausforderung“, sagt der Politiker. Bei Arbeitspend-lerinnen waren es vor Corona noch etwas mehr als 40 Prozent, in der Freizeit immer noch zwischen 30 und 40 Prozent, die auf den Pkw zurückgriffen. Der Politiker geht aber davon aus, dass vor allem der ÖPNV verbessert werden kann, dass bereits gebaute Park-and-Ride-Flächen an Akzeptanz gewinnen und die Mikromobilität den Verkehr in der Stadt entsprechend verändern wird. Doch Beobachter wie Renaat Van Hoof und Dirk Lauwers sehen die Stadt gewissermaßen als Opfer ihres eigenen Erfolgs. „Das Problem ist, dass die Stadtregierung viel für Fahrräder und die Infrastruktur tun möchte, solange sie dafür nicht Autos Platz wegnehmen muss“, sagt Van Hoof. Dass es vor allem im Kern bei zunehmendem Verkehr von Radlern, E-Bikern, Scooter-Fahrerinnen und bestehendem Motorverkehr eng zugeht, lässt sich gut beobachten. Zumal in Antwerpen bidirektionale Radwege beiderseits entlang der großen Hauptstraßen laufen, an Kreuzungen somit viele Konflikte auftreten. „Es ist häufig sehr voll, und so herrscht auch ein bisschen das Recht des Stärkeren“, beobachtet City-Guide Troyens. Auch der motorisierte Radverkehr bringt in diesem Gemisch neue Probleme. Die Stadt reagiert, indem sie an manchen Radwegen ein 25-Stundenkilometer-Schild aufhängt. Professor Dirk Lauwers sieht den dichteren Verkehr und sagt: „Das Modell Antwerpen ist an seiner Grenze.“ Er kritisiert die Politik, für die gelte: „Parken ist die ‚heilige Kuh‘.“ Solange die Politik den An-wohnerinnen gratis Parkgenehmigungen erteile, ohne die Parkplatzstandards für Neubauprojekte oder eigene unterirdische Parkplätze für Autopendler*innen schaffe, sei das Pendeln immer noch attraktiver als Alternativen, findet Lauwers.
Kennis sieht diese Zwangsläufigkeit nicht. Er verweist auf die 662 Kilometer Radinfrastruktur in der Stadt, auf den Ausbau des Netzwerks und den Lückenschluss im System. Die Zahl ist wohl schöngerechnet, aus der Verwaltung liest man eher von 576 Kilometern faktisch vorhandener Infrastruktur. Aber auch das ist beachtlich. Hier klingt Kennis genau wie Radverkehrsplaner in anderen Städten. Aber ohne das Auto wird eben nicht gedacht. „Wir versuchen, die Autos so lange wie möglich auf den Hauptstraßen zu halten, wo es eine separate Fahrradinfrastruktur gibt“, erklärt Kennis den Ansatz. Wahrscheinlich wird der dichtere Verkehr in der Innenstadt dann auch zu manchem „Visionswechsel“ führen, sagt Kennis, etwa zum Umwandeln von normalen Straßen in Fahrradstraßen. Für ihn ist Antwerpen heute bereits eine 15-Minuten-Stadt, wo jeder Punkt innerhalb des Rings mit dem Rad in einer Viertelstunde erreichbar sei. Deswegen sieht er keinen Anlass für einen radikalen Bruch, sondern möchte den Kurs schrittweise fortsetzen.


Bilder: Andreas Dobslaff, stock.adobe.com – lantapix, Philippe Verhoeven

Ein wegweisendes Förderprojekt für Fahrradstraßen hat die Stadt Offenbach am Main von Sommer 2018 bis Sommer 2022 realisiert. Insgesamt sind auf sechs Radachsen 18 Kilometer fahrradfreundliche Infrastruktur, davon neun Kilometer Fahrradstraßen, neu entstanden. Die dadurch etablierte Marke Bike Offenbach soll auch weiterhin für Infrastrukturmaßnahmen rund ums Fahrrad in der kleinen Großstadt stehen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


„Radfahrende sind nun sicherer und schneller in und um Offenbach unterwegs“, sagt Planungsdezernent Paul-Gerhard Weiß. „Damit wollen wir Menschen aller Generationen zum Umsatteln motivieren – nur so können wir die Straßen in unserer wachsenden Stadt entlasten.“ Offenbach ist in den vergangenen zehn Jahren um 20.000 Einwohnerinnen auf eine Bevölkerung von mehr als 141.000 gewachsen: „Schon daher brauchen wir einen neuen Mobilitätsmix, damit wir nicht alle gemeinsam im Stau stehen,“ so Weiß. „Mit einem zügig ausgebauten Radverkehr können wir außerdem die Lebensqualität im Wohnumfeld verbessern und Standortvorteile schaffen.“ Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) hatte im Frühjahr 2018 die Mittel für das Verbundprojekt Fahrrad-(Straßen-)Stadt Offenbach – genannt Bike Offenbach – bewilligt und stellte dafür 4,53 Millionen Euro aus den Mitteln der Nationalen Klimaschutzinitiative zur Verfügung. Verbundpartnerin ist die benachbarte Stadt Neu-Isenburg, die ebenfalls eine Förderzusage bekam. Die Gesamtkosten des über die Rhein-Main-Region hinaus wegweisenden Projekts liegen bei rund 6,5 Millionen Euro. Das Projekt ist Teil der städtischen Strategie, umwelt- und klimafreundliche Mobilität zu fördern. Bürgermeisterin Sabine Groß betont die Bedeutung von Bike Offenbach für den Klimaschutz. „Wir alle haben auch in diesem weiteren Hitzesommer erlebt, dass der Klimawandel bereits jetzt Realität ist. Jeder Kilometer, der nicht mit dem Auto zurückgelegt wird, zahlt auf das Klimaschutzkonzept der Stadt Offenbach ein. Eine gut ausgebaute Infrastruktur bietet neue Anreize, mehr Strecken mit dem Fahrrad zu bewältigen.“ Für die Umsetzung wurde ein Expertinnenteam zusammengestellt, zu dem unter anderem das Frankfurter Planungsbüro „Radverkehr Konzept“ und der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club Offenbach (ADFC) gehörten. Mit dem Projektmanagement beauftragte das Stadtplanungsamt die bei den Stadtwerken angesiedelte OPG Offenbacher Projektentwicklungsgesellschaft mbH. Zudem erhielt das Team wissenschaftliche Unterstützung. Ein Team der Hochschule für Gestaltung (HfG) Offenbach erarbeitete Designkonzepte für die Fahrradstraßen, und die AG Mobilitätsforschung der Goethe-Universität Frankfurt organisierte eine repräsentative Umfrage zum Radfahren vor Ort. Die Hochschule Darmstadt übernahm das Monitoring und die wissenschaftliche Begleitung über die gesamte Dauer des Förderprojekts.

