E-Scooter leisten einen größeren Beitrag zur Verkehrswende, als ihr Ruf es erahnen lässt. Dennoch ziehen sie viel Kritik auf sich und schüren Konflikte. Um diesen zu begegnen, gibt es diverse Stellschrauben, für Politik, Verwaltung und die Anbieter selbst. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


„Städte machtlos gegen urbane Seuche“ – worum mag es in dem so betitelten Artikel in einer deutschen Tageszeitung gehen? Um einen Pest-ausbruch im Mittelalter? Um einen Abgesang auf den letzten fragwürdigen Modetrend? Falsch, es geht um E-Scooter. Das Beispiel mag extrem sein. Doch in der journalistischen Berichterstattung und der öffentlichen Wahrnehmung zu der jungen Mikromobilitätslösung findet sich viel Kritik. Die elektrisch unterstützten Tretroller dürfen seit mittlerweile vier Jahren deutsche Straßen und Fahrradwege befahren. Die Branche ist also weder alteingesessen noch ganz unerfahren.
Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) haben Ende des vergangenen Jahres einen Praxisleitfaden entwickelt, in dem es um kommunale Steuerungsmöglichkeiten und die Nutzung der E-Scooter geht. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Konflikten.

E-Scooter sollten nach Möglichkeit auf speziellen Abstellflächen stehen. Wer sie auf dem Gehweg parkt, sollte das so platzsparend wie möglich tun.

Problem oder Lösung?

Aber zunächst mal zum Positiven: Fast ein Viertel der Sharing-Scooter-Fahrten ergänzt Fahrten mit dem Öffentlichen Nahverkehr. Elf Prozent ersetzen Fahrten mit dem Auto. Fast 30 Millionen Autofahrten unter zwei Kilometer und noch mal rund 30 Millionen Autofahrten unter fünf Kilometer tätigen die Deutschen jeden Tag. Die reale Auswirkung der Scooter-Fahrten ist also schon jetzt präsent. Das Potenzial ist riesig.
Real ist aber auch das Konfliktpotenzial, das die Scooter im derzeitigen Verkehrssystem bergen. Jeder sechste Zufußgehende gab im Leitfaden von Difu und DLR an, bereits über geparkte E-Tretroller gefallen oder gestolpert zu sein. Geparkte E-Scooter verursachen mitunter mehr Konflikte als solche, die gerade gefahren werden. Besonders groß ist das Problem für blinde und eingeschränkt sehende Menschen. Von den Befragten aus dieser Gruppe gaben 97 Prozent an, schon mal einen Konflikt in Zusammenhang mit einem E-Scooter erlebt zu haben. 68 Prozent bestätigten, bereits mit einem geparkten Fahrzeug zusammengestoßen zu sein oder über ein solches gestürzt zu sein. Gegenüber der Gesamtgruppe der Zufußgehenden war dieser Anteil vier Mal so hoch. Für diese Gruppe ist das Problem so groß, dass der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) versucht, mit Musterklagen durchzusetzen, dass die E-Tretroller nur noch auf ausgewiesenen und abgegrenzten Abstellflächen abgestellt werden. Diese sollen kontrastreich markiert und per Blindenstock ertastbar sein. Ein besonderes Problem sind rücksichtlos abgestellte oder liegende E-Scooter aber nicht nur für blinde und sehbehinderte Menschen. Auch Rollstuhlfahrerinnen, Eltern mit Kinderwagen und älteren Menschen können sie ein Hindernis sein. Interessant ist, dass die Probleme eher mit Sharing-Scootern als -Fahrrädern verbunden werden. „E-Scooter sind immer noch ein Hot-Topic“, sagt Patrick Grundmann. Er ist Pressesprecher bei Tier Mobility. Der Ton sei allerdings negativer geworden, was Grundmann zum Teil berechtigt und zum Teil übertrieben findet. „Ich bekomme jeden Tag kritische Anfragen zum Thema E-Scooter, aber nie zu unseren Fahrrädern.“ Tier Mobility hatte im November 2021 den Sharing-Anbieter Nextbike übernommen. Mit Blick auf das Fahrverhalten gibt es zwischen den Nutzerinnen von E-Tretrollern und Fahrrädern keinen Unterschied, attestiert das Difu in der zuvor erwähnten Veröffentlichung. Auch Fahrräder gibt es in manchen Städten im Free-Floating-, also stationslosen Ausleihsystem.
Bei den E-Scootern geht viel Verdruss von umgefallenen Rollern aus. Patrick Hoenninger von der Stadt Duisburg gibt für diese etwas zu bedenken: „Die besonders störenden liegenden Roller fallen nicht von selbst oder witterungsbedingt um, sondern werden von Menschen bewusst umgestoßen.“
In der Stadt Duisburg sind derzeit drei Anbieter mit insgesamt 2200 Rollern aktiv. Zwei von ihnen reduzieren ihre Flotten im Winter. Seit dem ersten Marktauftritt eines Anbieters vor rund drei Jahren sind rund 100 Beschwerden bei der Stadt eingegangen. Nicht nur geparkte E-Scooter verursachen diese. „Bürgerseitig wird neben dem Abstellen auch das Befahren nicht zulässiger Bereiche kritisiert, vor allem in der City-Fußgängerzone.“

„Wir haben kein Interesse daran, dass ein Scooter im Weg steht, und tun bereits eine Menge, um falschem Parkverhalten vorzubeugen. Die öffentliche Aufmerksamkeit auf dem Thema kann aus unserer Sicht nur helfen. Ich würde mir eine konstruktive Debatte um die Raumnutzung in den Städten wünschen.“

Sonya Herrmann, Voi Technology

Raum anbieten und sensibilisieren

Das rechtswidrige Fahren in Bereichen, die für den Fußverkehr bestimmt sind, betrifft auch Bürgersteige. Was passieren muss, damit die E-Scooter-Nutzerinnen nicht mehr auf diesen fahren, ist aber vergleichsweise eindeutig. Eine Zählung in der Stadt Portland im US-Bundesstaat Oregon ergab 2019, dass 39 Prozent der Menschen den Bürgersteig nutzten, wenn es keine Radinfrastruktur gab. Existierte ein Radfahrstreifen, fiel der Wert auf 21 Prozent und war dieser sogar geschützt, schrumpfte der Anteil auf 8 Prozent. In Fahrradstraßen nutzte niemand den Fußweg. Die restlichen Nutzerinnen, die trotz guter Radinfrastruktur auf dem Fußweg verbleiben, gilt es durch Sensibilisierung und Information abzuholen. Das weiß auch das Team des Anbieters Voi. Unter ridelikevoila.com bietet das Unternehmen eine Online-Fahrschule an, in der Verkehrsregeln aufgefrischt werden. Außerdem lernen die Nutzerinnen, wie richtiges Abstellen und Fahren funktioniert. Für die Fahrschule hat Voi sich Feedback von der Deutschen Verkehrswacht und der Aktion Mensch eingeholt. Zudem ist sie incentiviert. Das heißt, Nutzerinnen, die eins der fünf Fahrschulkapitel bearbeiten, bekommen Credits im Wert von einem Euro gutgeschrieben. Voi ist auch an der Kampagne „Rollen ohne Risiko“ des deutschen Verkehrssicherheitsrats beteiligt. „Wir haben kein Interesse daran, dass ein Scooter im Weg steht, und tun bereits eine Menge, um falschem Parkverhalten vorzubeugen“, sagt Sonya Herrmann. Sie arbeitet im Public Policy Management beim Sharing-Anbieter Voi Technology.
Auch Medienberichte und Diskussionen helfen dabei, die Menschen für einen guten Umgang mit den Scootern und dem öffentlichen Raum zu sensibilisieren. „Die öffentliche Aufmerksamkeit auf dem Thema kann aus unserer Sicht nur helfen. Ich würde mir eine konstruktive Debatte um die Raumnutzung in den Städten wünschen“, so Herrmann. Öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt die Firma mitunter auch selbst. In britischen Städten, in denen der Anbieter aktiv ist, bietet er zum Beispiel Fahrsicherheitstrainings an. Wenn eine neue Stadt anvisiert wird, sucht das Voi-Team den Austausch mit den Bürgerinnen. Vor allem auch Menschen, die keine Nutzerinnen sind oder sein werden, wollen sie einbinden.

Straßenraum aktiv aufteilen

Eng mit den städtischen Verwaltungen zusammenzuarbeiten, sei sehr wichtig, so Herrmann. „Wir gehen von Anfang an in einen offenen Dialog mit unseren Partnerstädten. Dass auf einmal Scooter über Nacht auftauchen, das gibt es bei uns nicht.“ In Berlin etwa funktioniere die Zusammenarbeit sehr gut. Mit Mitarbeiter*innen von der Berliner Mobilitäts-App Jelbi unternimmt Voi Ortsbegehungen, um Stellplätze zu identifizieren. Solche Kooperationen sind beidseitig vorteilhaft. Die große Datenbasis, mit der die Anbieter arbeiten, kann in Infrastrukturvorschlägen Verwendung finden.
Auch das Difu und das DLR appellieren in ihrem Leitfaden an die Städte. Sie sollen den Straßenraum aktiv gerechter aufteilen. Außerdem gehören die neuen Verkehrsmittel in verkehrspolitische Strategien integriert. Schließlich können sie zu wichtigen Zielen der Stadtentwicklung beitragen. „Das Problem ist, dass für E-Scooter immer noch kein Platz zur Verfügung steht“, bemängelt Patrick Grundmann von Tier. Doch der Austausch ist da und wird immer intensiver. Sogenannte Regional-Manager verwalten die Parkverbotszonen, welche die Städte aussprechen. Diese werden kontinuierlich angepasst. „In den meisten Städten ist es so, dass wir von der Stadt eine Parkfläche zugewiesen bekommen und dann x Tage Zeit haben, die in unserer App zu integrieren“, so Grundmann. Um die Parkflächen herum ist dann die sogenannte No-Parking-Zone. Auch temporäre Anpassungen sind möglich. Während des Karnevals im Rheinland konnten etwa ganze Bezirke ausgesetzt oder Parkverbotszonen erweitert werden.

Für blinde und seheingeschränkte Menschen sind falsch abgestellte E-Scooter ein besonderes Problem. In einer nicht repräsentativen Umfrage gaben 97 Prozent der Befragten in dieser Gruppe an, schon mal einen Konflikt in Zusammenhang mit einem E-Scooter erlebt zu haben.

Uneinheitliche Rechtspraxis

Insgesamt gehen die Städte mit dem jungen Mobilitätsangebot sehr unterschiedlich um. Einen speziellen Weg geht die Stadt Leipzig. Diese lässt E-Scooter-Verleihsysteme nur auf stationsbasierten Abstellzonen an ÖPNV-Haltestellen und Mobilitätsstationen zu. Gegenüber dem Anbieter Tier wurden mehr Parkflächen in Aussicht gestellt, die aber nur sehr langsam umgesetzt wurden. Zusätzlich gab es eine Maximalzahl an Scootern, die auf jeder Abstellfläche stehen durften. „Dadurch ist es eigentlich nie dazu gekommen, dass es sich da wirklich entwickelt, obwohl Leipzig zu den zehn größten Städten Deutschlands zählt“, meint Patrick Grundmann.
Berlin und Düsseldorf setzen auf viele Ständer, andere Verwaltungen tun sich damit schwer. „Manche Städte sagen: ‚Die Scooter dulden wir so gerade noch, aber jetzt noch Abstellmöglichkeiten zu schaffen, das sehen wir nicht‘“, beschreibt Sonya Herrmann die gegensätzliche Herangehensweise. „Diese Haltung ist problematisch, weil die bestehenden Flächenkonflikte damit nicht gelöst werden.“
Im Leitfaden des Difu und des DLR sind verschiedene Strategien verglichen worden. Als die E-Scooter aufkamen, hatten einige Städte mit den Anbietern relativ schnell freiwillige Selbstverpflichtungsvereinbarungen erarbeitet. Andere Kommunen, heißt es in der Veröffentlichung, ließen sich mit der Regulierung mehr Zeit, agieren dafür jetzt umso strenger. Die Selbstverpflichtungsvereinbarungen haben sich nicht bewährt.
Dass die Städte so verschieden mit den E-Scootern umgehen, liegt auch an rechtlichen Ungenauigkeiten. Allgemein stellt sich die Frage, ob die Tretroller als erlaubnisfreier Gemeingebrauch einzuordnen sind oder ob sie als Sondernutzung laufen und damit genehmigungspflichtig sind. Derzeit plane die Mehrzahl der Kommunen, nicht weiter auf freiwillige Selbstverpflichtungen oder Kooperationsvereinbarungen zu setzen, sondern öffentlich-rechtliche Verträge mit Sondernutzung einzuführen. Sind die Scooter als Sondernutzung eingeordnet, können die Städte Gebühren erheben und bestimmte Nutzungsregeln vertraglich festlegen. Die Gebühren sollen die Städte etwa für den Aufwand entschädigen, den sie betreiben, um die Einhaltung der Regeln zu überprüfen.
Bei dieser Praxis zeigen sich starke Unterschiede, vor allem bei der Höhe der Gebühren. In Solingen müssen die Anbieter 10 Euro pro Fahrzeug und Jahr zahlen, in Münster sind es 50. Köln verlangt in den Außenbezirken 85 und in der Innenstadt 130 Euro. Die Stadt möchte damit die Fahrzeuganzahl indirekt begrenzen.
Eine Sonderform ist die Sondernutzungserlaubnis mit Auswahlverfahren. „Das ist ein Trend, den wir sehen und den wir auch begrüßen“, so Sonya Herrmann, die die Kölner Gebührenordnung hingegen eher kritisch betrachtet. Über diese Ausschreibungsverfahren können Städte über die straßenrechtlichen Belange hinaus Einfluss nehmen. Es ist zum Beispiel möglich, die Anzahl der Fahrzeuge oder Anbieter zu begrenzen oder auch ökologische Auswahlkriterien und Sozialstandards zur Bedingung für die Sondernutzung zu machen.
Hinsichtlich des Stellplatzproblems kommen das Difu und das DLR zu einer bemerkenswerten Einschätzung. Lediglich eine der untersuchten Städte habe eine zufriedenstellende Lösung gefunden. In Paris gibt es ein festes System an Abstellflächen in geringen Abständen zueinander. Im Einklang mit dem Praxisleitfaden empfiehlt Patrick Grundmann von Tier, Zweirad-Parkflächen an Kreuzungen zu installieren. „Es würde ja ein Stellplatz an jeder Straßenecke reichen, dann wissen die Leute, dass sie nur bis zur nächsten Ecke fahren müssen und können da ihren Scooter oder ihr Fahrrad abstellen.“ Ein weiterer Vorteil bestünde darin, dass Verkehrsteilnehmerinnen besser über die niedrigen Verkehrsmittel hinwegsehen könnten und einander an Kreuzungen früher wahrnehmen. Als Faustregel empfehlen die Autorinnen des Praxisleitfadens, dass die Stellflächen in zwei bis drei Minuten zu Fuß erreichbar sein sollten.

E-Tretroller in Städten – Nutzung, Konflikte und kommunale Handlungsmöglichkeiten

Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) untersuchten für diesen Praxisleitfaden, wie E-Scooter bisher typischerweise genutzt werden und welche Konflikte im Zusammenhang mit ihnen auftreten. Der Leitfaden wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr erarbeitet und mit Mitteln des Nationalen Radverkehrsplans gefördert. Die Autor*innen erläutert, wie Verwaltungen das Thema steuern und Gestaltungsspielräume nutzen können.
Die Veröffentlichung steht unter folgendem Link zum Download bereit: www.difu.de/17572

Technischer Spielraum

Als weitere Stellschraube, um Konflikten vorzubeugen, wirkt die Technik der Roller. Über die GPS-Ortung lassen sich bereits weitgehend präzise Parkverbotszonen einrichten. „Von der Alarmanlage bis zum Geofencing haben wir verschiedene technische Lösungen, die verhindern, dass Scooter zur Barriere werden“, meint Sonya Herrmann. Auch hier wiederum gibt es regulatorischen Spielraum. In Großbritannien und der Schweiz sei Geofencing normal. Durch diese Technik kann zum Beispiel das Tempo gedrosselt werden, wenn Nutzerin-nen widerrechtlich in eine Fußgängerzone hineinfahren. In Deutschland wird das als Eingriff in die Autonomie der Fahrerinnen gewertet. Es bräuchte also eine Entscheidung auf Bundesebene.
Zukünftige Roller- und App-Generationen dürften immer besser darin werden, potenzielle Konfliktsituationen zu vermeiden. Wer einen E-Scooter parkt, muss schon jetzt meist ein Foto oder Video der Umgebung mit dem Smartphone aufnehmen. Noch in diesem Jahr möchte Tier eine Innovation vorstellen. Derzeit testet der Anbieter Sensoren in den Scootern, die zeigen sollen, ob diese liegen oder stehen.
Auch wenn derartige Lösungen noch nicht das Problem lösen, so zeigen sie dennoch, dass es erkannt wurde. In einem Punkt scheinen sich die Anbieter von Sharing-Scootern aber einig zu sein. E-Scooter als Sündenbock für das Problem der Flächenkonkurrenz zu opfern, das funktioniere nicht. Diese Debatte, so nimmt Grundmann es wahr, erhält immer mehr Aufwind. Die Debatte um die Platzproblematik im öffentlichen Raum hat zugenommen und wird dadurch ganz anders geführt als 2019, als wir gestartet sind.“ Faktisch betrachtet passen auf einen Kfz-Parkplatz mindestens zwölf E-Scooter. Für diese Form der Mikromobilität keinen Platz schaffen zu können, dürfte also kaum ein haltbares Argument sein. „In Deutschland wird oft mit zweierlei Maß gemessen: Der Scooter schafft ein Platzproblem, während die unzähligen Autos in der Innenstadt übersehen werden.“ E-Scooter und die damit verbundenen Konflikte müssten als Teil einer größeren Debatte betrachtet werden. Sie als urbane Seuche zu verunglimpfen, hilft nicht.


Bilder: stock.adobe.com – fottoo, Tier Mobility, Voi Technology, DIfU – DLR

Die Generation Z denkt ökologisch – und handelt pragmatisch. Flexibel, schnell und bequem soll ein Verkehrsmittel sein. Unterschiede im Mobilitätsverhalten sind erkennbar. Aber wie groß sind sie wirklich? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Mobilitätsentscheidungen Jugendlicher fallen unterschiedlich aus: abhängig von der speziellen Altersgruppe und der sozialen Lage, von Bildungsgrad, Verkehrsprägung in der Kindheit durch das Elternhaus, Stadt oder Land. Zur aktuellen Generation Z (Gen Z), den sogenannten Post-Millennials, gehören junge Menschen, die zwischen 1997 und 2012 geboren sind. In diversen Studien werden manchmal frühere Jahrgänge angesetzt. Zu den jüngeren Befragungen über das Verkehrsverhalten der Gen Z gehört die „Mobility Zeitgeist“-Studie von 2020. Sie wurde für Ford vom Zukunftsinstitut erstellt.

Für junge Erwachsene verbindet sich Mobilität mit dem Wunsch nach Autonomie. Zugleich werden die kostengünstigeren Verkehrsmittel bevorzugt.

Führerscheinfrage: Weniger Bock auf den Lappen?

