Sharing-Angebote werden meistens mit einem urbanen Umfeld assoziiert. Das Beispiel BARshare im brandenburgischen Landkreis Barnim zeigt jedoch, dass Sharing von E-Autos und Lastenrädern auch auf dem Land Potenzial besitzt. Auch wenn es dort etwas anders funktioniert als beispielsweise im benachbarten Berlin. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Die Bürger von Melchow fühlten sich von ihren Nachbargemeinden lange Zeit abgeschnitten. Zwar hält in dem 1000-Einwohner-Ort im brandenburgischen Landkreis Barnim sogar ein Regionalzug, aber davon haben insbesondere die älteren Be-wohnerinnen wenig. „Der Weg zum Zug und die Wege am Zielort sind für viele von ihnen zu weit und die Wartezeiten zu lang“, sagt Ronald Kühn, ehrenamtlicher Bürgermeister des Ortes. Die Älteren, die nicht mehr selbst Auto fahren können, brauchten einen Shuttle in die umliegenden Orte, wo sie einkaufen, zum Arzt oder zur Therapie gehen. Aber sämtliche Anfragen Kühns bei Busunternehmen oder Ride-Sharing-Anbietern blieben erfolglos. Das Kernproblem ist: Herkömmliche Sharing-Systeme passen nicht in den ländlichen Raum. Sie sind dort nicht wirtschaftlich. Deshalb organisieren die Menschen ihre Alltagsmobilität dort in Eigenregie je nach Familiengröße mit einem, zwei oder mehr Autos. Die Kreiswerke Barnim (KWB) suchten nach einer Lösung für dieses Problem. Das war nicht einfach. Der Landkreis Barnim grenzt im Norden an die Uckermark und im Süden an Berlin. Dazwischen gibt es viel Landwirtschaft, Seen und Naherholungsgebiete. Die Menschen leben verstreut in einer Handvoll Kleinstädte und Gemeinden mit wenigen Tausend Einwohnern wie Biesenthal oder Chorin. Die Mehrzahl der Orte wie Ziethen oder Liepe kommt sogar nur auf ein paar Hundert Einwohner. In den beiden Bevölkerungszentren Eberswalde und Bernau leben jeweils knapp über 40.000 Menschen. „Mit BARshare wollen wir ein alltagstaugliches Sharing-System für den ländlichen Raum anbieten, das wirtschaftlich ist, die CO₂-Emissionen im Verkehr senken und die Auslastung vorhandener Fuhrparks erhöhen“, sagt Christian Vahrson, Prokurist bei der KWB. Sie entwickelten schließlich mit BARshare ein Sharing-Konzept, das ausschließlich Elektrofahrzeuge verwendet und zwei Nutzergruppen kombiniert, die Hauptnutzer und die Mitnutzer. 2019 ging BARshare mit 23 Elektrofahrzeugen an den Start. Der Knackpunkt für das Sharing-Konzept war: Hauptnutzer zu finden, die bereit waren, ihre Dienstwagenflotte auf E-Fahrzeuge umzustellen und die Fahrzeuge dann privaten Nutzerinnen zur Verfügung zu stellen. Die Ausgangssituation war gut. Vahrson und sein Team hatten erkannt, dass es bereits Hunderte potenzielle Kandidaten im Landkreis gab. Dazu gehören Verwaltungen, Kommunen, Wohnungsgenossenschaften, Unternehmen oder auch Vereine. „Fahrzeuge gemeinsam nutzen, gehört im dienstlichen Kontext zum Alltag. Die Mitarbeiter teilen sich bereits Dienstwagen“, sagt Vahrson. Allerdings nutzen sie die Fahrzeuge nur tagsüber, während der Bürozeiten. Danach stehen sie herum. An diesem Punkt setzt die BARshare-Idee der Mitnutzer an: Außerhalb der Arbeitszeiten können Privatleute die Elektrofahrzeuge für ihre Fahrten mieten. Das Konzept von BARshare kombiniert also dienstliche und private Nutzung, einfach und digital.

Als kommunales Unternehmen sind wir den Hauptnutzern ein zuverlässiger Partner

Christian Vahrson

Servicepaket für Fuhrparkbetreiber

Um die Fuhrparkbetreiber zum Umstieg zu bewegen, entwickelte BARshare ein Rundum-sorglos-Paket. Dazu gehört, dass BARshare wie herkömmliche Sharing-Anbieter der Flottenbetreiber ist. Sämtliche Fahrzeuge gehören BARshare und damit den Kreiswerken Barnim. „Als kommunales Unternehmen sind wir den Hauptnutzern ein zuverlässiger Partner. Durch die vertraglichen Vereinbarungen stehen die Fahrzeuge gesichert und dauerhaft zur Verfügung“, sagt Vahrson. Außerdem baut BARshare die Ladeinfrastruktur an den Standorten der Hauptnutzer auf, stellt die Buchungssoftware zur Verfügung und kümmert sich um Reinigung, Service und Reparatur. Für die Hauptnutzer ist das bequem. „Die Unternehmen oder Verwaltungen mieten nicht das komplette Fahrzeug, sondern nur ein gewisses Stundenkontingent. Auf diese Weise können sie ihre bestehende Dienstwagenflotte erweitern oder durch klimafreundliche Elektroautos ersetzen“, sagt Saskia Schartow, Projektleiterin von BARshare. Der Nebeneffekt ist: Die Unternehmen verbessern ihre Klimabilanz, wenn sie vom Verbrenner auf Elektromobilität umsteigen.
Der Aufbau des Angebots war kostspielig. 42 Elektroautos, vom kleinen Stadtflitzer bis zum Siebensitzer-Van stehen inzwischen an 23 Standorten im Landkreis. Das konnte der Landkreis Barnim mit seinen rund 185.000 Einwohnern nicht in Eigenregie finanzieren. „Die Fahrzeuge und den Aufbau der Ladeinfrastruktur haben wir mit Unterstützung verschiedener Fördermittel vom Land Brandenburg, dem Europäische Fonds für regionale Entwicklung und dem Bundesverkehrsministerium finanziert“, sagt Vahrson. Mit den Einnahmen aus dem Sharing-Betrieb deckt das BARshare-Team nun die laufenden Kosten der Flotte. Dazu gehören unter anderem der Betriebsservice, die Versicherung, der Hotline-Service oder die Software für das Buchungssystem nebst App.
Das Sharing-Angebot kommt im Landkreis gut an. Inzwischen nutzen 20 Barnimer Unternehmen, Verwaltungen oder auch Wohnungsgenossenschaften den Service. „Über sie sind rund 700 Fahrer und Fahrerinnen registriert“, sagt Projektleiterin Saskia Schartow. Dazu kommt die große Resonanz aus der Bevölkerung: 1800 private Nutzer haben sich seit 2019 angemeldet und die Tendenz ist weiterhin steigend.

BARshare interessant für Pendlerinnen

Eine von ihnen ist Helga Thomé aus Eberswalde. Als Coach für Team- und Organisationsentwicklung ist sie beruflich häufig in Berlin und Brandenburg unterwegs. „Nach Berlin fahre ich immer mit der Bahn“, sagt sie. Für die Strecken ins Umland braucht sie ein Auto. Ihren eigenen Wagen hat sie verkauft, bevor sie das BARshare Auto getestet hat. „Wären die Kosten durch die Decke gegangen, hätte ich über den Kauf eines eigenen Wagens wieder nachgedacht. Das muss ich allerdings nicht“, sagt sie. Für sie ist das Mieten günstiger. „1300 Euro habe ich im ersten Halbjahr 2022 an Mietkosten ausgegeben“, sagt sie. Das klingt viel. Aber wenn sie die laufenden Kosten wie Kfz-Versicherung, anfallende Reparaturen bis hin zum Wertverlust einbeziehe, sei das BARshare-Auto für sie deutlich günstiger und zudem noch umweltfreundlicher. „Außerdem muss ich mich nicht mehr um Werkstattbesuche oder den Reifenwechsel kümmern. BARshare übernimmt sogar das Waschen des Autos“, sagt sie.
Für Helga Thomé ist das Sharing-Angebot eine gute Ergänzung zum bestehenden Angebot. In der Kreisstadt Eberswalde erledigt sie die meisten Wege mit dem Fahrrad. Hat sie mal keine Lust zum Radfahren, steigt sie in einen der Busse, die regelmäßig in der 43.000 Einwohner-Stadt unterwegs sind.

Im 1000-Einwohner-Ort Melchow hat sich ein Verein als Haupt-nutzer von BARshare gebildet, der mit einem Siebensitzer den Einwohner*innen nun einen Busersatz bietet.
Die Wohnungsgenossenschaft Eberswalde wiederum nutzt BARshare als Mobilitätsangebot für Mitarbeitende und Mitglieder.

Alltagsmobilität in Landgemeinden sicherstellen

Von dieser Auswahl träumen die 1000 Einwohner von Melchow. In ihrem Dorf stellt ein BARshare-Siebensitzer seit 2019 für sie nun die Basismobilität wieder her. Um die Lade-infrastruktur und den Wagen zu erhalten, brauchte der Ort allerdings einen Hauptnutzer. Dafür haben die Dorfbewohner den Verein „Melchow mobil“ gegründet. Aktuell zählt er rund 40 Mitglieder. Etwa 15 von ihnen steuern den Bus. Momentan fährt das Elektrofahrzeug laut Bürgermeister Kühn zweimal täglich in die umliegenden Gemeinden. „Wenn der Bus nach Biesenthal zur Einkaufsfahrt aufbricht oder samstags zu den ‚Guten Morgen Eberswalde‘-Konzerten, ist jeder Sitz besetzt“, sagt er. Nur wenn es zum Arzt oder zur Therapie geht, sei in der Regel nur eine Person unterwegs. Selbst im Coronajahr 2021 unternahm der Bus 300 Touren und sammelte 12.000 Kilometer. Die Kosten für die Mitfahrenden sind überschaubar. 50 Euro kostet die Vereinsmitgliedschaft eine Einzelperson im Jahr, Familien zahlen das Doppelte. „Die Gemeinde Melchow unterstützt den Verein finanziell, um mit dem Siebensitzer die Alltagsmobilität zu sichern“, sagt Ronald Kühn.
Zwischen 250 und 450 Euro kosten die Elektrofahrzeuge bei BARshare für Hauptnutzer je nach Stundenkontingent im Monat. Hinzu kommt noch eine Kilometerpauschale von 0,084 Euro. Mitnutzer zahlen je nach Tageszeit und Fahrzeuggröße zwischen 1,90 und 4,90 je Stunde plus eine Buchungsgebühr von 2 Euro und 10 Cent Kilometerpauschale. Lastenräder sind mit 2 Euro je Stunde und einem Euro Buchungsgebühr nicht wesentlich günstiger.
Allerdings decken die Einnahmen die anfallenden Kosten von BARshare noch nicht. „Das Wachstum geht aber in die richtige Richtung, wir kommen der Wirtschaftlichkeit immer näher“, sagt Vahrson. Er rechnet damit, dass sich BARshare in wenigen Jahren selber trägt. Die Corona-Pandemie war auch für den Sharing-Anbieter eine Herausforderung. „Uns fehlten die öffentlichen Veranstaltungen, um das Angebot bekannter zu machen und mit den Menschen direkt ins Gespräch zu kommen“, sagt Saskia Schartow. Mit Informations- und Bedienvideos auf der BARshare-Webseite versuchte das Team Berührungsängste abzubauen. „Aber Elek-tromobilität und Carsharing sind für viele Menschen noch ungewohnt. Um bestehende Hemmschwellen abzubauen, hilft eine begleitete Probefahrt“, sagt sie. Neue Hauptnutzer bekommen deshalb stets eine persönliche Einführung in das Fahrzeug und den Ausleihvorgang.
Autos und Minibusse sind jedoch nicht das einzige Mittel, um auf dem Land klimaneutral unterwegs zu sein. Mithilfe von E-Bikes und E-Lastenrädern lassen sich viele Wege auch zwischen den Ortschaften zurücklegen. Der Vorteil: Die Investitionen und Unterhaltskosten sind erheblich geringer als die Anschaffung von Elektroautos. Allerdings benötigt es hier noch mehr Kommunikationsarbeit, damit die Räder tatsächlich genutzt werden.

Uns fehlten die öffentlichen Veranstaltungen, um das Angebot bekannter zu machen und mit den Menschen direkt ins Gespräch zu kommen.

Saskia Schartow, Projektleiterin von BARshare
Saskia Schartow und ihr Team leisten häufig Pionierarbeit im ländlichen Raum, etwa wenn im bisher autolastigen Landkreis Lastenräder als Transportalternative etabliert werden.

E-Bikes ergänzen die Flotte

BARshare setzt auch dabei auf das persönliche Erlebnis. Eine Probefahrt im geschützten Raum ist für die Ausleihe der fünf Cargobikes entscheidend. In urbanen Zentren gehören Lastenräder längst zum Stadtbild. „Im Kreis Barnim sieht man sie selten. Für viele sind sie eine komplett neue Fahrzeugkategorie“, sagt Saskia Schartow. Vor der ersten Ausleihe steht deshalb immer die Probefahrt. Bei den E-Bikes und den Cargobikes ist die Lernkurve des BARshare-Teams besonders steil. Kaum hatte eines der ersten Lastenräder seinen Standort bei der Wohnungsgenossenschaft Eberswalde bezogen, wurde es gestohlen. Ein paar Tage später tauchte es zwar wieder auf, allerdings fehlten die Laufräder.
„Wir müssen sie nicht nur vor Wind- und Wetter schützen, sondern auch vor Vandalismus“, sagt Saskia Schartow.
Mit ihrem Bike-Sharing-Angebot leistet das BARshare-Team im ländlichen Raum Pionierarbeit. Neben der Infrastruktur fehlt oft die Akzeptanz in der Bevölkerung. „Hier nutzen nur wenige das Fahrrad im Alltag“, sagt Saskia Schartow, „aber wir wollten auch Menschen ohne Führerschein E-Mobilität ermöglichen.“ Inzwischen können sie BARshare-E-Bikes oder -E-Lastenräder am Bahnhof, an der Mobilitätsstation in Werneuchen (10.000 Einwohner) und im Fahrradparkhaus in Bernau (42.000 Einwohner) ausleihen. Die Ausleihen liegen noch im niedrigen dreistelligen Bereich, aber sie steigen ebenfalls.
„Unser Angebot bietet nicht für jeden eine Lösung. Aber wir bieten bereits heute mit unseren Elektrofahrzeugen ein Angebot für verschiedene Mobilitätsbedürfnisse an und steigern die Lebensqualität der Menschen spürbar“, sagt Saskia Schartow. Mit dem Sharing-Konzept will der Landkreis Barnim auch die eigene Klimabilanz verbessern. Bereits 2008 hatte der Kreistag beschlossen, dass die Energie für das tägliche Leben langfristig ausschließlich aus erneuerbaren Energiequellen gewonnen werden soll. Die Kreiswerke Barnim setzen als 100-prozentige Tochtergesellschaft des Landkreises Barnim nun auch mit BARshare die Ziele des Landkreises um.


Bilder: Torsten Stapel

Fahrradstraßen sind ein wichtiges Instrument für die Verkehrswende, weil sie das umweltfreundlichere Verkehrsmittel begünstigen. Unklare Designs oder fehlende Modalfilter erschweren mitunter das Vorrangprinzip. Autobesitzer beklagen Parkplatzverluste. Die Herausforderungen und gute Lösungen zeigen die Beispiele von drei Berliner Bezirken. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Die Stadt Berlin besitzt nicht nur ein Mobilitätsgesetz, das Fahrradstraßen ausdrücklich vorsieht. Es gibt auch einen eigenen Leitfaden für deren Umsetzung. Mit solchen Qualitätsstandards könnten Verkehrsplanerinnen und Bezirksämter sofort loslegen. Wären nicht die Bedenken durch Anwohnerinnen. Aktuelles Beispiel für eine solche Hürde ist die geplante Fahrradstraße in der Handjerystraße im bürgerlichen Wohnbezirk Friedenau.

Oben: Regelquerschnitt für eine Fahrradstraße mit Längsparkständen Unten: Empfohlene Mindestbreiten für eine Fahrradstraße, wenn die verfügbaren Breiten für Regelmaße nicht ausreichen, geringe Verkehrsstärken und gute Sichtbeziehungen vorhanden sowie nur wenige Parkwechselvorgänge bei Anwohnerparken zu erwarten sind (aus dem Leitfaden Fahrradstraßen).

Handjerystraße: Konflikt um gefühltes Parkrecht

Hier stimmen alle Voraussetzungen: Nach einer Verkehrszählung passieren vier Mal so viele Radfahrende wie Kraftfahrzeuge die Handjerystraße. Ist das Fahrrad schon oder „alsbald“ die vorherrschende Verkehrsart, weisen auch die Verwaltungsvorschriften (VwVStVO) Fahrradstraßen den Weg. Zudem ist die Straße Teil des Berliner Radverkehrsnetzes. Sie stellt eine wichtige Verbindung zum Nachbarbezirk dar. Der logische Beschluss der Bezirksverordneten, die Handjerystraße zur Fahrradstraße zu machen, geht bereits auf das Jahr 2015 zurück. Dagegen lief zuletzt der Bundestagsabgeordnete Jan-Marco Luczak (CDU) Sturm. Im Januar verteilte seine Partei in Friedenau rund 4300 Fragebögen im Kiez. Ergebnis: „65 Prozent und damit zwei Drittel sprachen sich gegen eine Fahrradstraße aus, wenn dadurch Parkplätze verloren gehen“, so Luczak. Er fordert: Fahrradstraße ja, aber Erhalt der Stellplätze.
Der Wegfall von gut einem Drittel der Parkplätze schafft gerade die Basis für eine Fahrbahngasse zwischen 4 und 4,5 Metern. Damit können Radfahrende wie in Fahrradstraßen vorgesehen sicher nebeneinander fahren oder sich gegenseitig überholen. Hinzu kommt noch ein Abstand zu parkenden Autos zur Prävention von Dooring-Unfällen. Der Berliner Leitfaden gibt einen 0,75 Meter breiten Sicherheitstrennstreifen zur Fahrgasse vor. Luczak stellt diese Logik der Unfallverhütung auf den Kopf und sagt: „Wenn die Straße plötzlich vier Meter breit wird, fürchte ich, dass es zu mehr riskanten Überholmanövern und zu Rasereien kommt.“
Dass hinter allem Furor über vernünftige Fahrradstraßen in erster Linie die Sorge um den Wegfall angestammter Parkplätze steht, sieht Changing-Cities-Sprecherin Ragnhild Sørensen. Sie nennt das einen „Kulturschock“: „Seit 80 Jahren ist klar: Ich kann mein Auto kostenlos vor der Haustür parken. Es wurde suggeriert, es gäbe dieses Recht. Selbst wenn es nirgendwo steht. Wenn alle Bürger 400 Meter bis zum nächsten Mobilitätsangebot gehen müssen, ist Autobesitzern die gleiche Strecke zum nächsten Parkplatz zumutbar. Da existiert ein Ungleichgewicht. Aber das muss man auch mitkommunizieren.“
Vor dem Hintergrund solcher Widerstände empfiehlt der Berliner Leitfaden eine Öffentlichkeitsarbeit schon im Zuge der Planungen, vor und bei Einrichtung einer Fahrradstraße: darunter Flyer, Plakate, öffentliche Informationsveranstaltungen sowie Eröffnungsfeiern. Damit kann zugleich Aufklärungsarbeit zu den Verkehrsregeln in Fahrradstraßen erfolgen.
Sollen Fahrradstraßen erfolgreich vermittelt werden, sind jedoch nicht nur Verkehrsplaner gefragt. Seitens der Politik müssen komplexe Zusammenhänge erklärt werden, die weit über die eigene Haustür hinaus reichen. Im Pandemiejahr 2021 hat der Verkehrssektor drei Millionen Tonnen mehr Treibhausgase verursacht als vom Klimaschutzgesetz vorgegeben. Deshalb müssen klimaschädliche Verkehrsarten wie das Auto weiter reduziert werden. Sørensen kritisiert eine fehlende entsprechende Kommunikation: „Auch diesen großen Kontext muss man mit kommunizieren. Die Politik muss sagen, dass wir diesen Weg gehen müssen. Was dazu führt, dass wir weniger Parkplätze haben. Weil sich das sonst für Autofahrer anfühlt, als werden sie nur angegriffen und müssen verzichten.“

Auch als Fahrradstraße herrscht in der Stargarder Straße noch eine hohe Pkw-Dichte. Der Radverkehr muss sich in der Fahrradstraße deshalb oft an querparkenden Fahrzeugen vorbeidrängeln.

