Das Unternehmen Bike Citizens verspricht, Städte mit wenig Aufwand fahrradfreundlicher und lebenswerter zu machen – und vielleicht auch das eine oder andere Fahrverbot zu vermeiden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


„Klar wollen alle Städte mehr Rad- und Fußverkehr. Der Druck von allen Seiten für eine entspannteres Vorwärtskommen, weniger Staus und weniger Umweltverschmutzung steigt“, sagt Adi Hirzer. „Doch für mehr Radverkehr braucht man die richtigen Routen, und um die zu planen, braucht man Daten.“ Daten über die anvisierten Ziele, über die genutzten Wege und über die Zeiten, die auf diesen Wegen gefahren werden. Diese Daten kann Hirzer auf Wunsch liefern. Er ist Produkt-Manager bei Bike Citizens und für den internationalen Markt zuständig. Das Unternehmen machte es sich schon vor zehn Jahren zur Aufgabe, Insiderrouten durch Städte zu finden und sie an Fahrradfahrer weiterzugeben. Der Ex-Fahrradkurier Andreas Stückli gründete Bike Citizens 2010 mit zwei weiteren Fahrradbegeisterten im österreichischen Graz. Dort ist auch heute noch die Zentrale, in der Hirzer sitzt. Gründer Stückli arbeitet mittlerweile mit einigen der heute 22 Mitarbeitern in einem zweiten Stammhaus mitten in Berlin.

Das Handy am Lenker: Für sicheres Navigieren bietet Bike Citizens mit dem Finn einen eigenen, breit einsetzbaren Halter. Und für gute Routen von A nach B die Erfahrung der anderen Radfahrenden.

Smartphone-App statt Straßenkarte

Bike Citizens entwickelte eine App, die es ermöglicht, fahrradfreundliche Wege durch die Stadt weiterzugeben und die Biker so über ruhige Wege, oft auch an Sehenswürdigkeiten vorbei, durch die City zu navigieren. So kann man sich mit jedem üblichen Handy von A nach B führen lassen – und zwar nicht nur auf den fahrradfreundlichsten, sondern sogar auf individuell angepassten Routen: Der User kann beispielsweise eingeben, ob er mit dem Rennrad, einem Mountainbike oder einem Stadtrad unterwegs ist, ob er lieber gemütlich cruisen, mit normaler Geschwindigkeit fahren oder schnell ans Ziel kommen will. Je nach Wahl der Parameter entscheiden Algorithmen darüber, wie groß ein möglicher Umweg zugunsten einer ruhigeren Strecke sein darf und auf welchem Untergrund man sich bewegen wird. „Unser Algorithmus berücksichtigt bis zu 100 Elemente pro Straßenstück“, erklärt Hirzer die Genauigkeit der Routenauswahl über die App.

Komplettausstattung für den Citybiker

Die Kartenanzeige der Radrouten ist für jeden umsonst, die Fahrradnavigation kostet den Nutzer für eine Stadt oder Region je fünf Euro. Man kann sich diesen Service aber auch „erradeln“: Wer innerhalb von einem Monat 100 Kilometer in der Stadt zurücklegt – das sind gerade mal gut drei Kilometer am Tag – bekommt den Service umsonst. Sogar eine gut funktionierende, wenn auch nicht sehr sonor klingende Sprachausgabe gibt es. Kostenlos wird es, wenn die Stadt, in der man sich bewegt, mit Bike Citizens verpartnert ist, also unter anderem die App lizenziert hat.
Die Hände gehören auch beim Radfahren an den Lenker, die Augen nach vorn. Deshalb gibt es von Bike Citizens den Finn – ein einfaches, aber sehr robustes und sicher haltendes Silikonband, das jedes übliche Smartphone am Lenker befestigt und so zuverlässig zum Radnavi macht. „Nach wie vor ein großartiges Giveaway“, sagt Hirzer, denn das Tool lässt sich gut branden – etwa mit dem Logo der Stadt.