„Mit ihrem Antrag für ein ganzes Netz von Fahrradstraßen war die Stadt Offenbach bundesweit Vorreiter.“

Martin Lanzendorf, Professor für Mobilitätsforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Mit Teststrecke im Zentrum lernen

Wie sollten Fahrradstraßen und ihr Umfeld gestaltet sein, damit sie als sicher gelten und gerne befahren werden? Diese Frage kam auf, nachdem im Herbst 2018 eine erste Teststrecke eröffnet worden war – bewusst kein Abschnitt in der Peripherie, sondern eine viel befahrene Route ins Zentrum der Stadt. „So konnten wir wirklich etwas aus unseren ersten Erfahrungen lernen“, meint OPG-Projektmanager Ulrich Lemke. Tatsächlich wurde die Einrichtung der Fahrradstraße an sich ebenso diskutiert wie ihre Gestaltung. Einige hielten die Ausweisung der sogenannten Dooring-Zone nahe an parkenden Autos irrtümlich für einen ausgewiesenen Radweg, sodass die Stadt die Gestaltung in Zusammenarbeit mit dem HfG-Team optimierte und die Bürgerinnen diesbezüglich mitentscheiden ließ. Als immer noch viele Autos zu schnell unterwegs waren, richtete das Planungsteam in Abstimmung mit der städtischen Verkehrskommission eine Busschleuse mit Einbahn-Regelung ein, die seitdem den Autoverkehr stadteinwärts von der Fahrradstraße fernhält. In den neu gestalteten Fahrradstraßen im Zentrum sowie in den Stadtteilen hat der Radverkehr Vorrang und damit auch Vorfahrt, die Radelnden dürfen nebeneinanderfahren, und es gilt maximal Tempo 30 für alle. Für Autofahrerinnen gilt, dass Anlieger hineinfahren dürfen, der Durchgangsverkehr aber andere Routen wählen muss. Infowürfel informierten über die neuen Regeln, und die neu definierten Abschnitte erhielten gerade in den Kreuzungsbereichen einen leuchtend roten Anstrich.

Unsere Stadt neu erfahren: Unter diesem Motto bot das Projektteam regelmäßig Radtouren über die neuen Verbindungen an.
Vor Ort für Bike Offenbach im Einsatz: Sukhjeet Bhuller und Ulrich Lemke von der bei den Stadtwerken angesiedelten OPG Offenbacher Projektentwicklungsgesellschaft mbH waren mit Infoständen unterwegs, wenn im Stadtgebiet neue Fahrradstraßen entstanden.

Öffentlichkeitsarbeit schafft Akzeptanz

Vor der Einrichtung jedes neuen Abschnitts gab es umfangreiche Informationen: Mitteilungen für die Medien und auf Social Media, Flyer für die Anwohnerinnen und Stände des Projektteams vor Ort. Um die Stadt neu zu erfahren, fanden jeweils im Frühjahr und Sommer Radtouren für interessierte Bürgerinnen statt. Beim alljährlichen Stadtradeln trat ein Team von Bike Offenbach an, es gab Veranstaltungen zum Einrollen neuer Abschnitte und Infostände bei Straßenfesten. In Zeiten des pandemiebedingten Lockdowns wurden die Infoveranstaltungen und Workshops online angeboten.
Durch die umfassende Öffentlichkeitsarbeit wuchs die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung, auch wenn der Eingriff in bestehende Verkehrsstrukturen ein Gewöhnungsprozess blieb. So wurde auch dieses Projekt – wie viele Verkehrsthemen – kontrovers diskutiert. Den einen ging es nicht schnell genug, sie wollten Autos möglichst ganz aus der Innenstadt verbannen. Die anderen kritisierten schon kleinste Einschränkungen für den Pkw-Verkehr, der aber in der wachsenden Stadt mitten im Ballungsraum Rhein-Main nur einigermaßen fließen kann, wenn mehr Menschen aufs Rad umsteigen. „In Offenbach ist die Anzahl der zugelassenen Pkw von 2011 bis 2021 auf 67.190 und damit um 16,11 Prozent angestiegen. In einer kompakten und dicht besiedelten Stadt wie Offenbach wächst damit die Flächenkonkurrenz weiter an“, so Bürgermeisterin Groß. Bike Offenbach fährt hier einen Mittelweg. Beim Auf- und Ausbau der Fahrradstraßen ging es um ein vernünftiges Miteinander aller Verkehrsteilnehmerinnen – nicht um deren Trennung. Insgesamt scheint das Projekt viel Rückenwind zu erfahren. Wie eine gemeinsame Umfrage der Frankfurter Goethe-Universität und der Offenbacher Hochschule für Gestaltung zeigte, finden fast zwei Drittel aller Autofahrerinnen und 83 Prozent der Radfahrer*innen die Idee der Fahrradstraßen gut.
Die Forschungsarbeit der interdisziplinär arbeitenden Teams, auch zur bereits erwähnten Gestaltung der Fahrradstraßen, ist in die hessenweite Exzellenzforschung LOEWE integriert und hat damit Bedeutung über die Stadtgrenzen hinaus. „Mit ihrem Antrag für ein ganzes Netz von Fahrradstraßen war die Stadt Offenbach bundesweit Vorreiter, was unser Interesse geweckt hat“, berichtet Prof. Dr. Martin Lanzendorf, Professor für Mobilitätsforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. „Zu Fahrradstraßen und deren Gestaltung gab es davor nahezu keine Forschungen.“ Die Hochschule Darmstadt hat im Rahmen des Monitorings bis Ende September 2022 diverse Vor- und Nachzählungen sowie Geschwindigkeitsmessungen in den Fahrradstraßen und Befragungen realisiert.
Auch die Ausgliederung des Projektmanagements hat Vorbildcharakter. In vielen Kommunen dämpfen personelle Engpässe gerade bei der Verkehrsplanung die Bemühungen, den Ausbau der Radinfrastruktur voranzutreiben. Die Schader-Stiftung aus Darmstadt empfiehlt, in solchen Fällen dem Beispiel aus Offenbach zu folgen. Die Kommunen sollten bestehende Strukturen (wie in diesem Beispiel die OPG bei den Stadtwerken), die entsprechende Erfahrungen und Personalkompetenzen haben, mit der Umsetzung der verschiedenen Projekte und Radverkehrskonzepte betrauen.
Die OPG arbeitet auch daran, die Radverbindungen in den Kreis Offenbach hinein zu verbessern. Das Potenzial zum Umsatteln ist groß, weiß Verkehrsexperte Professor Jürgen Follmann von der Hochschule Darmstadt: „Grundsätzlich sind 30 Prozent der mit dem Auto gefahrenen Wege kürzer als drei Kilometer.“ Und viele Kreisgemeinden wie Dreieich oder Heusenstamm liegen nur bis zu acht Kilometer entfernt: „Das ist gerade für E-Bikes eine angenehme Distanz.“

Vorher – nachher: „Anlieger frei“ gilt nun auch für die Taunusstraße. Damit wird das gesamte Offenbacher Nordend als Wohngebiet gestärkt.