Die pauschale Aussage, der Führerschein würde unter jungen Erwachsenen an Bedeutung verlieren, stimmt nur teilweise. Nach der Ford-Studie besitzen in der Gen Z (18 bis 23 Jahre) nur noch 72 Prozent einen Pkw-Führerschein. Zum Vergleich: In der Gen Y (24 bis 39 Jahre) waren es noch 87 Prozent. Das Deutsche Kraftfahrtbundesamt veröffentlicht in seinem Zentralregister (ZFER) jährliche Bestandszahlen auch nach Alterskohorten. Während der Führerscheingesamtbestand bei Menschen bis 17 Jahren von 2013 (270.526) bis 2022 (126.953) rückläufig ist, liegt er unter den 21- bis 24-Jährigen in den letzten Jahren konstant bei knapp 2,6 Millionen. Bei der Interpretation der Zahlen gilt zu beachten: Gleichzeitig sank der Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung. Das Statistische Bundesamt gibt an, dass zum Jahresende 2021 etwa 8,3 Millionen Menschen 15 bis 24 Jahre alt waren. Das entspricht einem Anteil von 10 Prozent an der Gesamtbevölkerung. 2013 lag sie noch bei 10,8 Prozent. Zudem gibt das ZFER keine Auskunft über die Ursache rückläufiger Zahlen bei den Erstanwärter*innen auf den Führerschein. Möglicherweise verfahren jüngere potenziell Berechtigte nach dem Motto „aufgeschoben ist nicht aufgehoben“. Dr. Juliane Stark vom Institut für Verkehrswesen an der Uni Wien sagt für das Nachbarland: „Dass das Führerscheineintrittsalter gestiegen ist, lässt sich signifikant an Zahlen belegen. Für Österreich verschiebt sich der Führerschein von 18,5 auf 20 Jahre.“


Jugendmobilität der Generation Z in Zahlen

10 % (8,3 Millionen) der deutschen Bevölkerung sind 15 bis 24 Jahre alt *

55 % der 14- bis 29-Jährigen in Deutschland sorgen sich um den Klimawandel **

72 % der Gen Z besitzen einen Führerschein ***

87 % der Gen Y besitzen einen Führerschein ***

58 % der Gen Z besitzen ein Auto (Gen Y: 71 Prozent) ***

46 % der jungen Erwachsenen in der Stadt besitzen ein Auto ***

71 % der jungen Erwachsenen auf dem Land besitzen ein Auto ***

32 % leihen sich lieber ein Auto in der Familie ***

29 % suchen lieber nach Mitfahrgelegenheiten ***

04 % nutzen eine Autovermietung oder Carsharing ***

18 % sehen das Auto als Top-Konsumentscheidung ***

30 % präferieren das Reisen als Top-Konsumentscheidung ***

23 % sehen ein Studium im Ausland als Top-Konsumentscheidung ***

22 % verzichten aus Umweltgründen aufs Auto ***

27 % zählen das Fahrrad zu den am häufigsten genutzten Verkehrsmitteln ***

20 % nutzen Sharing-E-Scooter ***

14 % nutzen Sharing-Bikes ***

48 % der 20- bis 29-Jährigen interessieren sich für Pedelcs ****

78 % der 14- bis 29-Jährigen würden auf ausgebauten Radschnellwegen häufiger pendeln ****

70 % wünschen sich bessere Mobilitätsangebote im ländlichen Raum ***

56 % fordern den Ausbau von Radwegen sowie mehr Stellflächen für Fahrräder ***

63 % wünschen sich zukünftig hohe Umweltstandards, Ressourcen- und Klimaschutz ***

61 % wünschen sich die Verbindung von individueller Mobilität und ÖV ***

* Statistisches Bundesamt – 2021, ** Jugend in Deutschland – Sommer 2022, *** Zeitgeist-Studie, **** Fahrradmonitor 2021


Lieber Reisen, Auslandsstudium oder ein Fahrrad

Klar scheint indes: Der Führerscheinerwerb steht bei den jüngsten Anwerbern nicht an erster Stelle. Das mag am Budget liegen. Immerhin kostet ein Führerschein Klasse B mittlerweile bis zu 3500 Euro. Zugleich steigt die Gen Z später in Beruf und Verdienstmöglichkeiten ein als frühere Generationen. So muss der Führerschein hinter anderen Konsumwünschen anstehen. Schon länger wird beobachtet, dass sich die Präferenzen verschieben: „Jung, deutsch, autolos“, brachte vor wenigen Jahren die Deutsche Welle das gesunkene Jugendinteresse am Auto auf den Punkt. Dort sagte der Wirtschaftssoziologe Holger Rust: „In den Wirtschaftswunderjahren war die individuelle Motorisierung so etwas wie das eingelöste Versprechen der Nachkriegsdemokratie. Beruflicher und persönlicher Erfolg zeigten sich in der Wahl des Autos. Über die Jahrzehnte hat das Auto dann als Statussymbol langsam seine Bedeutung verloren.“ Nach Rust zeigen junge Menschen ihre Milieuzugehörigkeit übers Smartphone, ein bestimmtes Fahrrad oder die Einrichtung ihrer Wohnung. Entsprechend die Ergebnisse der Zeitgeist-Studie: Unter den Top-Konsumentscheidungen rangiert das Auto nur bei 18 Prozent. Bevorzugt genannt werden Reisen oder ein Auslandsstudium. Besaßen in der Gen Y noch 71 Prozent ein Auto, sinkt die Zahl innerhalb der nachfolgenden Gen Z auf 58 Prozent.

Mieten statt Besitzen liegt bei der Gen Z voll im Trend: Die flexiblen E-Scooter sind mittlerweile das am häufigste genutzte Sharing-Modell.

Sharing statt Besitz – außer auf dem Land

Der Trend geht also vom Besitz zum Sharing. So leihen sich 32 Prozent ein Auto lieber innerhalb der Familie. 29 Prozent suchen nach Mitfahrgelegenheiten. Lediglich 4 Prozent nutzen eine Autovermietung oder Car-sharing. Dabei fällt auf, dass das Auto dann als Alternative genannt wird, wenn es an der Infrastruktur hapert. Tenor: „Wenn ich schnell mal irgendwo hinkommen muss und öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad zu langsam oder zu umständlich sind.“
Dies betrifft besonders ländliche Verkehrsräume mit infrastruktureller, aber auch tradierter Fixierung auf das Auto, die von Kindheit an geprägt wird. Hinzu kommt ein schlecht ausgebauter öffentlicher Verkehr. Auf einen beachtlichen Unterschied zwischen Stadt und Land verweist die Zeitgeist-Studie auch beim Autobesitz: Demnach geben 46 Prozent der Befragten aus der Gen Z in der Stadt an, ein eigenes Auto zu besitzen. Auf dem Land hingegen sind es noch 71 Prozent.
Mobilitätsforscher Weert Canzler schreibt in einem Beitrag für den Datenreport 2021: „Ein Hinweis auf die sich öffnende Schere zwischen Stadt und Land sowie zwischen Jung und Alt könnte sich in der Entwicklung des Pkw-Besitzes von 2002 bis 2017 zeigen. In allen Regionstypen mit Ausnahme der Metropolen ist in diesem Zeitraum der Pkw-Besitz bezogen auf 1000 Einwohnerinnen und Einwohner gestiegen. Das Wachstum ist in den dörflichen und kleinstädtischen Räumen am stärksten. Ein wichtiger Grund dafür dürften fehlende digital unterstützte intermodale Verkehrsangebote sein.“ Die Ursache für eine Negativspirale: „Wo es keine Bus- und Bahnanbindungen mehr gibt, werden beispielsweise auch keine Mietrad- oder E-Scooter-Angebote installiert, wie man sie in fast allen großen Städten kennt. Das bedeutet zugleich, dass die Abhängigkeit vom Auto weiter steigt.“

Zukunftswünsche der Post-Millennials: Mobilitätslücken auf dem Land und für Pendler*innen schließen, klimafreundliche Fahrzeuge, E-Tanken gratis.

Klimakrise nicht die einzige Sorge

Umgekehrt lädt eine entsprechend entwickelte Infrastruktur auch Jugendliche zur Nutzung klimafreundlicher Verkehrsmittel ein. Die Ford-Studie fragt nach den Verkehrsmitteln, die am häufigsten an einem Tag genutzt werden. Unter den umweltfreundlichen liegt das Zufußgehen mit knapp 60 Prozent an erster Stelle. Es folgen der ÖPNV mit 47 Prozent und das Fahrrad, das von einem knappen Drittel genutzt wird. Unter den Sharing-Modellen stehen E-Scooter mit 20 Prozent an erster Stelle. Leihfahrräder werden von 14 Prozent, Cargo Bikes von 6 Prozent genutzt.
Laut der Trendstudie „Jugend in Deutschland – Sommer 2022” der Jugendforscher Simon Schnetzer und Klaus Hurrelmann sorgen sich 55 Prozent der 14- bis 29-Jährigen in Deutschland um den Klimawandel. Dazu passt, dass 58 Prozent laut Ford-Umfrage ein „ökologisch nachhaltiger, sozial verantwortungsvoller“ Lebens- beziehungsweise Konsumstil wichtig ist. Trotzdem steht unter den fünf häufigsten Gründen, warum die Gen Z kein Auto nutzt, die Klimakrise nicht an erster Stelle. Nur 22 Prozent geben an, aus Umweltgründen aufs Auto zu verzichten. Weitere 13 Prozent sagen, sie verzichten „aus Überzeugung“. Mehr als die Hälfte, 56 Prozent, nutzt stattdessen öffentliche Verkehrsmittel. Rund ein Drittel fährt lieber Fahrrad oder geht zu Fuß. Abschreckend wirken Anschaffung und Unterhalt. Mit 31 Prozent geben ein knappes Drittel an, dass ihnen die Kosten zu hoch sind.
„Jedes Verkehrsmittel hat seine Vor- und Nachteile. Als ,idealʹ wird oft pragmatisch das Verkehrsmittel genannt, das am besten in die derzeitige Lebenssituation der Jugendlichen passt.“ Zu diesem Schluss kommt die Sinus-Jugendstudie, die sich 2016 noch explizit mit der Mobilität von 14- bis 17-Jährigen beschäftigte. Weiter heißt es dort: „Vorteile des Fahrrads sind, dass es (fast) nichts kostet, nicht von einem Fahrplan abhängt und schneller sein kann, da es nicht anfällig für Staus und Streiks ist. Welches Verkehrsmittel am besten ,passtʹ, hängt vom Reisezweck ab.“
Juliane Stark weist darauf hin, dass Flexibilität, Schnelligkeit und Bequemlichkeit eine sehr große Rolle spielen: „Da hat das Fahrrad natürlich einen großen Vorteil.“ Isoliert von individueller Abhängigkeit kann die Motivation zur Verkehrsmittelwahl nicht betrachtet werden. Insbesondere bei den jüngeren Altersgruppen stellt sich die Frage, wie autonom Verkehrsentscheidungen überhaupt getroffen werden können, wenn sie von den Eltern fremdbestimmt sind.

Die Studie fragte nach den 5 am häufigsten genutzten Verkehrsmitteln an einem normalen Tag. In der Grafik fehlt der Favorit: 56 Prozent gehen zu Fuß.

Selbst wenn man die Beifahrer*innen einbezieht, rangiert das Auto nicht mehr unter den Top-Favoriten bei der individuellen Verkehrsmittelwahl.

Gesundheitsfaktor Bewegung

Dabei hat die Verkehrsmittelwahl Auswirkungen auf die Gesundheit junger Menschen. Lediglich ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland erreichen die Bewegungsempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. Untersuchungen zeigen, dass gleichzeitig die Raten von Fettleibigkeit in jungen Altersgruppen steigen. Mehr als 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind übergewichtig. Juliane Stark konstatiert eine zunehmende Institutionalisierung der Jugendorte.
Ebenso wenig außer Acht gelassen werden kann die Verkehrssicherheit Jugendlicher: Häufiger als andere Altersgruppen verunglücken die 18- bis 24-Jährigen mit dem Auto. Das Statistische Bundesamt spricht in diesem Zusammenhang von den sieben risikoreichsten Jahren. Schlüsselt man die Todesopfer im Verkehr 2020 nach Verkehrsbeteiligung auf, verunglückten rund 63,4 Prozent der jungen Erwachsenen als Pkw-Insassen. 23.791 dieser jungen Menschen waren Fahrerinnen und 8.030 Mitfahrerinnen. Unter den Ursachen liegt eine „nicht angepasste Geschwindigkeit“ vorn.

Wünsche für die Zukunft

Die Forscherinnen des Sinus-Fahrradmonitors 2021 fragten die Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen, welche Verkehrsmittel sie in Zukunft gerne häufiger nutzen würden. Die Hälfte der Befragten nannte das Fahrrad und das Pedelec an erster Stelle. Mit Blick auf Veränderungswünsche für die Zukunft sprachen sich in der Ford-Studie 56 Prozent für eine Stärkung des Radverkehrs durch den Ausbau von Radwegen sowie mehr Stellflächen für Fahrräder aus. 45 Prozent teilten die Ansicht, es sollte in den Metropolen mehr autofreie Zonen geben, die mehr Raum für Fahrradfahrende und Fußgängerinnen bieten. Der Fahrradmonitor erkundete auch das Pendelpotenzial durch Radschnellwege unter den 14- bis 29-Jährigen, die das Fahrrad für den Weg zur Schule, Uni oder zu ihrer Ausbildungsstätte nutzen. Im Ergebnis können sich satte 78 Prozent vorstellen, die Strecke mit dem Rad häufiger als bisher zurückzulegen.
Von der Gen Z wird eingefordert, bestehende Mobilitätsdefizite zu schließen. Auf die Frage „Wo ist Ihrer Meinung nach der Bedarf zur Verbesserung der Mobilität am größten?“, antworten 54 Prozent „im ländlichen Raum“, 46 Prozent „beim Pendeln zwischen Umland und Städten“. 30 Prozent sehen Bedarf bei der „Mobilität innerhalb der Stadt“.
Schließlich halten junge Erwachsene die Multimodalität im Sinne einer Vernetzung der Verkehrsmittel für zukunftsfähig. So sprechen sich 56 Prozent für Mobilitätssysteme aus, „die automatisch für eine schnellere, reibungslose Mobilität mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln sorgen“. Die Hälfte wünscht sich Mobilitätsservices, die selbstständig Verkehrsmittel und Mobilitätsoptionen kombinieren, sodass sie problemloser von Haustür zu Haustür unterwegs sein können.

„Von einem altersgerechten Verkehrssystem profitieren am Ende alle“

Interview mit Dr. Juliane Stark, Institut für Verkehrswesen, BOKU Wien

Frau Stark, welche Motivationen haben Jugendliche, klimafreundliche Verkehrsmittel wie das Fahrrad zu nutzen?
Mehr als jeder zweite Jugendliche sagt, die Klimakrise ist das größte Problem, das wir jetzt haben. Daraus leitet sich ein erhöhtes Umweltbewusstsein ab. Aber was bei Jugendlichen nach unseren eigenen Erhebungen bei der Verkehrsmittelwahl eine große Rolle spielt, ist Flexibilität, Schnelligkeit und Bequemlichkeit. Da hat das Fahrrad natürlich seinen großen Vorteil.
Wenn wir Jugendliche betrachten, müssen wir auch immer zurückschauen: Wachse ich im Kindesalter in einer nicht fahrradaffinen Familie auf? Dann entwickelt sich das als Jugendlicher nicht noch mal von alleine anders. Verkehrsverhalten ist ein habitualisiertes Verhalten. Hat man im Kindesalter schon verloren, kommt da nicht mehr viel. Da kann ich erst wieder ran, wenn sich ein Lebensumbruch ergibt. Zum Beispiel, dass sie selbst Kinder bekommen oder einen neuen Job starten und umziehen.

Ist der Führerschein unter jungen Menschen out?
Man muss ein bisschen aufpassen mit der Aussage: Wir haben hier einen Trend, die Zahl der Führerscheinneulinge sinkt, wenn alles nach hinten raus kompensiert wird. Dass das Führerscheineintrittsalter gestiegen ist, lässt sich signifikant an Zahlen belegen. Für Österreich verschiebt sich der Führerschein von 18,5 auf 20 Jahre. Leider schleicht sich der coole Effekt dann aus. Es macht auch einen Unterschied, ob ich in der Stadt bin oder auf dem Land. In der Stadt mache ich den Führerschein später. Hauptsache, ich habe meine Mobilität. Aber wenn junge Erwachsene auf dem Land ihre Ausbildung anfangen, sind sie eher affin für den motorisierten Individualverkehr.

Der E-Scooter scheint in der Altersgruppe besonders beliebt zu sein …
Junge Erwachsene sind viel offener für Sharing-Angebote, dieses Nutzen statt Besitzen. Für die E-Roller und Scooter, die ganze Mi-kromobilität. Auch wenn ich kein großer Fan bin, weil sie sich nicht bewegen, wenn sie da draufstehen: Gleichzeitig ist es ein erweitertes Mobilitätsangebot. Es erhöht ihren Aktionsradius. Sie können selbstständig unterwegs sein. Das ist etwas, was extrem zurückgegangen ist: eigenständige Mobilität. Gerade für die letzte Meile ist das sehr wichtig geworden. Von der U-Bahn nach Hause. Aber die Sharing-Angebote sind auch nicht billig. Für alle Wege den Scooter – das machen Jugendliche deshalb sicher nicht.

Welche Herausforderungen besitzt Jugendmobilität unter Gesundheitsaspekten?
80 Prozent der Jugendlichen erfüllen die WHO-Bewegungsempfehlungen nicht. Heute haben die Heranwachsenden teilweise eine geringere Lebensqualität als ihre Eltern. Dabei spielen verschiedene Trends eine Rolle: Dazu gehört die Verhäuslichung, also eher drinnen zu bleiben. Man spricht auch von der Institutionalisierung der Kindheit. Alles ist durchgetaktet. Es fehlen diese Zwischenverbindungen, die man früher einfach mal zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt hat. Wenn sie nur einen Standort haben, da hingebracht und abgeholt werden, verlieren sie den Bezug zwischen Räumen. Dabei spielt das Smartphone ebenso eine große Rolle. Viele Dinge werden jetzt im Sitzen oder Liegen durchgeführt.

Wie können Jugendliche in der Verkehrsplanung berücksichtigt werden?
In einem Vortrag habe ich kürzlich gesagt: „Jeder Weg ist eigentlich ein Schulweg.“ Denn diese Strecke sollte nicht allein hervorgehoben werden. Wie ich aus eigenen Datenerhebungen beobachtet habe: Der Schulweg wird oft brav zurückgelegt mit dem Umweltverbund. Schüler sind aber sehr viel in ihrer Freizeit unterwegs. Ist das Angebot nicht so flexibel, werden sie oft mit dem Elterntaxi kutschiert. Da sehe ich ein großes Potenzial, die Freizeitwege mit einzubeziehen. Die sollten mehr mit dem Rad zurückgelegt werden.
Wichtig ist es, das Verkehrssystem so zu gestalten, dass es kinder- und jugendfreundlich ist. Dabei spielen drei Punkte eine wesentliche Rolle: Die Verkehrsgeschwindigkeit muss runter. Weiter müssen die Sichtbeziehungen gewährleistet sein. Drittens geht es um die Verkehrsmenge des motorisierten Individualverkehrs.
Dann sollten Verkehrsplaner daran denken, Jugendliche auch an Planungsprozessen zu beteiligen. Weil sie eine relativ große Menge der Bevölkerung bilden und ein Recht darauf haben. Jugendliche wollen auch viel Grün, sie haben einen großen Anspruch auf Aufenthaltsqualität, wo sie herumspazieren oder chillen. Habe ich so ein altersgerechtes Verkehrssystem, profitieren davon am Ende alle.
Mit unseren 12- bis 14-Jährigen haben wir geschaut: Wenn ich bewusstseinsbildende Maßnahmen mache und ihnen sage, wie gesund das ist, wie umweltfreundlich und bequem: „Schau mal, diesen Weg könntest du auf jeden Fall mit dem Fahrrad fahren, dann sind schon die Bewegungsempfehlungen der WHO erfüllt.“ Doch ob das überhaupt etwas bringt? Wenn wir in solche weichen Maßnahmen wie Flyer und Hochglanzbroschüren investieren, dann habe ich das Problem, dass es kaum Evaluierungen dazu gibt. Käme später heraus, dass das nicht so viel bringt? Dann sollte ich besser das Geld nehmen und einen Radweg bauen, damit die Infrastruktur attraktiv ist.