Stargarder Straße: Schilder reichen nicht

Eine gute Nachricht vorneweg: In der Stargarder Straße im Prenzlauer Berg wirkte sich eine Maßnahme verkehrsentlastend aus, die selten im Fokus steht. Sie wird auch nicht von Verkehrsplaner*innen, sondern von der Google-Community gesteuert: Das kostenlose Navigationssystem Google Maps ist wegen der genauen Abbildung aktueller Verkehrslagen beliebt bei Autofahrern. Neben Echtzeitinfos über freie, zähflüssige oder Stauabschnitte, werden Vorschläge zur Stauumfahrung ausgegeben. Melden viele Nutzende dem Unternehmen, dass es sich bei einem angebotenen Schleichweg um eine nicht durchgängig befahrbare Fahrradstraße handelt, wird er nicht mehr angezeigt. Ragnhild Sørensen weist darauf hin, dass zahlreiche Nutzermeldungen den Kfz-Verkehr in der Stargarder Straße bereits reduziert haben.
Trotzdem herrscht in der Fahrradstraße eine immer noch hohe Dichte an Pkw- und Lieferantenverkehr. Hinzu kommt das Querparken zu beiden Seiten. Dabei sieht der Berliner Leitfaden schon aus Sicherheitsgründen das Längsparken vor. Und die Regeln der Straßenverkehrsordnung sind eindeutig: Fahrradstraßen sind dem Radverkehr vorbehalten. Kfz, Lkw und Motorräder dürfen hier nicht fahren. Ausgenommen, sie sind für Anlieger freigegeben. Radfahrerende nutzen die gesamte Fahrbahnbreite, dürfen nebeneinander fahren und geben die Geschwindigkeit vor. Für alle gilt Tempo 30 km/h. Das soll dem Auto die weithin praktizierte Vorrangstellung nehmen. Im Alltag sieht das oft anders aus. Obwohl sie eine Fahrradstraße befahren, drängen sich in der Stargarder Straße nicht wenige Radfahrende rechts an den Randstreifen. Gefährlich nah an den dort quer parkenden Autos. Ein Grund dafür dürfte die regelwidrige Präsenz von Pkws sein.
Immer wieder zeigen Untersuchungen, unter anderem der Unfallforschung der Versicherer (UDV), dass Autofahrende die Regeln in Fahrradstraßen ignorieren. UDV-Leiter Siegfried Brockmann sagte gegenüber dem rbb24 (27.05.22), „dass sehr viele Autofahrer den Bedeutungsinhalt des Schildes ‚Fahrradstraße‘ nicht kennen oder zumindest nicht alle Inhalte“. Deshalb ist eine entsprechende Aufklärungsarbeit zum Verkehrszeichen 244.1, am besten zeitgleich mit der Einrichtung der Fahrradstraße unumgänglich.
Ebenso erschwert die verbreitete Uneinheitlichkeit des Fahrradstraßendesigns eine intuitive Wiedererkennung im bundesweiten Verkehrssystem. Mangels Ausführungen in den knappen Regelwerken „hat sich deutschlandweit mittlerweile ein ‚bunter Strauß‘ an Fahrradstraßen entwickelt“, heißt es etwa im Fahrradstraßen-Leitfaden der Uni Wuppertal und des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu). Im Beispiel Stargarder Straße kommt ein weiteres Dilemma hinzu. Sørensen sagt: „Wegen Lieferschwierigkeiten wurden nur kleine Schilder aufgestellt.“ Bis Autofahrende nacheinander die kleinen Schildchen „Vorfahrtsstraße“, „Abbiegepfeile“ und „Anwohner frei“ registriert haben, haben sie die Kreuzung längst passiert. Selbst wenn die Verkehrszeichen in einer Fahrradstraße gut sichtbar montiert sind: Allein mit dem Aufstellen von Schildern ist es noch nicht getan. Der häufig noch vorhandene Durchgangs-Autoverkehr sollte zusätzlich durch bauliche Maßnahmen verhindert werden. Stichwort: Modale Filter.

Wenn Fahrradstraßen gebaut werden, dürfen kommunikative Maßnahmen nicht zu kurz kommen.

Erst bauliche Maßnahmen haben das Weigandufer bei Radfahrenden deutlich populärer werden lassen.

Weigandufer: Lösungen mit Modalfilter

Dass Autofahrende wie im Prenzlauer Berg die Fahrradstraße missachten, kannte man auch in Neukölln. Noch 2019 berichtete Michael Ihl vom Netzwerk Fahrradfreundliches Neukölln dem Tagesspiegel: „Das Weigandufer wird aktuell als Rennstraße genutzt. Wir werden weggehupt, Motoren brausen auf, es kommt täglich zu krassen Eskalationen.“
Erst mit der Umsetzung baulicher Maßnahmen wurde die beabsichtigte Verkehrsteuerung verbessert. Die Fahrradstraße gewann bei Radfahrenden rasch an Popularität. Die Leitfäden empfehlen Quer- und Diagonalsperren oder eine neue Platzgestaltung. Modalfilter (Poller) lassen Fahrräder passieren, stoppen aber Autos oder zwingen die Fahrer*innen an Kreuzungen zum Abbiegen, was in der Stargarder Straße noch vielfach vom Durchgangsverkehr ignoriert wird. So wurde mit dem teilweisen Rückbau der Fahrbahn zwischen Wildenbruchstraße und Innstraße in Neukölln der Autoverkehr mit modalen Filtern ferngehalten. Auch Gehwege wurden neu bebaut und begrünt.
Die Fahrradstraße erstreckt sich heute über knapp 1,6 km. Kraftfahrzeuge sind innerhalb der Fahrradstraße Weigandufer nur als Anlieger zugelassen. An Kreuzungen wurde die Vorfahrtsregelung zugunsten der Fahrradstraße geändert. Das Autoparken an Stellen durch Fahrradbügel ersetzt, die ebenfalls von rotweißen Pollern begrenzt werden. Damit wurde auch eine bessere Sichtbeziehung für eine Unfallprävention an Knotenpunkten umgesetzt. Ergebnis: Heute wird das Weigandufer größtenteils nicht mehr als Schleichweg genutzt, um die Sonnenallee zu umfahren. Deutlich sichtbar sind dort Eltern und Kinder auf ihren Fahrrädern unterwegs am Uferweg, der ein beliebtes Erholungsgebiet ist.

Statt Parkplatz auf ÖPNV und Rad umsteigen

Noch einmal zurück zur Handjerystraße in Frohnau. Trotz Bürgerprotesten geht es dort im Herbst nun zunächst an die Umsetzung des nördlichen Teilstücks der neuen Fahrradstraße. Dafür werden Beschilderungen wie das Fahrradstraßenschild mit „Anlieger frei“ und Tempo 30 eingerichtet sowie die Vorfahrtsregelung für die Fahrradstraße angepasst. Zudem wird die Markierung für den Sicherheitsstreifen zum ruhenden Verkehr angebracht. Wo Parkplätze die Mindestbreite der Fahrbahngasse von vier Metern nicht erlauben, werden sie wechselseitig weggenommen. Das Parken wird nur noch einseitig möglich sein.
Das ersatzlose Streichen von Parkplätzen befürwortet auch die Changing-Cities-Sprecherin Sørensen. Denn: „Was sollte man den Parkenden anbieten? In Berlin haben wir einen guten ÖPNV. Den sie sicherlich auch nutzen. Denn man sieht ja die Fahrzeuge herumstehen. Was man weiter anbieten kann, sind die Vorteile, für die, die aufs Fahrrad umsteigen können. Außerdem gibt es umweltfreundliche Car-Sharing-Angebote. Und was wäre die Alternative? Wir werden die Klimaziele nie erreichen, wenn wir die ganze Zeit über diese Kleinigkeiten sprechen. Und dann haben wir ein Riesenproblem: Wir haben einfach keine Zeit mehr.“  


„Es fehlt das übergreifende Design“

Interview mit Ragnhild Sørensen, Sprecherin von Changing Cities e. V.

Welche Bedeutung haben Fahrradstraßen für die Verkehrswende?
Fahrradstraßen sind wichtig, weil sie das Vorrangsprinzip auf den Kopf stellen. Und sie lassen sich mit wenigen Mitteln umsetzen: Im Vergleich zum Pollern ganzer Hauptverkehrsstraßen ist der Aufwand geringer.

Was ist gesellschaftlich das Haupthindernis?
Die Parkplätze! Das ist ein Kulturschock: Seit 80 Jahren ist klar, ich kann mein Auto vor der Haustür parken. Und zwar kostenlos. Auch wenn es nirgendwo steht, wurde suggeriert, dass es dieses Recht gibt. Wenn man jetzt sagt, alle Bürger müssen 400 Meter bis zum nächsten Mobilitätsangebot gehen, kann man diese Strecke auch den Autobesitzern bis zum nächsten Parkplatz zumuten. Da existiert ein Ungleichgewicht. Aber das muss man auch mitkommunizieren.

Was könnte man den Autobesitzer*innen anbieten?
Wir müssen uns an dieser Stelle ehrlich machen. Den gemeinsamen Raum, den wir dort draußen haben, packen wir zu mit Autos. Die stehen 23 von 24 Stunden herum. Solche Stehzeuge können wir uns auf Dauer nicht leisten. Aus der Gewohnheit heraus ist das für viele bitter. Aber was sollte man ihnen anbieten? In Berlin haben wir gute ÖPNV- und Car-Sharing-Angebote. Nicht zuletzt geht es um die Vorteile für alle, die aufs Fahrrad umsteigen können. Und die Erfahrung aus anderen Ländern zeigt: Die Leute nehmen nicht den längeren, sondern den kürzeren Weg. Also steigen sie auf andere Verkehrsmittel um.

Woran hapert es sonst bei Einrichtung von Fahrradstraßen?
Im Berliner Leitfaden für Fahrradstraßen ist das Querparken nicht vorgesehen, weil es zu gefährlich ist. Trotzdem wird es gemacht. Dieser Leitfaden wird je nach Bezirk anders ausgelegt. Die einen nehmen großzügig Parkplätze weg. Andere behalten sie. Die einen malen großflächig auf dem Asphalt, anderen reicht eine Beschilderung. Im Prinzip ist das nichts anderes als Kommunikation: Man muss den Verkehrsteilnehmern kommunizieren, wie sie sich zu verhalten haben. Sind Sprache und Zeichen nicht eindeutig, entstehen die Probleme.

Welche Lösung schlagen Sie vor?
Es fehlt das übergreifende Design. Wo sich die Expertinnen und Experten hinsetzen und sagen: Wie kommunizieren wir das so eindeutig, damit Verkehrsteilnehmer überall dieselben Zeichen vorfinden? Wir brauchen überall denselben farblichen Untergrund. Jetzt müssen wir Schilder lesen. Und Schilder lesen ist unpraktisch im Verkehr. Mit der Uneindeutigkeit fehlt die Orientierung.

Warum sind Modalfilter dabei unverzichtbar?
Solange wir keine physischen Barrieren hinstellen, existieren Fahrradstraßen in den Köpfen der Autofahrer noch nicht. Wenn man sich später an die Transformation der Stadt gewöhnt hat, kann man sie wieder wegnehmen. Aber für den Anfang müssen wir Poller setzen. So kommen Autofahrer in einer Straße fast überall hin, werden aber auch hinausgeführt. Arbeitet man mit absenkbaren Modalfiltern, sodass auch ÖPNV-Busse durchkommen, wird es richtig spannend.

Wie sieht es mit den Lieferverkehren aus?
Die basale Lösung sind ausgewiesene Lieferzonen. Das hat in Holland oder in Kopenhagen prima funktioniert und bedeutet: Extraparkplätze für Lieferanten. Außerdem kann man es zeitlich begrenzen. Nur vormittags oder nachmittags. In der Schönhauser Allee wird auch geschützter Radweg gebaut werden, da gibt es dann Lieferzonen. Das heutige Bild, dass sie in der zweiten Reihe direkt davor parken, geht ja eigentlich nicht. Was wir auch wissen: Lieferanten sind mit zu großen Wagen unterwegs, die nur halb vollgeladen sind. Das ließe sich effizienter organisieren: Die letzte Meile mit dem Lastenrad. Und würde man alles konsequent durchdigitalisieren, könnte man vorhandene Transportwege für den Lieferverkehr nutzen. Vielleicht könnten auch Taxifahrer mitliefern. Oder die U-Bahn, wenn sie nachts nicht fährt.


Bilder: SenUMVK – R.Rühmeier, wscher, Kristina Bröhan, BUW/SVPT, Norbert Michalke

Im ehemals von der innerdeutschen Grenze getrennten Harz treffen noch immer drei Bundesländer aufeinander. Ein im EU-Programm Leader gefördertes Projekt zeigt, wie verschiedene Regionen für eine gemeinsame Sache zusammenkommen können. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Radfahren spielt im Harz bisher höchstens auf ausgewählten Mountainbike-Trails eine Rolle. Dominant sind in dem deutschen Mittelgebirge und seinem Umland der Ski- und Wandertourismus. Wie schafft man in so einer Region Motivation dafür, Radtourismus, Verleih- und Fahrradinfrastruktur zu fördern? Kurz gesagt braucht es einen ganzheitlichen Ansatz, der viele Projektpartner und -träger in einem Ziel gemein macht. „Wir wollten mehr, als ein paar Radwege zu schaffen oder zu beschildern“, beschreibt Mario Wermuth das Projekt Genuss-Bike-Paradies Harz/Braunschweiger Land, das er mitinitiiert hat.
Die Kooperation verbindet insgesamt acht Akteure, die über Regionen, Bundesländer und internationale Grenzen hinweg zusammenwirken und mit einem gemeinsamen Ziel die europäische Leader-Förderung (siehe Kasten auf Seite 68) in Anspruch nahmen. Dabei handelt es sich um drei Leader-Regionen aus Sachsen-Anhalt, drei Leader-Regionen und eine ILE-Region (Integrierte Ländliche Entwicklung) aus Niedersachsen und eine österreichische Leader-Region, das Südburgenland.

Die Grundidee des Genuss-Bike-Paradieses lautet, dass der E-Bike-Tourismus für den Harz und das Braunschweiger Land ein großes ungenutztes Potenzial birgt. Die Touren verbinden kulinarische und kulturelle Highlights mit Ladeinfrastruktur und Gaststätten.

Genuss und Fahrrad kombinieren

Weil das Südburgenland als Partner der gemeinsamen Tourismusmarke E-Bike-Paradies involviert ist, ist die Kooperation transnational. Die Idee, Genuss und Fahrrad miteinander zu kombinieren, wird dort schon länger praktiziert. An einen Austausch-Besuch 2019 erinnert sich Mario Wermuth gut. Unter anderem war die deutsche Delegation auf einem Weingut zu Gast, auf dem der gemeinschaftliche Gedanke spürbar wurde. „Da waren dann auch andere Winzer, die ihren Wein ausgeschenkt haben“, erzählt Wermuth.
Solche Erfahrungen mit dem Aufbau eines „E-Bike-Paradieses“ im Südburgenland sollten auf den Harz übertragen werden. Im Gegenzug ist geplant, die Erfahrungen mit dem Belohnungssystem der Harzer Wandernadel für das E-Bike-Paradies im Südburgenland nutzbar zu machen.
Im Südburgenland tritt der gleichnamige Verein als Projektträger auf. Eine solche Verantwortungsstruktur brauchte es auch in den anderen Regionen. Dafür sind Organisationen unterschiedlicher Art zusammengekommen, etwa der Landkreis Goslar oder die Gemeinde Huy in Sachsen-Anhalt. Für die Leader-Region Harz ist das E-Bike-Verleih-Unternehmen HarzMobil zuständig, das Mario Wermuth gemeinsam mit Alexander Waturandang verantwortet. Sie gaben den ersten Impuls für das regionsübergreifende Vorhaben.
„Mein ursprünglicher Anlass, das Ganze zu machen, war, den Harz als E-Bike-Region bekannt zu machen und alle lokalen Betriebe zusammenzubringen, die am E-Bike-Tourismus interessiert sind“, schildert Wermuth. Eine Erhebung hatte ergeben, dass die durchschnittlichen Tourist*innen durchaus mehrere Übernachtungen in der Region verbringen. Diese Zeit füllen sie mit unterschiedlichen Aktivitäten. Fahrradfahren spielte im Harz gegenüber dem Wandern und Skifahren bisher jedoch eine untergeordnete Rolle, so die Wahrnehmung. Wenn überhaupt, geschehen die Buchungen für Fahrräder spontan und für kurze Dauer. Um neben den anderen Freizeitaktivitäten nicht unterzugehen, müsste man den Harz für E-Bikes aufbereiten, überlegte Alexander Waturandang 2016. Die Idee war sicher nicht völlig selbstlos. Der E-Bike-Verleiher HarzMobil betreibt insgesamt fünf Stationen, Waturandang ist zudem Inhaber des Fahrradladens Bike and Barbecue in Hornburg.