Neue Behörde treibt Mobilitätswende weiter voran

Bisher wurden in Verlängerung der neuen Fahrradstraßen in Offenbach weitere neun Kilometer Radachsen – mit Schutzstreifen oder als neue Fahrrad- beziehungsweise Geh- und Radwege – ausgewiesen sowie Kreuzungen und Knotenpunkte fahrradfreundlich gestaltet. Gemeinsam mit Neu-Isenburg, dem Verbundpartner im Förderprojekt, und der Landesbehörde Hessen Mobil gelang es zudem, bis Frühjahr 2022 einen neuen Radweg entlang der Hauptverbindungsstraße zwischen beiden Orten zu realisieren. Dafür wurde die zuvor vierspurige Sprendlinger Landstraße im Rahmen eines zweijährigen Verkehrsversuchs auf zwei Spuren für Autos verringert, wodurch der Radverkehr nun sicherer und schneller unterwegs ist.
Die Marke Bike Offenbach und die Bemühungen in Richtung Mobilitätswende bleiben der Stadt auch nach Ablauf des Förderprojekts erhalten. „Dass wir im Juni 2022 das Amt für Mobilität gegründet haben, ist ein klares Bekenntnis der Stadt Offenbach zur Förderung des Radverkehrs“, betont Bürgermeisterin Sabine Groß. Amtsleiterin ist die frühere Radverkehrsbeauftragte Ivonne Gerdts, die das Förderprojekt von Anfang an begleitete. Mit ihrem Team und den Initiator*innen des Radentscheids hat sie die gerade im Stadtparlament beschlossene Vereinbarung zum Ausbau der Radinfrastruktur erarbeitet. „Damit wollen wir das Radfahren in Offenbach attraktiver machen“, so Gerdts. Insgesamt vereine das neue Amt die strategischen Planungen für den Auto-, Rad- und Fußgängerverkehr gleichberechtigt unter einem Dach, erklärt Sabine Groß. „Ziel ist es, die Lebensqualität für die Menschen in Offenbach zu erhöhen.“ Nun will die Stadt auch gemeinsam mit der Initiative Radentscheid Offenbach die Infrastruktur vor Ort deutlich verbessern. Beide Beteiligten haben sich auf viele kleinere und größere Maßnahmen geeinigt, die es in den nächsten Jahren umzusetzen gilt. Diesem Vorhaben hat die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Offenbach am 15. September 2022 zugestimmt. Demnach möchte die Stadt nun pro Jahr mindestens 600.000 Euro in die Verbesserung der Radinfrastruktur investieren. Zudem ist geplant, diesen Betrag über weitere Fördervorhaben deutlich zu erhöhen.

Radverkehrskonzept Offenbach

Das Projekt Bike Offenbach war und ist ein wichtiger Bestandteil des Radverkehrskonzepts der Stadt Offenbach. Hierzu zählen bereits umgesetzte oder in der Umsetzung befindliche Maßnahmen, wie Einbahnstraßen im Gegenverkehr zu öffnen, die Fußgängerzone für Radfahrende freizugeben und neue Radfahrstreifen im Stadtgebiet aufzubringen. Außerdem umfasst das Projekt eine neue Radwegweisung im Stadtgebiet, abschließbare Fahrradboxen, Verleihstationen für Pedelecs, Call-a-bike-Stationen, einen Radroutenplaner für Schüler*innen und den Fahrradstadtplan.

Mehr Informationen dazu gibt es auf: www.bikeoffenbach


Bilder: Alexander Habermehl, urbanmediaproject

Im Mai trifft sich die Radverkehr-Elite zum Weltkongress VeloCity in Leipzig. Die Stadt hat sich bereits einmal grundlegend in ihrer Geschichte gewandelt. Diese Erfahrung will sie für die Mobilitätswende nutzen und teilen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Die Fahrradwelt zu Gast in Leipzig: Vier Tage lang werden auf der Messe Best-Practice-Beispiele vorgestellt und gute Lösungen fürs Radfahren in der Stadt der Zukunft diskutiert.