Info:

Ford Mobility Zeitgeist 2020

https://media.ford.com/content/fordmedia/feu/de/de/news/2020/09/30/mobility-zeitgeist–ford-studie-untersucht-die-mobile-generation.html

Fahrrad-Monitor Deutschland 2021

https://bmdv.bund.de/SharedDocs/DE/Anlage/StV/fahrrad-monitor-2021.pdf

Jugend in Deutschland – Trendstudie: Sommer 2022

Bilder: iStock – RossHelen, Grafiken: Zukunftsinstitut GmbH, Ford-Werke GmbH 2020, Juliane Stark

Radfahren wird im politischen und gesellschaftlichen Kontext vor allem als verkehrstechnische Chance und Herausforderung behandelt. Das Potenzial des Fahrrads zur Eindämmung vieler Volkskrankheiten wird hingegen in der öffentlichen Diskussion seltener beachtet. Daran ist auch das Ressortdenken in Politik und Verwaltung mitschuldig. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Das von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlene Mindestmaß an Bewegung liegt bei 150 Minuten intensiver Bewegung bei gleichzeitig zweimaligem Krafttraining pro Woche. In Deutschland erreichen nur 20 % der erwachsenen Bevölkerung dieses Ziel im Alltag. Bei Kindern und Jugendlichen sieht es kaum besser aus. Schon vor der Covid-19-Pandemie bewegten sich zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen nicht genug. Seit 2020 hat sich die Situation noch verschärft: Im vergangenen Jahr stellten verschiedene Studien fest, dass sich die Hälfte der Kinder noch weniger bewegt als vor der Pandemie, 25 % essen mehr Süßigkeiten, jedes sechste Kind leidet unter Gewichtszunahme.
Welche Konsequenzen die Bewegungsarmut der nachwachsenden Generationen für die Zukunft der Gesellschaft haben wird, ist in der Gesamtheit bisher kaum abzuschätzen. Aktuelle Studien zu den geschätzten Folgekosten oder zum volkswirtschaftlichen Nutzen von Sport und Bewegung im Allgemeinen gibt es kaum. Der „Global Status Report on Physical Activity“ der WHO von 2022 geht jedoch davon aus, dass in der aktuellen Dekade weltweit 500 Millionen Menschen unter Zivilisationskrankheiten leiden werden. Dabei geht die WHO von Folgekosten in Höhe von 27 Mrd. US-Dollar für die Behandlung unter anderem von Herz-Kreislauf-Leiden, Adipositas und Diabetes aus, welche hauptsächlich für die entwickelten Industrieländer anfallen werden. Wissenschaftler*innen mahnen schon seit Jahren, dass es eines Paradigmenwechsels hin zu mehr Bewegung bedarf.

Dienstrad-Leasing schafft nicht nur zusätzliche Anreize für Arbeitnehmer*innen, sondern zahlt positiv auch unmittelbar auf die Krankheitstage der Beschäftigen ein.

Politik und Bewegung

Verkehrspolitik sei bislang sehr technisch geprägt, sagt die Bundestagsabgeordnete Swantje Michaelsen. Die Grünen-Politikerin ist Co-Vorsitzende des Parlamentskreises Fahrrad im Bundestag und Mitglied des Verkehrsausschusses. Das Fahrrad als Querschnittsthema habe es schwer in einem von Ressortdenken geprägten System. Die engen festgelegten Zuständigkeiten erschweren eine ressortübergreifende Zusammenarbeit. Dies sehe sie auch im Gesundheitsbereich, in dem wiederum das Thema Alltagsmobilität zu kurz käme. Um in diesem politischen Koordinatensystem systemische Veränderungen zu initiieren, bedürfe es einer enormen Anstrengung. Auf Initiative einiger fahrradaffiner Gesundheitspolitiker*innen wird nun die nächste Sitzung des überparteilichen Parlamentskreises zu dem Thema „Fahrrad und Gesundheit“ ausgerichtet. Anzeichen für ein Umdenken also. Offenbar auch seitens des Bundesministers für Gesundheit – zugesagt hat auch Sabine Dittmar, parlamentarische Staatssekretärin des Ministers.

Die Sportwissenschaftlerin Susanne Tittlbach hat zusammen mit Kollegen ermittelt, dass ein per Rad zurückgelegter Arbeitsweg das Gesamtmortalitätsrisiko im Vergleich zum Gehen um mehr als das Doppelte reduziert.

Fahrradfahren als Beitrag zum Kampf gegen Bewegungsarmut

In einem demnächst erscheinenden Artikel haben sich die wissenschaftler*innen Professorin Susanne Tittlbach, Dr. Julia Lohmann und Professor Peter Kuhn mit dem Thema „Bewegung, Gesundheit und Nachhaltigkeit“ auseinandergesetzt. Sie beschäftigen sich auch mit dem Thema Fahrradmobilität als Verknüpfung von Bewegung, Gesundheit und Nachhaltigkeit. In der mit dem Fahrrad praktizierten aktiven Mobilität sehen sie eine große Chance für die Bekämpfung von Bewegungsarmut.
Sowohl aus der Perspektive der Public Health als auch der Global Health könne man auf eine Reihe positiver Faktoren verweisen. Auch wenn das Radfahren im Alltag das Krafttraining als einen Teil der WHO-Bewegungsempfehlungen nicht ersetzen kann, wäre der Aspekt der ausdauerorientierten Aktivität der WHO-Bewegungsempfehlung über die Woche allein über die Arbeitswege erreichbar, wenn an fünf Tagen ein je 15-minütiger Hin- und Rückweg zur Arbeit aktiv mit dem Rad zurückgelegt würde.
„Ein per Rad zurückgelegter Arbeitsweg senkt das Gesamtmortalitätsrisiko um mehr als das Doppelte im Vergleich zum Gehen. Zusätzlich sind weitere Präventionseffekte möglich, beispielsweise auf Diabetes- oder Krebsrisiko, auf welches ausschließliches Gehen im Alltag keine signifikanten Effekte aufweisen konnte“, heißt es in dem zuvor erwähnten Artikel. Infrastrukturelle Voraussetzungen für einen Arbeitsweg per Fahrrad zu verbessern, lohnt sich also auch aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Hinzu kommt der positive Einfluss auf die mentale Gesundheit. Laut Tittlbach, Lohmann und Kuhn zeigen sich in den wenigen vorhandenen Studien dazu „positive Assoziationen von aktiver Mobilität mit mentaler Gesundheit, kognitiven Fähigkeiten und geringer wahrgenommenem Stress“. Dies können Fahrradfahrende leicht aus eigener Erfahrung bestätigen. Mit dem Rad ließen sich also die gesellschaftlichen Folgekosten von Bewegungsarmut buchstäblich „runterfahren“.

Initiativen wie die Aktion Fahrrad wollen das Fahrrad an den Schulen nicht nur als Verkehrsmittel, sondern auch als Sportgerät stärker verankern.

Das Fahrrad in der Bildung

„Bildungspolitik ist die beste Sozialpolitik. Sie ist auch die beste Wirtschaftspolitik, die beste Klimaschutzpolitik“, sagte die Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) Jutta Allmendinger jüngst im Interview. Ebenso wie Gesundheitspolitik, könnte man ergänzen. Doch gerade im Bildungsbereich hat Bewegung in Form des Sportunterrichtes eine schwache Position. Schulen haben zum Teil keine benutzbare Sporthalle, oft wird der Unterricht von fachfremden Lehrerinnen ausgeübt. Es verwundert kaum, dass sich das im gesundheitlichen Status von Kindern und Jugendlichen niederschlägt. Die Active Healthy Kids Global Alliance, eine internationale Vereinigung von Wissenschaftlerinnen, hat in der Global Matrix 4.0 den Status der körperlichen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen untersucht und konnte trotz relativ guter Voraussetzungen hinsichtlich der Rahmenbedingungen hierzulande nur die Note 4 vergeben.
Verkehrsverbände wie der VCD und der ADFC und auch einige Krankenkassen haben sich auf die Förderung aktiver Mobilität auf dem Schulweg der Kinder konzentriert. Diesen mit dem Fahrrad zu erfahren, verringert nicht nur die durch Elterntaxis verursachten Autounfälle. Positive Gesundheitswirkungen sind auch im physischen und psychosozialen Bereich nachweisbar, etwa im Hinblick auf körperliche Fitness, der kognitiven Leistungsfähigkeit und dem Sozialverhalten. Signifikant ist auch die damit einhergehende Abnahme von Verkehrsunfällen und verunfallten Kindern in der Nähe von Schulen.
Man könnte jedoch mit dem Fahrrad auch direkt in die Schule vordringen: Eine Integration des Fahrrades in den Sportunterricht würde gesundheitspolitisch ebenso wie verkehrstechnisch positive Effekte haben. Radfahren als Kulturtechnik ist ebenso wie Schwimmen enorm wichtig. Ihm komme für die Ausprägung einer Bewegungskompetenz eine große Bedeutung zu, so Professor Tittlbach im Interview. Doch das Fahrradfahren sei zwar als Wahlfach sehr beliebt, im Sportartenkanon aber nicht obligatorischer Bestandteil der Lehrerinnenausbildung. In Berlin kann man inzwischen an einigen Schulen bereits Radfahren als Abiturfach belegen. Weiteres Potenzial für die Integration des Fahrrades in den schulischen Bereich könnte auch über das Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) erschlossen werden, welches ab 2026 schrittweise rechtskräftig werden wird. In der Umsetzung stellt das Gesetz die Schulbetreiber vor enorme Herausforderungen. Ohne externe Partnerinnen wird eine hochwertige Einbindung von Bewegungskonzepten in den Ganztagsbereich kaum möglich sein. Hier sind zum einen die Radsportverbände gefragt, welche ohnehin über Nachwuchssorgen klagen. Aber auch der VCD könnte hier seine Erfahrung in der Mobilitätsbildungsarbeit einbringen, so Anika Meenken vom VCD. Die dringend nötige personelle Unterstützung könnte aber auch aus der fahrradaffinen Zivilgesellschaft kommen. Je nach geografischer Verortung ist eine Heranführung ans Mountainbike oder ans BMX auch unter dem Aspekt der Ausbildung zukünftiger Olympioniken vielversprechend. Eine Einbindung des Einrades oder von Mannschafts-Ballsportarten wie Radball oder Radpolo könnte auch der Popularität der Radsportarten nutzen. Denkbar ist auch eine Kooperation mit der Fahrradwirtschaft, immerhin ist ein Heranführen von Kindern an das Fahrrad auch für sie nicht unwichtig. E-Scooter und andere relativ neue Formen der Mikromobilität stehen ebenfalls bereit, den Kund*innen von morgen flexible Mobilität zu ermöglichen.

Projekte zur Stärkung des Fahrradfahrens für Kinder und Jugendliche

Das Projekt „Zu Fuß und mit dem Fahrrad zur Schule und zum Kindergarten“ ist eine Mitmachaktion für Kinder, die seit knapp 20 Jahren vom Deutschen Kinderhilfswerk und dem VCD durchgeführt wird. Jeden September werden Schulklassen und Kindergartengruppen zu Aktionen aufgerufen, bei denen sie lernen, den Weg zum Kindergarten oder zur Schule selbst zurückzulegen.

www.zu-fuss-zur-schule.de

„FahrRad! Fürs Klima auf Tour“ ist ein Fahrradkilometer-Wettbewerb für Jugendgruppen. Ziel ist es, gemeinsam möglichst viele Fahrradkilometer zu sammeln. Jeder geradelte Kilometer wird zusammengerechnet und ins Internet übertragen.

www.klima-tour.de

Der VCD Bildungsservice bietet umfangreiche Lehr- und Lernmaterialien rund um das Thema nachhaltige Mobilität vom Kindergarten bis zur Berufs- und Hochschule und für außerschulische Bildungseinrichtungen.

bildungsservice.org

Eine weitere Aktion ist die Kidical Mass, die zweimal jährlich von einem breiten Aktionsbündnis, dem auch ADFC und VCD angehören, organisiert wird.

kinderaufsrad.org

Außerdem gibt es die AKTIONfahrRAD , die gemeinsam mit Partnerinnen aus der Fahrradwirtschaft deutschlandweit (Schul-)Projekte wie beispielsweise die Schoolbikers umsetzt, Schulen Fahrräder zur Verfügung stellt und sich in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen engagiert.

www.aktionfahrrad.de

Gesunde Arbeitnehmer*innen

Schon 2016 belegte eine Studie, wie sehr Radfahrende im ökonomischen Interesse von Arbeitgeberinnen liegen. Menschen, die ihren Arbeitsweg ganzjährig zu Fuß oder mit dem Rad zurücklegen, wiesen durchschnittlich zwei Krankheitstage weniger auf, haben einen niedrigeren BMI-Wert, sind zufriedener und bleiben länger arbeitsfähig. Den Grünen Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar veranlasste diese positive Bilanz zu der Forderung nach einem zusätzlichen Urlaubstag für alle, die regelmäßig mit dem Rad zur Arbeit fahren. Seine Forderung wurde damals auch aus Angst vor einer „Gesundheitspolizei“ abgewiesen. In Anbetracht einer längeren Lebensarbeitszeit und des demografischen Wandels wird das Thema Gesundheit im Arbeitskontext jedoch weiter an Bedeutung gewinnen.
Der Gesetzgeber hat in den letzten Jahren eine Reihe von steuer- und beitragsfreien Zuschüssen zur Gesundheitsförderung von Beschäftigten ins Leben gerufen. Diese Präventionsmaßnahmen und finanziellen Anreize kommen aber der Bewegungsförderung mit dem Fahrrad nicht zugute. Hier wäre ein Inspirationsschub in Richtung Fahrrad für die Politik hilfreich.
Die gängigste Maßnahme, die Arbeitgeberinnen zur Förderung des Fahrrades zur Hand haben, ist das Dienstrad-Leasing. Mit ihm wird betriebliche Mobilität ebenso wie der Verkauf hochwertiger Fahrräder gefördert. Doch nur 4 Prozent der Bevölkerung können bislang von entsprechenden Angeboten profitieren. Betrachtet man es genau, ist ein klarer Objektfokus auf das Fahrrad erkennbar; die Gesundheit der Fahrradfahrenden steht dabei nicht im Mittelpunkt. Wie oft das geleaste Rad am Ende tatsächlich bewegt wird, ist weder für den Gesetzgeber und Arbeitgeberinnen noch für die Fahrradwirtschaft entscheidend. Technisch betrachtet wäre die Erfassung der real gefahrenen Kilometer durchaus machbar und beispielsweise als Grundlage für Boni der Krankenkassen denkbar.

Ein praktischer Blick nach vorn

Für Kommunen ergäbe sich durch die Wertschätzung der bewegungsfördernden Effekte des Fahrrades eine zusätzliche Motivation und Argumentation für den Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur. Auch neue Fördertöpfe ließen sich durch einen Fokus auf den Bereich Gesundheit und Bewegungsförderung bereitstellen oder zielführend abschöpfen. Ebenso sollten strategische Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention Fahrradmobilität mit einbinden. Ein Beispiel hierfür ist der Entwicklungsplan Sport, in dem das Potenzial des Fahrrades unbedingt sichtbar sein sollte.
Die Fahrradwirtschaft hätte die Option, ihren Beitrag zur Bewegungsförderung jenseits des Verkaufens von Fahrrädern auszuweiten. Eine Möglichkeit hierfür wäre etwa eine Verstärkung des kommunalen Engagements, beispielsweise durch Aktionen pro Fahrrad in Schulen und Sportvereinen. Auch ehrenamtliches Engagement, das im Bereich „Sport und Bewegung“ auf eine lange Tradition zurückblicken kann, würde das Fahrrad als Thema stärken und Kinder bewegen. Da in den Kommunen die tatsächliche Förderung von Bewegung und der Ausbau von Radwegen geschieht, lohnt sich hier ein Kulturwandel hin zu einer aktiveren Stärkung des Themas Fahrrad absolut.
Letztendlich muss es darum gehen, die große Gruppe der potenziell Interessierten aber durch die schlechte Infrastruktur vom Radfahren abgehaltenen Menschen zur (häufigeren) Nutzung des Fahrrades zu motivieren. Unter dieser Zielsetzung sind Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und auch kreative Köpfe gefragt. Ein moralischer Zeigefinger wird niemanden auf das Rad bringen; hier braucht es eine gute Story, weiterhin einen interdisziplinären Ansatz, gute Zusammenarbeit der Stakeholder und Geld. Eine Einbeziehung des gesundheitsfördernden Aspektes in die Arbeit pro Fahrrad könnte einen Beitrag für diesen Paradigmenwechsel leisten.


Bilder: stock.adobe.com – Kara, Jobrad, Stefan Dörfler, Aktion Fahrrad, Grafik Quelle: Institut für Generationenforschung

Online-Beteiligung hat gerade durch die Corona-Pandemie viel Aufwind erhalten. In den kommenden Jahren dürften bestehende und neue Methoden ihre Wirkung entfalten und Verwaltungen noch näher mit den Bürger*innen zusammenbringen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Ein Radwegenetz zu entwickeln kann echte Kleinstarbeit sein. Auch wenn dieses Netz instand gehalten werden soll, zeigen sich manchmal viele kleine Schwierigkeiten. Damit ein Radweg im täglichen Leben seine volle Wirkung entfaltet, muss er sich in ein Geflecht aus sozialen Gewohnheiten und baulichen Strukturen einfügen. Diese lassen sich vom planerischen Reißbrett aus nur bedingt überblicken. Umso nützlicher ist es, in der Planung nah an den Bürgerin-nen zu handeln. Bürgerbeteiligungen können Kommunen helfen, dieses Wissen zu heben und daran anzuknüpfen. „Die Radfahrer, die dort jeden Tag langfahren, wissen natürlich genau, wo es hakt“, sagt Christin Pfeffer. „Sie kennen die Schlaglöcher und Stolperstellen und wissen auch genau, wo noch Entwicklungsbedarf bei der Radmobilität besteht.“ Pfeffer ist für die Wer denkt was GmbH tätig. Das Darmstädter Unternehmen bietet unter anderem Partizipationsmaßnahmen an. Die gelebte Expertise der Menschen, die ein Wegenetz tagtäglich nutzen, lässt sich gerade durch bestimmte Online-Werkzeuge gut und niedrigschwellig nutzbar machen. Dazu zählen zum Beispiel sogenannte Mängelmelder. Das sind Online-Plattformen, auf denen Bür-gerinnen einer Stadt auf Mängel im Bestand hinweisen können. Das können etwa Glasscherben oder Schlaglöcher auf einer Strecke sein, die den Weg qualitativ abwerten. Die Lösung mängelmelder.de von Wer denkt was ist auch als App verfügbar. Sie ist nicht nur für den Radverkehr hilfreich, sondern steht den Bürger*innen als allgemeines Sprachrohr zur Verfügung. Auf der Karte lassen sich auch Einträge für illegal entsorgten Müll oder defekte Straßenbeleuchtung erstellen und mit einem Foto und dem genauen Standort des Mangels einreichen. Auf der Website sind Zuständigkeiten für bestimmte Ortsabschnitte oder organisatorische Bereiche hinterlegt. „Niemand muss die Anliegen einzeln sichten und entscheiden, ob für diesen Fall Kollege A, B oder C zuständig ist. Das wird alles im Rahmen der Einführung einer solchen Plattform definiert und im System hinterlegt. So erfolgt die Zuordnung anhand von Kategorie, Ortsposition etc. automatisch und das beschleunigt die internen Abläufe bei der Bearbeitung erheblich“, so Pfeffer.