Bike-Paradies bringt lokale Wirtschaft zusammen

Das Genuss-Bike-Paradies umfasst 14 Sterntouren und einen mehrtägigen Rundweg, dessen Etappen zwischen 24 und 65 Kilometern messen. Sie verlaufen auf bereits bestehenden Radwegen und verbinden verschiedene Points, aber auch Service-Punkte und Ladeinfrastruktur. Waturandangs Fahrradgeschäft wurde letztendlich nur über eine Sterntour in das Streckennetz eingefügt. Die Region nördliches Harzvorland, in der Hornburg liegt, ließ sich nicht für das Vorhaben gewinnen.
Fahrradvermieter sind nicht die einzigen Unternehmen, an denen die Routen vorbeiführen. Über die Website www.genuss-bike-paradies.com lassen sich auch Unterkünfte finden. Zudem können Touristinnen über den Reiter Arrangements ganze Leistungspakete buchen. Die Strecken verlaufen entlang diverser Einkehrmöglichkeiten und kultureller Highlights, darunter eine Glasmanufaktur in Derenburg und ein Brauhaus in Quedlinburg. Über die auf Outdoor-active-Karten basierende App können die E-Bikerinnen diese Points of Interest (POI) schnell ausfindig machen und ansteuern.
Als Zielgruppe insbesondere Radfahrende mit elektrischer Unterstützung anzusprechen, mag heute nicht mehr ungewöhnlich erscheinen. Als Wermuth und Waturandang vor rund sechs Jahren anfingen, die Projektidee zu entwickeln, war dieser Ansatz allerdings noch durchaus bemerkenswert. „Da brauchte man etwas Weitblick, um da mitzumachen“, ordnet Waturandang die Anfänge ein. Der offizielle Startschuss des Projekts fiel 2020. Die Formalitäten, die die Leader-Förderung mit sich brachte, bremsten die Geschwindigkeit des Vorhabens. „Wir hätten gerne schon zwei Jahre früher begonnen“, so Wermuth. Ende Juni dieses Jahres ist zumindest die Förderung ausgelaufen und das Entstandene mit einer Abschlussveranstaltung gefeiert worden.

Vereint entgegen dem historischen Trend

Grund zu feiern hatten die Projektpartner auch deshalb, weil die grenzübergreifende Zusammenarbeit für den Harz einen besonderen Wert hat. In der deutschen Raumordnung und Geschichte ist das Mittelgebirge und dessen Vorland etwa durch die ehemalige Grenze zwischen der DDR und der BRD zerrissen worden. Auch heute zeigt beispielhaft der Dreiländerstein südlich von Benneckenstein, dass im Harz die Grenzen zwischen Sachsen-Anhalt, Thüringen und Niedersachsen aufeinandertreffen. Das kann auch Radtourist*innen vor Schwierigkeiten stellen, wenn eine bestimmte Beschilderung beim Überschreiten der Ländergrenze einfach aufhört.
So viele durch den Harz und das Braunschweiger Land verbundene Akteure an einen Tisch zu bringen, brachte dem Vorhaben aber nicht nur Vorteile. Es bedurfte und bedarf einer intensiven Abstimmung, weil die Projektziele der einzelnen Träger sehr individuell sind und erst auf einen Nenner gebracht werden müssen, so ein Learning des Genuss-Bike-Paradieses.
Was zunächst nach viel Koordinationsarbeit klingt, soll am Ende allen Beteiligten einen Skalierungsvorteil bringen, erklärt Waturandang. Nur in einer größeren Gemeinschaft können Projekte wie das im Harz und Braunschweiger Land gut funktionieren. Er zieht den Vergleich zu einem Kneipenviertel. Eine einzelne Kneipe in einer willkürlichen Straße zieht kaum Menschen an. Wenn sich allerdings ein ganzes Viertel entwickelt, in dem es viele Gaststätten gibt, ist die Attraktivität höher. Indem die einzelnen Regionen für das Genuss-Bike-Paradies an einem Strang ziehen, nehmen die Menschen sie von außen als Einheit wahr und sie können besser mit anderen Regionen oder Freizeitaktivitäten konkurrieren.

Pandemie hat dem Projekt nicht geschadet

Fast schon ironisch scheint es da, dass die Projektpartner aufgrund der Pandemie nicht in körperlicher Präsenz zusammenarbeiten konnten. Online-Veranstaltungen, in denen das Projekt vorgestellt wurde, erwiesen sich rückblickend eher als Vorteil und stießen auf großes Interesse seitens der lokalen Unternehmen. Rund 120 interessierte Unternehmen wollen bereits mitwirken, viele von ihnen haben eine entsprechende Vereinbarung schon unterzeichnet. Die Betriebe wurden im Hinblick auf die Bedürfnisse von E-Biker*innen qualifiziert.
Viele Akteure zu vereinen, war im Fall Genuss-Bike-Paradies auch vorteilhaft, weil das Projekt damit einen Grundgedanken des Leader-Programms verfolgte und förderfähig war. Im Rahmen des Förderprogramms verantworteten die einzelnen Träger verschiedene Aufgaben, die externe Dienstleister dann umsetzten. HarzMobil übernahm das Social-Media-Management und entwickelte ein Stempelsystem, das dazu anregen soll, das Genuss-Bike-Paradies möglichst vollumfänglich zu bereisen. Andere Akteure planten etwa die Touren oder entwickelten Marketing- und Vertriebskonzepte.
Ein richtiges Resümee zum Projekterfolg lässt sich noch nicht ziehen, auch wenn erste Vorzeichen gut aussehen. „Wir merken auf jeden Fall, dass immer mehr Leute diese Touren abfahren“, verrät Alexander Waturandang. Vor ein paar Wochen sind auch Broschüren und Karten gedruckt und verteilt worden.

„Wir wollten mehr, als ein paar Radwege zu schaffen oder zu beschildern“

Mario Wermuth, HarzMobil
Die Smartphone-Anwendung fungiert als Schaltzentrale des Genuss-Bike-Paradieses. Dazu gehören auch Kartendaten mit Navigation, deren Grundlage das Kartenportal Outdooractive ist.

Es bleibt viel zu tun

An einer Perspektive, was das Genuss-Bike-Paradies langfristig sein und leisten kann, mangelt es den Verantwortlichen nicht. Die Touren sollen erweitert und neue Arrangements entwickelt werden. Das Marketing fokussiert bereits die nächste Saison, dort soll die E-Bike-Region richtig wirksam werden.
Mit Blick auf die Zukunft und die nun ausgelaufene Förderung müssen die Projektpartner außerdem die Organisationsstruktur auf neue Fundamente stellen. Die Hotels, deren Zimmer und Angebote über die neue Website buchbar sind, nutzen diesen Service bisher kostenlos. In Zukunft sollen sie einen Mitgliedsbeitrag zahlen, als Gegenleistung für die prominente Online-Darstellung. Geplant ist weiterhin, einen Verein zu gründen, in dem sich die Mitgliedsbetriebe dann organisieren können und der die bisher vom Harz-Tourismus-Verband verantwortete Website betreiben soll.
Man müsse solche Projekte einfach angehen, anstatt vor den Formalien zurückzuschrecken, rät Wermuth anderen Regionen. Die Chancen übersteigen schließlich den Aufwand.
Die Projektinitiatorinnen benötigen ein gewisses Durchhaltevermögen, müssen hinter der Idee stehen und auch bereit sein, diese auch nach außen zu repräsentieren. Und die Protagonistinnen sollten, wenn möglich, nicht allein agieren. Die Vorteile der Gemeinschaft scheinen also auf allen Handlungsebenen relevant zu sein. 

LEADER-Programm:

Das Akronym LEADER steht ins Deutsche übersetzt für „Verbindung zwischen Aktionen zur Entwicklung der ländlichen Wirtschaft“. Dabei handelt es sich um ein Maßnahmenprogramm der Europäischen Union, das aus dem Landwirtschaftsfonds ELER finanziert und mit Mitteln der Länder, des Bundes und der Kommunen aufgestockt wird. Dass sich, wie im Falle des Genuss-Bike-Paradieses mehrere Akteure zusammentun, ist Teil des Konzepts, seit es 1991 eingeführt wurde. In den derzeit 321 deutschen LEADER-Regionen des bis Ende 2022 laufenden Förderzeitraums erarbeiten lokale Aktionsgruppen vielfältige Entwicklungskonzepte.

Mehr Infos unter:
https://enrd.ec.europa.eu/leader-clld_de


Bilder: Openstreetmap – Schmidt-Buch-Verlag, L. Weber, DVS

Corona hat auch den Radtourismus gedrosselt, doch im Hintergrund läuft ein solider Boom. Wie machen sich Spezialisten für den Fahrradtourismus der Zukunft fit? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Man kann nicht behaupten, dass Radtouristiker in den vergangenen zwei Jahren leichtes Spiel gehabt hätten. Auch wenn der Fahrradmarkt boomte und die Menschen sich unter Pandemiebedingungen wieder auf das Fahrrad besonnen haben, so war das Geschäft mit Gästen auf Rädern doch ebenso problematisch wie der gesamte Tourismus. Bei der Active Travel AG, besser bekannt für ihre Radsport-Reisemarke Huerzeler, ging es seit März 2020 jedenfalls ans Eingemachte. Politische Maßnahmen, Zurückhaltung bei Reisenden, Unsicherheiten der Pandemie – mehr als ein Jahr lang war die Stimmung schlecht, die Erlöslage kritisch, Kurzarbeit und Räderverkauf waren Mittel der Krise. „Doch seit dem Herbst 2021 erleben wir etwas ganz anderes“, sagt CEO Urs Weiss. Auf den besten Herbst der Unternehmensgeschichte folgte ein Frühjahr 2022, bei dem Huerzeler seine komplette Rennradflotte fast dauerhaft vermietet und auch mit seinem Pauschalreisen-Angebot enorme Kundenzahlen erreicht hat. „Was die Nachfrage aus Deutschland anbelangt, haben wir 2022 sogar unser Rekordjahr 2019 übertroffen“, sagt Weiss. „Die sportiven Reisen nach Mallorca sind so beliebt, dass wir Probleme hatten, genug Räder vorzuhalten.“ Dank guter Beziehungen zum Hersteller Cube konnte Huerzeler trotz der schwierigen Marktlage aber 400 zusätzliche Rennräder und 200 E-Bikes organisieren, um den wiedererstarkten Radtourismus kommerziell umzumünzen.
„Der Radtourismus ist relativ gut davongekommen“, bilanziert Christian Tänzler, der beim Allgemeinen Deutschen Fahrrad Club (ADFC) als ehrenamtlicher Vorstand für Tourismus verantwortlich zeichnet und in seinem Hauptberuf als Sprecher bei visitBerlin arbeitet. Jahr für Jahr stellt der ADFC seine Radreiseanalyse vor, und die Zahlen für 2020 und 2021 dokumentierten einen Rückgang gegenüber den Jahren davor. „Man darf allerdings nicht vergessen, dass der Tourismus in der Pandemie bis Juni 21 durch Lockdowns quasi nicht mehr möglich war“, sagt Tänzler.

Sprunghafte Rückkehr zu neuer Normalität

Schaut man mit diesem Gedanken erneut auf die Zahlen, dann ist ein erheblicher Sprung im Jahr 2022 zu erwarten. „Die Pandemie hat zu einem Bewusstseinswandel geführt, das Fahrrad als Fortbewegungsmittel ist wesentlich interessanter geworden“, sagt Tänzler. Immer stärker verbreitet haben sich E-Bikes auch als hochwertige Räder für längere Strecken, was wiederum die Fantasien der Touristiker mit Blick auf zahlungskräftige Kundschaft beschwingt, die auch mal ein paar Kilometer mehr pro Tag zurücklegen und auf ihren Reisen so noch mehr erleben können. Radtourismus, sagt Tänzler, ist auch für die Anbieter rundum attraktiv geworden. Fünf-Sterne-Hotels zeigten sich fahrradfreundlich, Radfahren habe ein positives, umweltfreundliches Image und für immer mehr Menschen gehört das Fahrrad zum Lifestyle. Gute Bedingungen also für langfristiges Wachstum, wenn Kommunen investieren, personelle Ressourcen für die Planung aufbauen und die Infrastruktur für die Radler verbessern.
Ein Aspekt, den ADFC-Tourismusvorstand Christian Tänzler betont, ist der relevante Anteil von Tages- oder Kurz-Trips in der Gesamtzahl der Bewegungen in einer Fahrraddestination. „In der Pandemie hat es einen klaren Trend zu Microadventures gegeben, zu kleinen Ausflüchten ins Umland, bei denen die Menschen positive Impulse für ihre Gesundheit und ihr Seelenheil suchen“, sagt Tänzler. Diese Kundinnen sind für touristische Destinationen von hoher Bedeutung, sie bringen Umsatz beispielsweise für die Gastronomie und sind ein Gradmesser, ob eine Destination attraktiv für Radtouristinnen und -touristen ist und weiteres Potenzial hat.

„Diese konstante Erneuerung und Bereitschaft, Überliefertes abzulösen, ist für eine touristische Destination sehr wichtig“

Tilman Sobek, absolutGPS

Eine gute Tourismusdestination bietet für verschiedene Zielgruppen ein reichhaltiges Anbebot, das über eine abwechslungsreiche Streckenführung hinausreicht. Keine leichte Aufgabe.


Für Tilman Sobek, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens absolutGPS aus Leipzig, ist der Blick auf diese oft unterschätzte Zielgruppe nicht neu. In manchen Regionen mache der Anteil der Tagesausflügler mehr als die Hälfte der Kundschaft aus, aber auch in ausgeprägten Radtourismusgebieten mit starkem Fernverkehr seien es meist 15 bis 30 Prozent. Auch die ADFC-Daten zeigen, dass immerhin 14,2 Prozent der Radreisenden nur drei Nächte oder weniger reisen. Für eine touristische Destination sei dieses Publikum allerdings nicht nur Beifang: „Wie überzeugen Sie die Gäste aus der Nähe, dass sie neugierig auf eine meist vertraute Region werden oder noch einmal hinfahren?“, formuliert es Sobek.
Für Akteure im Radtourismus ergibt sich daraus ein Zwang zur Innovation, sagt Sobek. „Sie brauchen konstant neue Anstriche, das ist wie bei den erfolgreichen Betriebssystemen von Apple oder Google.“ Damit eine Destination attraktiv in der Wahrnehmung bleibt, müssten die Verantwortlichen trotz aller Eingebundenheit ins Tagesgeschäft bereit sein, jedes Jahr etwa 10 bis 20 Prozent ihres Angebots zu überarbeiten. Das kann das Foto- oder Videomaterial sein, die Präsenz in sozialen Medien oder eben auch die Arbeit am Kern der touristischen Streckenangebote. „Diese konstante Erneuerung und Bereitschaft, Überliefertes abzulösen, ist für eine touristische Destination sehr wichtig“, beobachtet Sobek.

Konstante Weiterentwicklung gehört zwingend dazu

Diese Notwendigkeit zur dauerhaften Evolution kennt Petra Wegener nur zu gut. Wegener ist Geschäftsführerin des Weserbergland Tourismus e. V. in Hameln und verantwortlich für die beliebteste Radroute Deutschlands, den Weser-Radweg. Er rangiert in der ADFC-Radreiseanalyse mit 13,9 Prozent der Reisenden noch vor Elberadweg und Main-Radweg als meistbefahrener Radfernweg des Landes.
Allerdings war es ein gehöriger Niedergang, der dem heutigen Triumph vorausging. Schon früh gab es zwar für damalige Verhältnisse ordentliche Wege entlang der Weser, schon in den Achtzigern war damit zunächst zwischen Höxter und Holzminden und später dann bis zur Nordsee eine Radroute erschaffen. „Man hielt das allerdings für einen Selbstläufer und investierte nichts mehr in die Infrastruktur und das Angebot“, erinnert sich Wegener. Erst 2008/9 gingen die Touristiker mit externer Beratung die Renovierung des Angebots an. „Es hat insgesamt etwa zehn Jahre gedauert, bis wir das heutige attraktive Angebot erfahrbar gemacht haben“, sagt Wegener und macht keinen Hehl daraus, dass diese Zeit für sie als Touristikerin sehr mühevoll war. Schließlich muss sich ihr Verein für den Weser-Radweg mit 16 Landkreisen und den darin liegenden Kommunen arrangieren, um das Produkt als Ganzes nach vorne zu bringen. Heute ist ihr Verein für die Gestaltung und das Marketing des Weser-Radwegs zentral zuständig, finanziert von nur vier Landkreisen und den angeschlossenen Städten und Gemeinden, aber zum Wohle der gesamten Strecke zwischen Mittelgebirge und Küste aktiv. „Wir müssen die Menschen immer wieder dazu bringen, dass sie das Gesamtbild der touristischen Route sehen“, sagt Wegener. Früher habe jeder nur an seinem Teilstück gearbeitet. Doch so habe kein orchestriertes, für Gäste attraktives Gesamtpaket entstehen können. Inzwischen hat man, auch dank Millionenförderungen aus EU-Mitteln, die Infrastruktur auf der gesamten Strecke verbessert und die Qualität des touristischen Angebots in einer eta­blierten Reiseregion mit Blick auf die Radfahrenden deutlich angehoben. Wegener hat hierfür mit dem ADFC zusammengearbeitet und die Strecke von den Experten des Verbands prüfen lassen. Anfangs war die Qualität sowohl der Wege als auch der touristischen Angebote zu gering, um in die Zertifizierung zu gehen – inzwischen verweist Wegener mit Stolz auf die vier Sterne für die ADFC-Qualitätsradroute.
Spricht man mit Wegener, dann wird schnell klar: Der Weser-Radweg ist nicht nur eine Route, an der Hotels und Biergärten stehen. Er ist ein touristisches Paket, das als solches erkennbar wird. Der Weser-Radweg bietet ein Erlebnis, nämlich die Tour von den Höhenzügen bis ans Meer, und zudem eine pittoreske Kulisse mit Schlössern, Burgen und weiteren Sehenswürdigkeiten in enger Taktung. „Wir wissen um diesen Kern und steigen deswegen nicht auf jeden kurzfristigen Trend ein“, sagt Wegener. Was allerdings keine Abwehrhaltung gegen Neuerungen bedeutet, im Gegenteil: Mit E-Bike-Tourismus hat man sich in Hameln schon früh beschäftigt, inzwischen ist eine klare Verjüngung der Zielgruppen auf dem Radweg zu sehen. „Corona hat das Verhalten der Menschen sehr verändert“, sagt Wegener, und so muss sich ihr Verein nun auf Marketing in neuen Kanälen einstellen: Onlinemarketing ist für sie sehr wichtig, Instagram ein zunehmend bedeutsamer Kanal, der Radweg hat sogar eine eigene App. „Im Zuge dieser Weiterentwicklung geht es auch stärker darum, die Nachhaltigkeit des Reiseangebots zum Thema zu machen und auch in unserer touristischen Arbeit den Klimawandel in den Blick zu nehmen“, sagt Wegener.

Die aktuelle ADFC-Radreiseanalyse zeigt die derzeit beliebtesten Fernradwege von Radreisenden.