Einmal im Jahr trifft sich die internationale Fahrrad-Fachwelt aus Forschung und Praxis zum Erfahrungsaustausch bei der VeloCity. Nach Kopenhagen, Paris, Vancouver und Nijmegen steht im Jahr 2023 Leipzig auf dem Reiseplan der Radverkehrs-expertinnen. „Leading the Transition“ – den Übergang gestalten, ist Leipzigs Motto für den Weltkongress des Radverkehrs. Der Slogan ist auch als Appell gedacht. „Wir befinden uns in Leipzig bereits mitten in der Mobilitätswende“, sagt Tobias David, Referent des Bürgermeisters. Wie überall in Deutschland ist der Umstieg vom Auto auf klimafreundlichere Alternativen auch dort kein Selbstläufer. „Aber gesellschaftliche Transformation ist möglich“, betont David. Die Leipziger Bevölkerung wisse das. Sie hat sie bereits durchlebt, 1989, als in den Straßen ihrer Stadt die friedliche Revolution gegen das DDR-Regime startete. Nach der Wende wurden nach und nach beschädigte und zerfallene Straßen und Häuser wieder hergerichtet und das von Kohlebaggern zerfressene Umland wandelte sich zur Seenlandschaft. „Um das zu schaffen, braucht man eine Vision und Leader“, sagt David. „Menschen, die vorangehen, die andere begeistern, mitnehmen und Zeithorizonte aufzeigen, bis wann was erreicht werden kann“, sagt er. Diese Qualitäten seien jetzt wieder notwendig, um die Mobilitätswende zu gestalten. Von außen betrachtet sind die Erfolge in Leipzig beim Radverkehr eher durchschnittlich. 2018 lag der Anteil der Radfahrerinnen bei 18 Prozent am Gesamtverkehr. „In Sachsen sind wir das kleine gallische Dorf des Radverkehrs“, meint Robert Strehler, Vorstandschef beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) in Leipzig. Während im Umland der Radverkehr stagniere, nehme er in Leipzig zu. Lob verteilt der Fahrradaktivist nicht leichtfertig. Erst im Sommer hat sein Landesverband der Regierung von Michael Kretschmer schlechte Noten für den Ausbau des Radverkehrs ausgestellt. Nach zweieinhalb Jahren im Amt habe die Landesregierung gerade mal zwei von 15 Projekten zum Radverkehr in Sachsen umgesetzt, kritisierte der ADFC-Landesverband. Das sei in Leipzig anders. „Der politische Wille, den Radverkehr auszubauen, ist hier in den Ämtern angekommen“, sagt Strehler. Mehr noch: „Die Stadt baut auf Zusammenarbeit“, meint er.
Die sucht die Stadt auch mit dem ADFC, der zur Arbeitsgemeinschaft „AG Rad“ gehört. „Viele unserer Mitglieder sind Verkehrs- und Stadtplaner und bringen in dem Gremium ihre Erfahrung ein“, so Strehler. Die Vertreterinnen der Stadt akzeptierten sie als Expertinnen. „Dort findet echte Beteiligung statt“, sagt er.
Rein geografisch hat Leipzig gute Voraussetzungen, Fahrradstadt zu werden. Die Stadt ist flach, kompakt und in alle vier Himmelsrichtungen von Parks und Flüssen durchzogen, die zum Radfahren einladen. „In 20 Minuten kommt man mit dem Rad überallhin“, sagt Strehler. Schneller gehe es mit dem Auto auch nicht. Im Gegenteil. Oft dauere es sogar länger. Denn für Autos wird der Platz mittlerweile oft knapp auf der Straße. Das liegt unter anderem daran, dass Leipzig schnell wächst. In den vergangenen zehn Jahren wuchs die Stadtbevölkerung um 100.000 auf 615.000 Menschen. „50.000 brachten beim Umzug ihren Wagen mit“, sagt David. Die Verkehrsbelastung wachse spürbar – auf der Straße und bei der Parkplatzsuche.
Um mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen, baut die Stadt seit Jahren sukzessiv das Radwegenetz aus. „Zwischen 2010 und 2020 wuchs das Netz von 376 km auf 526 km“, so David. Manchmal hilft der ADFC beim Ausbau auch etwas nach. 2012 unterstützte der Verband die Klage eines Bürgers, der Radfahren auf dem Promenadenring einforderte. Seit den 1970er-Jahren war der 3,6 km lange Innenstadtring fürs Fahrrad tabu. Eine rechtliche Grundlage gab es für das Verbot nicht. Deshalb entschied das Oberverwaltungsgericht 2018, dass die Stadt dort auch für Radfahrer*innen Platz schaffen müsse.
Im Frühjahr 2022 wurde der erste Abschnitt auf einer ehemaligen Fahrspur markiert: auf 600 Meter Länge ein 2,25 Meter breiter Radstreifen mit grüner Farbe. Trotz des Urteils war und ist der Umbau kein Selbstgänger. „Im Vorfeld und danach gab es viele Diskussionen und Konfrontationen“, sagt Strehler. Noch sei Radfahren dort nicht attraktiv. Dafür sei das Teilstück zu kurz und es fehle die Anbindung ans Radnetz. Aber der Anfang ist gemacht. In den kommenden Jahren solle der Radverkehr auf dem Promenadenring nun sukzessive ausgebaut werden.

„Manche Radverkehrsplanung, die jetzt auf die Straße gebracht wird, ist bereits viele Jahre alt und überholt“

Robert Strehler,
Vorstandschef beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC), Leipzig

Tempo 30 per Lärmaktionsplan

Geht es nach der Stadtregierung, steigt der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehr bis 2030 auf 23 Prozent. Um das zu schaffen, setzt die Stadt auf einen Mix, der Autofahren einschränkt und den Umweltverbund von Bus und Bahn und den Fuß- und Radverkehr stärkt.
Dazu gehört, dass bis 2024 an rund 30 Hauptverkehrsstraßen Tempo 30 angeordnet werden soll. „Wir berufen uns dafür auf unseren Lärmaktionsplan“, sagt David. Überschreitet der Schallpegel tagsüber den Wert von 70 Dezibel und nachts von 60, können Städte das Tempo auf diesen Straßen als Schutzmaßnahme reduzieren. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass bei Straßenlärm, der im Haus einen Schallpegel von 65 Dezibel erreicht, das Risiko für Herz-Kreislauf-Störungen um 20 Prozent höher ist als bei 50 bis 55 Dezibel.
Für die Stadtfraktion ist das niedrigere Tempo ein Schlüssel, um die Situation für Radfahrerinnen, Fußgängerinnen und Anwohner*innen in den betroffenen Straßen schnell zu verbessern. Prinzipiell will die Politik Tempo 30 noch viel umfangreicher ausweisen, hinderlich sei dafür aber die aktuelle Rechtslage. „Leipzig hat im Herbst 2021 die Initiative ,Lebenswerte Städte durch angepasste Geschwindigkeit´ gestartet“, sagt David. Inzwischen sind ihr über 300 Städte und Gemeinden beigetreten. „Wir fordern die Bundesregierung auf, die Straßenverkehrsordnung und das Straßenverkehrsrecht zu ändern“, sagt er. Ob und wann die Änderung kommt, ist nicht absehbar. Um trotzdem die Mobilitätswende voranzubringen, sucht Leipzig Wege, um Tempo 30 umzusetzen.

Umverteilung der Verkehrsflächen in Leipzig: Baubürgermeister Thomas Dienberg markiert das weiße Fahrrad-Piktogramm auf grünem Grund.

„Wer den Autoverkehr in der Innenstadt reduzieren will, muss immer auch das Umland mitdenken und besser anbinden“

Tobias David,
Referent des Bürgermeisters

Weniger Autos an S-Bahnhöfen und in der Innenstadt

„Wer den Autoverkehr in der Innenstadt reduzieren will, muss immer auch das Umland mitdenken und besser anbinden“, sagt David. Pendlerinnen und Besucherinnen bräuchten eine echte Alternative, um die Strecken zurücklegen zu können. Ein großer Schritt war 2013 die Eröffnung des Leipziger City-Tunnels. Die Bahnstrecke verbindet die Innenstadt nun über verschiedene S-Bahnlinien mit den umliegenden Regionen. „Jetzt brauchen wir sichere Abstellanlagen für Fahrräder an S-Bahn-Stationen“, sagt David. Der Handlungsbedarf ist groß. 2019 war Leipzig die Hauptstadt der Fahrraddiebe. Um die Radanreise zum Bahnhof zu erleichtern, will die Stadt zunächst an insgesamt zwölf Standorten abschließbare Fahrradabstellanlagen installieren.
Vieles, was die Stadt macht, findet der ADFC gut und richtig. Kritik gibt es dennoch: „Manche Radverkehrsplanung, die jetzt auf die Straße gebracht wird, ist bereits viele Jahre alt und überholt“, sagt Strehler. Viele der Radstreifen, die jetzt auf das Pflaster gemalt werden, sind für Cargobikes und die gewachsene Zahl an Radfahrenden viel zu schmal. Die Planungen sollten angepasst werden, auch wenn das aufwendig ist.
Mit diesem Problem ist Leipzig nicht allein. Momentan überholt die Entwicklung die Planung vielerorts mit Riesenschritten. Vielleicht finden die Expert*innen bei der VeloCity im Mai eine Antwort auf dieses Problem.