Kartenbasierte Beteiligungsplattformen erlauben es, schnell Mängel zu erkennen und auf diese zu reagieren. Städte können sie aber auch für neue Planungen einsetzen.

Hinweisen und kommentieren

Mit Dialogplattformen können Städte einen anderen Fokus setzen, denn diese dienen eher dem Austausch. „Die Dialogplattform dient vor allem der Diskussion von Vorhaben oder der Ideensammlung für zukünftige Planungen. Hier geht es also um politische Entscheidungsprozesse. Die Mängelmeldeplattform dient dagegen der unmittelbaren Bearbeitung eines Anliegens und zielt auf direktes Verwaltungshandeln ab. Jede Meldung ist mit einer direkten Aktion in der Verwaltung verbunden. Es werden somit unterschiedliche Ebenen angesprochen. Das ist der große Unterschied“, erklärt Christin Pfeffer.
Auf dieser Art Online-Plattform können die Radfahrerinnen dann einbringen, wo sie schwer einsehbare Stellen wahrnehmen oder wo es immer wieder zu brenzligen Situationen mit Autofahrerinnen kommt. Während ein Mängelmelder meist auf unbestimmte Zeit zur Verfügung steht, ist eine Dialogplattform üblicherweise nur ein paar Wochen oder Monate offen. Nach Ende dieses Beteiligungszeitraums werden die Hinweise und Kommentare ausgewertet. Den Dialog können Planerinnen suchen, um Meinungen zu bereits geplanten Strecken einzuholen. Alternativ ist die Methode auch geeignet, um Meinungen zu sammeln und sie anschließend in ein Konzept zu überführen. Wie erfolgreich eine Beteiligungsphase abläuft, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Pfeffer erzählt von einem Beispiel aus Wuppertal, bei dem in drei Wochen Laufzeit 400 Beiträge und 1700 Bewertungen zustande kamen. Dieses Ergebnis sei relativ gut. Das hänge aber auch damit zusammen, dass Online-Beteiligungen dieser Art in der Stadt kein Novum mehr sind. Die Bürgerinnen kennen die Methode und konnten Vertrauen in das Verfahren entwickeln. Allgemein müssten Beteiligungen einen thematischen Nerv treffen, so Pfeffer. Wenn eine Idee dann doch nicht umgesetzt wird, sollte das ebenfalls erklärt werden. Das beeinflusse dann, wie die nächste Beteiligung läuft.

„Die Radfahrer, die dort jeden Tag langfahren, wissen natürlich genau, wo es hakt. Sie kennen die Schlaglöcher und Stolperstellen und wissen auch genau, wo noch Entwicklungsbedarf bei der Radmobilität besteht.“

Christin Pfeffer, Wer denkt was GmbH

Kommunikation ist Handarbeit

Besonders wichtig ist, dass die Bürgerschaft überhaupt mitbekommt, dass eine Beteiligung stattfindet. Maßnahmen sollten schon im Vorfeld angekündigt werden. Diese Informationen breit zu streuen, bedarf einigen Aufwands, weiß auch Hanna Kasper. Sie ist Geschäftsführerin des Unternehmens Translake GmbH, das sich mit Bürgerbeteiligung befasst. „Das ist auch ein bisschen Handarbeit, dass man das in die Stadtgesellschaft hineinverteilt“, so Kasper. Translake begleitet die Kommunikationsstrategien der Kommunen, die am besten breit aufgestellt sein sollten und viele Kanäle nutzen.
Geeignete Kommunikationswege gibt es viele, darunter Plakate, soziale Medien, Zeitungsbeiträge oder auch Aufkleber auf der Straße. Neben der breit gestreuten Kommunikation an die Bürgerschaft sollten bestimmte Akteure auch direkt angesprochen werden. „Die Stakeholder sind den Planungsorganisationen eigentlich immer schon bekannt“, meint Kasper. Dazu zählen Naturschutzverbände, die Landwirtschaft, Interessensvertretungen wie ADFC und VCD ebenso wie Unternehmen, die an der geplanten Strecke liegen.
Als sehr gelungen wertet Kasper die Beteiligungsprozesse zum Radverkehrsnetz in Tübingen. Dort begleitete Translake die Fortschreibung des bestehenden Radverkehrskonzepts unter anderem mit einer Beteiligungsstrategie und der digitalen Beteiligungskarte Mitmap. Auf dieser konnten Bürger*innen vier Wochen lang Ideen und Vorschläge für Routen, Radabstellplätze und zum Thema Sicherheit in die Planung einbringen. „Wir halten dann die Bürgerinnen und Bürger auf dem Laufenden. Bei einem Hinweis wird der Umsetzungsfortschritt angezeigt. Da reicht ein Zeitungsbericht nicht. Wenn wir die Leute schon dabeihaben, sollten wir sie einbinden.“ In Tübingen kamen dabei rund 3000 Feedbacks zusammen. Jeweils zur Hälfte handelte es sich dabei um Hinweise, zur anderen Hälfte um Kommentare. Besonders gut habe die Stadt Tübingen die Partizipationsformate kommuniziert.

Crowdmapping nutzt das Wissen der Bürger*innen. Diese sind sich nicht immer einig, können sich in den Kommentarspalten zu einzelnen Hinweisen aber austauschen.

Online-Beteiligungen mit einer Auftakveranstaltung zu beginnen, erzeugt einen Spannungsbogen, meint Hannna Kasper. Sie ist Geschäftsführerin des Unternehmens Translake GmbH.

Beteiligungswege kombinieren

Für die Plattformen gab es eine digitale Auftaktveranstaltung, an der rund 100 Bürgerinnen teilnahmen. „Dass man so einen gemeinsamen Auftakt hat, schafft in gewisser Weise einen Spannungsbogen und auch noch mal Aufmerksamkeit in den Medien“, erklärt Hanna Kasper. Auch in den Auftaktveranstaltungen können die Bürgerinnen das Crowdmapping direkt nutzen und die Beiträge sofort sehen. „Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass die Hinweise auf der Karte auch gleich zu sehen sind, weil das motiviert, wenn man sieht, was andere da gedacht haben. Man kann sich auch ein Bild machen, wie unterschiedlich die Perspektiven auf ein Thema sind. Eine leere Karte motiviert nicht zum Mitmachen.“
Dass passive Beteiligungsportale durch solche Begleitveranstaltungen nicht der einzige Partizipationsweg sind, hat gute Gründe. Selbst bei einer gelungenen Kommunikationsstrategie spricht Online-Partizipation Menschen, die nicht digitalaffin sind, einfach nicht an. Gleichzeitig haben Online-Formate ihre eigene Zielgruppe. „Leute in Schichtarbeit oder Familien mit kleinen Kindern, Leute, die man sonst nie bei Beteiligungen bekommt, die erreicht man hier eher“, so Kasper.
Unterschiedliche Formate haben ohnehin ihre spezifischen Eigenschaften. Beteiligungskarten sind zeit- und ortsunabhängig. Dadurch können die von einer Planung betroffenen Menschen sie flexibler nutzen. Eine Veranstaltung hingegen, egal ob online, vor Ort oder hybrid, gibt den Bürgerinnen die Möglichkeit, die Planungsvorhaben mit einem Gesicht zu verbinden. Außerdem können die Verwaltungen dort Input in die Bürgerschaft geben. Für gute Veranstaltungen, insbesondere im digitalen Raum, braucht es kurze, knackige und gut gebriefte Beiträge. Eine Schlüsselrolle komme außerdem der Moderation und dem Zeitmanagement zu. Komplexe Themen sollten die Referentinnen verständlich vermitteln können, so Kasper. Zugute kommt den digitalen Formaten sicher, dass die Abstandsregeln der Corona-Pandemie diese normalisiert und als Katalysator für sie gewirkt haben. „Online-Beteiligung gibt es schon länger. Aber mit dem Start der Pandemie ist das Interesse an digitalen Formaten spürbar angestiegen“, meint Christin Pfeffer.
Dass die Menschen in Zukunft noch digitalaffiner werden, ist ein realistisches Szenario. Neuere, verbesserte technische Möglichkeiten dürften dann auch in der Partizipation Einzug erhalten. Im Kontext des Smart-City-Trends dürften Crowdmappings in Zukunft mehr Daten einbeziehen, schätzt Christin Pfeffer. In den Karten ließe sich dann auch die Luftqualität und Verkehrsflüsse darstellen. Auch die sogenannte Gamification, also der Versuch, Prozesse spielerischer zu gestalten, dürfte vor Beteiligungsprozessen nicht Halt machen. „Ziel ist es, Bürgerinnen und Bürger zu motivieren und insbesondere schwierig zu erreichende Zielgruppen zu aktivieren“, erklärt Pfeffer. In einem Forschungsprojekt der TU Darmstadt, in welches auch die Wer denkt was GmbH eingebunden ist, wird zudem erforscht, wie Künstliche Intelligenz dazu beitragen kann, Sprachbeiträge auf crowd-basierten Plattformen automatisch zu verarbeiten und zu erstellen. Hier gibt es besonders im englischsprachigen Raum große Durchbrüche. Mit der deutschen Sprache scheinen diese noch etwas auf sich warten zu lassen.

„Der digitale Zwilling ist sehr breit aufgestellt. Wir haben begonnen mit dem Thema Mobilität, sind aber auch beim Thema Energie- und Wärmeplanung, Circular Economy und generell Stadtentwicklung und Stadtplanung längst angekommen.“

Markus Mohl, Kompetenzzentrum Digitaler Zwilling

Neben Filmen und einer Web-Anwendung kann die Münchner Kommunalverwaltung den digitalen Zwilling auch einsetzen, um Planungsvorhaben in der virtuellen oder erweiterten Realität zu zeigen.

Der digitale Zwilling ist mehr als ein 3D-Modell. Die Stadt setzt die „digitale Infrastruktur auf dem Weg zu einer klimaneutralen Stadt“ auch in der Planung ein.

Mehr als ein 3D-Modell

In drei deutschen Großstädten wird ein Teil der zukünftigen Entwicklungen bereits heute erprobt. 2021 begann das Pilotprojekt Connected Urban Twins, an dem neben den Städten Leipzig und Hamburg auch München beteiligt ist. Zum Einsatz kommt die Methode eines digitalen Zwillings. Dabei handelt es sich um ein virtuelles Abbild der Stadt, das deutlich über die Funktionen eines 3D-Modells hinausgeht. Der Münchener Projektleiter Markus Mohl erklärt, was dieses Modell besonders macht. „Digitaler Zwilling heißt eben noch viel mehr. Das bedeutet, wir rechnen damit auch Analysen und Simulationen, zum Beispiel Luft-Schadstoff-Modellierungen. Der digitale Zwilling ist sehr breit aufgestellt. Wir haben begonnen mit dem Thema Mobilität, sind aber auch beim Thema Energie- und Wärmeplanung, Circular Economy und generell Stadtentwicklung und Stadtplanung längst angekommen.“ Der Stadtrat sieht den Zwilling als digitale Infrastruktur, die München auf dem Weg zu einer klimaneutralen Stadt begleiten soll. „Wichtig dabei ist, dass der digitale Zwilling nutzerzentriert ist. Das sind natürlich bei der Öffentlichkeitsbeteiligung die Bürgerinnen und Bürger, aber es geht genauso auch um die Fachbereiche in der Verwaltung. Die sollen unterstützt werden, um ihr Vorhaben, das sie präsentieren möchten, besser darstellen zu können und auch besser intern darüber sprechen zu können.“
Bei Beteiligungsverfahren kommt das Modell als Web-Anwendung zum Einsatz. Es können aber auch Filme produziert werden, die zum Beispiel den Bestand und eine geplante Veränderung im Überflug nebeneinanderstellen. Ein Vorteil, so Mohl, ist, dass die gezeigten Bilder realistischer sind als sonstige Visualisierungen. „Es sind keine Pläne von einer Agentur, sondern es sind die Daten, mit denen die Verwaltung tatsächlich arbeitet“, erklärt er.
Der digitale Zwilling erlaubt es der Stadt München, bei der Öffentlichkeitsbeteiligung auch Augmented Reality (AR – erweiterte Realität) und insbesondere Virtual Reality (VR – virtuelle Realität) einzusetzen. Mohl erzählt von einem Beispiel aus dem vergangenen Sommer. „Es gab eine Informationsveranstaltung und wir sind mit VR-Brillen und Tablets rausgegangen und die interessierte Anwohnerschaft konnte die Brillen aufsetzen, sich ein wenig orientieren, wie es jetzt aussieht und dann umschalten, wie so eine Vision aussehen könnte.“ Die neue Technik steigere die Akzeptanz für Baustellen und rege den Austausch an, so Mohl. „Erst mal ist es natürlich auch nur Technik, aber es regt dazu an, darüber zu diskutieren, weil man es auch schnell versteht.“ Weitere Funktionen des digitalen Zwillings sollen in Zukunft ausgerollt werden. Denkbar ist viel, zum Beispiel könnte sich die Berufsfeuerwehr auf dem Weg zum Einsatz schonmal mit der Situation vor Ort vertraut machen. Zunächst scheint das Modell sich positiv auf den Planungsalltag und Beteiligungsprozesse auszuwirken. Bei einem Stadtteilfest im neu entstehenden Münchner Stadtteil Freiham brachten Mohl und seine Kolleg*innen drei VR-Brillen mit. „Die Bürgerinnen und Bürger haben sich bei uns bedankt, weil sie gesagt haben: ‚Okay, jetzt kann ich mir endlich mal vorstellen, was hier alles entsteht, weil ich sehe nur Baustelle“, erklärt Mohl.


Bilder: Stadt Tübingen, griesheim-gestalten.de, Wer denkt was GmbH, Landeshauptstadt München

Die Verkehrserziehung ist seit vielen Jahren ein fester Teil der Schulbildung in Deutschland. Expert*innen kritisieren jedoch den darin enthaltenen Ansatz, den Kindern die Verantwortung für ihre Verkehrssicherheit in die Hände zu legen. Das noch junge Konzept der Mobilitätsbildung setzt deshalb weitergehende Aspekte, wie beispielsweise die Einbindung der Kinderperspektive bei der Verkehrsplanung. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Um die Notwendigkeit einer Verkehrswende in die breite Gesellschaft zu tragen, ist es wichtig, bereits bei den Jüngsten anzusetzen. Das Thema Verkehr ist seit Jahrzehnten in der Grundschule verankert, wurde jedoch lange auf das Erlernen von Regeln und Verhaltensweisen reduziert. Inzwischen haben einige Bundesländer, darunter Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, ein umfassenderes Verständnis entwickelt und sich Mobilitätsbildung auf die Fahnen geschrieben. In Berlin hat es Mobilitätsbildung sogar in das Mobilitätsgesetz geschafft, das 2018 verabschiedet wurde und den Umweltverbund fördern soll. Demnach soll Mobilitätsbildung alle Bewohnerin-nen dazu befähigen „ihre Mobilitätsbedürfnisse sicher, verantwortungsbewusst, selbstbestimmt, stadt-, umwelt- sowie klimaverträglich ausgestalten zu können“. Mobilitätsbildung geht weit darüber hinaus, was herkömmlich unter dem Schlagwort „Verkehrserziehung“ in der Schule behandelt wurde. Dringender Reformbedarf ergibt sich daraus auch für das Kernelement der schulischen Beschäftigung mit Verkehr: die Radfahrausbildung im vierten Schuljahr. Die Radfahrausbildung setzt sich in ganz Deutschland aus einem theoretischen sowie einem praktischen Anteil zusammen. Der Fahrradexperte Dr. Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule bezeichnet die Radfahrausbildung als ein „schulisches Highlight“, dennoch äußern er und weitere Expertinnen Kritik. Sie bemängeln den späten Zeitpunkt, die geringe Fahrpraxis, den Prüfungscharakter und bezeichnen die Ausbildung als wenig kindgerecht.

Ein Radverkehr-Check, wie er im Projekt durchgeführt wurde, könnte als Teil einer umfassenderen Mobilitätsbildung eine neue inhaltliche Dimension bewirken. Die Kinder setzen sich dabei nicht nur mit Verkehrsregeln und Verhaltensweisen
auseinander, sondern auch mit ihren Bedürfnissen und Ideen für eine fahrradfreundliche Kommune.

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen

Höchst problematisch ist zudem der Fokus auf das sichere Verhalten von Kindern, das gilt nicht nur für die Radfahrausbildung, sondern allgemein für die Verkehrssicherheitsarbeit. Von Kindern wird im Straßenverkehr ein Verhalten erwartet, das sie aufgrund ihrer noch nicht ausgereiften motorischen und kognitiven Fähigkeiten gar nicht leisten können. Die Verantwortung für Verkehrssicherheit kann somit nicht in die Hände von Kindern gelegt werden. Das verkehrssichere Kind gibt es nicht, „wohl aber die Möglichkeit, die Verkehrsinfrastruktur so zu gestalten, dass Kinder sowie alle anderen Menschen sich sicher und gerne bewegen können“, betont Oliver Schwedes, Gastprofessor für Integrierte Verkehrsplanung und -politik an der TU Berlin.
Maßnahmen zur Schulwegsicherheit sollen dafür sorgen, dass Kinder sicher und selbstständig zur Schule kommen. Dabei erhält der Radverkehr, vor allem im Grundschulbereich, bislang wenig Aufmerksamkeit. Oft wird angenommen, dass Kinder erst mit Abschluss der Radfahrausbildung in der vierten Klasse das Fahrrad als Transportmittel und nicht nur als Spielgerät nutzen. Teilweise wird ihnen die frühere Nutzung sogar explizit durch die Schulleitung untersagt. Analysen zum Mobilitätsverhalten in Deutschland zeigen, dass elf Prozent der Wege von Kindern im Alter von sechs bis neun Jahren mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. In den Niederlanden sind es hingegen rund ein Drittel – am Alter allein kann es also nicht liegen, dass nicht noch mehr Kinder Fahrrad fahren. Diese Zahlen zeigen, dass wir dringend kinderfreundlichere Radinfrastruktur benötigen. Denn Mobilitätsgewohnheiten werden früh gebildet: Wer schon als Kind das Rad nutzt, wird dies eher auch im Erwachsenenalter tun.
Die Bedürfnisse von Kindern gehen über die Bedürfnisse manch anderer Radfahrender hinaus. Komplexe Handlungsabläufe sind für sie herausfordernder. Verkehrsschilder und -regeln zu erfassen und angemessen darauf zu reagieren, braucht längere Zeit und kann überfordern. Auch die nonverbale Kommunikation, die im Straßenverkehr eine wesentliche Rolle spielt, müssen Kinder erst erlernen. Unvorhergesehene Situationen, wie ein im Weg stehendes Auto, können schnell zu viel sein. Sie eignen sich Verhaltensweisen an, indem sie Routinen in einer vertrauten Umgebung erlernen. Versperrt ein Auto ihren Weg, wissen sie unter Umständen nicht, wie sie mit dieser unerwarteten Situation umgehen sollen. Durch ihre besonderen Bedürfnisse bereitet ihnen zum Beispiel das Fahren im Mischverkehr oder auf Busspuren größere Schwierigkeiten. Stress und Unsicherheit sind die Folge. Hinzu kommt, dass sie durch ihre geringe Körpergröße leichter übersehen werden.
Für Kinder ist deshalb eine sichere, intuitive und fehlertolerante Verkehrsinfrastruktur wichtig. „Radwege müssen gut geschützt und gleichzeitig deutlich erkennbar sein, Kreuzungen übersichtlich gestaltet, Geschwindigkeiten reduziert und Verkehrsregeln klar kommuniziert werden. Sichtbeziehungen spielen eine zentrale Rolle, damit Kinder die Möglichkeit haben, den Verkehr zu überblicken, und von anderen Verkehrsteilnehmenden gesehen werden“, so Oliver Schwedes.