Perspektivwechsel und mehr Investitionen gefragt

Geht es nach Tanja Brunnhuber, dann gibt es beim Radtourismus gerade in Deutschland noch viel zu tun. „Es hakt bei der Investitionsbereitschaft der kommunalen Politik, es hakt aber oft auch noch beim Thema fahrradfreundliche Betriebe“, sagt die Gründerin des Beratungsunternehmens Destination to Market. Ihr Kernargument: Wer mit Radreisenden Erfolg haben wolle, müsse die Perspektive wechseln. „Häufig denken die Touristiker noch angebotsorientiert, nicht nachfrageorientiert“, sagt Brunnhuber. Der Perspektivenwechsel bedeute, nicht Übernachtungsmöglichkeiten und Gaststätten zusammenzusammeln, sondern aus Sicht von Radurlaubern auf eine Region zu schauen, eben „nutzerorientiert denken“, wie es heutzutage heißt. Und das funktioniert aus ihrer Sicht nur, wenn der Radtourismus als Inszenierung funktioniert, wenn die empfohlene Kirche geöffnet, gute Abstellmöglichkeiten vorhanden und die Beschilderung radfahrfreundlich ausfalle. „Ganz weit vorne sind hier österreichische Gebiete, etwa Kärnten, wo Radtouristinnen und -touristen Pakete in rundum guter Qualität vorfinden.“ Es gehe darum, sagt Brunnhuber, dass die Inszenierung auch zur Region passe. Sie hat gerade mitgewirkt an einem Konzept, das jetzt in der Zugspitz-Region/Tourismusregion Pfaffenwinkel umgesetzt wird. „Wenn Sie ein touristisches Produkt entwerfen und im Rahmen eines Beteiligungsprozesses bis zu 50 Kommunen, den Naturschutz sowie unzählige private Eigentümer berücksichtigen müssen, bedeutet das auch Einschränkungen für die Möglichkeiten“, sagt Brunnhuber. So richten sich die Touristiker künftig verstärkt an Tourenfahrer, Rennradlerinnen und explizit auch an Gravelbiker. „Nach unseren Analysen sind gerade Gravelbiker für den Tourismus eine lukrative Zielgruppe, die touristischen Umsatz versprechen und zugleich nicht allzu hohe Anforderungen an die Infrastruktur mit sich bringen“, erklärt Brunnhuber.
Dass es nötig wird, mehr Mühe in die Produktentwicklung und die radtouristischen Pakete zu stecken, unterschreibt auch Berater Sobek von absolutGPS. Etwa 200 Destinationen gebe es heute in Deutschland, die um Radtouristinnen und -touristen werben, die Zahl habe sich in relativ kurzer Zeit verdoppelt, „da sehe ich schon einen Boom.“ In diesem Markt reiche es nicht, einfach als weiterer Anbieter für Radtourismus aufzutreten, sondern es gehe um das zielgenaue Schaffen von Touren, die zur Region passen. Sobek hält das Ruhrgebiet für ein sehr gutes Beispiel. Dort habe man sich erst später auf Velotouristen konzentriert, dann aber thematisch passende Erlebnisse geschaffen. „Und es gibt fünf Mitarbeitende, die sich um das Thema kümmern und die touristischen Produkte weiterentwickeln.“ Doch bei aller Konzentration auf qualitätsorientierte Reisende sieht Sobek im Fahrradmarkt noch ein weiteres Thema: Nicht in allen 16 Bundesländern werde es funktionieren, wenn sich die Tourismusvermarktung künftig nur auf die hochpreisigen Segmente konzentriert. Auch für preissensiblere Kundschaft müsse man weiter Angebote schaffen, denn ansonsten würden diese Zielgruppen in günstigere Nachbarregionen fahren und damit potenziellen Umsatz mitnehmen.
Klar festzustellen ist, dass die Kommunikation und das Marketing für die Radtouristiker zu immer komplexeren Aufgaben werden. Es reicht nicht, Schilder aufzustellen, Karten und Broschüren zu drucken und Tageszeitungen anzusprechen. Es geht darum, verschiedene Zielgruppen an unterschiedlichen digitalen Orten zu erreichen und dann an die eigene Destination zu binden. Dafür sind auch die Präsenzen der Urlaubsgebiete auf digitalen Navigationsangeboten immer wichtiger, beispielsweise im Angebot von Komoot. Laut ADFC-Radreiseanalyse ist dies die meistgenutzte App der Radreisenden in Deutschland. Mehrere Hundert Tourismusanbieter sind laut Komoot bereits auf der Plattform und werben dort für ihre Destinationen. Als Anbieter braucht man für ein Profil auf Komoot nichts zu bezahlen, kann aber die Reichweite über bezahlte Werbung steigern. „Erster zahlender Kunde waren übrigens die Bikehotels Südtirol, die 2016 für den Bike-Frühling in ihrer Region warben und heute 20.000 Follower auf Komoot haben“, berichtet Jördis Hille, Senior B2B Communications Manager bei Komoot. Das Unternehmen bietet Schulungen an, damit die Touristiker lernen, in dieser digitalen Welt ihre Destinationen zielgenau zu präsentieren.

„Häufig denken die Touristiker noch angebotsorientiert, nicht nachfrageorientiert.“

Tanja Brunnhuber, Destination to Market

Jüngere Radreisende mit höheren Ansprüchen

Erheblich ins Erscheinungsbild investiert hat man auch bei Mallorca-Radreise-Spezialist Huerzeler. Der Anbieter hat nun eine eigene App, macht Storytelling statt nüchterner Kataloge und hat ein Buchungsportal aufgezogen, in dem Rad, Hotel und Flug auf einmal gebucht werden können. Man hat also die Grundlagen für weiteres Wachstum gelegt, sagt CEO Urs Weiss. Dabei haben seine Leute in den vergangenen Monaten einen interessanten Trend bemerkt: Die Touristinnen und Touristen, die zum Rennradfahren beim Traditionsunternehmen kommen, sind inzwischen häufig deutlich jünger. „Unsere Stammgäste der Altersgruppe 50+ kommen nach wie vor, aber ganz neu sind Leute im Alter von 30 oder 40 Jahren“, berichtet Weiss. Die Kunden und Kundinnen sind auch anspruchsvoller. Sie ordern eher die teuersten Räder, sie zahlen mehr. Für den Touristiker ist das an sich eine gute Nachricht, allerdings wird das bei den Hotels künftig zu anderen Kalkulationen führen. Denn traditionell schliefen die Radsporttouristen zu zweit in einem Zimmer, inzwischen geht der Trend zur Einzelbelegung. In der nachwachsenden Zielgruppe scheint die Preisempfindlichkeit sehr viel geringer zu sein. „Dafür achten sie wesentlich mehr aufs Erscheinungsbild“, sagt CEO Urs Weiss. Er kündigt deshalb schon mal an, für diese Zielgruppe modernere Accessoires anzubieten.


Bilder: foto@bopicture.de, Tanja Brunnhuber, Weserbergland Tourismus e.V., ADFC Radreiseanalyse 2022

In Deutschland kann man Radverkehr studieren. An sieben Hochschulen und Universitäten landesweit. Die Kurzpor­träts der Professorinnen und Professoren, die zum Thema Fahrrad lehren und forschen, zeigen, wie vielfältig das Feld ist. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Rad mit Rückenwind – so betitelte das Bundesministerium für Verkehr und Infrastruktur (BMVI) seine Studie über Mobilität in Deutschland. Tatsächlich findet sich mittlerweile in 80 Prozent der hiesigen Haushalte (mindestens) ein Fahrrad, pro Tag werden 257 Millionen Wege mit dem Velo zurückgelegt und dem Umweltbundesamt zufolge ließen sich zumindest in der Theorie bis zu 30 Prozent der Autofahrten durch das Rad ersetzen.
Doch in der Praxis erfordert mehr Fahrradverkehr andere Infrastrukturen, anderes Mobilitätsmanagement und eine andere, fahrradfreundlichere Gesetzgebung. Damit das Rad künftig im Verkehr von Anfang an mitgedacht und -geplant wird, hat das BMVI Anfang 2020 sieben Stiftungsprofessuren Radverkehr vergeben, von denen aktuell sechs besetzt sind (die siebte in Karlsruhe interimsmäßig durch Prof. Dr. Joachim Eckart). Seitdem ist Radfahren Studienfach.
Wer sind die Menschen hinter den Professuren, die Studierende zu wichtigen Radverkehrsaspekten ausbilden und interdisziplinär zu nachhaltiger Mobilität forschen sollen? Wo liegen ihre Arbeitsschwerpunkte und was haben sie bisher erreichen können? Ein Überblick.

„Wir sind an einem Punkt in der Geschichte, wo wir es uns nicht mehr erlauben können, 20 oder 30 Jahre zu warten, um auf klimafreundliche Mobilität umzusteigen.“

Prof. Dr. Dennis Knese

Prof. Dr.-Ing. Dennis Knese


Frankfurt University of Applied Sciences

Vorherige Tätigkeiten unter anderem:
Berater für nachhaltige Mobilität bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit; wissenschaftlicher Mitarbeiter für Elektromobilität, Stadt- und Verkehrsplanung an der Frankfurt University

Lehr-/Forschungsschwerpunkte:
In Frankfurt gibt es keinen separa-ten Radverkehrsstudiengang, das Thema wird in verschiedene Studiengänge inte­griert. Je nach Studiengang behandelt Dennis Knese entsprechend verkehrsplanerische, ökonomische oder logistische Themen. In der Forschung arbeitet er im Research Lab for Urban Transport (ReLUT) und beschäftigt sich mit Mobilitäts- und Logistikthemen, zum Beispiel zu neuen Konzepten für die Straßenraum- und Infrastrukturgestaltung, die Auswirkungen von elektrischen Fahrrädern und Kleinstfahrzeugen sowie Potenzialen und Herausforderungen der Radlogistik.

Ziele in dieser Position:
Wege aufzuzeigen, wie sich das Fahrrad noch stärker als Mainstream-Fortbewegungsmittel und wichtige Säule im Verkehrssystem neben ÖPNV und Fußverkehr etablieren kann. „Wir sind an einem Punkt in der Geschichte, wo wir es uns nicht mehr erlauben können, 20 oder 30 Jahre zu warten, um auf klimafreundliche Mobilität umzusteigen. Die Bevölkerung muss verstehen, dass jeder seinen Beitrag leisten kann, um einerseits die dramatischen Auswirkungen des Klimawandels zu reduzieren und andererseits lebenswertere Städte zu schaffen“, sagt er. Dazu sei eine sachliche Diskussion nötig, die das Fahrrad als gleichberechtigtes Verkehrsmittel in Gesetzgebung, Verkehrspolitik und Planung berücksichtigt, zum Beispiel durch eine veränderte Straßenraumaufteilung, gut ausgebaute Radwegenetze und stärkere Anreizsysteme für nachhaltige Verkehrsangebote.

Persönliche Bedeutung des Fahrrads:
Das Fahrrad gehört seit frühester Kindheit zum Alltag von Dennis Knese. „In meiner Heimatregion, dem Emsland, war es völlig normal, dass wir mit dem Fahrrad zur Schule, zum Sport oder ins Stadtzentrum fahren“, erzählt er. Seit seiner Studienzeit ist er multimodal unterwegs, das heißt, er nutzt das Verkehrsmittel, welches er für den jeweiligen Zweck als am geeignetsten erachtet – zumeist das Fahrrad oder die Öffentlichen. „Ein eigenes Auto brauchen meine Familie und ich in Frankfurt nicht“, ist er überzeugt.

„Mein Ziel ist es, dass jeder Mensch an jedem Wohnort die freie Verkehrsmittelwahl und damit eine echte Alternative zum Auto hat.“

Prof. Dr.-Ing. Martina Lohmeier

Prof. Dr.-Ing. Martina Lohmeier


Hochschule Rhein Main Wiesbaden

Vorherige Tätigkeiten unter anderem:
Studiengang Mobilitätsmanagement und Studiengangsleitung Master Nachhaltige Mobilität, promovierte Bauingenieurin (Raum- und Infrastrukturplanung), Erfahrung als Planungs- und Projektingenieurin in der Verwaltung und im Consultingbereich

Lehr-/Forschungsschwerpunkte:
Martina Lohmeier hat sich bewusst in Wiesbaden beworben, da ihr die Kombination der verschiedenen interdiszi­plinären fachlichen Ausrichtungen der Kolleginnen und Kollegen im Bereich Mobilitätsmanagement gefiel. Sie möchte die Master- und Bachelorstudiengänge mitgestalten, in der Lehre liegen ihre Schwerpunkte bei der Planung und dem Entwurf von Rad- und Fußverkehrsanlagen, aber auch beim Management, also Betrieb, Erhaltung und Instandsetzung selbiger. In der Forschung haben sich im vergangenen Jahr drei Themenkomplexe stärker entwickelt: Gender-Mainstreaming (das heißt, unterschiedliche Auswirkungen für Männer, Frauen und Divers berücksichtigen), innovative Zustandserfassung und -bewertung von Radverkehrsinfrastruktur sowie die Beschreibung von Anforderungen an die urbane Radverkehrsinfrastruktur zur Förderung von Radlogistikkonzepten.

Ziele in dieser Position:
Motivierte Fachmenschen mit einem frischen, aber auch kritischen Blick auf die Planungspraxis möchte Martina Lohmeier aus- und weiterbilden. Sie sollen in ihren zukünftigen Jobs in der Verwaltung, in Ingenieurbüros, bei Verkehrsträgern, bei Anbietern von Sharingangeboten oder in Firmen, die innovative Lösungen im Verkehrssektor (er-)finden, aktiv zur Verkehrswende beitragen und neue Ansätze selbstbewusst umsetzen. Denn nur dann sei es möglich, die Maximen, nach denen zuerst der motorisierte Verkehr geplant wird und dann erst der Platzbedarf für Fahrräder und Fußgänger, umzudrehen. „Mein Ziel ist es, dass jeder Mensch an jedem Wohnort die freie Verkehrsmittelwahl und damit eine echte Alternative zum Auto hat“, fasst sie zusammen.

Persönliche Bedeutung des Fahrrads:
Vor dem Eintritt ins Berufsleben war das Fahrrad Martina Lohmeiers Hauptfortbewegungsmittel. „Ich habe mir darüber gar keine Gedanken gemacht, es stand einfach immer bereit“, erinnert sie sich. Nachdem es durch einen Umzug eine Weile dann fast aus ihrem Leben verschwunden war, spielt es nun wieder eine große Rolle – natürlich aus beruflichen Gründen und „weil ich jetzt ein Pedelec habe“, wie sie sagt.

„Mich begeistert das Fahrrad mit seiner Einfachheit und gleichzeitigen Perfektion.“

Prof. Dr. Angela Francke

Prof. Dr. Angela Francke


Universität Kassel

Vorherige Tätigkeiten unter anderem:
Promotion an der Professur für Verkehrspsychologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for International Postgraduate Studies of Environmental Management (CIPSEM), Professur für Verkehrspsychologie an der TU Dresden

Lehr-/Forschungsschwerpunkt:
Seit zehn Jahren forscht Angela Francke zu nachhaltiger Mobilität. Ganz aktuell bearbeitet sie mit ihren wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Fachgebiet verschiedene Forschungsprojekte, unter anderem zum 9-Euro-Ticket, zu Alleinunfällen bei Radfahrenden und deren Ursachen oder zum Einfluss von disruptiven Ereignissen auf eine nachhaltige und resiliente Verkehrsplanung in Städten am Beispiel der Corona-Pandemie, der Klimakrise sowie in Braunkohlefolgeregionen. Ein Schwerpunkt sind zudem internationale Projekte, zum Beispiel zur Förderung von Rad- und Fußverkehr in Ostafkrika.

Ziel in dieser Position:
Die Fahrradnutzung und der Umweltverbund insgesamt haben Angela Franckes Meinung nach viel Potenzial, hier werde mehr Forschung benötigt. Sie möchte mit ihrer Arbeit dazu beitragen, Radverkehr und umweltfreundliche Mobilität weiterzuentwickeln, um von der autozentrierten zur menschenzentrierten Perspektive in der Verkehrs- und Stadtplanung zu kommen. „Es ist für mich eine Herzensangelegenheit, den Radverkehr zu steigern und ihm die Wertigkeit zu geben, die er haben sollte“, sagt sie. Mit Freude sieht sie, dass das Fahrradfahren seit einigen Jahren mehr Aufmerksamkeit in der breiten Öffentlichkeit erfährt, „für eine weitere Steigerung benötigen wir mehr Wissen und gut ausgebildete Fachkräfte“. Eine Ausbildung in Radverkehr und nachhaltiger Mobilität insgesamt ist im neuen Master „Mobilität, Verkehr und Infrastruktur“ an der Uni Kassel möglich.
Angela Francke möchte ein Testfeld für nachhaltige Mobilität aufbauen, um damit über Studien im Feld, im Fahrradsimulator und über Befragungen noch mehr über die Radfahrenden, Nicht-Radfahrenden und ihre Bedürfnisse zu erfahren. Darüber hinaus ist die subjektive Sicherheit für die Radverkehrsförderung ein zentrales Thema ihrer Arbeit. Sie sieht das Thema nachhaltige Mobilität als eine globale Aufgabe und ist international tätig, vor allem in Sub-Sahara-Afrika und Osteuropa.

Persönliche Bedeutung des Fahrrads:
Angela Francke sammelt seit ihrer Jugend historische Fahrradtypenschilder und Fahrräder und interessiert sich für die Technik- und kulturelle Geschichte des Fahrrads in Vergangenheit und Zukunft. „Mich begeistert das Fahrrad mit seiner Einfachheit und gleichzeitigen Perfektion, seit Jahrzehnten quasi unverändert. Ich mag es, dass ich die Umwelt ganz direkt wahrnehmen kann und mit Muskelkraft unterwegs bin“, schwärmt die Professorin, die privat hauptsächlich mit einem sportlichen City-Bike fährt.

Prof. Dr. Jana Kühl


Ostfalia Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Vorherige Tätigkeiten unter anderem:
Referentin Verkehrsplanung/neue Mobilitätsformen NAH.SH GmbH, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der AG Kulturgeographie am Geographischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Raumordnung und Planungstheorie an der Technischen Universität Dortmund, wissenschaftliche Mitarbeiterin Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung Dortmund

Lehr-/Forschungsschwerpunkte:
Jana Kühl beschäftigt sich insbesondere mit gesellschaftlichen Herausforderungen zur Realisierung einer (Rad-)Verkehrswende. Neben verkehrlichen Fragen geht es um die Verknüpfung von Radverkehr mit Stadt- und Regionalentwicklung, Tourismus, Sport sowie Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Gleichzeitig gehört es zum Job, im Rahmen der Lehre zukünftige Fachkräfte verschiedenster Fachdisziplinen für Radverkehrsthemen zu begeistern und
Studierende im Verkehrswesen zu Fachleuten auszubilden, mit deren Expertise Mobilität zukünftig nachhaltiger und vielfältiger wird.

Ziele in dieser Position:
Junge Menschen fachlich zu qualifizieren sowie Radverkehrsbelange in ihrem Tätigkeitsfeld sinnvoll und integriert einzubringen, sieht Jana Kühl als ihre Aufgabe. „Darüber hinaus möchte ich mit meiner Lehr- und Forschungstätigkeit ein Bewusstsein für bestehende Ungleichgewichte in der Verkehrsplanung fördern und gleichzeitig durch Erkenntnisse zur Lösungsfindung sowie zu einem Umdenken und Umsteigen im Verkehr beitragen“, sagt sie, denn ihrer Meinung nach ist „Radfahren vielerorts aufgrund von Defiziten in der Infrastruktur sowie aufgrund fehlender Sensibilität von Autofahrenden immer noch viel zu gefährlich und unattraktiv.“

Persönliche Bedeutung des Fahrrads:
Da sie selbst nicht Auto fährt und sich nicht auf die Öffentlichen verlassen möchte, ist das Fahrrad Jana Kühls „zentrale Mobilitätsgarantie. Es ist flexibel und in der Stadt auch schnell“. Für sie bedeutet Radfahren mobil und aktiv sein, ohne anderen Menschen oder der Natur zu schaden: „Für mich persönlich ist das Radfahren eine interaktive Form der Mobilität.“

Prof. Dr.-Ing. Heather Kaths


Bergische Universität Wuppertal

Vorherige Tätigkeiten unter anderem:
Promotion zur Modellierung des Radverkehrs an der TU München, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Verkehrstechnik der TU München, Forschungsgruppenleitung am Lehrstuhl für Verkehrstechnik der TU München

Lehr-/Forschungsschwerpunkte:
Heather Kaths forscht in puncto Modellierung und Simulation des Radverkehrs sowie zu intelligenten Verkehrssystemen. Zu ihrer Arbeit gehören zudem die Datenerhebung und -analyse im Radverkehr und die Konstruktion eines Fahrradsimulators, in dem sich in virtueller Umgebung die Wirkung verschiedener infrastruktureller Maßnahmen testen lässt.