Bilder: Stadt Leipzig, Robert Strehler, Maike Rauchhaus

Der Wandel vom Austragungsort der Automesse IAA zum Eurobike-Standort ist ein passendes Sinnbild für die Verkehrswende in Frankfurt. Diese steht spätestens seit dem Stadtratsbeschluss zur Fahrradstadt auf der Tagesordnung. Erste Erfolge sind bereits sichtbar, der Pendlerstadt steht aber noch ein langer Weg bevor. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Der Radentscheid sammelte 2018 40.000 Unterschriften. Er wurde zwar formell abgelehnt, einen Stadtverordnetenbeschluss zur Fahrradstadt Frankfurt gab es trotzdem.

Dass gesellschaftliche Rückendeckung für die Verkehrswende in Frankfurt besteht, bewiesen die Bewohner*innen im August 2018, als der Stadt ein 40.000-fach unterschriebener Radentscheid übergeben wurde. Mitte des darauffolgenden Jahres wurde er zwar abgelehnt, weil nötige gesetzliche Voraussetzungen für ein Bürgerbegehren laut dem Liegenschaftsdezernenten nicht erfüllt worden seien, die Stadt begann aber, in acht Sitzungen mit der Interessensgemeinschaft Radentscheid zu verhandeln. Zwei Monate später wurden die wesentlichen Forderungen des Radentscheids in den Maßnahmenkatalog Fahrradstadt Frankfurt am Main übernommen und um weitere Schritte ergänzt. Die Stadtverordnetenversammlung stimmte diesem Ende 2019 zu. Seitdem ist in Frankfurt einiges in Bewegung geraten.
Das Maßnahmenpaket fokussiert zunächst Hauptverkehrsstraßen, auf denen noch keine Radwege existieren. Dort werden teilweise auch Fahrspuren für Autos entnommen und umgewidmet. So zum Beispiel bei der Friedberger Landstraße, wo den Radfahrenden nun größtenteils 2,30 Meter breite, rot markierte Fahrradspuren zur Verfügung stehen. Auch anderenorts wurde ummarkiert, auch wenn die Wunschbreite gerade noch nicht erreicht wird. „Dieser breite, rote Radfahrstreifen, der ist symbolisch für die neuen Aktivitäten hier in Frankfurt. Wenn die rot eingefärbt sind, ist die Infrastruktur deutlich besser wahrnehmbar, wir haben auch nicht so viele Falschparker, die sich daraufstellen“, so Stefan Lüdecke. Er ist Referent des Dezernenten für Mobilität und Leiter der Stabsstelle Radverkehr. Wo möglich, wird auch mit Protektionselementen gearbeitet, wenn es keine seitlichen Parkplätze oder Ausfahrten gibt. Im August 2021 gab die Stadt bekannt, dass seit dem Fahrradstadt-Beschluss 28 Kilometer Radwege rot markiert wurden, 6,1 Kilometer neue Radwege an Hauptstraßen und fast 6000 neue Fahrradstellplätze entstanden. „Wenn eine Straße komplett grunderneuert werden muss, dann ist das Ziel, dass wir tatsächlich auch bauliche Radwege schaffen von mindestens 2,30 Metern Breite und vom MIV baulich getrennt“, verspricht Lüdecke.

Der Frankfurter Mainkai war schon mal für den Autoverkehr gesperrt und soll es in Zukunft wieder sein. Bei der Fahrradmesse Eurobike diente er als publikums-wirksame Außenfläche.
Der Oeder Weg ist die erste von elf Nebenstraßen, die nach dem Konzept Frankfurter Fahrradstraße des Radentscheids umgebaut werden.

Nebenstraßen werden fahrradfreundlich

Beschlossen wurde auch der Umbau von elf Straßenzügen zu sogenannten fahrradfreundlichen Nebenstraßen. Die Macherinnen des Radentscheides haben hierfür das Konzept Frankfurter Fahrradstraße entwickelt, das zügiges, konfliktfreies und sicheres Fahren ermöglichen soll. Die erste fahrradfreundliche Nebenstraße, der Oeder Weg, ist bereits erkennbar umgebaut und mit Autobarrieren als Modalfilter ausgestattet worden. Der Oeder Weg ist jetzt eine Fahrradstraße und hat neue Fahrradbügel und rot markierte Kreuzungsbereiche bekommen. Auch Abstellanlagen für E-Scooter sind Teil des Konzepts. Folgen sollen circa 40 große Pflanzenbeete, außerdem Sitzmobiliar und sogenannte Parklets, modulare Elemente aus Holz, die aus Parkplätzen Aufenthaltsraum machen. „Wir haben natürlich auch an die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum gedacht. Wir haben viele Parkbuchten rausgenommen, dort, wo sich Cafés und Restaurants befinden, die Interesse hatten, ihre Außengastronomie dort aufzustellen“, betont Stefan Lüdecke. Begleitet werden die Veränderungsprozesse von einem Forschungsprojekt der Radverkehrsprofessur, die das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur an der Frankfurt University of Applied Sciences fördert. Diese hat Prof. Dr.-Ing. Dennis Knese seit Beginn des letzten Jahres inne. Bei den Nebenstraßen untersuchen die Forschenden, wie sie wirken und wahrgenommen werden. In Zukunft sollen die Forscherinnen dazu die Situation vor der Umgestaltung dokumentieren, um nach den Umbauten Vergleiche ziehen zu können. Dafür sprechen sie auch mit Gewerbetreibenden vor Ort, die vielfach Umsatzeinbußen durch den fernbleibenden Kfz-Verkehr befürchten – trotz gegenläufiger wissenschaftlicher Erkenntnisse aus anderen Orten. Die Stadt unterstützt die Untersuchungen mit Verkehrszählungen, sodass Verkehrsverlagerungen quantifiziert werden. Die Begleitforschung ist auch deshalb notwendig, weil die Maßnahmen zunächst reversibel sein werden, sodass sie wieder zurückgebaut werden können, falls die gewünschten Effekte ausbleiben sollten.