Für viele bedeutet die Fahrradstraße entspanntes Radfahren, doch die Grundschüler*innen sehen auch negative Aspekte. Anstelle der Querungsmöglichkeit, haben sich die Kinder einen Zebrastreifen gewünscht, damit sie sicher über die Straße kommen können. In der Schulumgebung gibt es zudem viele Straßen mit Kopfsteinpflaster.

Kindgerechte Infrastruktur durch Beteiligung

Die Einbindung von Kindern in Planungsprozesse ermöglicht, ihre Bedürfnisse stärker zu beachten. Angeregt durch die Frage, wie Mobilitätsbildung konkret umgesetzt werden kann, führen das Fachgebiet für Integrierte Verkehrsplanung der Technischen Universität Berlin sowie der Arbeitsbereich Sachunterricht und seine Didaktik der Humboldt-Universität zu Berlin seit 2020 gemeinsam ein Forschungs- und Umsetzungsprojekt zum Thema durch. Dabei wurde die Partizipation der Kinder als ein wesentliches Kernelement der Mobilitätsbildung identifiziert.
Um Praktikerinnen eine Methode an die Hand zu geben, Kinder aktiv einzubinden, wurde von den Forscherinnen ein Radverkehr-Check entwickelt. Ziel ist es dabei, die Qualität der Radverkehrsinfrastruktur aus Sicht der Kinder zu bewerten. Projekttage zum Thema Fahrrad an einer Grundschule boten die Chance, das Konzept zu testen. Ausgestattet mit Kamera, Klemmbrett und Zollstock zogen die Kinder los, um die Umgebung der Schule zu untersuchen. Besonders die neu eingerichtete Fahrradstraße direkt vor ihrer Schule erhielt ihre Aufmerksamkeit.
Zuvor gab es dort für den Radverkehr wenig Platz. Sie mussten sich mit einem schmalen Streifen neben dem Gehweg begnügen. Die Umwidmung zur Fahrradstraße wurde von Radfahrenden begrüßt: Endlich geht die Mobilitätswende voran, der Radverkehr wird ernst genommen und ihnen mehr Platz und Sichtbarkeit zugeteilt. Anlieger dürfen die Fahrradstraße weiterhin mit dem Auto befahren, allerdings nur in eine Richtung. Eine Durchfahrtsperre soll den Autoverkehr weiter reduzieren. Auf dem alten Radweg wurden Bäume gepflanzt. Die Viertklässler*innen der anliegenden Grundschule jedoch hatten gemischte Gefühle. Einige sagten, sie mochten den alten Radweg auch gerne. Dort fühlten sie sich geschützter. „Manche Kinder wollen nicht so gerne auf der Straße fahren, weil da immer noch Autos fahren. Die müssen jetzt um die Menschen auf dem Gehweg herumfahren. Da ist aber gar nicht mehr genug Platz dafür, dass man da mit dem Fahrrad fährt“, erklärte ein Mädchen. Mehrmals täglich müssen die Kinder die Straße überqueren, um Schulgebäude auf der anderen Seite zu erreichen. Deshalb hatten sie sich für einen Zebrastreifen eingesetzt. Im Zuge der Umwidmung wurde zwar eine ausgewiesene Querungsmöglichkeit eingerichtet, doch das reicht ihnen nicht. Die Radfahrenden übersehen die Kinder, halten nicht an und das Überqueren der Straße bleibt eine Herausforderung.

„Die Verkehrsinfrastruktur so gestalten, dass Kinder sowie alle anderen Menschen sich sicher und gerne bewegen können“

Prof. Dr. Oliver Schwedes, Technische Universität Berlin

Kinder als Qualitätsmaßstab

Die Gedanken der Kinder zur neuen Fahrradstraße zeigen, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse gehört werden müssen, damit kinderfreundliche Infrastruktur entstehen kann. Die Beteiligung von Kindern in Planungsprozessen stellt auch eine große Chance dar, die Ansprüche weiterer Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen. Eine Einteilung in vier verschiedene Radfahrtypen in Portland/Oregon (USA) hat ergeben, dass etwa zwei Drittel der Befragten zur Gruppe derjenigen gehört, die „interessiert, aber besorgt“ sind. Diese haben grundsätzlich Interesse am Fahrradfahren, würden gerne öfter das Rad nehmen, trauen sich aber nur auf besonders sicheren Radwegen zu fahren. Radfahrinfrastruktur, die die Bedürfnisse von Kindern berücksichtigt, wird auch den hohen Anforderungen dieses Typs gerecht. Kinder können damit der Maßstab für die Qualität der Radverkehrsanlagen sein. Wer Verkehrsinfrastruktur kindgerecht gestaltet, baut somit nicht nur für Kinder, die vermehrt auch im Erwachsenenalter das Fahrrad nutzen, sondern auch für all diejenigen, die sich heute (noch) nicht auf das Fahrrad trauen. Daher können Kinder stellvertretend für die Gruppe der „Interessierten, aber Besorgten“ sprechen, die in Beteiligungsprozessen mitunter schwer zu erreichen sind.
Um die Bedürfnisse von Kindern bei der Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur stärker in den Blick zu nehmen, bietet schulisches Mobilitätsmanagement Raum. Dabei geht es nicht nur um die Verbesserung der Verkehrssicherheit. Ziel schulischen Mobilitätsmanagements ist es auch, nachhaltiges Mobilitätsverhalten zu fördern und motorische, kognitive sowie psycho-soziale Kompetenzen der Kinder zu stärken.
Die Verkehrsplanerin Katalin Saary, die Erfahrungen in der Erarbeitung und Umsetzung von Schulmobilitätsplänen hat, bezeichnet schulisches Mobilitätsmanagement als einen wichtigen Baustein der Verkehrswende. Da Kinder noch nicht Auto fahren können, sind sie auf das Rad, den ÖPNV und das Zufußgehen angewiesen, wenn sie selbstständig unterwegs sein wollen. Das bedeutet, dass Verkehrsplanung, die sich an Kindern orientiert, immer eine Förderung des Umweltverbunds beinhaltet. Als Voraussetzung sieht sie allerdings, dass schulisches Mobilitätsmanagement als Instrument ernst genommen wird: „Damit Kinder selbstständig mobil sein können, muss der öffentliche Raum entsprechend ertüchtigt werden. Wenn die Kommunen sich dieser Aufgabe annehmen, dann wären wir bei der Verkehrswende erfolgreich. Kinder haben keine Alternative als Fuß, Rad und ÖPNV. Das heißt, ich muss eine für sie geeignete Verkehrsinfrastruktur gestalten, das Auto eingrenzen und schaffe so dann auch gleich die Voraussetzungen, dass auch alle anderen sicher unterwegs sein können.“
Planungsbüros werden beim schulischen Mobilitätsmanagement involviert, um sichere Schulwege zu planen, bestehende Konzepte an die Besonderheiten der Schulumgebung anzupassen und umzusetzen. Dieser Rahmen eignet sich gut, um Kinder in die Planung einzubeziehen. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise ein Radverkehr-Check während der Radfahrausbildung, wie er im Forschungsprojekt durchgeführt wurde. Dabei erhält einerseits die Radfahrausbildung eine neue inhaltliche Dimension. Die Kinder setzen sich nicht nur mit Verkehrsregeln und Verhaltensweisen auseinander, sondern auch mit ihren Bedürfnissen und Ideen für eine fahrradfreundliche Kommune. Idealerweise können sie erleben, wie sie durch ihre aktive Mitwirkung ihre Umgebung mitgestalten können. Dadurch kann die Radfahrausbildung im Sinne einer umfassenden Mobilitätsbildung aufgewertet werden. Auf der anderen Seite werden auf der Planungsebene wertvolle Informationen gesammelt, wie die Radinfrastruktur vor Ort gestaltet werden muss, damit sich auch die Schwächsten der Verkehrsteilnehmenden auf das Rad trauen.
Schulisches Mobilitätsmanagement hat in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebt und wird in immer mehr Bundesländern angewandt. Aktuell erarbeiten sowohl Hamburg als auch Berlin neue Konzepte für schulisches Mobilitätsmanagement. In Berlin wurde der Ansatz in das Mobilitätsgesetz aufgenommen. Darin wird hervorgehoben, dass die Perspektiven der Kinder Beachtung finden sollen. Es wird klar: Eine kindgerechte Verkehrsinfrastruktur nimmt einen immer höheren Stellenwert ein. Sie sollte nicht nur als Pflichtprogramm für die Verkehrssicherheit der Kinder gesehen werden, sondern als Chance für qualitativ hochwertige Infrastruktur, die deutlich mehr Menschen als bisher auf das Rad locken kann.

Über das Projekt

Im Forschungsprojekt „Mobilitätsbildung – Entwicklung und Umsetzung von Lehr- und Lernansätzen zur Förderung des Umweltverbundes bei Kindern und Jugendlichen und der Qualifikation von (zukünftigen) Lehrkräften und Erzieherinnen“ der Humboldt-Universität zu Berlin und der Technischen Universität Berlin werden Bildungsmaterialien und Konzepte zum Thema Mobilitätsbildung entwickelt. Außerdem wurden Interviews mit Lehrkräften, Pädagoginnen und verschiedenen Expert*innen geführt. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) aus Mitteln zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans gefördert.

Mehr Informationen finden sich auf dem Forschungsblog:
https://mobild.hypotheses.org/.


Bilder: stock.adobe.com – D. Ott, www.pd-f.de – Luka Gorjup, TU Berlin

Hannover versucht mit einem bunten Strauß an Maßnahmen, den Radverkehr weiter zu stärken. Die Stadt kleckert und klotzt gleichzeitig, ein Selbstläufer ist die Radverkehrsförderung trotzdem nicht. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Hannover ist 2021 von der Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Kommunen Niedersachen/Bremen als fahrradfreundliche Kommune rezertifiziert worden. Auch beim letzten Fahrradklimatest des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs schnitt Hannover in seiner Größenklasse gut ab und belegte den zweiten Platz. Die Gesamtnote von 3,67 legt aber nahe, dass es zu einfach wäre, Hannover vorschnell als reines Positivbeispiel zu sehen. Wer die Verkehrswende-Bestrebungen der niedersächsischen Landeshauptstadt bewerten will, muss etwas genauer hinsehen. Detaillierte Einblicke gibt beispielsweise die Studie Fahrradmonitor. 2021 ließ die Region Hannover eine erweiterte Analyse durchführen, die sehr genau belegt, wie sich der Radverkehr in der Region Hannover vom übrigen Bundesgebiet unterscheidet.
In dieser Analyse fand das verantwortliche Sinus-Institut heraus, dass der Anteil der Verkehrsmittel, die die Menschen der Stadt Hannover mehrmals pro Woche oder täglich nutzen, deutlich zugunsten des Umweltverbundes ausfällt. Mit dem Fahrrad oder Pedelec fahren 62 Prozent der Menschen regelmäßig und damit 7 Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt. Auch der ÖPNV liegt mit 38 Prozent 6 Prozentpunkte über dem Bundesdurchschnitt. Das Auto kommt auf 49 Prozent.
Für die Region ergibt sich ein umgekehrtes Bild, die Menschen fahren mehr Auto als im Bundesdurchschnitt und nutzen Fahrrad und ÖPNV seltener. Das Sicherheitsgefühl ist dennoch insgesamt überdurchschnittlich. 12 Prozent mehr Menschen als auf Bundesebene, nämlich drei Viertel der Befragten, fühlen sich meistens sicher oder sehr sicher beim Fahrradfahren im Straßenverkehr.

Die Raschplatzhochstraße war früher eine von vielen Hochstraßen im autogerecht umgebauten Hannover. Heute ist sie im Zentrum die Letzte ihrer Art.

Viel Veränderung im Jahrhundert

Um nachzuvollziehen, wie Hannover diesen Status quo erreichen konnte, braucht es einen Blick in das vergangene Jahrhundert. Denn bereits vor dem Zweiten Weltkrieg wurde in Hannover traditionell viel Fahrrad gefahren. „Das Fahrrad war in den 20er-/30er Jahren in Hannover das Verkehrsmittel“, meint Eberhard Röhrig-van der Meer, Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs Stadt Hannover (ADFC). Beliebt war und ist das Fahrrad sicher auch, weil die Stadt kaum Erhebungen hat, die es zu überwinden gilt, und relativ kompakt ist.
Das Beispiel Hannover zeigt, wie Entwicklungen vergangener Tage die Kultur einer Stadt prägen und bis in die heutige Zeit fortwirken können. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Hannover zu einer autogerechten Stadt umgeformt. Federführend hat ein Mann den Städtebau in den späten 40ern und 50ern geprägt. Sein Spitzname, erzählte Stadtbaurat Thomas Vielhaber bei der Fahrradkommunalkonferenz: „der Meister der Tangenten“. Die Rede ist von Rudolf Hillebrecht. Er war 1948 Stadtbaurat geworden und baute die Stadt um, indem er Grundbesitzer überzeugte, der Stadt kostenlos einen Teil ihrer Flächen abzutreten. Er ließ historische Gebäude abreißen und gestalte derart um, dass der Spiegel ihm und seiner Arbeit 1959 ein Porträt unter dem Titel „Das Wunder von Hannover“ widmete. Heute gilt seine Planung als Paradebeispiel für das Leitbild der autogerechten Stadt. Viele Zeichen seiner Arbeit sind inzwischen mit hohem Aufwand wieder entfernt worden. Von einigen mehrspurigen Hochstraßen, die den Autos eine freie Fahrt durch die Stadt ermöglichten, soll im Zentrum nur eine, die Raschplatz-Hochstraße, erhalten bleiben.
In den 60ern und 70ern kommen in der autogerechten Stadt zumindest auch Radwege hinzu, auch wenn deren Beschaffenheit nach heutigen Standards überholt ist. „Die allermeisten sind zu schmal und auch zu verschlängelt. Das war nicht der Anspruch damals an Radverkehr. Das war erst mal überhaupt das Angebot, Radverkehr wieder sichtbar zu machen und ihm auch einen eigenen Raum zu geben. Eine Zeit lang fand er ja nur irgendwie am Rande der Fahrbahn statt“, so Röhrig-van der Meer.
Hannover verfügt ohnehin über ein Netz an historisch gewachsenen Routen in Grünzonen, die bis ins Zentrum hineinragen. Zum Beispiel das Waldgebiet Eilenriede, der Stadtwald oder die Herrenhäuser Gärten sind zu Fuß oder mit dem Fahrrad gut nutzbar. Eine Bevölkerungsgruppe, die ab der Mitte des letzten Jahrhunderts viel Fahrrad fährt, sind die Gast-arbeiter*innen. Um mehr Geld in ihre Heimat schicken zu können, greifen sie zu dem kostengünstigen Verkehrsmittel. Weitere Radwege legte die Stadt in einem Zuge mit dem Stadtbahnnetz an. „Das ist dann leider auf diesem Niveau verharrt, bis es vor etwa zehn Jahren wieder etwas weiter nach vorne ging“, urteilt Röhrig-van der Meer.

„Die Verwaltung ist durchaus mutiger geworden in der Planung“

Eberhard Röhrig-van der Meer, Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs Stadt Hannover (ADFC)
Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay, hier bei der Radlogistik-Konferenz im September, gewann die Wahl 2019 auch, weil er eine autofreie Innenstadt fordert.

Verkehrswende ist Politikum

2010 hat der Hannoveraner Stadtrat das Leitbild Radverkehr 2025 beschlossen. Der Radverkehrsanteil am Modal Split soll bis Mitte dieses Jahrzehnts auf 25 Prozent steigen, ausgehend von den damaligen 13 Prozent. Außerdem sollen nur noch halb so viele Leute bei Unfällen schwer verletzt oder getötet werden. 2017 lag der Fahrradanteil schon bei 19 Prozent. „Wir wussten immer schon, dass die letzten Prozentpunkte die Schwierigsten sein werden“, sagt Heiko Efkes, der Radverkehrsbeauftragte der Stadt Hannover.
Seitdem scheint die Verkehrswende immer mehr Fahrt aufzunehmen. Und sie ist zum Politikum geworden. Der amtierende Oberbürgermeister Belit Onay, Bündnis 90/Die Grünen, gewann die Wahl 2019 auch mit der Forderung nach einer autofreien Innenstadt. „Die Wahlergebnisse zum Oberbürgermeister 2019 und die Kommunalwahl 2021 haben sehr deutlich aufgezeigt, dass das Verkehrsthema und die Entlastung der Straßenräume vom Kraftfahrzeugverkehr für viele Menschen ein ganz wichtiges Thema ist. Diese neue Lebensqualität zu definieren, das ist ein Auftrag an den Rat und den Oberbürgermeister“, so Röhrig-van der Meer. Dem Masterplan 2025 habe es zu Beginn zwar noch an konkreten Maßnahmen gefehlt, diese kommen in jüngster Zeit aber vermehrt hinzu.

Großprojekt Velorouten

Besonders wichtig sind die Velorouten, ein Netz aus Radschnellverbindungen. Die Stadt setzt sie um, der ADFC, der sie erdacht hat, ist als „Hüter der Standards“ noch immer involviert. Die Routen müssen mindestens drei Meter breit sein, wenn der Verkehr in zwei Richtungen fließt. Die Ampelschaltungen auf den 13 geplanten Strecken sollen die Pla-nerinnen auf den Radverkehr auslegen. Die ursprüngliche Idee existiert im ADFC bereits seit Anfang der 2000er, seit 2020 ist das Streckennetz vom Rat beschlossene Sache und im Oktober 2021 ist die erste Route eröffnet worden. Die Stadt investiert dafür zehn Millionen Euro, verteilt auf zehn Jahre. Wenn es nach dem Oberbürgermeister geht, wird das Netz noch vor diesem Zeitplan fertig sein. Das Geld der Stadt soll aus verschiedenen Fördertöpfen aufgestockt werden, manchmal passt die Radschnellweg-Förderung, oft ist es das Stadt-Land-Programm. „Von Abschnitt zu Abschnitt muss man immer schauen, welches Förderprogramm dafür gerade am besten passt“, sagt Heiko Efkes. Die Velorouten, ein Ring im Zen-trum und zwölf sternförmige Routen in verschiedene Stadtteile, sind im Uhrzeigersinn durchnummeriert und sollen am Ende ein Netz von 90 Kilometern bieten. Bislang sind sechs Kilometer neu gebaut worden, an einigen Stellen muss die Stadt lediglich neu markieren oder umorganisieren. Drei Velorouten sollen als Radschnellwege die Städte Lehrte, Langenhagen und Garbsen mit der Hannoveraner Innenstadt verbinden. Sie müssen sogar vier Meter breit und asphaltiert sein und möglichst wenige Straßen kreuzen. Die Maßnahme könnte ein entscheidender Schritt in der Radverkehrsförderung werden. 77 Prozent der städtischen Bewohnerinnen und 65 Prozent der Befragten aus der Region, so der Fahrradmonitor, können sich vorstellen, ihre Pendelstrecken öfter als bisher mit dem Fahrrad zurückzulegen, wenn es eine solche Verbindung gäbe.
Die Stadt hat für dieses Projekt zwei neue Stellen im Tiefbauamt geschaffen, die an der genauen Routenplanung arbeiten. Diese Planungen bespricht die Stadt in öffentlichen Veranstaltungen mit der Stadtgesellschaft, insbesondere der betroffenen Stadtbezirke. Am besten funktioniere die Partizipation online, findet Heiko Efkes. „Unser Wunsch als Verwaltung ist es, komplexe Bürger*innenbeteiligungen primär online durchzuführen, weil es viel effektiver ist und man viel mehr Menschen erreichen kann.“ Auch der ADFC unterstützt mit Präsentationen.