Ziele in dieser Position:
In ihrer Professur möchte Heather Kath in dem Umfang Wissen über den Radverkehr sammeln, in dem wir es über den Autoverkehr schon lange haben. Es soll entsprechend genutzt werden, um die Architektur des Straßenraums einladender zu gestalten. Sie möchte dem Thema Radverkehr mehr Öffentlichkeit verschaffen. Das heißt: nicht nur möglichst viele Studierende erreichen, sondern auch mit Verkehrspsychologen, Städteplanern und Menschen aus dem Bauingenieurswesen an einer fahrradfreundlichen Zukunftsversion arbeiten und Strukturen schaffen, die genutzt werden können.

Persönliche Bedeutung des Fahrrads:
In München erledigte Heather Kaths 99 Prozent der Wege mit dem Fahrrad. „Wuppertal ist aber recht bergig und es gibt wenig Platz für den Radverkehr, da ist es nicht mehr so einfach mit dem Rad, gerade mit Kinderanhänger“, gesteht die Ingenieurin, die früher auch viel Rennrad gefahren ist, aber: „Wir haben jetzt Longtail-E-Bikes bestellt, auf denen die Kinder hinten Platz haben.“

„Radverkehrsplanung umfasst nicht nur das Bauen von Radwegen.“

Prof. Dr. Christian Rudolph

Prof. Dr.-Ing. Christian Rudolph


TH Wildau

Vorherige Tätigkeiten unter anderem:
Leiter der Forschungsgruppe Last Mile Logistik und Güterverkehr am Institut für Verkehrsforschung beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR)

Lehr-/Forschungsschwerpunkte:
Die künftigen Radverkehrsplanerinnen und -planer erlernen unter anderem den sicheren Umgang mit Verkehrsdaten und Digitalisierungstrends. Beleuchtet werden außerdem Technologien zur Verknüpfung vom Radverkehr mit anderen Verkehrsmitteln genauso wie betriebswirtschaftliche Belange, zum Beispiel für den Betrieb von Bike-Sharing-Systemen. Dazu befähigt der Studiengang die Studierenden, Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu interpretieren und richtig anzuwenden. Christian Rudolph erforscht darüber hinaus, wie die Radverkehrsförderung noch besser klappen kann, auch wenn das Kosten-Nutzen-Verhältnis aufgrund der geringen Siedlungsdichte gering ist.

Ziele in dieser Position:
„Radverkehrsplanung umfasst nicht nur das Bauen von Radwegen. Ich würde mir wünschen, dass der Radverkehr die gleiche Akzeptanz wie in unseren Nachbarländern Dänemark und den Niederlanden erfährt“, sagt Rudolph, der in den vergangenen Jahren bereits einen Willen zum Wandel, aber auch einen Mangel an Fachkräften in Städten und Gemeinden erkannt hat.

Persönliche Bedeutung des Fahrrads:
Christian Rudolph nutzt das Fahrrad quasi jeden Tag für den Einkauf und für die Kinderlogistik. „Es ist einfach das schnellste Fortbewegungsmittel auf Wegen bis ca. sechs Kilometern“, sagt er. Auch in der Freizeit und im Urlaub ist er gern mit dem Fahrrad unterwegs, denn: „Es macht einfach Spaß und man bekommt seine Umwelt direkt mit – Bewegung inklusive.“


Bilder: stock.adobe.com – luckybusiness, Friederike Mannig, FG Mobilitätsmanagement, Markus Weinberg, Andre Hutzenlaub, Christian Rudolph

Es dürfte inzwischen niemandem entgangen sein, dass mit dem Beginn der Corona-Pandemie die Fahrradbranche ihre ohnehin seit Jahren positive Entwicklung nochmals dramatisch beschleunigen konnte. Die Dimensionen dieser Entwicklung sind aus wirtschaftlicher Sicht beeindruckend und bringen in der Folge das Fahrrad insgesamt deutlich voran. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022


Schon die steigende Zahl an verkauften (und in der Folge dann meist auch genutzten) Fahrrädern bedeutet Handlungsdruck in einer ohnehin zumeist fragwürdigen Infrastruktur für dieses Verkehrsmittel. Inzwischen besitzen die Bundesbürgerinnen und -bürger 81 Millionen Fahrräder, davon 8,5 Millionen Pedelecs. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Zahl weiter ansteigen wird, denn der Trend zum Fahrrad besteht schon länger.
Bereits vor Corona konnte sich die Fahrradwirtschaft und damit insbesondere der Fahrradfachhandel ein neues Rekordergebnis in die Jahrbücher eintragen. Im Jahr 2019 erzielte der stationäre Fahrradfachhandel, also alle Händler, die ihre Einnahmen mit dem Verkauf von Fahrrädern, Teilen und deren Reparatur erzielen, zusammen einen Umsatz von fast 4,9 Milliarden Euro.
Innerhalb eines Jahrzehnts hat der Handel damit sein Ergebnis von damals 2,4 Milliarden Euro mehr als verdoppelt. Der Höhenflug des Handels hat damit schon lange vor Corona angefangen, seit 2005 gibt es jedes Jahr steigende Umsätze. Doch mit dem darauffolgenden Satz in neue Dimensionen hat dennoch niemand gerechnet. Plötzlich war das Fahrrad nicht nur cool, sondern mehr oder weniger die einzige übrig gebliebene Freizeitbeschäftigung, die man sicher durchführen konnte. Die Branche konnte nach anfänglichen Sorgen ein Rekordjahr einfahren.

Mit fast sieben Milliarden Euro Umsatz eroberte der Fahrradhandel im ersten Corona-Jahr ein bisher unbekanntes Umsatzniveau.

Unerwartetes Rekordjahr 2020

Insgesamt erzielte der stationäre Fachhandel dann im Jahr 2020 mit Fahrrädern in Deutschland einen Umsatz von fast sieben Milliarden Euro. Ein Plus von 42,12 Prozent binnen eines Jahres. Über alle in der Statistik aufgeführten Branchen bedeutete das den ersten Platz und führte zu einer Erwähnung in der Vorstellung der Zahlen durch das Statistische Bundesamt. Für die meisten anderen Branchen waren die Umstände nicht so günstig. In Deutschland gingen über alle Wirtschaftszweige hinweg die Umsätze 2020 im Vergleich zu 2019 um 3,9 Prozent zurück. Am anderen Ende des Spektrums stehen etwa die Mode- und Schuhhändler, die Umsatzrückgänge von 19,4 beziehungsweise 19,7 Prozent zu verkraften hatten.
Der Erfolg des Fahrradhandels verteilt sich allerdings nicht gleichmäßig. Während die Zahl der kleineren Handelsbetriebe und auch ihre wirtschaftliche Bedeutung abnahm, konnten die großen Händler überproportional zulegen. Ab einer halben Million Euro Jahresumsatz findet man sich im Fahrradhandel zumeist auf der Sonnenseite des Marktes.
Die Größenklassen ab 500.000 Euro konnten wie gewohnt an Mitgliederstärke zulegen. Besonders stark ist der Zuwachs bei Betrieben mit Umsätzen zwischen fünf bis zehn Millionen Euro. Ihre Zahl hat sich fast verdoppelt von 60 auf 115. Im Jahr 2015 lag ihre Zahl noch bei 21.
Nicht minder eindrucksvoll lesen sich die Zahlen der Beletage des hiesigen Fahrradhandels. Inzwischen gibt es sieben Unternehmen, die Umsätze zwischen 100 und 250 Millionen Euro erwirtschaften. Diese vereinen 1,18 Milliarden Euro des gesamten Umsatzes auf sich. Ihr Umsatz hat sich damit binnen Jahresfrist fast verdoppelt. Glatte 17 Prozent des stationären Fachhandelsumsatzes gehen auf das Konto dieser Groß-Händler, ein Jahr zuvor waren es noch etwas über 13 Prozent. Der Konzentrationsprozess geht also auch in Boomphasen unvermindert weiter.
Nach wie vor stellen die Händler mit Umsätzen bis 500.000 Euro die Mehrheit in der Handelslandschaft. Allerdings hat sich ihre Bedeutung über die Jahre stark verschoben: 2009 stellten sie noch 81 Prozent der Händlerschaft, im Jahr 2020 waren es nur noch 58 Prozent. Noch deutlicher wird es bei den Umsätzen: 2009 trugen sie noch 31,5 Prozent zum Gesamtumsatz bei, im Corona-Rekord-und-Krisenjahr 2020 waren es nur noch 7,9 Prozent.
Im anschließenden Jahr 2021 konnten Handel und Fahrradindustrie an die Sonderkonjunktur durch Corona zwar anknüpfen, die Erfolge aber nur teilweise wiederholen.
Vergangenes Jahr konnte statt des Handels vor allem die hiesige Fahrradindustrie vom fortgesetzten Fahrradtrend profitieren. Wie der Indus-trieverband ZIV (Zweirad Industrie Verband) im Frühjahr mitteilte, konnte die deutsche Fahrradindustrie 2,37 Millionen Fahrräder produzieren, ein Plus von bemerkenswerten 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, als die 2,15 Millionen Räder bereits ein dickes Plus zum Vor-Corona-Zeitalter darstellten. Es ist zwar kein Allzeithoch, aber in den vergangenen zehn Jahren lag die Produktion nicht so hoch wie jüngst. Die aktuelle Fahrradproduktion hat auch qualitativ in jeder Hinsicht neue Höhen erreicht. Damit hat die Industrie relativ erfolgreich die Probleme durch grassierende Lieferengpässe bewältigen können.
Bemerkenswert ist etwa, dass in Deutschland inzwischen deutlich mehr E-Bikes als normale Fahrräder produziert werden. 1,4 Millionen Räder der hiesigen Produktion sind inzwischen mit einem Motor ausgestattet, 900.000 Fahrräder sind bio. Noch vor zwei Jahren war das Verhältnis in etwa ausgeglichen, davor hatten normale Räder deutliches Übergewicht. Es ist klar, dass sich diese Verschiebung nicht wieder zurückdrehen wird, eher wird sie sich noch weiter ausbauen. Die 0,9 Millionen Normalräder sind auch insofern bemerkenswert, als sie zum ersten Mal eine Steigerung der Produktionsmenge seit vielen Jahren darstellen (um 13 Prozent). Davor ging es Jahr für Jahr mitunter steil bergab.

Die Produktion der deutschen Fahrradindus­trie erreichte ein neues Zehnjahreshoch. Für die guten Zahlen entscheidend ist das E-Bike.

Sinkender Fahrradverkauf

Eine etwas kompliziertere Geschichte sind die Zahlen zum Fahrradverkauf, die insbesondere den Handel interessiert. So sank die Zahl der verkauften Fahrräder und Pedelecs von knapp über 5 Millionen Stück im Rekordjahr 2020 auf nun 4,7 Millionen in 2021. Wie passt das zur ZIV-Darstellung, die Industrie habe deutlich zugelegt? Die Erklärung geht so: Zur genannten Inlandsproduktion von 2,37 Millionen Rädern kommt der Import von weiteren 4,14 Millionen Fahrrädern, von denen zusammen wiederum 1,57 Millionen exportiert wurden. Was übrig bleibt, ist die sogenannte Inlandsanlieferung von 4,94 Millionen Fahrrädern und Pedelecs in Deutschland. Diese Zahl entspricht der Menge an Ware, die in die verschiedenen Vertriebskanäle in Deutschland geflossen ist. Aber verkauft wurden doch nur 4,7 Millionen Räder? Die Differenz von 240.000 Rädern wird als Lagerbestandsveränderung verbucht. Der Handel hätte die Räder sicher gerne auch verkauft, aber leere Ladenflächen sind auch kein schöner Anblick. Ein Mindestbestand an Lagerware muss stets vorhanden sein, was seit 2020 oft nicht gegeben war. ZIV und VDZ (Verband des deutschen Zweiradhandels) weisen darauf hin, dass mehr Fahrräder und Pedelecs hätten verkauft werden können, wäre mehr von der besonders nachgefragten Ware verfügbar gewesen. Wann sich die Warenverfügbarkeit wieder normalisiert, hängt wesentlich davon ab, wann sich die inzwischen weltberühmten Lieferengpässe auflösen. Spontan wirkende Hafenschließungen und umfassende Lockdowns in Fernost machen verbindliche Aussagen schwierig bis unmöglich. Die Schätzungen reichen von Jahresende bis hin zu mehreren Jahren, bevor Normalität einkehrt. Je nach Produktgruppe können andere Zeiträume eintreffen.

Durchschnittspreise steigen weiter

Über alle Segmente lag der Durchschnittspreis für Fahrräder und Pedelecs in Deutschland bei 1395 Euro, ein Anstieg von über 100 Euro binnen eines Jahres und mehr als 40 Prozent Plus im Vergleich zu 2019. Das ist eine rasante Entwicklung und bereitet manchen Marktbeobachtern auch Sorge. Zwar ist die Preissteigerung vor allem von den Absatzrekorden bei den E-Sortimenten getrieben, dennoch lautet die Frage, wie weit sich diese Preisschraube noch drehen kann und wird. Der VDZ errechnete einen Durchschnittspreis von 3332 Euro brutto für Elektroräder und 654 Euro brutto für unmotorisierte Fahrräder. Das ist eine riesige Lücke zwischen Bio und Elektro. Zumindest die nächsten Aussichten sind leicht bewölkt bis freundlich: Für diese neue Saison wird zwar eine immer noch angespannte Warenversorgung erwartet, aber auch erneut gute Absatzzahlen dank bleibender Nachfrage.

Gewinner Lastenrad

Besonders profitiert hat von den jüngsten Marktentwicklungen also das Elektrofahrrad insgesamt, in den einzelnen Segmenten gibt es jedoch manche interessante Ausreißer zu beobachten. Wieder einmal lag das Wachstum in der Abteilung Lastenrad binnen eines Jahres bei satten 50 Prozent. Das ist über alle Kategorien der größte Sprung nach vorne. Insgesamt 120.000 Lastenräder mit Motor wurden 2021 verkauft (Vorjahr: 78.000). Die Rolle der Lastenräder im E-Segment sollte spätestens jetzt nicht länger unterschätzt werden. Sechs Prozent des E-Verkaufs gehen auf das Konto von Lastenrädern.
Dazu kommen weitere 47.000 Einheiten ohne Antrieb (Vorjahr: 25.200). Dies ist laut ZIV überhaupt die einzige nichtelektrifizierte Radgattung, die ihre Stückzahlen ausbauen konnte. Selbst wenn sich die Dynamik demnächst abflachen sollte, sind die nächsten Rekorde bereits absehbar. Es lohnt, sich die Bedeutung dieser Zahlen zu verdeutlichen: Mit den aktuellen Stückzahlen haben Lastenräder (E und Non-E) das Segment Jugendrad eingeholt, ebenso wie die nichtmotorisierten Mountainbikes, einst seinerseits eine tragende Stütze des Fahrradverkaufs, heute aber schon deutlich abgehängt von seinem Nachfahren E-MTB. Das nächste Segment in Reichweite ist der Bereich der Rennräder und Gravelbikes.


Bilder: Daniel Hrkac, Statistisches Bundesamt (Destatis), ZIV

Der urbane Verkehr ist nicht nur ein Mitverursacher der Klimakatastrophe, sondern etwa durch Abgas- und Lärmemissionen auch Auslöser von gesundheitlichen Schäden. Nachhaltige Mobilität mit dem Fahrrad hat den umgekehrten Effekt: Wer mit dem Fahrrad pendelt, lebt nachweislich gesünder. Die Mobilitätswende kann somit auch eine Gesundheitswende sein. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


2017 hat eine Studie des Beratungsunternehmens EcoLibro zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt herausgefunden, dass fahrradfahrende Mitarbeitende im Schnitt etwa ein Drittel weniger Krankheitstage aufwiesen als ihre Kollegen und Kolleginnen, die mit anderen Verkehrsmitteln zur Arbeitsstelle kamen. 3,35 Krankheitstage standen 5,3 bei den Benutzerinnen des eigenen Pkws oder öffentlicher Verkehrsmittel gegenüber. Am besten schnitten darunter wiederum jene Radfahrenden ab, die nicht nur gelegentlich, sondern das ganze Jahr über mit dem Fahrrad oder E-Bike zur Arbeit kamen. Ein weiterer interessanter Aspekt: Sie schnitten in Sachen Krankheitstage sogar besser ab als Mit-arbeiterinnen, die regelmäßig Sport treiben. Außerdem sind zwar laut EcoLibro die Krankheitstage der Rad-pendler*innen nach Unfällen rechnerisch etwas höher als bei verunfallten Autofahrenden, trotzdem waren die Krankheitstage bei der Radfahr-Gruppe insgesamt noch die geringsten. Das lässt auf einen deutlichen Zusammenhang zwischen aktiver Mobilität, wie Zufußgehen und Radfahren, und dem Gesundheitszustand der Mitglieder dieser Gruppe schließen.
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO werden viele der häufigsten Krankheiten, wie Erkältungs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Diabetes und Adipositas, von Bewegungsmangel verstärkt. Tatsächlich ist es also einfach, diese Krankheiten einzudämmen. Mehr aktive Mobilität bedeutet mehr Gesundheit.
Das gilt übrigens genauso für die mentale Gesundheit: Schon vor acht Jahren wurde in einer britischen Langzeitstudie mit 18.000 Probanden und Probandinnen an der East Anglia University in Norwich festgestellt, dass sich Menschen, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, deutlich weniger zufrieden fühlten als solche, die mit anderen Verkehrsmitteln pendelten. Das mag mit den täglichen Staus auf den Straßen zu tun haben, aber auch mit der aktiven Form des Pendelns. Ein überraschendes Ergebnis war auch, dass Zu-Fuß-Pendler und -Pendlerinnen sich zufriedener fühlten, je länger ihre Pendel-Strecke war.

Leben auch E-Bike-Nutzende gesünder?