Innenstadt im Mittelpunkt

In der »Fahrradstadt Frankfurt« pa-trouilliert seit 2019 eine zehnköpfige Fahrradstaffel der städtischen Verkehrspolizei, die etwa das Falschparken auf Fahrradwegen kontrolliert. Susanne Neumann, Vorständin des ADFC-Kreisverbands Frankfurt kritisiert deren Fokus auf die Innenstadt. Verschiedene Parteien hätten mehrfach darum gebeten, die Staffel auch in den Außenbezirken einzusetzen. Dieses Ersuchen habe der Verkehrsdezernent abgelehnt, laut Neumann dadurch begründet, dass es den Erfolg in der Innenstadt gefährde.
Der Fokus auf die Innenstadt sei symptomatisch für die Verkehrswende in Frankfurt. Hiervon sei auch das Nahverkehrsangebot betroffen. Neumann wartet auf Verkehrskonzepte für westliche und südliche Stadtteile, die Anfang letzten Jahres in Auftrag gegeben wurden. Sie sollten Ende 2021 vorliegen. „Was da jetzt rausgekommen ist, weiß ich immer noch nicht“, stellt sie ernüchtert fest. Im September soll das Radverkehrskonzept für Frankfurt West zunächst dem Ortsbeirat vorgestellt werden.
Dass in jüngster Zeit dann doch einiges für den Radverkehr getan wurde, bestätigte 2020 der ADFC-Fahrradklimatest. Zumindest im Vergleich zu anderen Städten der gleichen Größe lag die Benotung zu dieser Aussage mit der Schulnote 2,9 knapp eine Note über dem Durchschnitt. Auch die Möglichkeiten zur Fahrradmitnahme im Nahverkehr wurden deutlich besser beurteilt als im Mittel. Insgesamt liegt Frankfurt mit der Note 3,7 unter den Städten mit mehr als einer halben Million Einwohner auf Platz drei.

„Das Fahrrad geht als großer Gewinner aus der Pandemie heraus“

Prof. Dr.-Ing. Dennis Knese,Frankfurt University of Applied Sciences

Universitätsprofessor Dr.-Ing. Dennis Knese (oben) und Susanne Neumann vom ADFC (unten) setzen sich für besseren Radverkehr in Frankfurt ein. Auch privat sind sie gerne mit dem Fahrrad unterwegs.

Viele Ansprechpartner für Radverkehr

Die vergleichsweise guten Ergebnisse beim Radklimatest dürften noch nicht von den relativ neuen Beschlüssen herrühren. Auch vor dem Radentscheid und dem Beschluss zur Fahrradstadt Frankfurt gab es bereits Ambitionen, den Radverkehr in Frankfurt zu fördern. Die Stadt hat dafür 2009 personell aufgestockt und gründete ein eigenes Radfahrbüro. Aus den damals vier Angestellten sind mittlerweile acht geworden. Hinzu kommen Einzelpersonen im Verkehrsdezernat, Straßenverkehrsamt sowie dem Amt für Erschließung und Straßenbau. Überall dort gibt es eigene Ansprechpartner für den Radverkehr, die in engem Austausch miteinander stehen.
Nicht nur städtische Angestellte sind dabei involviert. Der verkehrspolitische Sprecher des ADFC bespricht aktuelle Planungen in monatlichen Treffen mit der Stadt, weitere Details werden auf dem kurzen Dienstweg geklärt. Das Thema Radverkehr scheint in Frankfurts Öffentlichkeit angekommen zu sein. Die Resonanz auf ihr Engagement beim ADFC habe in den letzten Jahren zugenommen, erklärt Neumann.
Auch die Fahrrad-Professur werde wahrgenommen, beobachtet Dennis Knese. Der Uni-Standort Frankfurt spielt in seiner Arbeit natürlich eine große Rolle. „Wir sind sehr eng im Kontakt mit verschiedenen Akteuren in Frankfurt, sei es die Stadt, seien es aber auch Wirtschaftsunternehmen, Verbände und Akteure aus allen möglichen Bereichen.“ Insgesamt zeigt sich Knese mit dem Tempo der Verkehrswende nicht unzufrieden. Gerade im Hinblick auf die Ziele Luftqualität und Klimaschutz müsse es aber noch schneller gehen.

Verbesserte Datenlage

Der Radverkehrsprofessor ist auch an der Erstellung neuer Verkehrsmodelle beteiligt, mit denen die Stadt den Radverkehr grundsätzlicher verstehen will. Es geht dabei um die Frage, warum die Radfahrenden bestimmte Routen und Verkehrsmittel benutzen. Dauerzählstellen von Hessen Mobil stellen massenhaft Daten zur Verfügung. Normalerweise erstellt die Stadt alle zwei Jahre eine Stadtrandzählung, die aufgrund der Pandemie zuletzt ausgesetzt wurde. Die Ergebnisse der letzten Zählung in Zusammenarbeit mit der TU Dresden attestieren Frankfurt eine Steigerung von fast 60 Prozent beim Radverkehrsanteil. Lag dieser 2013 noch bei 12,5 Prozent, waren es 2018 19,8 Prozent.
Gerade die Dynamik im Radverkehrsanteil könnte laut dem Radverkehrsprofessor bestehen bleiben. „Das Fahrrad geht als großer Gewinner aus der Pandemie heraus“, glaubt Knese. Im Hinblick auf eine Zeit nach der Covid-19-Pandemie gaben die Menschen an, häufiger Fahrrad fahren zu wollen.
Auch Lastenräder, so Knese, könnten in Frankfurt am Main eine große Zukunft haben. Die Stadt fördert private Lastenräder ohne oder mit Elektroantrieb mit 500 beziehungsweise 1000 Euro. Die Fördermittel von 200.000 Euro für 2022 waren im Fe-bruar dieses Jahres schnell ausgeschöpft und sollen im nächsten Jahr erneut zur Verfügung stehen. Auch das Leihsystem Main-Lastenrad wird sehr gut genutzt. 16 Lastenräder können im Stadtgebiet kostenlos bis zu drei Mal pro Monat ausgeliehen werden.
Die Stadt erarbeitet zurzeit einen Masterplan Mobilität, der Klarheit in die Entwicklungsrichtung Frankfurts bringen soll. Susanne Neumann hofft, dass das Anrecht aller Menschen auf Mobilität durch diesen wahrnehmbar wird. Für die Zukunft sieht sie, genau wie Dennis Knese, eine reduzierte Regelgeschwindigkeit als geeignetes Mittel, um dieses Ziel voranzutreiben. Die Chancen für Tempo 30 stehen nicht schlecht, sollten die Städte den Ermessensspielraum erhalten. Der Initiative Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten, die diesen Spielraum einfordert, hat sich Frankfurt längst angeschlossen.
Dass die Menschen in Frankfurt aktive Mobilität nicht generell scheuen, beweist auch der hohe Fußgängeranteil am Modal Split. Etwa ein Drittel ihrer Strecken legen die Frankfur-ter*innen zu Fuß zurück. Die Studie Mobilität in Deutschland stellte 2017 für keine untersuchte Stadt einen höheren Wert fest. Hierbei dürften die kurzen Wege, Frankfurt ist auf einer kleinen Grundfläche gebaut und das ganze Zentrum ist relativ gut zu Fuß erreichbar, ihre Stärken ausspielen.