„Alles, was Menschen zum Umdenken bringt, eingefahrene Mobilitätsketten bricht und alles, was Multimodalität fördert, ist erst mal gut“

Heiko Efkes,
Radverkehrsbeauftragter der Stadt Hannover

Die Stadt wird mutiger

Für die Velorouten greift die Stadt auch in das Straßenprofil ein und entnimmt Parkflächen. Allein auf den Flächen, wo die Stadt aktuell an fünf Velorouten arbeitet, werden rund 1000 Kfz-Parkplätze verloren gehen. „Die Verwaltung ist durchaus mutiger geworden in der Planung“, sagt Röhrig-van der Meer. Die Ampelschaltungen müssten aber noch fahrradfreundlicher werden. Stellenweise, zum Beispiel auf dem Julius-Tripp-Ring, der um die Stadt herumführt, stellen Induktionsschleifen eine grüne Welle für den Radverkehr her. Solche baulichen Strukturen könnte es in Zukunft öfter geben. Teilweise dürfte aber ein Interessenskonflikt mit dem ÖPNV entstehen, dessen Ampelschaltung auch politische Priorität hat.
Dass das Fahrrad ebenfalls ein wichtiger Politikgegenstand ist, beweisen die gestiegenen Ausgaben für den Radverkehr. Lagen sie 2020 noch bei 5,4 Millionen Euro, waren es 2021 schon 8,5 Millionen und sind es in diesem Jahr sogar 9,2 Millionen Euro. Dieses Geld investiert die Stadt nicht nur in Großprojekte, wie die Velorouten, sondern auch in viele kleinere Maßnahmen. Kopfsteinpflasterstraßen bekommen asphaltierte Fahrspuren, an Ampeln installiert die Stadt Gitter, um die Füße abstellen zu können und damit nicht absteigen zu müssen. Auch wenn die Stadt noch nicht komplett fahrradfreundlich ist, der Radverkehr wird in immer mehr Detailfragen mitgedacht. Drängelgitter, so Efkes, müssten zum Beispiel auch mit Kinderanhängern oder Lastenrädern komfortabel befahrbar sein. Letztere spielen auch im Kontext der Velorouten eine große Rolle, vielleicht auch, weil sich 17 Prozent der Hannoveraner*innen, und damit
5 Prozent mehr als im Bundesdurschnitt, vorstellen können, ein Lastenrad zu erwerben. Auch bei Abstellanlagen denkt die Stadt Cargobikes mit und installiert die entsprechenden Bügel und Straßenschilder.
Von regulären Fahrradbügeln kann die Stadt erst mal scheinbar nicht genug bekommen. Bei einem Programm der Region bot die Landeshauptstadt an, jegliche übrig bleibenden Kontingente an Abstellanlagen zu installieren. 2021 waren das mehr als 750 Bügel. Hausgemeinschaften können außerdem beantragen, ein privates Fahrradhäuschen im öffentlichen Raum abzustellen.

Auch kleine Schritte führen ans Ziel. Die Stadt denkt den Radverkehr immer besser mit und investiert in Abstellanlagen oder Gitter, mit denen Radfahrer*innen sich an Ampeln abstützen können.

Gutes tun und darüber reden

All diese Angebote sollen das Radfahren in Hannover attraktiver machen. Aber für ihre ambitionierten Pläne müsse die Stadt die Menschen noch besser mitnehmen, meint Heiko Efkes. „Es gibt diesen guten alten Spruch ‚Tue Gutes und rede darüber‘. Wir sind in Hannover ganz gut. Wir haben aber irgendwann festgestellt, dass draußen überhaupt gar keiner merkt, was wir hier so machen. Der damalige Stadtbaurat hat gesagt, ihr müsst eigentlich mehr abfeiern, wenn ihr etwas geschaffen habt. Wenn ihr etwas fertig habt, müsst ihr den Leuten sagen, ‚Jetzt ist es fertig, guckt es euch mal an, probiert es mal aus!‘“
Als Plattform für diese Kommunikation entstand das städtische Paket „Lust auf Fahrrad“, um ebendiese Lust mit diversen Aktionen zu erzeugen. Das Team dichtete bereits mit einer A-cappella-Band ein Lied zum Radfahren in Hannover um, installierte Zählstationen für den Radverkehr und bot Fahrrad-Checks an. Lust auf Fahrrad schafft Präsenz für das Verkehrsmittel Fahrrad und begleitet verschiedene Events. Das kann in Form von bewachten Fahrradparkplätzen bei Heimspielen des Fußballvereins geschehen oder indem Lust auf Fahrrad als Motto verkaufsoffener Sonntage fungiert. So wollen die Verantwortlichen dem Fahrrad neue Räume eröffnen. Derartige Aktionen, auch die alle paar Monate stattfindende nächtliche Stadtausfahrt Velo-City-Night, helfen den Hannoveraner*innen, die Stadt mit anderen Augen zu sehen und sich weniger Autoverkehr in der Innenstadt vorzustellen.
Die städtische Verkehrswende kann trotz des autogerechten Stadtumbaus auf vergleichsweise guten Strukturen fußen. Sie scheint eingeleitet, aber ist noch lange nicht am Ende, sondern braucht Anschub. Lust auf Fahrrad soll ihn bringen, genau wie das Veloroutennetz und andere bauliche Anpassungen. Auf längere Sicht wünscht sich der ADFC, dass die Velorouten auch mit einem äußeren Ring und durch Tangenten verbunden werden. Heiko Efkes attestiert der Stadt eine offene Grundhaltung zur Mobilitätswende. „Alles, was Menschen zum Umdenken bringt, eingefahrene Mobilitätsketten bricht und alles, was Multimodalität fördert, ist erst mal gut“, sagt er.


Bilder: Stadt Hannover, Sebastian Gengenbach, Ulrich Pucknat

Große Hitze und Starkregen setzen den Innenstädten zu. Um die Folgen des Klimawandels abzupuffern, müssen Stadtstraßen zukünftig deutlich grüner werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Es sind die Städte, die die Folgen des Klimawandels besonders spüren. Während der Sommermonate ist die Hitze im Zentrum ihr größtes Pro-blem. Die asphaltierten Straßen und die Gebäude heizen sich überproportional stark auf und erwärmen wie riesige Heizkörper die Umgebung bis spät in die Nacht. Zudem führen die hohen Temperaturen zu extremen Regen, der die Abwasserkanäle schnell überlastet und zu Überschwemmungen führt. Verkehrsforscherinnen und -planerinnen sind sich einig: Ein weiter so wie bisher können sich Städte und Gemeinden nicht mehr leisten. Ihre Straßen und Plätze sollten zügig an das veränderte Klima angepasst werden.
Dr. Michael Richter erforscht seit Jahren, wie die klimagerechte Straße aussehen kann. Der Geoökologe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HafenCity Universität (HCU) in Hamburg und Experte für umweltgerechte Stadt- und Infrastrukturplanung. In den vergangenen Jahren hat er mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Rahmen des „BlueGreen-Streets“-Projekts Werkzeuge und Methoden entwickelt, um Städte gezielt abzukühlen. Ein zentraler Hebel ist dabei der Umbau der Straßen. „Im Gegensatz zu vielen Gebäuden gehören die Straßen den Städten. Die Politik und die Verwaltung haben es demnach in der Hand, diese Flächen relativ schnell an die neuen Gegebenheiten anzupassen“, sagt er.
In der Praxis heißt das: auf der Fläche zwischen den Gebäuden ausreichend blaue und grüne Infrastruktur einplanen, also ausreichend Flächen für Wasser, Bäume und Grün anzulegen. „Die zentrale Aufgabe ist, den Wasserkreislauf wieder in Gang zu bringen und über Speichersysteme im Boden das Stadtgrün auch während Trockenperioden mit Wasser zu versorgen“, sagt Richter. Nur wenn das gelingt, können Bäume ihre Aufgabe erfüllen und in den Sommermonaten Wasser verdunsten und die Zentren abkühlen.

„Im Gegensatz zu vielen Gebäuden gehören die Straßen den Städten.“

Dr. Michael Richter, HafenCity Universität Hamburg

Königstraße in Hamburg-Altona: Wo jetzt noch Beton und Asphalt den Eindruck prägen, will die Hansestadt eine „Straße der Zukunft“ errichten.

Blaugrünes Projekt

Einige der Elemente, die Richter mit seinen Kolleginnen und Kollegen entwickelt hat, um Stadtbäume besser mit zu Wasser versorgen, wurden im Rahmen von „BlueGreenStreets“-Projekten bereits in Berlin und Hamburg getestet. Außerdem begleiten die Wissenschaftler den Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG), den Umbau der Königstraße zur „Straße der Zukunft“. Für Hamburg ist das ein Leuchtturmprojekt. Auf der 1,2 Kilometer langen Straße zwischen der Reeperbahn und dem Altonaer Rathaus verknüpft die Hansestadt Klimaschutz und Klimaanpassung mit der Mobilitätswende.
Es ist ein Umdenken in großem Stil. Die Flächen für die Alltagsmobilität sollen dort in den kommenden Monaten grundlegend neu verteilt werden. Geplant ist, die zwei äußersten Fahrstreifen der vierspurigen Straße jeweils zu 2,5 Meter breiten Protected Bikelanes umzubauen und die Gehwege auf 2,65 m zu verbreitern. Zusätzlich werden mehr Grünstreifen angelegt und 47 zusätzliche Bäume gepflanzt. Sie sollen der Straße Allee-charakter verleihen und Grünanla-gen miteinander verbinden, die noch von der Königstraße zerschnitten werden.
Damit sich die Bedingungen für Radfahrende bereits vorher verbessern, wurden 2021 76 Parkplätze am Fahrbahnrand provisorisch entfernt und mit Farbe zu Radwegen markiert. Fahrspuren können relativ schnell mit Farbe, Poller, Baustellenbaken oder Fahrbahnschwellen in alltagstaugliche Radspuren verwandelt werden. Bei Grünanlagen ist das deutlich schwieriger. Trotzdem lohnen sich laut Richter auch hier provisorische Lösungen.
„Pop-up-Lösungen schaffen sofort Entlastung für Anwohnende, Radfahrer und Fußgänger und überbrücken die Zeit bis zum Umbau“, sagt er. Das zeigt das Beispiel vom Jungfernstieg in Hamburg. Der breite Prachtboulevard mit Blick auf die Alsterfontäne wurde 2020 für den privaten Autoverkehr provisorisch gesperrt. Seitdem teilen sich Radfahrer*innen dort die Fahrbahn mit Bussen und Taxis. In der Mitte der vier Fahrspuren wurden Pflanzkübel für Bäume und Blumen aufgestellt sowie Stadtmöbel zum Verweilen. Seitdem überqueren die Menschen entspannt die Straße und nutzen den gewonnenen Raum. Wird der Zeitplan eingehalten, rücken im kommenden Sommer die Baufahrzeuge an. Dann wird die Breite der Fahrbahn baulich reduziert und an der Wasserseite eine vierte Baumreihe angelegt.
Neue Bäume zu pflanzen oder großzügige Grünanlagen anzulegen, funktioniert in der Regel nur beim Sanieren von Straßen oder im Neubau. Selbst dann ist das Pflanzen von Bäumen laut Richter oft schwierig. Das liegt am Erdreich. Der Untergrund ist in Innenstädten stark verdichtet. Unter der Fahrbahn verläuft eine Vielzahl von Kabeln und Rohren für Gas, Strom, Telekommunikation und vieles mehr. Am Jungfernstieg befindet sich außerdem der Zugang zu einer U- und S-Bahnhaltestelle. Neue Bäume zu pflanzen, ist hier eine Herausforderung. Neben dem Platz im Erdreich für ihre Wurzeln fehlt den Bäumen obendrein oft das Wasser.
Wie in vielen anderen Städten war auch in Hamburg lange die Vorgabe: Regenwasser soll schnellstmöglich in die Kanalisation geleitet werden. In der Königstraße soll dieser Prozess nun rückgängig gemacht werden. „Entscheidend ist, dass wir den Wasserkreislauf wieder in Gang bringen“, sagt Uwe Florin, Mitarbeiter der Abteilung „Grün“ beim Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG). Mit Mitarbeitern des „BlueGreenStreets“-Projekts will die LSBG verschiedene neue Systeme testen, um die entsiegelten Flächen zu bepflanzen und zu bewässern. Das saubere Niederschlagswasser von den öffentlichen Flächen wird in der Königstraße direkt zu den Bäumen oder in die Grünflächen geleitet, damit es dort versickern kann. Das entlastet bei Starkregen das Siel und reduziert das Risiko von Überschwemmungen.
Für die Bäume werden außerdem sogenannte Baumrigolen angelegt. Ihr Markenzeichen ist, dass ihre Pflanzmulden größer sind als die herkömmlicher Stadtbäume. Das gilt für die unversiegelte Oberfläche wie für die Pflanzmulde. Zudem leiten die verwendeten Materialien, wie Kies und andere Substrate, das Regenwasser entweder direkt ins Grundwasser und ins umliegende Erdreich oder sie speichern es wie ein Schwamm, um es nach und nach ins umliegende Erdreich abzugeben. Auf diese Weise sollen Bäume Hitzeperioden besser überstehen und an heißen Tagen die Umgebung kühlen.

Vorher, nachher: Der Sankt-Kjelds-Platz in Kopenhagen ist nach dreijähriger Umbauphase kaum wiederzuerkennen.

Bäume machen einen Unterschied

Mehr Bäume sind entscheidend, um das Stadtklima zu verbessern. Sie sind natürliche Klimaanlagen. Ihr Blätterdach hält die Sonnenstrahlen ab und beim Verdunsten von Wasser kühlen sie ihre Umgebung. „Im Idealfall senkt ein ausgewachsener Baum die Temperatur seiner Umgebungsluft um etwa fünf Grad“, sagt Florin. Das steigert die Aufenthaltsqualität und macht Radfahren oder Zufußgehen selbst an heißen Tagen erträglich.
„Wir versuchen blue-green, also mehr Wasser und Grün, inzwischen bei jeder Straßenbaumaßnahme in Hamburg umzusetzen, und es gelingt uns sehr häufig“, sagt Professorin Dr. Gabriele Gönnert, die bei der LSBG den Fachbereich Hydrologie und Wasserwirtschaft leitet. Aber die Flächenkonkurrenz ist groß – auf der Straße wie im Untergrund.
Torsten Perner kennt das aus seinem Alltag. Er ist Verkehrsplaner bei Ramboll, einem international tätigen Beratungsunternehmen, das auch im Bereich Stadt- und Verkehrsplanung tätig ist. „Die verschiedenen Behörden, die Industrie, die Wirtschaftskammer, Umweltverbände und viele andere ringen bei der Planung um jeden halben Meter Straßenraum“, sagt er. Um die Straßen jetzt fit für die Zukunft zu machen und ausreichend Platz für Grünanlagen und für den Rad- und Fußverkehr unterzubringen, sei ein Umdenken bei der Stadt- und Verkehrsplanung notwendig. „Wir müssen die Straße neu denken“, sagt er, „sie ist mehr als Verkehr auf 20 bis 40 Meter Breite.“ Gut gestaltet werde sie zum attraktiven Aufenthaltsraum mit verschiedenen Funktionen, den die Menschen gerne passieren.

Der Steindamm zählt nicht unbedingt zu Hamburgs schönsten Straßen. Dass bei der Umgestaltung der Straße kaum Parkplätze entfernt wurden, ändert daran wenig.

Umdenken nach Milliardenschaden

Wie das aussehen kann, macht Kopenhagen vor. Die dänische Hauptstadt war zwischen 2010 und 2014 dreimal von Starkregen und Überflutungen betroffen. Der stärkste Wolkenbruch im Juli 2011 überflutete Straßen und Keller und verursachte Schäden von fast einer Milliarde Euro. Daraufhin hat die Stadtverwaltung mit dem Kopenhagener Ver- und Entsorgungsbetrieb 2012 den Sky-brudsplan (Wolkenbruchplan) beschlossen. Dieser legt fest, wie die Stadt zukünftig vor Überschwemmungen geschützt werden soll. 300 Projekte wurden innerhalb von drei Jahren identifiziert, die in den nächsten 20 Jahren schrittweise umgesetzt werden, um die Stadt zur Schwammstadt umzubauen.
Dazu gehören der Sankt-Kjelds-Platz und die angrenzende Straße Bryggervangen im Stadtteil Osterbro. Etwa 25 Prozent der Fläche des Platzes und der Straße wurden entsiegelt und zu einem grünen Regenwasserschutzgebiet umgewandelt. Der Boden ist dafür teilweise abgesenkt worden und es wurden 586 neue Bäume gepflanzt. Bei Starkregen kann sich das Wasser in den Vertiefungen sammeln und langsam versickern.
Wer sich die Vorher-Nachher-Bilder anschaut, erkennt die Umgebung rund um den Platz und die Straße Bryggervangen nach dreijähriger Umbauphase kaum wieder. Wo früher der Boden versiegelt war und Autos parkten, laufen heute Passanten auf verwinkelten Wegen zwischen Bäumen und Büschen zur Arbeit, zum Einkauf oder zum Parkhaus. Zahlreiche begrünte Ecken und Nischen mit und ohne Sitzgelegenheiten laden die Anwohner*innen dazu ein, Zeit draußen zu verbringen.
Der Sankt-Kjelds-Platz und die Bryggervangen Straße wurden komplett neu strukturiert. Um Ähnliches in Deutschland zu realisieren, müssten nach den Ramboll-Experten alle Beteiligten Abstriche machen. Stets mit dem Ziel vor Augen, die Straße fit für den Klimawandel zu machen. „Dazu gehört, dass Radfahrer sich mit schmaleren Wegen zufriedengeben, wenn die Straße zu schmal ist“, sagt Perner. Im Gegenzug drosseln Autofahrer ihr Tempo auf 30 km/h, damit Radfahrer sicher unterwegs sind. Das funktioniert momentan jedoch nur in der Theorie. In der Praxis dürfen laut Straßenverkehrsordnung die Verkehrsplaner Tempo 30 nur in Ausnahmefällen anwenden.
Ein schnelles Mittel, um mehr Grün in die Straßen zu bringen, ist laut Perner auch der Umbau von Parkplätzen an Hauptverkehrsstraßen. „Mit dem gezielten Abbau dieser Parkplätze kann schnell viel Fläche für Grün geschaffen werden“, sagt Perner. Für ihn ist das überfällig. Aber viele Städte tun sich damit schwer. Auch Hamburg. Beim Umbau der Hauptstraße Steindamm wurden von den 132 Parkplätzen beispielsweise nur 31 entfernt.
„Bisher ist die Klimaanpassung eine freiwillige Aufgabe von Kommunen“, sagt Richter. Er fordert einen zentralen Klimaanpassungsplan, der bundesweit gültig ist. „Nur so schaffen wir es, schnell von der Phase der Pilotprojekte zur Standardanwendung in der Praxis zu kommen“, sagt er. Die Zeit drängt. Das hat der Sommer 2022 gezeigt.

Zukunft Schwammstadt

Für etliche Stadtplanerinnen und Verkehrsforscherinnen ist die Schwammstadt eine Lösung, um die Städte an die Folgen des Klimawandels anzupassen. Wenn es regnet, sollen die Grünflächen so viel Wasser aufnehmen und speichern wie nur möglich. Richtig angelegt, haben sie eine Doppelfunktion. Sie werden zu einem natürlichen Klärwerk. Die Pflanzen, Erdreich und Mikroorganismen filtern die schädlichen Inhaltsstoffe aus dem Wasser, bevor es tiefer in den Boden sickert.
So können die Grundwasserspeicher wieder aufgefüllt werden und die wie Schwämme vollgesogenen Böden über längere Zeit Wasser an die Pflanzen ringsum abgeben. Berlin investiert massiv in neue Stauräume. Bis 2024 sollen gut 300.000 Kubikmeter Zwischenspeicher entstehen. Bei starken Regenfällen soll das Wasser über Notwasserwege auf Sport- und Spielplätze fließen, um kritische Infrastrukturen zu schützen. Damit soll verhindert werden, dass das alte Mischkanalsystem überläuft und das Schmutz- und Regenwasser ungefiltert samt schädlicher Stoffe in die Gewässer fließt.