Wie sieht das für Pedelec-Fahrer und -Fahrerinnen aus? Sie bewegen sich mit weniger Krafteinsatz als Radfahrende ohne Motor. Ernten sie daher eher weniger Zufriedenheit und Gesundheit? Das könnte man vermuten, stimmt aber nicht ganz: Eine europäische Studie mit älteren Menschen hat 2019 nachgewiesen, dass Pedelec-Nutzer und -Nutzerinnen im Schnitt etwa 35 Prozent längere Strecken zurücklegen als die Vergleichsgruppe mit normalen Fahrrädern. Die Schlussfolgerung: Zwar ist der Kraftaufwand auf dem E-Bike geringer, doch Menschen, die Pedelec fahren, bewegen sich dafür häufig mehr auf dem Fahrrad. Zudem kommen viele Menschen überhaupt erst zum Radfahren respektive Pendeln, weil ihnen E-Bike-Fahren mehr Spaß macht als Radfahren ohne Unterstützung. Sie trauen sich eine bestimmte Entfernung erst mit dem Zusatzschub durch den E-Motor zu. All diese Punkte untermauern die These: Fahrradfahren ob mit oder ohne Motor kann – und sollte – Teil eines gesellschaftlichen Gesundheitsmanagements sein.

Der VCÖ sieht einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit letaler Herz-Kreislauf-Erkrankungen und dem Anteil aktiver Mobilität am Modal Split.

Wie können Städte gesünder werden?

Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) forderte im Herbst 2020: „Mehr Gesundheit in die Städte!“ Im Institut gibt es bereits seit 2002 die Arbeitsgruppe Gesundheitsfördernde Gemeinde- und Stadtentwicklung (AGGSE), die fünf Thesen zur nachhaltigen und gesundheitsfördernden Verkehrspolitik aufgestellt hat. „Nachhaltig kommunale Gesundheitsförderung braucht eine hinreichend soziale, technische und grüne Infrastruktur“, heißt es da in These fünf. Ein wichtiger Beitrag dazu seien die Priorisierung des Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehrs und die Reduzierung des motorisierten Individual- und Güterverkehrs.

Bessere Infrastruktur – mehr gesellschaftliche Gesundheit

Was bedeutet das für den Bund und die Kommunen? Vor allem eines: für die Existenz, Sicherheit und den Komfort von Fahrrad-Infrastruktur zu sorgen. Ganz im Sinne von: Wer Radwege baut, wird Radverkehr ernten (Hans-Jochen Vogel, damals Münchner OB, prägte den Satz: „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten!“). Dazu muss das Fahrrad zunächst in den Köpfen der Entscheiderinnen und Planerin-nen als Verkehrsmittel angekommen sein – ein Vorgang, der derzeit noch im Wachsen begriffen scheint.
Heißt das, dass die komplette Infrastruktur verändert werden muss, um mehr Autofahrende auf das Fahrrad zu bekommen? Nicht unbedingt und vor allem nicht überall.
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club ADFC hat einen Leitlinien-Katalog für den Ausbau einer nachhaltigen Fahrrad-Infrastruktur herausgegeben. Darin geht es nicht nur um geschützte Radverkehrsanlagen wie Protected Bike Lanes, wie wir sie bereits aus der Corona-Zeit in Berlin kennen, sondern auch grundsätzlich um das Zusammenspiel verschiedener Verkehrsmittel. In Tempo-Dreißig-Zonen etwa könne man getrost auf Radspuren verzichten und Mischzonen schaffen, in denen alle Verkehrsmittel parallel existieren. Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch Kreuzungen und Schnittstellen. Hier wird das Plus an Gesundheit von Radfahrenden bedroht von gesteigertem Unfallrisiko. Grundsätzlich gilt allerdings: Je mehr sich die Verkehrsteilnahme vom Auto zum Fahrrad und E-Bike verschiebt, desto weniger unfallträchtig sind Letztere unterwegs. Beispiel Niederlande: In Städten mit sehr hohen Zahlen an Fahrradfahrenden gibt es eine signifikant geringere relative Verunfallung von Radlern und Radlerinnen.

Win-Win-Situation für die aktive Mobilität

Als wie weitreichend man den Zusammenhang zwischen gesunder Mobilität und gesellschaftlicher Gesundheit sehen kann, zeigt die Veröffentlichung „Gesunde Städte durch gesunde Mobilität“ des Österreichischen Verkehrsclubs VCÖ. Hier steht unter anderem ein Fakt im Vordergrund: Wenn wir unsere Mobilität auf Gesundheit der Verkehrsteilnehmenden ausrichten, gewinnen wir auch automatisch an Klima-Gesundheit, denn der Großteil der gesundheitsbelastenden Schadstoffe und Treib-hausgas-Emissionen wird vor allem von Verbrennungsmotoren verursacht, die auch die nächsten Jahre bei Weitem das Gros der Personenbeförderung bestimmen werden.
Jedenfalls führt die gesunde, weil aktive Mobilität als Konsequenz aus den angeführten Punkten erwartungsgemäß wieder zu weiterer gesellschaftlicher Gesundheit. So wie umgekehrt die Automobilität, vor allem auf die kurzen Strecken bezogen, uns bislang nicht nur aus Mangel an Bewegung krank gemacht hat, sondern auch einen Großteil der krank machenden klimatischen Veränderungen verursacht hat. Noch ein Grund mehr, auf die neue Velo-Mobilität zu setzen – und entsprechende Infrastruktur bereitzustellen.


„Gesundes Mobilitätsmanagement ist auch Arbeitgeberattraktivität“

Die Berliner Agentur für Elektromobilität eMO unterstützt kostenlos Berliner Unternehmen und Betriebe, die ihr Mobilitätsmanagement verbessern wollen. In Sachen Unternehmensmobilität informiert die eMO unter anderem über die Vorteile wie Nachhaltigkeit und Gesundheit, die zunehmend wichtigere Bedingungen für eine zeitgemäße Mobilität der Mitarbeitenden sind, und begleitet Unternehmen bei der Umsetzung.Darüber haben wir mit Luisa Arndt, Projektmanagerin in der Agentur, gesprochen.

Warum ist auch gesunde Mobilität für die Unternehmen, die Sie unterstützen, ein Thema?
Mobilität kann mit gesunder Fortbewegung verbunden sein – etwa indem immer mehr Mitarbeitende mit E-Bike oder Fahrrad zum Betrieb fahren. Gleichzeitig ist diese Mobilität umweltfreundlicher und oft wirtschaftlicher. Zudem fördert die aktive Fortbewegung die Gesundheit, was sich in weniger Krankheitstagen äußert, wie Studien belegen. Hinzu kommt: Gesunde Mobilitätsangebote wie das Dienstradleasing steigern auch die Arbeitgeberattraktivität deutlich.

Ist in den Betrieben ein Umdenken hin zu nachhaltigeren, gesünderen Formen der Mobilität bereits in Gange?
Das ist unterschiedlich. Manche Betriebe sehen, dass sie innerbetriebliche Mobilität strukturell angehen müssen. Andere wollen zunächst einfach nur Veränderungen im Detail schaffen, indem bestimmte Strecken nicht mehr mit dem Dienstauto, sondern per Dienstrad zurückgelegt werden sollen. Unsere Aufgabe ist es zunächst, den Blick des Unternehmens auf ihr eigenes Mobilitätsmanagement zu schärfen. Dazu ist eine ganzheitliche Betrachtung der Unternehmensmobilität notwendig.

Stichwort Arbeitswege-Mobilität. Wie kann der Betrieb seine Mitarbeiter motivieren, per E-Bike oder Fahrrad in die Arbeit zu kommen?
Das kann mit ganz kleinen Dingen anfangen – der Luftpumpe am Empfangstisch, das Schaffen von sicheren Abstellmöglichkeiten für E-Bikes im Betrieb, aber auch Umkleideräume im Unternehmen oder die Teilnahme an Aktionen wie „Wer radelt am meisten?“ oder „Stadtradeln“ können für Mitarbeitende motivierend wirken. Oft ist aber auch die Belegschaft vor dem Arbeitgeber sensibilisiert, wenn es etwa um die Akzeptanz des Jobradleasings im Unternehmen geht. Dusch- und Garderoberäume werden oftmals von Mitarbeitenden angeregt. Allgemein kann man sagen, es gibt beide Richtungen beim Anstoß von Veränderungsprozessen, Top-Down wie auch Bottom-Up.

Macht sich die Verkehrswende denn tatsächlich im betrieblichen Mobilitätsmanagement breit?
Jein. Es gibt ein zunehmendes Bewusstsein für nachhaltige Mobilität, sowohl von Geschäftsführenden als auch Mitarbeitenden. Oft spüren größere Betriebe mehr Druck, sich zu verändern. Hier braucht es allerdings oft Zeit, bürokratische Strukturen zu verändern. Bei kleinen Betrieben hängt Veränderung andererseits oft von einzelnen, hoch motivierten Personen ab, die diese Tätigkeiten übernehmen, dann jedoch auch schneller etwas erreichen können. Zukünftig könnte die von der EU eingeführte Berichtspflicht zur Nachhaltigkeit einen weiteren Beitrag zur Einführung von nachhaltigen Mobilitätsformen leisten.


Bilder: Georg Bleicher, VCÖ 2021, Berlin Partner

Das Tempo spielt bei der Verkehrsmittelwahl eine große Rolle. Und gerade im Stadtverkehr würde das Fahrrad seine Stärken ausspielen, wenn es denn könnte. Um den Radverkehr zu beschleunigen, hilft es, die Perspektive der Radfahrenden einzunehmen. Schon kleine Eingriffe in die Infrastruktur können oft viel verändern. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Mit ihren Sensor-Bikes misst die Hochschule Karlsruhe die Bedingungen, unter denen Radfahrer*innen unterwegs sind. Sie finden heraus, welche Stellen Kraft kosten, wo zu eng überholt wird und welche Konflikte entstehen.

Fünf Kilometer auf dem Fahrrad können sehr unterschiedlich aussehen. In Stadt A braucht eine Radfahrerin dafür 15 Minuten, kommt entspannt an und konnte sich unterwegs noch Gedanken über ihre Abendgestaltung machen. Ein Radfahrer in Stadt B braucht 23 Minuten und erreicht sein Ziel mit erhöhtem Puls, verschwitztem Rücken und hohem Stresspegel. Während er an einer Ampel steht und wartet, beobachtet er den vorbeiziehenden Autoverkehr und kommt in Versuchung, die Wahl seines Verkehrsträgers zu überdenken.
Wer das ungenutzte Potenzial des Radverkehrs in Städten wie dem fiktiven Ort B heben möchte, muss anerkennen, dass Reisegeschwindigkeit und Stress-Level oft ausschlaggebend bei der Entscheidung für oder gegen das Fahrrad sind. Es reicht nicht, sich für sichere und komfortable Radwege einzusetzen, meint Jochen Eckart. Er ist Professor für Verkehrsökologie an der Hochschule Karlsruhe. „Keiner fährt Fahrrad, weil es sicher ist. Umgekehrt gibt es Faktoren, die nicht so sehr Basis-Voraussetzungen darstellen, aber wenn sie vorhanden sind, eine gewisse Begeisterung erzeugen. Da gehört meiner Meinung nach die Beschleunigung des Radverkehrs dazu, also dass Radfahrer relativ schnell mit einem geringen Kraftaufwand unterwegs sein können.“ Gute Radverkehrsplanung müsse sich beiden Dimensionen widmen. Die Rahmenbedingungen müssen objektive und subjektive Sicherheit erzeugen, letzten Endes müsse aber auch dafür gesorgt sein, dass die Leute gerne Fahrrad fahren. Geschwindigkeit und Komfort seien dafür zentral, so Eckart.

Ein echter Perspektivwechsel

In ihrer Forschung arbeiten Eckart und seine Kolleginnen regelmäßig mit sogenannten Sensor-Bikes. Diese sind mit verschiedenen Technologien ausgestattet und können vielfältige Daten erheben. Eine spezielle Kurbel misst den Kraftaufwand, ein weiterer Sensor prüft den Abstand, mit dem die Testfahrerinnen überholt werden. Auf einer Strecke, die mit den sensorischen Fahrrädern abgefahren wird, lassen sich später die Geschwindigkeit, Beschleunigungs- und Verzögerungsprozesse nachvollziehen. Meist sind die Räder mit einer Kamera ausgestattet, sodass die jeweilige Verkehrssituation in der Auswertung eindeutig erkennbar ist. Auch Umweltfaktoren wie Feinstaub und Wetterdaten werden aufgenommen. Die Forscher*innen erheben im Normalfall auf festgelegten Routen Daten für mehrere Hundert Fahrradkilometer und vergleichen diese mit anderen Verkehrsmodi. Der Ansatz eigne sich weniger für massenhafte Daten, sondern um spezielle Fragestellungen zu klären. So ließe sich dann sogar der Stress-Level der Radfahrenden bestimmen. „Das geht über die Hauttemperatur und die Hautleitfähigkeit. Das sind Sachen, dafür müssen sie die Leute heute nicht mehr verkabeln, aber mit einer Smartwatch und Kameras ausstatten, damit sie sehen, warum die überhaupt gestresst sind“, erklärt Eckart.
In der Auswertung führen die gewonnenen Daten zu genauen Einsichten in das Leben auf dem Fahrrad. Die Radfahrenden fühlen sich ernst genommen und berücksichtigt, meint Eckart. „Ich sehe das als nettes Instrument, die Radfahrer in der Diskussion zu empowern.“ Die ansonsten oft emotionale Diskussion um Straßenverkehr und Mobilität kann so mit Fakten beruhigt und evidenzbasiert ausgerichtet werden.

Kein Stau, aber Ampeln

Forschung aus dem Blickwinkel des Radverkehrs hilft dabei, die Eigenheiten des Verkehrsmodus Fahrrad besser zu begreifen. Bei Strecken bis 3,5 Kilometer, so Eckart, ist das Transportmittel im Stadtverkehr normalerweise schneller als das Auto. Bei Pedelecs erhöht sich dieser Wert sogar auf 4,5 Kilometer, wie ein Forschungsergebnis für die Stadt Karlsruhe belegt. Das liegt an geringen Zu- und Abgangszeiten und daran, dass die Parkplatzsuche quasi entfällt. Eine Studie des Bundesumweltamts aus dem Jahr 2016 sieht noch mal deutlich höhere Werte. Das Pedelec ist dort ab Weglängen von knapp einem halben Kilometer und bis zum Wert von neun Kilometern das schnellste Verkehrsmittel. Auf ganz kurzen Strecken unterliegt es dem Zufußgehen.
Im Gegensatz zum motorisierten Individualverkehr gibt es außerdem selten Stau oder stockenden Verkehr. Wie schnell das Fahrrad letzten Endes sein kann, ist von Stadt zu Stadt dennoch äußerst unterschiedlich. Beispielhaft zeigen die Ergebnisse aus Karlsruhe, dass dort 70 bis 75 Prozent der Zeitverluste an Ampeln entstehen. Der Rest dürfte größtenteils auf das Queren großer Straßen zurückzuführen zu sein.
Explizit Forschung vom Rad aus zu betreiben, bringt auch Feinheiten in den Verhaltensweisen zum Vorschein, die von außen nicht sichtbar sind. Wenn Radfahrerinnen sich Kreuzungen nähren, mag der Eindruck entstehen, dass sie trotz rechts vor links nicht langsamer werden. Die Kraftmessung zeichnet ein anderes Bild. Vor der Kreuzung treten sie deutlich leichter und verzögern minimal, wenn der Weg frei ist, treten sie etwas kräftiger und sind schnell wieder auf der gleichen Geschwindigkeit wie vor der Kreuzung. Sie ignorieren die Verkehrsregeln nicht, sondern reagieren subtil. Solche versteckten Verhaltensweisen erkennen und quantifizieren zu können, darin sieht Eckart eine Stärke des Perspektivwechsels. „Für mich ist ein großer Vorteil, dass es den Fokus anders lenkt und dass wir Sachen aufnehmen, die sonst übersehen werden, weil sie bisher nicht als Standards für Analysen mit dabei sind“, so Eckart. Ein Forschungsvorhaben von Eckart und seinem Team sollte dem Gefühl auf den Grund gehen, dass es auf jeder zweiten Fahrradfahrt zu einem Beinah-Unfall kommt. Dabei kam heraus, dass die meisten Radlerinnen zunächst mal versuchen, konfliktarme Routen zu finden. Außerdem entstanden rund 40 Prozent der beobachteten Konflikte zwischen Fußgängerinnen und Radfahrerinnen.

Keiner fährt Fahrrad, weil es sicher ist.

Prof. Dr. Jochen Eckart, Hochschule Karlsruhe

Sicher oder schnell?

Viele Maßnahmen, die das Radfahren sicherer machen, ermöglichen auch eine höhere Reisegeschwindigkeit. Beispielhaft spielen hier die Breite des Radwegs und die mögliche Sichtweite eine Rolle. Aber auch angehobene Radwege, die für den querenden Autoverkehr eine Schwelle darstellen, sind schneller und sicherer.
Aber nicht immer sind die Zielgrößen miteinander vereinbar, etwa beim Linksabbiegen an Kreuzungen. Dürfen die Fahrräder sich vor die Autos einreihen und in einer Ampelphase abbiegen, wenden sie weniger Zeit auf. Wenn sie zunächst nur die Straße überqueren können, um dann die nächste Ampel zu nutzen, dürfte das eher zur Sicherheit beitragen, aber eben mehr Zeit in Anspruch nehmen. Auch sogenannte Drängelgitter machen unübersichtliche Situationen meist etwas sicherer, für die Zielgröße Reisegeschwindigkeit sind sie aber eher schädlich.
Um das Verkehrsmittel Fahrrad schneller und damit attraktiver zu machen, muss nicht sofort die ganze Stadt umgebaut werden. Es gibt auch schnell verfügbare und minimalinvasive Maßnahmen. Ampeln umzuprogrammieren könnte potenziell einen Großteil der Haltezeiten beim Fahrradfahren eliminieren. Auch Tempo-30-Zonen dürften helfen und wären zumindest theoretisch einfach einzurichten. Durch die geringeren Geschwindigkeitsunterschiede fließen die Radfahrerinnen dort gut mit dem Autoverkehr mit. An manchen Stellen, so Jochen Eckart, könnten die Radfahrerinnen auch von Wahlfreiheit profitieren. Das hieße in der Praxis, den Radfah-rer*innen auch das Fahren auf der Straße zu erlauben. Hier könnte der einzelne Verkehrsteilnehmer dann entscheiden, ob der sicherere Bürgersteig oder die schnellere Straße gerade eher zu seinen Bedürfnissen passen.