„Für mehr Radverkehr braucht man die richtigen Routen, und um die zu planen, braucht man Daten.“

Adi Hirzer

Heatmaps für Nutzer und Planer

Auch Städte und Gemeinden können von Bike Citizens profitieren, indem sie über die genannte Partnerschaft Unterstützung erhalten. Insbesondere in Form von Daten, die Experten als Grundlage für eine planvolle Veränderung der Verkehrswege sehr gut brauchen können. Dabei hilft die Software, indem die Wege, die User mit der Bike-Citizens-App fahren, in sogenannten Heatmaps festgehalten werden. So können sich die App-Nutzer anzeigen lassen, über welche Wege sie in welchen Stadtteil oder zu welchem Ziel gefahren sind, und erkennen außerdem blinde Flecken auf der Karte. Natürlich steht auch ein Netzwerkgedanke dahinter: auf der Bike-Citizens-Seite im Internet kann man die Fahrten mit seinen Freunden oder dem Netzwerk teilen – mit allen positiven Effekten, die sich daraus ergeben: angefangen von der Herausbildung von besseren Radrouten zwischen häufig angewählten Punkten bis hin zur gegenseitig gepushten Motivation zum Radfahren. Aber auch für Planer hält Bike Citizens mit diesem Tracking einen Fundus an Daten bereit, die, ausgewertet und analysiert, enorm wertvoll sind.

Das Radverkehrsnetz – von der Stadt gebrandet

Die Angebotsstruktur von Bike Citizens für Städte ist gestaffelt. Als Basis gibt es die Möglichkeit, das Grundpaket, also die App-Lizenz inklusive der Navigation und Routing-Fähigkeit zu übernehmen. Das bedeutet: Branding der App und ihrer Inhalte sowie des Finn mit der Stadt-Marke und entsprechender Auftritt der Stadt. Erster Vorteil: Die Nutzer identifizieren sich mit der Stadt. Zweiter Vorteil: positive Wahrnehmung der Radverkehrsförderung, denn so schenkt die Stadt ihnen eine Navi-App mit vielen Möglichkeiten. „Natürlich gibt es viele Möglichkeiten, das Angebot zu individualisieren und der Stadt genau anzupassen“, erklärt Hirzer. Das fängt schon bei der Kennzeichnung von Points of Interest an. Standardpakete, quasi die Einsteigerlösung für diese Angebotsstufe, schlagen bei der Stadt mit etwa 10.000 Euro zu Buche. Graz, die Heimatstadt von Bike Citizens, war übrigens der erste Kunde.

Mehr Motivation durch Gamification und Belohnungssystem

Der zweite Schritt zielt vor allem auf die Motivation des Radfahrers: „Mit Gaming-Komponenten und Promotions kann ich alles Mögliche in die App einbauen“, erklärt Hirzer. „Der User kann mit bestimmten Kilometerleistungen Abzeichen jagen. Das läuft vor allem über den Spaßfaktor.“ Hierbei werden also die Nutzer der App angesprochen, noch mehr zu fahren – und können natürlich ihrerseits ihre Community motivieren, Bike Citizens in ihrer Region noch bekannter zu machen.

Zählen heißt noch nicht messen

Im dritten Schritt schließlich geht’s ums Eingemachte. Digitalisiert wird ja schon lange – der Autoverkehr zum Beispiel unter anderem mithilfe von Induktionsschleifen. Jedoch: „Städte haben gemerkt, dass das Erfassen von Radverkehrsdaten nicht einfach ist. Der Radverkehr ist viel heterogener und konfuser als der Autoverkehr. Man braucht hier viel tiefer gehende Daten. Klassische Zählstellen sind da wenig sinnvoll“, weiß Hirzer. Denn ob die Routen, an der sie liegen, gut oder schlecht sind, bleibt hier ebenso unklar wie der Weg, den Nutzer im Weiteren nehmen. Deshalb gehört zum dritten Angebotspaket die gemeinsame Analyse der erstellten Zahlen mit den Planern der Stadt. Schließlich hat man eine Unmenge an Daten. Das betrifft die Einstufung der gewählten Ziele oder Regionen, die Routen zu bestimmten Zielen, die Art und Länge der Umwege, die Radfahrer in Kauf nehmen, um eine bessere Route zu nehmen, die Länge der Wartezeiten an den Ampeln … und noch viel mehr. Die App zeichnet per GPS einen Punkt pro Sekunde auf – das reicht, um sehr genaue Angaben zu erhalten. „Wir können zum Beispiel auch sehr schnell sehen, wo Menschen den kürzesten Weg nicht genommen haben, und können oft per Karte sehr schnell schließen, was zum Umweg führte. Wenn man aber Zählung und unsere Daten kombiniert, lassen sich nochmals neue Zahlen gewinnen.“ Ein Paradies für Mathematiker, Statistiker und eben Planer. „Wenn wir diese Daten haben, dann können wir beispielsweise beleuchten, warum eine Stadt nicht über acht Prozent Radverkehrsanteil kommt.“
Übrigens kann auch der Bike-Citizens-Nutzer zur Verbesserung der Radverkehrswege beitragen: Je nach Art der Stadtpartnerschaft kann der Nutzer mit einem Button am Lenker auf schwierige oder gefährliche Situationen aufmerksam machen.