„Unsere größte Herausforderung als Stadt Frankfurt ist ja, tagtäglich mit den Pendlerinnen und Pendlern zurechtzukommen“

Stefan Lüdecke, Referent des Dezernenten für Mobilität & Leiter der Stabsstelle Radverkehr

Frankfurt ist Pendlerstadt

Was für den Fußverkehr förderlich ist, sorgt für Probleme für die Vielzahl an Menschen, die aus der dicht gestrickten Metropolregionen täglich ihren Weg ins Zentrum finden müssen. „Unsere größte Herausforderung als Stadt Frankfurt ist ja, tagtäglich mit den Pendlerinnen und Pendlern zurechtzukommen“, erklärt Stefan Lüdecke ein. Das bestimmt dann manchmal, ob man Platz für eine Fahrradspur wegnehmen kann oder nicht. „Ich hoffe, dass das mit dem Homeoffice auch weiter so bleiben wird, dass wir nicht wieder zu diesen ganz hohen Zahlen kommen werden und dass vielleicht auch Leute aus der Region auf das Rad umsteigen werden.“
Der Pendelverkehr sorgt außerdem dafür, dass die vielen zusätzlichen Autos den eigentlich guten Modal Split verwässern. In diesem wird nämlich nur die Wohnbevölkerung erfasst. Um dem Problem zu begegnen, bräuchte es einen Ausbau der Park-and-Ride-Parkplätze in den außerhalb gelegenen Kommunen. Außerdem könnte ein Radschnellwegenetz helfen, das sternförmig in das Frankfurter Umland führt. Neun solcher Routen wurden bereits geplant und sind, zumindest außerhalb des Frankfurter Stadtgebiets, auch schon teilweise im Bau. Weitere sternförmige Verbindungen ins Umland sieht Lüdecke als Großprojekt der nächsten Jahre. Auch am Radschnellwegenetz lässt sich Kritik üben. Dessen Trassenführung laufe teilweise mitten durch Ortschaften hindurch, anstatt an diesen vorbeizuführen, so Susanne Neumann.

Das privat geführte Fahrradparkhaus am Bahnhof ist fast leer. Seit die Werkstatt im Eingangsbereich geschlossen wurde, ist es noch einfacher, dort Fahrräder zu entwenden.

Problemzone Bahnhof

Neumann erkennt in der Stadt weitere Herausforderungen, etwa in der Bahnhofsregion. „Der Bahnhof ist ein absolutes Lowlight für Frankfurter Radfahrende, ganz einfach, weil es da null Radinfrastruktur gibt.“ Die Radfahrerinnen sind gezwungen, im 50 km/h schnellen Autoverkehr mitzuschwimmen, obwohl es sich auch für sie um eine Hauptverkehrsachse handelt. Ausbaufähig ist auch die Abstellsituation, eine wichtige Voraussetzung für intermodale Reiseketten. Es gibt zwar eine Fahrradebene im Untergeschoss eines privat geführten Autoparkhauses, dieses ist allerdings nicht ausgeschildert. Zudem wird eine der Hauptfunktionen sicherer Abstellanlagen – die Sicherheit – nicht erfüllt. Es gibt keine Überwachungsfunktion bis auf ein kleines Drehkreuz. Neumann berichtet von Fällen, wo dieses einfach übersprungen und Fahrräder entwendet wurden. Der private Betreiber hatte zunächst eine Fahrradwerkstatt im Eingangsbereich betrieben, die aber eingestellt wurde. Hinzu kommt der Omnibus-Verkehr, der die Anfahrt erschwert. Pläne für ein Fahrradparkhaus auf der gegenüberliegenden Bahnhofsseite sind unlängst geplatzt. Probleme wie diese sorgen für Unmut. Damit Planungsprozesse transparent und verständlich sind, führt die Stadt Partizipationsverfahren durch. Gegenseitiges Verständnis bringen die verschiedenen Verkehrsgruppen in Frankfurt nicht immer füreinander auf, zum Beispiel in den Chats dieser Online-Veranstaltungen. „Klar gab es auch gute und sachliche Kommentare, aber teilweise wird die Debatte eben sehr emotional geführt und wenig nüchtern“, ordnet Knese ein. Ein Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lässt noch tiefer blicken. Darin berichtet die Autorin, wie ein Stadtteilpolitiker im traditionell eher konservativen Westend sich für den Umbau einer Straße einsetzte und dafür beschimpft wurde und Morddrohungen erhielt. Solche Widerstände zeigen, dass die Verkehrswende in Frankfurt nicht unumstößlich ist. Das aktuelle Tempo der Maßnahmen und die jüngere Geschichte des Radentscheides sorgen unterm Strich aber für viel Hoffnung, dass sich die Perspektive der Frankfurterinnen vom Autoverkehr wegbewegt. So ist es auch bei Dennis Knese. „Es setzt sich immer stärker auch der Gedanke durch, dass man mit attraktiven Alternativen und der Reduzierung des motorisierten Verkehrs gerade in den Städten eben auch eine bessere Lebensqualität hervorrufen kann.“
Ein Erlebnis, von dem Susanne Neumann berichtet, zeigt, wie einzelne Maßnahmen das gegenseitige Verständnis steigern können. Ein Taxifahrer, mit dem Neumann für einen Beitrag des Hessischen Rundfunks zusammengebracht wurde, schätzt die Bedeutung der roten Radwegmarkierung für sie völlig unerwartet ein. „Wenn ich einen rot eingefärbten Radweg hab, da darf ich mich als Taxifahrer nicht draufstellen. Aber bei allen anderen darf ich das“, soll er gesagt haben.