Auch Apps und Sensor-Boxen führen Richtung Ziel

Wie Radfahrerinnen sich verhalten und welche Bedürfnisse sie haben, kann nicht nur die Forschung aus Karlsruhe zeigen. Es gibt zunehmend technische Möglichkeiten, die Rad-fahrerinnen nutzen können, um ihr Fahrverhalten zu erfassen. „Da hat sich wirklich viel getan. Unheimlich viele versuchen, die Radfahrenden in die Gewinnung von Daten einzubeziehen“, betont Eckart.
Das Projekt SimRa sammelt Fahrraddaten über eine Smartphone-App und ist dafür 2022 mit dem Deutschen Fahrradpreis geehrt worden. Den ersten Platz in der Kategorie Service und Kommunikation teilte sich das Projekt mit dem OpenBikeSensor. Die kleine Box wird am Fahrrad montiert und misst Seitenabstände nach links und recht und Fahrten über GPS.
Die verbaute Sensorik ist nicht so umfassend wie beim Sensor-Bike, dafür kann die kleine Kiste aber auch selbst gebaut werden. Wer mit dem frei verfügbaren Bauplan mehrere Geräte baut, kommt auf Kosten von etwa 60 bis 80 Euro pro Stück. Der OpenBikeSensor setzt als Open-Source-Projekt eher auf freiwillige Beteiligung der Bevölkerung, eine städtische Unterstützung ist aber denkbar. 20 Sensoren können sich Städte und Initiativen aus Baden-Württemberg auch beim Landesverband des ADFC ausleihen.
Gerade wer große Datensätze über die eigene Stadt erhalten will, stößt mit freiwilligen Teilnehmer*innen schnell an seine Grenzen. Unternehmen wie Bike Citizens bieten deshalb ihre Hilfe bei der Datenerhebung an, was meist auch mit Kampagnenarbeit einhergeht. Fundierte, massenhafte Daten könnten auch mit den qualitativen Daten aus Forschungsprojekten mit Sensor-Bikes oder den kleinen Sensor-Boxen kombiniert werden. Dieser Mixed-Method-Gedanke ist in der Wissenschaft gang und gäbe.

„In Zukunft wird Mobilität ganzheitlich vernetzt sein.“

Markus Papke, Head of Innovation bei Riese & Müller
Moderne E-Bikes könnten der Stadtplanung in Zukunft helfen, indem sie die gesammelten Daten spenden.

Daten direkt vom Hersteller

In Zukunft wäre es auch denkbar, dass die Daten von Herstellern von Fahrrädern und vor allem E-Bikes direkt geliefert werden. Diese bieten vermehrt die Möglichkeit, Fahrräder über GPS-Module zu tracken und Motordaten auch in der Cloud einsehen zu können. Hier könnten freiwillige und anonymisierte Datenspenden immer mehr Informationen zur Verfügung stellen. Laut dem E-Bike-Hersteller Riese & Müller dürften auch Fahrräder bald so vernetzt sein, dass sie mit der Infrastruktur und anderen Verkehrsteilnehmern kommunizieren. Das Fahrrad in solche Prozesse einzubinden, ist wichtig, gerade weil die Automobilbranche sich in Pilotprojekten etwa bereits mit Ampeln vernetzt. „In Zukunft wird Mobilität ganzheitlich vernetzt sein. Und wenn du als E-Bike nicht in dieses Ökosystem reingehst, dann bist du zumindest auf der Connectivity-Ebene ein unsichtbarer Datenpunkt, den kein anderer vernetzter Akteur wahrnehmen kann“, meint Markus Papke, Head of Innovation bei dem hessischen Hersteller. Ohnehin gilt es hier zunächst branchenübergreifende Kommunikationsstandards zu entwickeln.
In höherer Zahl wären Radverkehrsdaten direkt vom Fahrrad für die Planung gut nutzbar. Die Nachfrage nach den detaillierten Informationen der Sensor-Bikes ist seitens der Kommunen bisher noch begrenzt. Jochen Eckart führt das da-rauf zurück, dass viele lokale Knackpunkte, an denen Änderungen nötig sind, bereits bekannt sind, es aber an Ressourcen mangelt, diese Aufgaben abzuarbeiten. Dass sich die Kommunen dann zunächst auf das Offensichtliche konzentrieren, anstatt noch weitere Daten zu erheben, ist in der Praxis nachvollziehbar. Auch große Radverkehrspläne werden nicht jedes Jahr geschrieben.
Der kommunale Datenbedarf soll in einem nächsten Forschungsprojekt mit kommunalen Handlungsträgern von Eckart erforscht werden. „Mich interessiert nämlich: In welchen Einsatzbereichen brauchen Sie Daten, für was brauchen Sie keine? Wie müssen die aufbereitet sein? Ich sehe das als eine Sache, wo wir mehr reingehen müssen. Ihnen einfach nur zu sagen ‚Hier haben wir Daten, seid bitte begeistert‘, das wird es nicht sein.“ Es bleibt abzuwarten, ob das Interesse an Daten aus Radfahrperspektive in den nächsten Jahren nachziehen wird. Am Angebot technischer Möglichkeiten scheitert es jedenfalls nicht.


Was macht den Radverkehr …

… schneller?

– Breite Radwege
– Weite Sicht
– Angehobene Radwege
– Direktes Linksabbiegen
– Tempo 30
– Wahlfreiheit zwischen Bürgersteig und Straße

… langsamer?

– Rote Ampeln
– Drängelgitter
– Linksabbiegen mit zwei Ampeln
– Stressige Überholsituationen


Bilder: stock.adobe.com – Kara, John Christ, Jochen Eckart, Anne Sophie Stolz, Riese & Müller – Lars Schneider, stock.adobe.com – BlackMac

Ohne gute Radwege kann eine Verkehrswende mit dem Fahrrad nicht gelingen, ohne gute Kommunikation aber auch nicht. Wer eine Kampagne für mehr Radverkehr plant, findet jedoch viele Vorbilder, von denen es sich lernen lässt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Gute Fahrradinfrastruktur ist eine Grundvoraussetzung für mehr Radverkehr, doch bauliche Maßnahmen allein bringen noch nicht unbedingt mehr Alltagsverkehr mit dem Fahrrad auf die Straße. Eine erfolgreiche Radverkehrspolitik braucht auch eine kommunikative Begleitung. Langfristige Kampagnen machen Angebote sichtbar und emotionalisieren Menschen fürs Fahrrad. Welche Stellschrauben zur Durchführung von Radverkehrskampagnen besonders gut funktionieren, zeigen Beispiele aus Deutschland, Österreich und England.

Involvement, also die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger sowie der Stakeholder, war bei der Münchner Kampagne „Radlhauptstadt“ ein wesentlicher Baustein.

Corona-bedingt musste die Münchner Radlnacht zuletzt pausieren. In den Jahren zuvor war sie mit 17.000 Teilnehmern eine sympathische Demonstration für mehr Radverkehr.

Systemischer Ansatz

Die Stadt München hat bis 2019 über einen Zeitraum von acht Jahren mit Green City e. V. und der Agentur Helios die Initiative „Radlhauptstadt München“ umgesetzt. Nach Angaben von Green City „eine der weltweit größten Kampagnen zur Förderung des Radverkehrs“. Das Fahrrad sollte als tägliches Transportmittel etabliert werden. Vom Drahtesel zum Lifestyleobjekt. Dahinter steckte ein systemischer Ansatz der Bozener Agentur Helios. Deren Kommunikationsdesigner Günther Innereber sieht das Fahrrad als soziales System: „Es gibt die Umwelt drumherum, wie die Infrastruktur, damit das Ganze funktioniert. Um das System am Leben zu erhalten, braucht es einen Service, den Verkauf, den Gesundheitsbereich und einen Nutzen.“ (s. a. Interview)
Für ihre Kampagnen arbeitet die Agentur nach einem Wirkungsdreieck, das das System Fahrrad mit einem Wert auflädt, der zu neuen Wertorientierungen führen soll. An den Dreiecksspitzen stehen die drei Faktoren dafür: Wahrnehmung (Sichtbarkeit), Identifikation und Involvement. Damit es wahrgenommen wird, muss das System Sichtbarkeit und Präsenz erhalten. Gemeint sind damit die Infrastruktur oder gezielte Aktionen, welche die Vorteile des Fahrradfahrens herausstellen. Ein weiterer Faktor bei Kampagnen ist es, eine Identifikation in der Bevölkerung herzustellen. So spielte man für die „Radlhauptstadt München“ augenzwinkernd mit dem Selbstverständnis der bayerischen Metropole. Erhebt sie bereits an anderer Stelle vielfach den Nr.-1-Anspruch, wurde sie kurzerhand auch zur Fahrradhauptstadt erklärt. Als weiteres lokales Identifikationsangebot trägt sie das mundartliche „Radl“ im Namen.
Das dritte Element des Dreiecks ist die Partizipation oder das Involvement, wobei zwischen High und Low Involvement unterschieden wird. Innerebner erklärt: „High Involvement bedeutet, dass man mit Stakeholdern und Akteuren zusammenarbeitet, die sich mit dem Thema auseinandersetzen.“ Heruntergebrochen auf das Beispiel München: die Radlnacht, der Radlflohmarkt oder eine Radschnitzeljagd. Dabei wurden Vereine einbezogen, die direkt oder indirekt mit dem Fahrrad zu tun haben. Für die Kampagne sind sie die Multiplikatoren. Sie bringen das gewünschte soziale Umfeld mit, um dem System eine Reputation zu geben. Das Low Involvement spielt hingegen auf der emotionalen Ebene: Bürgerinnen und Bürger werden selbst zu Protagonisten, indem sie beispielsweise bei der Radlnacht mitfahren oder an einer Verlosung teilnehmen.

Kommunale Marken

Mit der Entwicklung einer Marke wird das System weiter aufgeladen. Sie repräsentiert das System und bricht es herunter auf ein Symbol oder einen Namen: Die Agentur Helios hat Marken in Baden-Württemberg unter dem Namen „RadKULTUR“, in Berlin unter „Fahrrad Berlin“ entwickelt.
Einen solchen Markenansatz verfolgt auch die Stadt Wien. Christian Rupp, Marketing-Experte der Mobilitätsagentur Wien erklärt: „Wir haben mit ‚Fahrrad Wien‘ und ‚Wien zu Fuß‘ zwei starke Marken entwickelt. Wobei die Begleitkampagnen immer in diese Marken einzahlen.“ Markenentwicklung und Kampagnen sind auf einen längeren Zeitraum angelegt. Denn Botschaften benötigen Zeit, um anzukommen. Rupp: „Unsere Kampagnen laufen seit zehn Jahren. Dann merken die Menschen, worum es geht.“
Die Kampagne zielt auf ein zeitgemäßes Image des Fahrrades als Teil der Alltagsmobilität. Markenkern von Radfahren in Wien ist die „Lebensfreude“. Für Impulse sorgte anfangs der Blick auf die Autowerbung mit ihrer typischen Emotionalisierung von Freiheit und Individualität. Die jüngste Imagekampagne, die im Frühling startete, läuft unter dem Titel: „Radliebe Wien“. Rupps Kollegin, PR-Expertin Kathrin Ivancsits, sagt: „Das kombiniert dieses ‚ihr liebt Wien und das Radfahren‘ – die Stadt ebenso und tut etwas dafür.“ Der Fokus liegt auf dem Radwegeausbau. „Mit Bildern zeigen wir, wie schön das Radfahren in Wien ist. Zugleich läuft die Kommunikation zu den einzelnen Maßnahmen: Welche Radinfrastruktur entsteht gerade? Und wir versuchen, Infos an den Baustellen anzubringen: ‚Hier bauen wir für dich einen Radweg!‘ Das ist eine Kommunikation zwischen Stadt und Bürger: Ihr wollt was, wir tun was.“
So wie Infrastruktur nicht ausreicht, den Modal-Split-Anteil Radfahrender zu erhöhen, macht umgekehrt die smarteste Verkehrskampagne ohne Radwege wenig Sinn. Ivancsits dazu: „Es reicht nicht, wenn ein Bürgermeister Fotos aufhängt, wo er Rad fährt und sagt: Cool. Fahrt‘s doch auch! – wenn es keine entsprechende Infrastruktur gibt. Die Kampagne sollte die Tätigkeit der Stadtverwaltung unterstützen und nicht ersetzen.“

Wie Friends zu Fans werden: Die Wiener Kampagne #warumfährstDUnicht zielte mit emotionalen Botschaften insbesondere auf junge Menschen, die bisher eher gelegentlich mit dem Fahrrad unterwegs sind.

Laien zu Friends und Friends zu Fans

Der Helios-Kommunikationsdesigner Innerebner, der auch in Wien an den Fahrradkampagnen beratend mitwirkte, arbeitet mit drei Zielgruppen: Fans, Friends und Laien. Damit widerspricht der Südtiroler auch der Auffassung, Alltagsradlerinnen, die sowieso schon vom Radfahren überzeugt seien, nicht anzusprechen. Das sei für ihn verschenktes Potenzial. Gerade „Hardcore-Alltagsradler“ spielen als Fans eine tragende Rolle als Multiplikatoren sowie zum Erreichen einer kritischen Masse. Etwa bei Events im Zuge der Kampagne. Unter den Friends versteht man hingegen die gelegentlichen Fahrerinnen, unter Laien die seltenen Radnutzer*innen. Ziel einer Kampagne ist es, die Friends zu Fans und die Laien zu Friends zu machen.
Zu Beginn der Wiener Kampagne sollten Menschen zum Umstieg ermutigt werden, die bereits eine Nähe zum Radfahren haben. Besonders hoch schätze man das Potenzial der 20- bis 40-Jährigen, Frauen und Personen mit guter Bildung und höherem Einkommen ein. Kathrin Ivancsits sagt: „Die #warumfährstDUnichtKampagne von 2018 zielte auf junge Menschen. Wir haben mit Testimonials gearbeitet: Eine Nachhaltigkeits-Influencerin, eine bekannte Schauspielerin, ein ehemaliger Fußballprofi. Leute, die in der Zielgruppe bekannt sind und aus ihrer Biografie heraus zum Thema stehen.“ Botschaften mit zu vielen Fakten sieht Ivancsits eher skeptisch: „Wir machen Radwege und die sind brutto vier Komma fünfundsiebzig Meter breit. Das wirkt schnell technokratisch. In der Kommunikation geht es darum, an Gefühle zu appellieren.“ Christian Rupp ergänzt: „Es ist wichtig, Menschen auf der emotionalen Ebene zu erreichen. Gleichzeitig muss man ihnen anbieten, das Ganze auszuprobieren. Auf Uni-Radwochen waren wir an den Universitätsstandorten. Dazu gab es eine Karte. Zugleich konnten sich Studierende Fahrräder leihen.“
Manchmal ergeben sich Momente, die Ivancsits „windows of opportunity“ nennt: Als eine Wiener U-Bahnlinie für Renovierungsarbeiten gesperrt war, wurden entlang dieser Strecke Fahrradleihstationen aufgestellt: „So konnten die Leute die Strecke einmal ausprobieren.“ Auch Dankbarkeit funktioniert. Etwa in Pandemie-Zeiten, als das Fahrrad die Alternative zum Auto und den Wiener Öffis bot: „Wir haben uns an Punkten hingestellt, Radfahrkarten verteilt – und Kipferl. Um die Radfahrenden in dem zu bestätigen, was sie tun: Du tust was Gutes, das ist super, mach weiter so!“

Verwaltung ins Boot holen

Veränderungsprozesse, die nicht intern mitgetragen werden, sind schwer nach außen zu kommunizieren. Deshalb muss eine Fahrradkampagne auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltungen abholen. Innerebner: „Sie müssen das Gefühl haben, zumindest gefragt worden zu sein. Besser sind interne Beteiligungsprozesse, etwa in Workshops. Sonst kann es zum Beispiel passieren, dass ich Genehmigungen nicht rechtzeitig erhalte.“ So können beteiligte Stakeholder und die Verwaltung im Vorfeld kleinere Gremien gründen. Für die Dachmarke „Fahrrad Berlin“ war die Agentur Helios nicht nur auf der Straße unterwegs, um Bürgerinnen und Bürger zu befragen. „Wir haben auch zwei Workshops gemacht, wo wir den Senat, Stadtteilvertreter und die Polizei zusammengebracht haben. Dabei ging es um Fragen wie: Was heißt Radfahren in der Stadt? Was möchte man ausstrahlen? Die haben gesagt: Ich hatte nie Kontakt mit der Person oder der Abteilung. Endlich haben wir mal miteinander geredet.“

In Großbritannien haben die Fahrradindustrie und Radfahrerverbände zusammengelegt, um die landesweite Kampagne #bikeisbest ins Rollen zu bringen.

Positiv kommunizieren

Um die Verkehrsmittelwahl zu ändern, rät die Wiener Kommunikationsexpertin Ivancsits vom erhobenen Zeigefinger ab: „Wenn man Menschen damit kommt: ‚Du tust jetzt etwas fürs Klima!‘, bringt sie das nicht zum Radfahren. Fragt man nach ihren Motiven, sagen sie: Es macht mir Spaß, ich empfinde Freude, es würde mir etwas fehlen, wenn ich nicht Rad fahre. Was funktioniert, ist ein positiver gesellschaftlicher Druck. Auch Erwachsene orientieren sich stark an ihrer Peergroup, möchten dazugehören.“
Dabei raten die befragten Experten, stets positiv zu kommunizieren. Ein „Dirty Campaigning“ oder „Shaming“ hält auch Christian Rupp für ein No-Go: „Etwa sagen: ‚Du fährst jeden Tag mit deinem Auto ins Büro – das ist schlecht!‘ So etwas würde ich nicht machen.“ Zu stark auf das Sicherheitsthema zu setzen, kann ebenfalls kontraproduktiv sein. Am besten sollte es getrennt von einer Imagekampagne stattfinden, etwa positiv formuliert als Fahrradcheck auf einem Event. Ähnliches gilt für die Verkehrserziehung. Innerebner sagt: „Wir halten nicht viel davon, wenn die Polizei in die Schulen geht und Kindern sagt: Ihr müsst einen Helm tragen und Schutzkleidung anhaben. Autos sind gefährlich! Dann bist du als Kind verschreckt und das Schöne beim Fahrradfahren wird kaputtgemacht. Es hat seine Berechtigung, dass Regeln eingehalten werden. Aber es geht um das Wie: Es kann etwas mehr Spielerisches haben, die Verkehrszeichen zu kennen. Und zu wissen, dass ein respektvolles Miteinander wichtiger ist als jede andere Regel.“

Systemischer Umgang mit negativem Feedback

Folgt man dem systemischen Ansatz, muss eine negative Berichterstattung in der Presse nicht ungünstig für die Kampagne sein. Neben erfolgreich gewonnener (und dabei kostenloser) Aufmerksamkeit bringt das negative Feedback einen Input für Anpassungen. Als für die Radlhauptstadt München das Thema Rücksicht aufgegriffen wurde, lief ein Clown mit einem Rückspiegel in der Hand rückwärts durch die Stadt. Innerebner erinnert sich: „Die Presse hat eine Art Shitstorm ausgelöst: Die Stadt gibt 20.000 Euro für einen Radl-Kasper aus! Erst waren wir geschockt. Dann haben wir nachgedacht: Was ist systemisch passiert? Die Presse hat uns die Arbeit abgenommen. Und das Thema Radsicherheit auf die Titelseite gebracht.“
Sind es die Radfahrenden selbst, die nörgelnd gegen eine Kampagne arbeiten, etwa weil es noch an Radwegen mangelt, schlägt Innerebner ein Angebot vor, um diesen Frust herauszulassen: „Sonst können sie einen Event kaputtmachen.“ Das kann eine Wunschwand sein, die sie beschreiben können. Oder eine Adresse, wo sie ihre Klage melden. „Schreiben Sie doch dem Stadtrat XY! Ist es wirklich wichtig, dann schreiben sie. Der ist dann politisch verantwortlich und sollte auch reagieren.“

Wirtschaft animiert zum Radeln

Hierzulande noch die seltene Ausnahme, aber ein Blick über den Ärmelkanal zeigt, dass gute Radverkehrskampagnen nicht zwingend von staatlicher oder kommunaler Verkehrspolitik ausgehen müssen. Als in England während der Pandemie mehr Leute auf das Fahrrad umstiegen, sah Adam Tranter von der Agentur Fusion Media die Chance für bikeisbest – als Kampagne der britischen Fahrradindustrie. Sie setzt landesweit auf Plakat- und TV-Werbung. Ein typischer Kampagnen-Clip zeigt einen Protagonisten, der zur „Normalität“ zurückkehrt. Er trifft auf überfüllte Züge und endlose Staus. Der Groschen fällt, als der Protagonist aufs Fahrrad umsteigt. Das Außenwerbungsunternehmen Clear Channel sponsert die Werbung mit einer halben Million Pfund. Zwischen 2500 und 15.000 Pfund zahlen zudem Fahrradfirmen jährlich in die Kampagne ein. Dazu gehören unter anderem Brompton, Cannondale, Giant und Specialized. Weitere Unterstützung kommt von British Cycling oder der London Cycling Campaign.
Adam Tranter sagt: „Wir machen eine Mainstream-Kampagne, die auf alle Menschen zielt, die noch nicht Rad fahren. Besonders im Fokus stehen Frauen sowie die interessierten, aber besorgten Radfahrer. Unser Job ist es, das Denken der Leute zu verändern. Dazu gehören aber auch die Politiker.“
Bislang läuft die Kampagne noch ohne direkte Unterstützung von Regierungsseite. Hoffnungen setzt Tranter in das gerade entstehende „Active Travel England“, das vom ehemaligen Radsportprofi Chris Boardman geleitet wird und staatlicherseits mit einem Budget von 5,5 Millionen Pfund ausgestattet ist.