Die App ist mehr als nur Navigation: Fahrtenaufzeichnung, Heatmap, Cloud, Netzwerk oder für Biker interessante News-Beiträge – selbst verschiedene Möglichkeiten, sich Boni zu erradeln, können mit an Bord sein.

Workshops zur Datenanalyse

Bike Citizens bietet zur Analyse gemeinsame Workshops mit den zuständigen Stellen in den Gemeinden an. Momentan ist Hannover ein Vorzeigepartner des Unternehmens. Seit drei Jahren wird auf verschiedenen Ebenen zusammengearbeitet. Letztes Jahr gab es eine umfangreiche Kooperation mit Hamburg. Insgesamt nutzen derzeit etwa 50 Städte und Gemeinden zumindest die App als Werkzeug für besseren Radverkehr. International sind Nutzer in 750 Regionen und Städten mit der App unterwegs.

Auf Kongressen treffen – oder gleich zu sich einladen

„Wir sind auf fast allen Kongressen und Konferenzen zum Thema unterwegs. Wie zum Beispiel dem NRVK Dresden oder der Polis”, so der Bike-Citizen-Produktmanager Adi Hirzer. „Aber wir besuchen die Städte auf Einladung auch gern und präsentieren unsere Leistungen.“
Mit den persönlichen Daten der derzeit etwa eine Million Nutzer ginge man sehr sorgsam um, wie Hirzer betont: „Das ist alles abgesichert. Wir analysieren schließlich nicht die Menschen, sondern die Stadt.“

Weitere Informationen: www.bikecitizens.net
Smartphone-Halter: getfinn.com


Bilder: Bike Citizens

Der Zielsetzung „Mehr Radverkehr“ kann oder mag sich heute kaum noch ein Entscheider ernsthaft verschließen. Was in der Konsequenz die Frage aufwirft, wer denn die künftigen Radfahrer und Radfahrerinnen sein sollen. Expertinnen und weibliche Entscheider werben für einen Perspektivwechsel. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Wenn es um Mobilität geht, bestimmen seit Jahrzehnten vorwiegend Männer die Rahmenbedingungen. „Ausgebremst – Städteplaner sind autofahrende Männer“, war der provokant gewählte Titel einer im Jahr 1989 in Graz organisierten Tagung. Mit ihm brachten Verkehrsplanerinnen zum Ausdruck, dass Frauen in der Verkehrsplanung und -umsetzung kaum vorkamen. Rund 15 Jahre später stellte ein zwischen 2003 und 2005 durchgeführtes Forschungsprojekt der österreichischen Regierung fest, dass sich die Situation nur punktuell verbessert hatte. Nur vier Prozent weibliche Verkehrsplaner befanden sich demnach in leitender Funktion und wirkten am österreichischen Generalverkehrsplan und den Verkehrskonzepten der Länder mit. Ebenso frappierend: Auch bei der Bürgerbeteiligung zeigten sich „enorme Unterschiede hinsichtlich der Beteiligung der Geschlechter“, sprich, eine große Mehrheit bei Männern. Kann man das auf Deutschland übertragen? Wahrscheinlich. Denn ohne Statistiken zu bemühen und zu werten, lässt sich auch hier und heute jederzeit eine deutliche Männerdominanz feststellen.