Bilder: Sebastian Gengenbach, Radentscheid Frankfurt, Dennis Knese, Torsten Willner

Fahrradhersteller mit verkehrspolitischem Engagement sind eher noch die Ausnahme als die Regel. Doch es gibt sie, wie unter anderem der Spezialrad-Anbieter Hase Bikes beweist. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Es ist nicht so, dass Unternehmen der Fahrradbranche generell verkehrspolitisch desinteressiert wären. Das beweist allein schon die große Zahl an Marktteilnehmern, die sich im Zweirad-Industrie-Verband engagieren, der nicht zuletzt, seit der ehemalige ADFC-Frontmann Burkhard Stork dort das Ruder übernommen hat, deutlich verkehrspolitischer geworden ist. Oder sie sind Mitglied im Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF), der 2019 ursprünglich vor allem als Verband der Dienstleister im Fahrradmarkt gegründet wurde und inzwischen ein breites Themenfeld etwa von der Förderung von Cargobikes über die Digitalisierung der Mobilität bis hin zur multimodalen Verkehrsmittelnutzung bearbeitet.
Manche Unternehmen gehen noch einen großen Schritt weiter und werden selbst zum Bindeglied zwischen Zweiradwirtschaft und Verkehrspolitik. Vor allem vor Ort, also im eigenen regionalen Umfeld, können Unternehmen politisch und gesellschaftlich viel bewegen, das zeigen Unternehmen wie Hase Bikes.
„Mein Ding war das schon immer – Alltagsverkehr mit dem Fahrrad“, sagt Kirsten Hase, Marketingchefin des Spezialrad-Herstellers Hase Bikes. „Und ich habe mich schon als Azubi beim Weg in die Arbeit gefragt, ‚warum hört dieser Radweg hier einfach auf?‘ oder ‚warum sind diese Radwege so kaputt? Und wie kann ich etwas dagegen machen?‘“
„Wir haben schon früh damit angefangen, die Leute nicht nur für unsere Räder, sondern für das Fahrrad im Alltagsverkehr ganz allgemein zu sensibilisieren“, so Hase. Ein publikumswirksames Projekt war 2011 „3 Wochen – 3 Klimax“: Drei Personen wurde für drei Wochen ein „Klimax 5K“ des Unternehmens zur Verfügung gestellt. Das ist ein einfach zu handhabendes S-Pedelec auf drei Rädern mit umfangreichem Regenschutz. Als „Tauschpfand“ nahm Hase Bikes den Autoschlüssel in Verwahr. Eine der Testimonials war die damalige Bürgermeisterin von Waltrop, Anne Heck-Guthe. Leider litt damals wie heute die Praxistauglichkeit von S-Pedelecs unter der fehlenden In-frastruktur für diese Fahrzeuge, sicher ein Grund dafür, dass die Bürgermeisterin doch einige Male auf ihr Dienstauto zurückgriff.
Ein ähnliches Konzept stand hinter „Pino statt PKW“. Der Fokus stand diesmal auf dem wandelbaren Tandem Pino aus gleichem Haus. Bei diesem Fahrradmodell sitzt der Passagier oder die Passagierin in einem Liegesitz vor dem Fahrenden und tritt nach vorne. Mit wenigen Handgriffen und einer großen Ladetasche ist das Rad aber auch als Lastenrad einsetzbar. 2021 sollten fünf Waltroper das Pino für drei Wochen gegen das eigene Auto ersetzten und damit dokumentieren, dass ein Auto weder für die Kita-Fahrt noch für den großen Einkauf gebraucht wird. „Es gab jede Menge Bewerbungen, fünf wurden ausgewählt“, erinnert sich Hase. Natürlich wurden die Erfahrungen dokumentiert und das ganze Konzept auch in Pressemeldungen verbreitet. Wichtig bei solchen Aktionen: der Vorher-Nachher-Effekt. Zu welchen Ergebnissen kommen die Testimonials? Und wie offen wird kommuniziert? Bei dieser Tauschaktion jedenfalls konnte ein Gastronom unter den Testimonials erklären, dass er praktisch alle Freizeit- und Alltagsfahrten begeistert mit dem Rad erledigt hatte. Lediglich beim Großeinkauf für seinen Betrieb kam das Packvolumen des Rads doch an seine Grenzen. Dass auch diese Einschränkung dokumentiert wird, ist wichtig für die Glaubwürdigkeit und letztendlich den Erfolg eines solchen Projekts.
Eine Vortrags- und Mitmachveranstaltung plant Hase in Kürze mit Lucy Saunders, die mit Healthy Streets eine Initiative für menschenfreundliche Innenstädte ins Leben gerufen hat. „Ich bin in der Veloplan auf die Verkehrs- und Gesundheitsaktivistin gestoßen, und dachte mir: ‚Die ist klasse.‘“ Und so will Hase die Frau, die sich derzeit um die verkehrspolitische Lage in London kümmert, für einen öffentlichen Workshop nach Waltrop einladen. Kontakte sind geknüpft, das Konzept wird noch ausgearbeitet. Vielleicht wird das Event mit der bekannten Aktivistin parallel zu einem Händler-Workshop stattfinden, sodass auch diese Hase-Partner davon profitieren. „Viele unserer Händler und Händlerinnen sind fahrradpolitisch sehr engagiert.“ So nutzt man den Heimvorteil auch: Platz ist vorhanden, dank neuer Produktionshalle jetzt auch wettergeschützt, und auch hier zählen die vielen Erfahrungen, die man schon mit der Durchführung von Events gemacht hat.

„Wir haben schon früh damit angefangen, die Leute nicht nur für unsere Räder, sondern für das Fahrrad im Alltagsverkehr ganz allgemein zu sensibilisieren“

Kirsten Hase, Marketingchefin des Spezialrad-Herstellers Hase Bikes

Klassiker Fahrraddemo

Kirsten Hase und ihr Ehemann, Firmengründer Marec Hase, fanden auch mit den Grünen in ihrer Stadt einen Veranstaltungspartner. „Die Partei ist sehr offen für Aktionen, die den regionalen Radverkehr stützen und auf fehlende oder marode Infrastruktur aufmerksam machen“, sagt Kirsten Kase. „Und wir standen den Grünen politisch schon immer nahe.“ So führte man in diesem und im letzten Jahr vor Ort bereits zwei Fahrraddemos gemeinsam durch, die auf fehlende und schadhafte Fahrrad-Infrastruktur hinwiesen. Dabei hat Hase Bikes weitgehend die Organisation übernommen. „Die Grünen stecken in so vielen anderen Dinge, dass sie froh sind, wenn die Orga über uns läuft. Für uns ist das keine so große Sache“, sagt Kristen Hase, die mit ihrem Marketingteam schon viele Events ans Laufen gebracht hat. Mit der Partei ist ein politisch zugkräftiger Partner an Bord, der potenziell Teilnehmenden demonstriert: Es geht hier nicht einfach um eine Werbeveranstaltung eines Unternehmens. Dass die auffälligen Spezialräder der Waltroper im Demo-Konvoi besonderes Interesse erregen und Fragen provozieren, ist natürlich trotzdem schön für den Veranstalter.


Bilder: Hase Bikes – Matthias Erfmann, Georg Bleicher