„Der Hebel, den wir nutzen, ist die soziale Norm“

Wo Radfahren nicht der sozialen Norm entspricht, sind die Hindernisse für einen Mobilitätswandel mit dem Fahrrad zu groß. Für den Kommunikationsdesigner Günther Innerebner liegt darin der Schlüssel für erfolgreiche Fahrrad-Kampagnen.

Was heißt systemisches Denken bei Radverkehrskampagnen?
Wir versuchen das Ganze nicht als einzelne Bereiche, sondern als System zu sehen. Das System Fahrrad ist ein soziales System. Es gibt die Umwelt drumherum, wie die Infrastruktur, damit das Ganze funktioniert. Um das System am Leben zu erhalten, braucht es einen Service, den Verkauf, den Gesundheitsbereich und einen Nutzen. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann spricht von Beziehungen. Das geht beim Fahrrad auch: Sie stehen immer in einer gewissen Beziehung, die mehr oder weniger stark sein kann. Diese Beziehung kann man unterstützen.

Wie lässt sich die Verkehrsmittelwahl beeinflussen?
Der Hebel, den wir nutzen, ist die soziale Norm. Die muss man ansprechen, damit ich überhaupt etwas mache. Sonst ist das Hindernis zu groß. Die Kultur hält ein soziales System stark zusammen, weil es gewisse Regeln gibt. Nicht nur Gesetze, auch soziale Normen. Etwa dass man in Kopenhagen mit dem Fahrrad fährt. Und wer als Student nach München kommt und nicht radelt, fällt aus der sozialen Norm. Das motiviert, der Norm zu entsprechen.

Welche Zielgruppen sollten angesprochen werden?
Wir haben ein einfaches Zielgruppen-System aufgestellt. Es gibt die Fans, die Bike-Lover, die sehr viel Fahrrad fahren. Und es gibt die Friends, die vielleicht ein bis zwei Mal die Woche Rad fahren. Schließlich gibt es die Laien, die selten fahren. Unser Ziel ist es, dass wir die Laien zu Freunden machen und die Freunde zu Fans.
Dazu brauchen wir auch die Alltagsradfahrer als Multiplikatoren, um eine kritische Masse herzustellen. Es ist wichtig, dass wertgeschätzt wird, was sie tun. Und damit bei Veranstaltungen genügend Personen zusammenkommen, die wieder mehr Menschen mitreißen. Vor allem am Anfang. Damit das System überhaupt eine Größe und Ausstrahlung bekommt. Alles, was einzahlt, um den Wert dieses System zu erhöhen, ist gut. Das können einfache Aktionen sein, die nur 200 Teilnehmer haben. Wenn ich dann über einen Radiosender eine Multiplikation von 6000 Menschen bekomme, erhält das eine andere Größenordnung. So kann ich etwas verändern in meinem sozialen Gefüge.

Inwieweit lassen sich regionale Traditionen für Kampagnen nutzen?
In Lana in Südtirol zum Beispiel gibt es seit Jahren im Februar ein Radlfasching. Die Teilnehmenden radeln in ihren Faschingskostümen. Da geht man einfach hin. Wer das mitbekommt, weil die Straßen gesperrt sind, sagt sich: Wenn die mit dem Fahrrad kommen, kann ich auch gleich mit dem Rad hinfahren. Im Frühjahr folgt eine Radschnitzeljagd. Man legt also etwas Einfaches nach, was man jedes Jahr wiederholen kann. Ein Vorteil davon ist, dass der Kostenaufwand gering ist, weil das Vereine machen. Dafür muss man mit ihnen zusammenarbeiten. Zum Beispiel mit der örtlichen Feuerwehr. Ebenso wichtig ist der Transfer der Reputation. Hast du die Feuerwehr dabei, hast du in einem Dorf schon gewonnen.

Wie sprechen Sie das Thema Sicherheit an?
In der Kommunikation stellen wir immer das Positive in den Vordergrund. Selbst wenn es Probleme gibt. Wenn wir eine Kampagne machen, um das Radfahren zu fördern, werden wir nicht gleichzeitig versuchen, das Thema Sicherheit zu transportieren. Wollen wir das ansprechen, trennen wir es von Themen des Images. Beispiel: Können Lastenräder auf einer Veranstaltung ausprobiert werden, haben wir daneben einen Sicherheitscheck. Aber der wird nicht im Vordergrund stehen. Und wir sprechen von einem Rad-Check und nicht: Du wirst sterben, wenn du kein sicheres Rad hast! Das besitzt eine Dankeschön-Wirkung und wird als Service für Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen.


Bilder: Clear Channel, Simone Naumann, Andreas Schebesta, Stadt Wien, Clear Channel – Bruce Allinson,Martin Rattini

Transporträder werden als Autoersatz für Privatleute und Gewerbetreibende immer interessanter. Aber vielerorts fehlen noch geeignete Stellplätze im öffentlichen Raum. Die Fachhochschule Erfurt hat im Mai einen Planungsleitfaden für Kommunen veröffentlicht. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Als Claudia Hille 2016 mit dem ersten freien Lastenrad „Ella“ durch Erfurt fuhr, wurde die promovierte Soziologin noch regelmäßig an Ampeln und Fahrradständern auf ihr Gefährt angesprochen. Damals waren die mitunter fast drei Meter langen Transporträder in der 200.000-Einwohner-Stadt noch ein ungewohnter Anblick, inzwischen gehören sie zum Stadtbild. Damit liegt Erfurt im Trend. 103.200 Transporträder wurden laut Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) allein im Jahr 2020 verkauft, 78.000 mit, 25.200 ohne Motor. 2016 lagen die Verkaufszahlen noch so niedrig, dass der Verband nur die verkauften E-Cargobikes zählte. Das waren damals 15.125. Die Nachfrage nach dem klimafreundlichen Autoersatz ist also rasant gestiegen – und mit ihr auch das Konfliktpotenzial um den Platz auf der Straße, insbesondere beim Parken.
Spezielle Stellplätze für Transporträder sind im öffentlichen Raum eine Seltenheit. Zwar dürfen sie rein rechtlich auf dem Gehweg abgestellt werden, aber dort behindern sie oft Fußgänger, insbesondere jene mit Kinderwagen oder Menschen, die mit Gehhilfen oder Rollstühlen unterwegs sind. Im Mai hat Claudia Hille, Geschäftsführerin am Institut Verkehr und Raum an der Fachhochschule Erfurt, mit ihrem Team den Planungsleitfaden „Abstellanlagen für Lastenfahrräder in Nachbarschaften“ (ALADIN) veröffentlicht. Im Rahmen des gleichnamigen Projekts, das vom Bundesverkehrsministerium bis Ende des Jahres gefördert wird, haben sie erstmals Qualitätsstandards für Abstellanlagen zum Kurz- und Langzeitparken festgelegt. Außerdem haben sie ein Berechnungstool entwickelt, das unter anderem den Bedarf an Cargobike-Stellplätzen in verschiedenen Quartieren ermittelt. Noch bis zum Jahresende begleitet das Erfurter Team zudem vier Modellkommunen – München, Hannover, Leipzig und Nordhausen – bei der Umsetzung passgenauer Abstellanlagen.
Der Bedarf ist bereits jetzt groß und werde noch deutlich zunehmen, so die Verkehrsforschung. 5,2 Millionen Cargobikes könnten laut Claudia Hille im Jahr 2030 in Deutschland unterwegs sein. „50 Prozent davon im Privatbesitz, 50 Prozent gewerblich“, sagt sie. Größe und Gewicht, aber auch der Wert von Lastenfahrrädern erforderten neue Konzepte zum sicheren und komfortablen Abstellen. Die sonst zum Fahrradparken genutzten Möglichkeiten, wie Hinterhöfe, Hausflure und Kellerräume, sind für Lastenräder nur selten geeignet. In schmalen Fluren fehlt der Platz zum Rangieren, und fürs Runtertragen ins Untergeschoss sind die Räder zu schwer. Deshalb brauchen die Nutzer und Nutzerinnen von Lastenrädern leicht zugängliche Stellplätze im öffentlichen Raum.

5,2 Mio.

Cargobikes könnten im Jahr 2030
in Deutschland unterwegs sein

Das Standardmaß für einen Lastenradstellplatz beträgt 2,7 Meter Länge und einen 1 Meter Breite. Auf der Fläche eines PKW-Parkplatzes können demnach drei Lastenräder im 45-Grad-Winkel schräg aufgestellt werden

Erste Cargobike-Stellplätze markiert

Bei der Gestaltung unterscheiden die ALADIN-Planerinnen und Planer zwischen Anlagen für Kurz- und Langzeitparker. Für Kurzzeitparker gibt es leicht umsetzbare Lösungen am Straßenrand. Denn rein rechtlich dürfen Transporträder am Fahrbahnrand auf kostenpflichtigen (Kfz-)Parkplätzen abgestellt werden. In Hamburg geht das seit Dezember 2021 sogar kostenlos. „Lastenräder sind in der Straßenverkehrsordnung nicht als Kraftfahrzeuge klassifiziert und können deshalb nicht mit Parkgebühren belegt werden“, erklärt der Sprecher der Stadt. Aus Angst vor Vandalismus und um die Mobilitätswende stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung zu rücken, bauen erste Städte Kfz-Stellplätze komplett in Lastenradstellplätze um. Im Berliner Bezirk Neukölln wurden vier Parkplätze beispielsweise ausschließlich für Transporträder umgestaltet. Auch Hannover probiert verschiedene Modelle aus. Neben reinen Lastenradstellplätzen unterbindet die niedersächsische Landeshauptstadt beispielsweise das regelwidrige Parken im Kreuzungsbereich, indem sie mit Pollern die Flächen absperrt und Fahrradbügel für Transporträder aufstellt. In Düsseldorf wird diese Idee ebenfalls umgesetzt.
„Wichtig ist, dass der Zugang zu den Stellplätzen für die Nutzer komfortabel und sicher ist“, sagt Claudia Hille. Die Radfahrer*innen brauchten ausreichend Platz zum Be- und Entladen der Räder und zum Rangieren. Im Rahmen von ALADIN hat ihr Team die Längen und Breiten verschiedener Lastenradmodelle erfasst. Als Standardmaß für Stellplätze haben sie eine Länge von 2,7 m und eine Breite von einem Meter Breite festgelegt. Auf der Fläche eines typischen Pkw-Parkplatzes längs zur Fahrbahn können demnach drei Räder im 45-Grad-Winkel schräg aufgestellt werden. Befindet sich der Parkplatz quer zur Fahrbahn, passen vier parallel aufgestellte Räder auf die vorhandene Fläche. „Zum Anschließen eignen sich Bodenanker oder verkürzte Fahrradbügel, die etwas niedriger sind als herkömmliche Bügel“, sagt sie. Zur besseren Sichtbarkeit sollten sie farbig markiert und mit Pollern begrenzt werden.

„Multifunktionsanlagen stehen für den Wandel und dürfen auch ästhetisch sein“

Claudia Hille, Institut Verkehr und Raum an der Fachhochschule Erfurt

Mehrwert für Kommunen

Abstellanlagen für Langzeitparker sind dagegen deutlich anspruchsvoller. Sie müssen die teuren Räder vor Diebstahl und Witterung schützen und sollen ins Stadtbild passen. „Als Stadtmöbel können sie durchaus einen Mehrwert für die Anwohner schaffen“, sagt die Soziologin. Clever platziert und mit Bänken oder Hochbeeten kombiniert, schaffen sie einen Platz zum Verweilen. Die Design-Vorschläge der Studentinnen und Wissenschaftlerinnen im ALADIN-Projekt reichen vom schlichten Fahrradständer mit integrierter Sitzbank bis hin zur klimaresilienten Multifunktionsanlage. In dieser ist das Dach begrünt, eine Service-Station stellt Druckluft und Werkzeug bereit, für E-Bike-Akkus gibt es einen Ladepunkt und es gibt WLAN. „Der Internetzugang macht vor allem an Umsteigepunkten des Bus- und Bahnverkehrs Sinn“, sagt Claudia Hille. Für sie sind die Multifunktionsanlagen außerdem ein deutlich wahrnehmbares Symbol für die Mobilitätswende. „Sie stehen für den Wandel und dürfen auch ästhetisch sein“, sagt sie.
Wie unterschiedlich die Anforderungen an Abstellanlagen sein können, zeigt Nordhausen, eine der
ALADIN-Modellkommunen. In der 40.000-Einwohner-Stadt im Südharz ist der Radanteil vergleichsweise gering. „Die genaue Auswertung der Mobilitätserhebung steht noch aus, aber wir schätzen ihn auf etwa sechs Prozent“, sagt Petra Diemer, Mitarbeiterin im Amt für Stadtentwicklung und Koordinatorin für das integrierte Mobilitätskonzept in Nordhausen. Entsprechend niedrig sei auch der Anteil an Lastenrädern in der Stadt. „Allerdings steigt mit dem E-Bike der Anteil der Radfahrer deutlich“, sagt sie. In der Innenstadt seien genügend Radbügel und Abstellanlagen für herkömmliche Fahrräder vorhanden sowie ausreichend Bänke oder Cafés zum Verweilen. „Was fehlt, sind geeignete Abstellanlagen für Lastenräder und für E-Bikes mit integrierter Ladestation“, sagt sie.

Kreuzungsbereiche bieten viel schnell umzusetzendes
Potenzial für Lastenradstellplätze.

Raum für Lastenrad, Rollstuhl und Kinderwagen

Noch wichtiger als Kurzzeitstellplätze in der Innenstadt sind für die Stadtentwicklerin Diemer Abstellanlagen in den Wohnquartieren. „Ein großer Teil der Wohnungen in Nordhausen befinden sich in Plattenbau-Siedlungen“, sagt sie. Im Rahmen des Stadtumbaus und der Kooperation mit der Internationalen Bauausstellung Thüringen werden aktuell drei Plattenbau-Wohnblöcke der Städtischen Wohnungsbaugesellschaft (SWG) saniert und klimagerecht umgebaut. Im Zuge des Umbaus wird auch die Mobilität im Quartier umstrukturiert. Momentan parken die Autos im Innenhof des u-förmigen Plattenbauquartiers. „Der Platz wird entsiegelt und begrünt. Die Stellplätze rücken an den Rand des Quartiers“, sagt Petra Diemer. Um den zukünftigen Bewohnern den Verzicht aufs Auto leicht zu machen, soll in dem Innenhof eine moderne Fahrradabstellanlage entstehen. Bei der Ausstattung denken die Stadtplanerin und die SWG multimodal. „Neben der Fahrradmobilität berücksichtigen wir auch den demografischen Wandel“, sagt sie. Das heißt: Es wird Raum für Fahrräder, Lastenräder und Fahrradanhänger geben, aber es werden auch Flächen für Kinderwagen oder Gehhilfen wie Rollatoren oder E-Rollstühle eingeplant.

Stellplatzschlüssel fürs Transportrad

Hilfreich für die Planung ist das ALADIN-Tool, das den potenziellen Stellplatzbedarf für 2030 berechnet. Claudia Hille hat mit ihrem Team für neun unterschiedliche Quartierstypen Stellplatzschlüssel entwickelt. Der entsprechende Algorithmus basiert auf Daten zur sozialen, geografischen und räumlichen Struktur sowie der Kaufbereitschaft der Menschen vor Ort. In gründerzeitlichen Mischquartieren wie dem Prenzlauer Berg in Berlin liegt der errechnete Stellplatzschlüssel für Lastenräder beispielsweise bei 24,6. Demnach werden im Jahr 2030 dort rund 25 Lastenrad-Stellplätze pro 1000 Einwohner gebraucht. Dieser Platzbedarf könnte mit der Umwidmung von acht Pkw-Parkplätzen gedeckt werden. In Mehrfamilienhausgebieten am Ballungsrand großer Städte sinkt der Bedarf hingegen auf drei bis vier Pkw-Parkplätze. Wenn sie in den 1990er-Jahren gebaut oder saniert wurden, sind den ALADIN-Berechnungen zufolge hier etwa elf Transporträder pro 1000 Einwohner unterwegs. In Kommunen mit ländlich geprägten Dorfkernen wie Creuzburg (2500 Einwohner) im Westen Thüringens wären immerhin noch vier Transporträder pro 1000 Einwohner unterwegs. Hier genügt es, einen Parkplatz umzuwidmen.
„Der Leitfaden ist eine Planungshilfe für die Kommunen, aber auch der Appell ‚Traut euch‘“, sagt Claudia Hille. Sie will die Planerinnen und Planer ermutigen, zügig Pkw-Stellplätze für Cargobikes umzuwidmen. „Lastenräder sind ein Puzzleteil der Verkehrswende“, sagt sie. Wenn sichere Stellplätze vor der Haustür existieren, erleichtere das den Umstieg auf ein Cargobike.


10 Regeln für die Planung von Lastenradabstellanlagen

  1. Schutz vor Diebstahl
  2. Vandalismus bannen
  3. Zugänglichkeit für alle Nutzergruppen
  4. Serviceelemente prüfen
  5. Einfügen in das Straßenbild
  6. Nutzungskonflikte vermeiden
  7. Vorhandene Pkw-Flächen nutzen
  8. Bedürfnisse der Nutzer*innen prüfen
  9. Witterungsschutz ermöglichen
  10. Verknüpfung von Stadt- und Sozialräumen

Die Planungshilfe zum Downloaden und weitere Infos zu ALADIN gibt es auf der Projekt-Webseite https://www.wohin-mit-dem-lastenrad.de


Bilder: Fachhochschule Erfurt (FHE) – Institut Verkehr und Raum, Stadt Hannover