Link zu Toolbox A und B

Mit seinen Kolleginnen hat der Wissenschaftler im Rahmen des „BlueGreenStreets“-Projekts die einen Leitfaden nebst Praxisbeispielen entwickelt. Beides soll Planerinnen und Praktiker*innen dabei helfen, Lösungen für ihre Straßenzu entwickeln.

repos.hcu-hamburg.de/handle/hcu/638


Bilder: SLA, Andrea Reidl, stock.adobe.com – Jusee

Schon in den 80er-Jahren befand der niederländische Verkehrsplaner Hans Monderman, Straßenverkehre sollten nach dem Vorbild holländischer Eislaufplätze organisiert werden: Alle fahren wie sie wollen – und achten aufeinander. Dieses Konzept der Anarchie im Straßenraum gewinnt als Shared Space immer mehr Befürworter unter Stadtplanern, wie drei Beispiele zeigen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


In den Niederlanden wird Shared Space oft auch als Verkehrsplanung nach dem anarchischen Vorbild eines Eislaufplatzes beschrieben: Wenn alle fahren wie sie wollen, wird mehr aufeinander geachtet.

In deutschsprachigen Ländern ist häufig auch von Mischflächen oder Begegnungszonen die Rede. Konkrete Designs unterscheiden sich lokal. Denn bei Shared Space handelt es sich weniger um ein Planungsinstrument. Vielmehr geht es um ein ergebnisoffenes Gestaltungsprinzip, das alle Funktionen im öffentlichen Raum (wieder) ins Gleichgewicht bringen soll. Bis heute ist das Verhältnis unter Verkehrsteilnehmern unausgewogen. Dominierte mit dem Paradigma der autogerechten Stadt lange Zeit das Auto, soll es im Shared Space deshalb eher als geduldeter Gast unterwegs sein. Auch von der strikten Separation der Verkehrsteilnehmer in einzelne Fahrspuren wird (mehr oder weniger) abgesehen. Und statt Überregulierung durch Verkehrsschilder setzt Shared Space auf die soziale Verantwortung mündiger Bürgerinnen und Bürger.

Mehr Aufmerksamkeit durch Verunsicherung

Deutschland gilt als das Land mit den weltweit meisten Verkehrsschildern. Etwa 20 Millionen davon regeln, was auf den Straßen erlaubt und verboten ist. Wer als Radfahrerin oder Autofahrerin aus dem gewohnten Schilderwald in ein schilderloses Areal einfährt, ist zunächst irritiert. Gerade dieses Gefühl der Unsicherheit ist im Shared Space jedoch beabsichtigt. Untersuchungen aus Schweden und Holland zeigen, dass Verkehrsteilnehmer*innen in nicht regulierten Situationen eher stimuliert werden, miteinander zu kommunizieren, als wenn Verkehrsschilder und Spuren das Verhalten regeln. Darauf weist auch der Psychologe Pieter de Haan vom Kenniscentrum Shared Space im niederländischen Leeuwarden hin: „Ist ein Schema auf den ersten Blick nicht klar, weil neue und ungewisse Ereignisse eintreten, ist die Person alarmiert. Als Reaktion darauf passt sie ihr Verhalten an. Sie verlangsamt ihre Geschwindigkeit, schaut sich um und beobachtet andere Menschen.“
Dabei bringt Shared Space eigentlich nur zurück, was es schon einmal gab. „Zwar hat man das Konzept als eine neue Idee eingeführt“, erläutert de Haan. „Aber geht man 100 Jahre zurück, gab es überall Shared Space. Ende der 1920er-Jahre, als die ersten Wagen auftauchten, wurden Regeln eingeführt. Es folgten Ampeln und die Trennung der Verkehrsteilnehmer nach Fahrspuren.“ So begann man, mit Verkehrszeichen zu kommunizieren. Die eigene Vorfahrt wurde von Ampeln und Schildern erteilt, anstatt situativ von anderen Verkehrsteilnehmern per Handzeichen oder Blickkontakt. Die Kommunikation wurde monodirektional.
Stures Fahren nach Verkehrszeichen kann dazu führen, dass das eigentliche Verkehrsgeschehen aus dem Blick gerät. Mitunter überfährt ein Rechtsabbieger, dessen Ampel Grün zeigt, einen Fußgänger, der ebenfalls bei Grün die Straße quert. De Haan: „Shared Space reaktiviert die soziale Kommunikation. Schilder sind dann nicht mehr nötig.“

In Deutschland ist Bohmte in Niedersachsen ein Vorreiter bei der Umsetzung von Shared Space – mit deutlichen Effekten für die Verkehrssicherheit.

Probieren geht über Studieren

In Deutschland gehört die Gemeinde Bohmte in Niedersachsen seit 2008 zu den Vorreiterprojekten. Vor der Änderung der konventionellen Infrastruktur stand eine mutige Entscheidung. „Mord und Totschlag“ prophezeiten Hannoveraner Verkehrsplaner dem Vorhaben. „Probieren geht über Studieren“, lautete die Antwort des damaligen Bürgermeisters Klaus Goedejohann. Zehn Jahre später resümierte er in der FAZ (24.07.2018) das Unfallgeschehen: „Im Durchschnitt ein Leichtverletzter im Jahr.“
In Bohmte ging man das Konzept in Form eines großen Kreisverkehrs an. Bahnhofsvorplatz und zentraler Platz wurden im Zuge der Umsetzung als Schwerpunkte definiert. Um eine langsamere und vorsichtigere Fahrweise zu erzwingen, wurde die Fahrbahnbreite dazwischen unter sechs Meter verringert. Straße wie Gehwege wurden auf das gleiche Niveau gesetzt, allerdings farblich markiert. Sämtliche Verkehrsschilder wurden demontiert. Die letzte Tafel vor Einfahrt in den Shared Space verweist auf die Tempo-30-Zone davor. Der Abbau von Schildern und Ampeln entlastete Bohmte übrigens auch finanziell. Den Großteil der 2,1 Millionen Euro für die baulichen Eingriffe steuerte die Gemeinde selbst bei. Eine halbe Million kam aus dem damaligen Infrastrukturprogramm Interreg North Sea Region Programme der EU.

Shared Space statt vierspuriger Straße auf dem Duisburger Opernplatz.

Auf die Verkehrsstärken kommt es an

Das Ergebnis: Nach einer ersten Zufriedenheitsanalyse der Fachhochschule Osnabrück bescheinigten Anwohner wie Gewerbetreibende dem Areal eine neue Aufenthaltsqualität. Klassische Bedenken lokaler Händler über Umsatzeinbußen bestätigten sich nicht. Im Gegenteil wird der Effekt der Außenwirkung von Bohmte als geschäftsfördernd eingeschätzt. So freut sich auch Modehaus-Inhaber Hubertus Brörmann in der FAZ: „Als hier noch eine Ampel stand, … habe man permanent aufheulende Motoren gehört. Nun sei der Lärm gleichmäßiger und insgesamt weniger geworden. […] Dreimal habe es da so richtig gescheppert. Wenn jetzt an anderen Stellen was passiere, dann, weil die regelversessenen Menschen zu wenig mitdenken würden.“
Hinzu kommen ein verbesserter Verkehrsfluss und seltene Staus. Ein Tempo von bis zu 40 km/h wird kaum überschritten. Wenig geändert hat sich an der Zahl von knapp 13.000 Autos, die jeden Tag über die historische Bremer Straße brettern. Sie bildet mit Rathaus, Kirche, Bahnhof und Einzelhandel den Ortskern. Der neue Gemeinderat Lutz Birkemeyer, selbst Radfahrer und Befürworter des Shared Space, benennt die Ursache: „Der überregionale Verkehr angebundener Landesstraßen sorgt dafür, dass das Konzept in Bohmte nicht vollständig zur Geltung kommt.“
Aus demselben Grund hapere es in der Praxis noch an der Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer: Die schiere Übermacht des Autos verdrängt Radfahrende an den Straßenrand. Deshalb hält Birkemeyer das Shared-Space-Konzept an weniger befahrenen Straßen für sinnvoller. Auch unter Expert*innen ist von maximalen Verkehrsstärken die Rede, damit ein Shared Space Sinn ergibt. Die Zahlen schwanken zwischen 8000 bis 25.000 täglichen Durchfahrten. Oder darüber. Das Land Bremen setzt auf ein Mittelmaß und empfiehlt in einem Papier, die Verkehrsstärke von 15.000 Kraftfahrzeugen bei zweistreifigen Straßen nicht zu überschreiten.

„Shared Space reaktiviert die soziale Kommunikation. Schilder sind dann nicht mehr nötig.“

Pieter de Haan, Kenniscentrum Shared Space

Barrierefreiheit und optimale Sichtbeziehungen

Auch der Duisburger Opernplatz ist ein stark frequentiertes Areal. Wo einst eine vierspurige Straße vor dem Theater verlief, befindet sich heute ein Shared Space. Die einheitlich mit Pflaster gestaltete Fläche ist als verkehrsberuhigter Bereich ausgeschildert und sieht Schrittgeschwindigkeit vor. Die dort mündende Mosel- sowie Neckarstraße sind in den Shared Space eingebunden und als Tempo-30-Zone ausgewiesen. Verbleibende Fahrspuren wurden auf eine pro Richtung reduziert und durch einen Mittelstreifen getrennt. Die Ränder mit Flachborden und dunklem Pflaster abgesetzt. Radfahrerinnen können hier überall fahren, Fußgän-gerinnen besitzen Vorrang.
Kerngedanke der Planungsphilosophie im Shared Space ist, dass Fußgängerinnen, Radfahrerinnen und Autofahrer*innen per Blickkontakt interagieren. Sehbehinderte Menschen sind von dieser Möglichkeit jedoch ausgeschlossen. Deshalb sind im Duisburger Shared Space, ähnlich wie in Bohmte, Fahrbahnkanten taktil erfassbar. So können auch sehbehinderte Menschen sie queren. Malte Werning, Pressesprecher der Stadt Duisburg, beobachtet auch eine gesteigerte Solidarität und Rücksichtnahme verschiedener Gruppen untereinander. Zudem haben sich die Kfz-Verkehrsmengen seit dem Umbau um etwa ein Drittel reduziert. Und es gibt weniger Staus als zuvor. Werning sagt: „Erkennbar ist eine merkliche Entschleunigung des Kfz-Verkehrs.“ Er räumt allerdings ein, dass Autofahrer offenbar noch Nachholbedarf haben: „Die Vermeidung von illegalem Parken braucht viel Kontrolle und damit hohen Personaleinsatz.“ Denn Parken ist am Opernplatz nicht mehr gestattet. Das Parkverbot optimiert die Sichtbeziehungen, die für den Shared Space entscheidend sind. Dafür wurden auch störende Barrieren beseitigt und auf feste Einbauten oder eine Bepflanzung verzichtet.

In der Berliner Maaßenstraße werden Verkehrsteilnehmer*innen mit Erklärtafeln begrüßt.

Hohe Aufenthaltsqualität

Der Shared Space in der Berliner Maaßenstraße ist als Begegnungszone ausgewiesen. Zu den angestrebten Zielen gehörten geringere Kfz-Geschwindigkeiten, eine höhere Aufenthaltsqualität und ein rücksichtsvolleres Miteinander aller Verkehrsarten sowie bessere Querungsmöglichkeiten für Fußgängerinnen. Zugleich sollten die Verkehrsabwicklung und die Belieferung von Gewerbebetrieben möglichst beibehalten werden. Im Rahmen der Umgestaltung wurden eine Tempo-20-Zone mit eingeschränktem Halteverbot ausgewiesen. Parkplätze sowie Flächen für den fließenden Kfz-Verkehr wurden reduziert. Hinzu kamen urbane Begegnungsflächen mit Möblierung sowie neu gestaltete Querungsstellen. Ganz ohne weitere Beschilderung kommt man in der Maaßenstraße nicht aus. So werden Verkehrsteil-nehmerinnen an allen Zugängen von Tafeln begrüßt, die entscheidende Spielregeln erläutern: „Die Begegnungszone ist eine Straße für alle. Rücksicht und Achtsamkeit gehen vor – egal ob zu Fuß, mit dem Rad, im Auto oder beim Liefern und Laden. Alle haben Platz – Rad- und Autofahrende auf der Fahrgasse. Parken ist hier nicht erlaubt, Halten nur zum Liefern und Laden.“
Zwar entstand die Begegnungszone in der Maaßenstraße im Rahmen von Modellprojekten mit fußverkehrsfördernden Maßnahmen. Übergeordnetes Ziel ist aber ein Miteinander von Fuß-, Rad- und Autoverkehr im Verkehrsraum. Beim Ortsbesuch erweist sich das Areal als echte Flaniermeile. Geschäfte, Cafés und Restaurants sowie die Aufenthaltsbereiche davor sind gut frequentiert. Radfahrerinnen und Fußgängerinnen trauen sich gleichermaßen auf die Straße. Ein von der Verkehrsverwaltung beauftragter Vorher-Nachher-Bericht macht ebenfalls Mut: Auch im Berliner Beispiel ist die Kfz-Verkehrsmenge um rund ein Drittel gesunken. Bereits die Kurvenführung bei der nördlichen Einfahrt vom Nollendorfplatz her in die Begegnungszone erzwingt eine Verlangsamung des Kfz-Verkehrs. Der Anteil der Fahrzeuge, die mehr als 30 km/h fahren, sank von 47 Prozent auf 9 Prozent. Wurde vor dem Umbau in Fahrtrichtung Nord schneller gefahren als in südlicher Richtung, liegen die Fahrgeschwindigkeiten mittlerweile in beiden Richtungen ähnlich niedrig.
Während die Anzahl der Fußgän-gerinnen nach der Umgestaltung um rund 30 Prozent stieg, ist der Anzahl der Radfahrenden dem Bericht nach weitgehend konstant geblieben. Wegen des Rückbaus früherer Radwege nutzt der überwiegende Teil der Radfahrenden die Fahrgasse anstelle der Gehwege. Diese wurden gegenüber dem Vorher-Zustand deutlich entlastet. Zwar wird gelegentlich auch die Aufenthaltsfläche gequert. In der Regel klappt das aber. Konflikte zwischen Radfahrenden und Fußgängerinnen wurden nicht beobachtet.

„Erkennbar ist eine merkliche Entschleunigung des Kfz-Verkehrs.“

Malte Werning, Stadt Duisburg

Voraussetzung Partizipation

Jeder Shared Space besitzt eigene lokale Herausforderungen. In Berlin stand der Wunsch nach niedrigeren Kfz-Geschwindigkeiten bei der Öffentlichkeitsbeteiligung im Vordergrund. Ähnlich gingen in Bohmte und Duisburg dem konkreten Shared- Space-Projekt Versammlungen, intensive Diskussionen und Workshops voraus. Denn nicht zuletzt gelingt „Shared Space“ nur in Konsens von kommunaler Politik, Anrainern und Gewerbetreibenden. Die Akzeptanz für einen Kulturwandel im Verkehrsraum hängt entscheidend von dieser Partizipation ab.
Pieter de Haan formuliert das so: „Sicherheit ist nicht die erste Idee von Shared Space. Unser Ziel ist es, einen schönen Platz für Menschen zu gestalten. Der Raum ist der Raum der Menschen, wo sie sich aufhalten und in dem sie interagieren: Vielleicht gibt es dort Läden oder Cafés. Wie es am Ende genau aussieht, hängt von dem Kontext und der lokalen Kultur ab. Also versuchen wir auch, das Design der Umgebung gemeinsam mit den Anwohnern an diese Kultur anzupassen. Nur so erhält Shared Space eine Identität.“

Shared Space Basics

Gute Voraussetzungen für Shared Space

  • An örtlichen (Haupt-)Geschäftsstraßen, Quartiersstraßen und Plätzen
  • Fußgänger- und Radverkehr bestimmen das Straßenbild
  • Hoher Querungsbedarf von Fußgängerinnen und Radfahrerinnen
  • Die tägliche Kfz-Verkehrsstärke liegt bei max. 15.000 Kfz.
    (Je nach Gestaltungselementen und Geschwindigkeitsniveau sind höhere Belastungen denkbar.)
  • An Straßenabschnitten mit einer Länge von 100 bis 800 m
  • Möglichkeit der Anordnung von Grün- und Aufenthaltsbereichen
  • Ausweisung als verkehrsberuhigter Bereich

Partizipation
Shared Space immer gemeinsam mit Bürgern, Gewerbetreibenden, Verkehrsplaner und Entscheidungsträger vor Ort konzipieren.

Nivellierung
Shared Space weitgehend höhengleich gestalten. Ggf. den Straßenraum mit Begrünung, Einbauten oder eingesetzten Flachborden gliedern, sofern dadurch Sichtbeziehungen nicht behindert werden. Eine Trennung der Fahrbahn vom Seitenraum oder die Kanalisierung des fließenden Verkehrs kann notwendig sein.

Rückbau von Beschilderung und LSA
Shared Space weitgehend ohne Lichtsignalanlagen, Beschilderung und Markierung gestalten. Als verkehrsberuhigten Bereich ausweisen, um dem Fußgängerverkehr rechtlich Vorrang zu geben, geringe Geschwindigkeiten abzusichern und das Parken zu regeln.

Gute Sichtbeziehung
Die funktionierende Kommunikation der Verkehrsteilnehmer*in-nen untereinander bedingt gute Sichtbeziehungen. Sichtbehindernde Einbauten im Straßenraum entfernen. Dazu gehört die Einschränkung des Parkens.

Barrierefreiheit
Shared-Space-Abschnitte barrierefrei und mit Rücksichtnahme auf die Anforderungen spezieller Gruppen wie Kinder und ältere Menschen gestalten. Die Nivellierung der Fläche im Shared Space ist bereits ein Vorteil für Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung. Hinzu kommen Blindenleitsysteme, z. B. durch den Einbau von Bodenindikatoren zur Querung.


Bilder: Reyer Boxem, Lutz Birkemeyer, Uwe Köppen, Wolfgang Scherreiks

Vom 20. bis 21. September fand im zeitlichen Rahmen der IAA Transportation die dritte Nationale Radlogistikkonferenz in Hannover statt. Die Branche zeigte auf, wie professionell sie agiert und dass sie mit großen Schritten ein „Erwachsenwerden“ des Wirtschaftszweigs vorbereitet. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Eine Fahrrad-Demo? Ist denn schon Freitag? Nein, es war ein Donnerstag im September. Und die Fahrradkolonne mit vielen kleinen und großen Lastenrädern hatte ein Ziel. Viele Teilnehmerinnen der Radlogistikkonferenz fuhren gemeinsam zum Messegelände Hannover, um dort Logistikgrößen und Publikum auf der IAA Transportation auf sich aufmerksam zu machen und zu zeigen: Radlogistik ist gekommen, um zu bleiben, und hat große Ziele. Um diese in den nächsten Jahren zu erreichen, muss die Branche bei rechtlichen Rahmenbedingungen und Standardisierungen an einem Strang ziehen, so der Tenor der Konferenz. Diese fand im Kongresszentrum Hannover eine Bühne, wo neben den vielen Rednerinnen auf der von Nico Lange moderierten Bühne, über 25 Unternehmen ihre Produkte präsentierten und im Außenbereich Testfahrten anboten. Die Veranstaltung begann am Dienstag mit einem Exkursionstag, der mehr als 100 Menschen an verschiedene für die Radlogistik relevante Orte in Hannover führte. Nach begrüßenden Worten, unter anderem von Oberbürgermeister Belit Onay, besuchte die Gruppe einen Mini-Hub in einem Parkhaus, eine Zustellbasis am Güterbahnhof von DHL, die Fahrradkurierfirma Tretwerk sowie weitere Orte. Das Land Niedersachsen und die Stadt Hannover traten bei der Konferenz als Unterstützer auf.
Am zweiten Konferenztag standen nach der Eröffnung durch Tom Assmann, Vorsitzender des Radlogistikverbands Deutschland (RLVD), und drei Grußworten, unter anderem vom Parlamentarischen Staatssekretär Oliver Luksic, inhaltliche Fragen im Vordergrund. Diese wurden in einigen Panels zunächst mit Input gefüllt und anschließend diskutiert. Die Branche entwickelt sich dynamisch weiter. Martin Seißler von Cargobike.jetzt war an der Organisation des Events beteiligt: „Es war ja die dritte Radlogistik-Konferenz und wir sehen jedes Mal eine Steigerung der Zahl der interessanten Modelle und eine technische Weiterentwicklung. Das ist sehr schön, zu sehen, und auch wichtig für die, die Lastenräder am Ende nutzen wollen. Wir wollen eine erwachsene Branche werden und haben am Anfang der Konferenz noch mal die 30 Prozent der Logistik in den Innenstädten als machbares Ziel propagiert. Die Schwelle der technischen Entwicklung nehmen wir immer besser.“
Es gibt viele Fragen, die es im jetzigen Stadium zu klären gilt, damit der optimistischen Aussicht der Radlogistik-Unternehmen nichts im Weg steht. „Wir sehen auch, dass das hier die Leitveranstaltung für die Branche der Radlogistik ist. Hier trifft sich einmal im Jahr die Branche und kann sagen, wo sie steht. Ich bin sehr zufrieden, wie das Ganze auch in den Panels weiterentwickelt wurde“, so Seißler.

Lastenräder aller Couleur fanden nicht nur in Vorträgen und auf Podien der Konferenz statt. Gut zwei Dutzend Unternehmen stellten ihre Fahrzeuge und Produkte im Foyer aus und boten Testfahrten an.

Politische Herausforderungen

Auf politischer Seite gibt es aktuell noch starke Hemmnisse für die Radlogistik. Zum einen sind schmale Radwege vor allem für Schwerlastenräder mit mehreren Hundert Kilo Gewicht nicht geeignet. Zum anderen ist die finanzielle Förderung nicht hoch genug, als dass sie völlig selbstverständlich mit teils um 40 Prozent rabattierten Verbrennertransportern konkurrieren kann. Gerade lokale Förderprogramme sind zudem oft schnell ausgeschöpft. Um in der Konkurrenz bestehen zu können, will der Radlogistikverband aber vermeiden, dass die Radlogistik Dumping-Preise einführt. Vielmehr müssen Verbrenner-Vans teurer werden, die derzeitigen Niedrigpreise können als Marktversagen gewertet werden. „Die Politik darf mutiger werden“, forderte Martin Schmidt, stellvertretender RLVD-Vorsitzender in seinem Resümee der Veranstaltung. Das Verbrennerverbot ab 2035 sowie die derzeit steigenden Treibstoffkosten dürften der Radlogistik in die Karten spielen. Gerade kleinere, reine Elektrofahrzeuge könnten der Branche aber künftig Marktanteile streitig machen.
Auch in der Bevölkerung sollen Lastenräder noch besser als Lösung bekannt werden. Wenn der Wert der Serviceleistung Lieferung mehr geschätzt würde, hätten die Radlogistiker leichteres Spiel. Eine größere Präsenz von Lastenrädern auf der letzten Meile dürfte auch die Chancen bei städtischen Vergabeverfahren erhöhen. Hier, so berichtet Matthi Bolte-Richter, Geschäftsführer des Kieler Radlogistikunternehmens Noord Transport, müssen die Logistiker oft erst mal vermitteln, wie leistungsfähig moderne Lastenräder sind, und werden so benachteiligt. „Das Lastenrad ist häufig einfach ausgeblendet“, bestätigte auch Jonas Kremer, RLVD-Fachvorstand Politik. Wenn ein Flottenanteil an Elektrofahrzeugen über Quoten geregelt ist, würden Lastenräder oft nicht mitgezählt und können damit ihr Potenzial nicht ausspielen.

„Wir schreiben jetzt Spielregeln, das ist eine einmalige Chance“

Martin Schmidt, Radlogistikverband Deutschland

Technische Feinheiten

Die Teilnehmerinnen in drei optionalen Workshops bearbeiteten Themen, die die Branche stärker vereinen könnten. Es ging um eine deutschlandweite Buchungsplattform für Radlogistik-Dienstleistungen, digitale Schnittstellen durch offene KEP-Standards (Kurier-, Express- und Paketdienst) und darum, was zu beachten ist, wenn die Branche Aufbauten und Wechselsysteme standardisiert. „Wir schreiben jetzt Spielregeln, das ist eine einmalige Chance“, kommentierte Martin Schmidt abschließend. Normen, die Lastenräder betreffen, werden von der Industrie gut angenommen, haben laut Tim Salatzki vom Zweirad-Industrie-Verband aber Lücken, was die Sicherheit im Schwerlastsegment betrifft. Es sollte im Interesse der Branche sein, diesem Thema proaktiv zu begegnen, wie es beispielsweise durch den Verhaltenskodex im Verkehr des RLVD bereits beispielhaft geschehen ist. Wenn es schwere Unfälle geben sollte, könnte das dem Ruf der Lastenräder schaden. In einer Paneldiskussion, in der auch Luise Braun von Onomotion und Wasilis von Rauch von Zukunft Fahrrad sowie Jonas Kremer sprachen, wurde die Möglichkeit einer eigenen Kategorie für Schwerlastenräder als sinnvoll bewertet. Diese dürfe allerdings kein Monstrum an Regulierungen mitbringen, so der Tenor der Runde. Schulungen für Schwerlastenräder könnten zielführend sein, eine Führerscheinpflicht lehnte die Gruppe allerdings entschieden ab. Weiteren Input gab es auch zu den Fahrerinnen der Lastenräder. Diese sind in Österreich bereits mit einem Tarifvertrag aufgestellt. Es gilt, hier auch in Deutschland die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, StVO-Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit den Kund*innen zu vermitteln. Die Menschen, die die Räder fahren, sind das Rückgrat der Branche, verrichten eine körperlich schwere Arbeit und müssen entsprechend gewürdigt werden. Sie brauchen gute Konditionen ohne Dumping-Löhne und Scheinselbstständigkeiten, auch damit die wachsende Branche in Zukunft keinen Personalmangel hat.

Empfangskomitee oder Randnotiz? Die Last-Mile-Area auf der IAA Transportation sorgte bei den ausstellenden Unternehmen für gemischte Gefühle.

Mit Versendern vernetzen

Als Positivbeispiel hingegen kürte der RLVD den Radlogistikversender des Jahres. Der Preis ging an die Memo AG, die Bürobedarf in Kooperation mit 13 verschiedenen Radlogistikdiensten ausliefern lässt. Den Versendern soll in der vierten Konferenzausgabe eine größere Rolle zukommen. Diese könnte sich auch in anderer Hinsicht von der diesjährigen Veranstaltung unterscheiden, sagt Martin Seißler. „Ich habe das Gefühl, wir müssen das Programm vielleicht ganz weglassen, weil die Leute die ganze Zeit netzwerken wollten. Aber so funktioniert es natürlich nicht. Wir wollen das Thema Netzwerken aber besser koordinieren, professionalisieren und etwas zielgerichteter gestalten. Und wir wollen auch die Versender mehr zu Wort kommen lassen, ihnen eine Bühne bieten und klarmachen, wie wichtig sie in diesem ganzen Prozess sind.“ Auch eine Art Speeddating, um die Akteure effizienter zu vernetzen, wäre dazu ein möglicher Weg.

Links: Das Schwerlastenrad von Fulpra bietet bis zu 3000 Liter Stauraum und 350 Kilogramm Zuladung.
Rechts: Die Mobilitätsstation des Unternehmens Fairventure lädt dank Solarmodulen und eingeschweißter Batterie autark Elektrofahrzeuge auf.

Das Fahrzeugkonzept der ZF-Tochter Brakeforce One (links) hat Platz für kühle Getränke. Deutlich mehr kühlen Stauraum bieten die Aufbauten von Wello (rechts).

IAA Transportation – Radlogistik als Teil des Ganzen

Am Tag nach der Konferenz sind viele Teilnehmerinnen dann mit ihren Lastenrädern und -anhängern publikumswirksam auf der IAA Transportation eingefahren. Der Nutzfahrzeugableger der Internationalen Automobilausstellung fand zeitgleich in Hannover statt. Die zeitliche Überschneidung war nicht zufällig, vielmehr war die Radlogistikkonferenz in Zusammenarbeit mit der Fachmesse geplant worden. Auch auf der IAA Transportation selbst waren Lastenräder präsent. Es gab einen gesonderten Ausstellungsbereich für die Letzte-Meile-Logistik, die Last-Mile-Area. Ein Cargobike-Parcours bot die Möglichkeit, viele Modelle zu testen. Im Nachgang der publikumswirksamen Einfahrt verlieh die Fachzeitschrift Logistra ihren jährlichen Award „International Cargobike of the Year“. Die ersten Plätze konnten sich die Hersteller Riese & Müller für das Modell Transporter 2, Mubea für das Schwerlastenrad Cargo und Nüwiel für den Anhänger eTrailer sichern. Überlaufen war die Last-Mile-Area nicht. Neben den Award-Gewinnern gab es dennoch auch ein paar Produktneuheiten zu entdecken. Der Hersteller Urban Arrow präsentierte ein neues Bremssystem, das auf Motocross-Technik setzt. Rytle hatte mit dem auffällig grün überdachten Schwerlastenrad Movr3 eine neue Produktgeneration im Gepäck. Und Mubea zeigte neben einer Variante des prämierten Modells Cargo für Gärtnerinnen, Landschaftsarchitektur und Co. einen dreirädrigen E-Scooter, der ab dem kommenden Jahr produziert werden soll.
Auf dem großen Hannoveraner Messegelände fanden sich zwischen den großformatigeren Cargo-Exponaten an wenigen Stellen vereinzelte Lastenräder, ein Symbol für die zukünftige Verknüpfung der Transportmittel. Ob diese Verknüpfung von der restlichen Branche wirklich ernst genommen wird, bleibt abzuwarten. Eindeutig bewerten ließ sich das Standing der Radlogistik in der gesamten Branche aber nicht. Manch ein Aussteller fühlte sich auf der Sonderfläche etwas an den Rand gedrängt, andere verstanden sich in der Lage am westlichen Eingang in der Halle 13 eher als Empfangskomitee der Fachmesse. In den Vorträgen, die auf mehreren Bühnen gehalten wurden, fand das Thema Radlogistik höchstens als Randnotiz statt. Dabei könnte aber auch die ausgelagerte Konferenz des RLVD eine Rolle gespielt haben.

„Wir schaffen die 30 Prozent Radlogistik“

Dr.-Ing. Tom Assmann, Vorstandsvorsitzender des Radlogistikverbandes Deutschland

Wie beurteilen Sie die diesjährige Radlogistikkonferenz?
Wir sind sehr zufrieden mit der Veranstaltung. Sie war gut besucht und wir haben gezeigt, dass Radlogistik ein hochinnovativer Bereich ist. Ein Bereich, der die Technologie so weit entwickelt hat, dass sie ausgerollt werden und in der Breite in den Städten in Deutschland den Verkehr entlasten und sicher machen kann. Wir sind bereit, im großen Game um die letzte Meile vollständig mitzuspielen und sie auch in der Zukunft zu gestalten. Wir schaffen die 30 Prozent Radlogistik.

Wie wird sich die Branche in nächster Zeit weiterentwickeln?
Wir werden nächstes Jahr deutlich mehr Lastenräder auf den Märkten sehen. Ich höre das in den Gesprächen, dass eigentlich überall große Absatzzugewinne zu verzeichnen sind und dass die Akteure trotz der Weltlage positiv in die Zukunft schauen, weil Lastenfahrräder und -anhänger die Transportmittel der Zeit sind. Wir sparen 90 Prozent Energie pro Kilometer ein und haben günstigere und klimagerechte Fahrzeuge. Deswegen können wir positiv gestimmt sein, hoffen aber, dass da nicht noch größere Probleme in den Lieferketten kommen.

Was sind die größten Herausforderungen für die Branche?
Eine wichtige Frage auf politischer Ebene ist, wie man Radlogistik in die Breite der kommunalen Planung bekommt. Die Kommunen müssen die Radlogistik, die Flächen und die In-frastruktur standardmäßig mitplanen, sodass unsere Fahrzeuge supereinfach, komfortabel und schneller als ein Sprinter überall genutzt werden können. Das ist die eine Herausforderung, die andere ist, wie wir auf europäischer Ebene einen harmonisierten Rechts- und Standardrahmen schaffen, damit diese Fahrzeuge überall in der EU sicher, zuverlässig und kostengünstig auf Radwegen betrieben werden können.

Am hinderlichsten ist also die Politik?
Ein großes Hemmnis ist auch, dass insgesamt noch zu viel Zögern da ist. Nicht unbedingt in der Logistikbranche, die Logistikakteure sehen, sie müssen da reingehen und werden das auch tun. Aber insbesondere abseits des klassischen Paket- und Postgeschäftes, wo Lastenräder sich gut entwickeln, da braucht es noch mehr Berührungspunkte, und es braucht mehr und bessere Förderung, damit auch kleine und mittlere Unternehmen umsteigen können und sagen: „Ein Lastenfahrrad ist günstiger und es ist besser für mein Unternehmen.“ Es ist Marktversagen, dass das Leasing von E-Autos im Moment besser gefördert wird als das Leasing von E-Lastenfahrrädern.

Berührungspunkte habt ihr auch auf eurer Exkursion schaffen wollen. Was hat dort die größte Neugier und die meisten Gespräche ausgelöst?
Wir hatten tolle Gespräche, die gesamte Exkursion entlang. Es gab ein wirklich wunderbares Grußwort von Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay, der klar gezeigt hat, dass es Städte gibt, die bereit sind, den Weg zu einer klimagerechten, zu einer lebenswerteren und zu einer autoärmeren Stadt zu gehen. Das hat mir sehr gut gefallen, genau wie unsere letzte Station bei unserem neuen Mitglied Modes. Die kommen ursprünglich aus dem klassischen Umbau von Vans für Personen mit Behinderung und haben jetzt als neues Geschäftsmodell den Service von Lastenrädern mitaufgenommen und zeigen, dass sie die Transformation hin zu nachhaltiger Mobilität gehen.

Die Radlogistik-Konferenz fand während der IAA Transportation statt und machte dort mit einer kollektiven Einfahrt auf die Messe auf sich aufmerksam. Was waren die Hintergründe dieser Entscheidung?
Es war die richtige Entscheidung, diese Veranstaltung parallel zur IAA Transportation zu machen und zu zeigen: Wir als Radlogistik sind da und wir sind bereit, unser 30-Prozent-Ziel bis 2030 umzusetzen. Jetzt ist es auch an den etablierten Akteuren, die Zeichen der Zeit zu erkennen und zu sagen, dass es neue Formen der Mobilität und neue Formen der gewerblichen Logistik in der Stadt braucht. Deswegen fand die Konferenz auch hier und in Abstimmung und Kooperation mit der IAA statt. Das war ein Angebot der IAA, dass wir mit unseren Ausstellern und unseren Lastenfahrrädern auf die Messe kommen und dem Publikum dort das zeigen konnten, was wir eben auch auf der Konferenz hier gezeigt haben: Die Technik ist da, kauft sie, setzt sie ein und fahrt damit.


Bilder: Ulrich Pucknat, Sebastian Gengenbach, Jana Dünnhaupt – OVGU

Am 22. und 23. November tagten viele Mobilitätsplaner*innen und weitere Fachleute auf der Fahrradkommunalkonferenz. In Aachen fanden sie inspirierende Praxisbeispiele vor und konnten sich zu den drängenden Themen austauschen, die Planungsvorhaben derzeit noch ausbremsen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Die Konferenz trug das Motto „Mobilitätswende umsetzen – Gute Pläne und jetzt Strecke machen“. Viele Rednerinnen nahmen Bezug auf den Leitsatz und wünschten sich eine Macher-Mentalität und mehr Geschwindigkeit dabei, die Pläne umzusetzen. Das Vortrags- und Diskussionsprogramm diente dazu, über den Tellerrand der eigenen Kommune zu blicken und sich von Projekten im ganzen Bundesgebiet, zum Beispiel aus dem Kreis Coesfeld oder Hannover, inspirieren zu lassen. Unter der Moderation von Totinia Hörner bot die Bühne einen Gesprächsraum für Menschen aus der Planung, Verbandsarbeit oder Forschung. Rund 300 Mobilitätsfachleute kamen in der Veranstaltungsstätte „Das Liebig“ in Aachen zusammen. Weitere Interessierte nutzten den Livestream. Zumindest vor Ort blieb es aber nicht bei passivem Zuhören. In zwei Slots bot die Veranstaltung je vier Arbeitsgruppen, die zu Schwerpunkten wie Radentscheiden, digitalen Planungstools und Kreuzungssituationen arbeiteten. Die gastgebende Stadt Aachen bot zudem ein Exkursionsprogramm zu wichtigen Orten und Themen der dortigen Verkehrswende an. Auf diesen Touren und am Veranstaltungsort selbst sollten die Teilnehmerinnen sich miteinander austauschen und vernetzen.
Als Flaschenhals der Radverkehrsentwicklung scheint neben dem fehlenden neuen Straßenverkehrsgesetz der Fachkräftemangel zu wirken. Ein Lösungsansatz dafür können Fachkräftekampagnen sein, wie sie die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte (AGFS) ins Leben gerufen hat. Es sei aber auch wichtig, die Fachkräfte besser zu bezahlen, um ein zu starkes Lohngefälle zum privaten Sektor zu verhindern. Steigende Kosten bei baulichen Maßnahmen kommen als weitere Schwierigkeit hinzu.

Erwartungshaltungen managen

Kommunen müssen bei Änderungen im Straßenverkehr genau verdeutlichen, warum diese von kollektivem Interesse sind, da die Vorstellungen der Zivilgesellschaft mitunter weit auseinandergehen. Auch Professorin Dr. Jana Kühl sieht das gesellschaftliche Selbstverständnis als einen Schlüsselfaktor der Verkehrswende. Derzeit würden Konflikte von der Straße auf die Fuß- und Radwege verlagert. „Man hat gelernt, zu improvisieren“, beschreibt sie das Dasein der Radfahrerinnen, die mit Mängeln umgehen müssen. Im Kfz-Verkehr gäbe es auf der anderen Seite eine tief in der Gesellschaft verwurzelte Erwartungshaltung. Ausgerichtet wurde die Fachtagung vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr und dem Mobilitätsforum Bund. Unterstützend wirkte das Deutsche Institut für Urbanistik (DIfU). Dagmar Köhler, Teamleiterin im Forschungsbereich Mobilität am DIfU sagt: „Die Konferenz in Aachen steht für Innovationskraft, Zusammenarbeit und Verstetigung für eine umweltfreundliche, gesunde Mobilität – auch wenn die Sonne mal nicht scheint. Ein besonderer Schwerpunkt war in diesem Jahr die Fokussierung auf den Menschen – und zwar nicht nur mit Blick auf Rad fahrende Bürgerinnen: Nie zuvor tauschten sich die Radverkehrsfachleute so intensiv über Organisationsstrukturen, Prozessabläufe, Changemanagement und den Umgang mit Radentscheiden der Zivilbevölkerung aus Sicht der Verwaltungen aus. Ein weiteres Fokusthema war die Gestaltung komfortabler und sicherer Radwege und Kreuzungen.“ Wie sich diese Herausforderungen und der Fokus im nächsten Jahr verändert haben werden, wird sich in Regensburg zeigen. Die Stadt an der Donau ist dann nämlich gastgebende Kommune der Fahrradkommunalkonferenz.


Bild: Doris Reichel