Mobilität von Männern für Männer

Selbstverständlich kann man Männern nicht absprechen, willens und, wenn sie professionell agieren, auch in der Lage zu sein, sich in die Bedürfnisse anderer hineinzuversetzen. Andererseits ist das Thema weibliche Mobilität deutlich komplexer, als Mann denkt. Nicht zuletzt geht es dabei auch um Rollenbilder, gesellschaftliche Strukturen, Menschenbilder und Vorstellungen von Gesellschaft und Zusammenleben. Komplexe Anforderungen also, die viel mehr umfassen als nur einen möglichst reibungslosen Verkehrsfluss von A (Wohnung) nach B (Büro) und wieder zurück. Sobald man sich näher mit dem Thema beschäftigt, stellt man fest, dass die Pendlermobilität als Leitthema hierzulande sowohl in der politischen Diskussion als auch in der Presse immer wieder in den Vordergrund gestellt wird. Dafür gibt es Gründe, wie Meike Spitzner, Projektleiterin Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik beim Wuppertal Institut, in einem Interview mit der Zeit erläuterte. Die Idee der autogerechten Stadt hat demnach ihre Wurzeln in den Familien- und Rollenbildern der Fünfzigerjahre. Männer verdienten das Geld und „ihnen baute man Autos, Straßen und Parkplätze, damit sie möglichst schnell vorankamen“. Und Frauen? „Da ihre Arbeit nicht unmittelbar Geld brachte, gab es auch keinen wirtschaftlichen Anreiz, ihre Situation zu verbessern“, so Meike Spitzner. Und heute? Zwar hat die Erwerbstätigkeit von Frauen in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen, aber es herrscht immer noch das Hinzuverdiener-Modell vor: Väter arbeiten in Vollzeit, während die Mütter in Teilzeit hinzuverdienen. So ist es bei rund 70 Prozent der erwerbstätigen Paare mit minderjährigen Kindern und bei Ehepaaren sogar noch mehr. Hausarbeit, Kinderbetreuung, Pflege und soziale Kontakte werden weiterhin überwiegend von Frauen geleistet, wie Erhebungen zeigen. Damit verbunden unterscheiden sich hier auch die Anforderungen, Bewegungsmuster und Formen von Mobilität sehr deutlich.

Rollenmobilität: Die Marken- und Kommunikationsexpertin Verena Begemann hat klassische Wege aufgeschlüsselt.

Frauen bewegen sich anders

„Women move differently – what everyone working in mobility should know” – mit diesem Thema hat es die Berliner Mobilitätsberatung „White Octopus“ im Januar dieses Jahres auf die Agenda des World Economic Forum in Davos geschafft. Das Thema scheint in der Breite also ebenso unbekannt wie aktuell zu sein. Die Kernthesen:
Mobilität ist nicht geschlechtsneutral und kann eine männliche Vorliebe haben.
Frauen haben andere Bedürfnisse und Verhaltensweisen, wenn es um den Transport geht.
Das Verständnis ihrer Perspektive könnte die Mobilität für alle verbessern.
Die Mobilität von Frauen sei durch Trip-Chaining und Zeitarmut gekennzeichnet, fassen die Autorinnen die Ergebnisse von Studien zusammen. „Frauen haben eine geringere Reichweite, wenn sie die gleiche Menge an Zeit reisen. Frauen tragen Gepäck und begleiten Menschen, häufiger in öffentlichen Verkehrsmitteln und zu Fuß. Das Auto ist weniger häufig die Standardlösung.“ Ein Workshop, den die Beraterinnen mit 40 Mobilitätsfachfrauen 2019 in Berlin durchführten, bestätigte diese Ergebnisse weitgehend und lieferte weitere Ansätze: So würden die verletzlicheren Frauen von einem ständigen Gefühl der Unsicherheit begleitet, das sich vor allem nachts und auf der letzten Meile verstärkt zeige. Dadurch würde ihr Mobilitätsverhalten entscheidend mitgeprägt. Ein großes Problem zeige sich auch in der Vereinbarkeit von familiärer Betreuung und bezahlter Arbeit. Für viele Mütter seien „Reiseketten“ zur zweiten Natur und Zeitmangel ein ständiger Begleiter geworden. „Ein zuverlässiges System ist in dieser Hinsicht entscheidend. Bei all ihren Verpflichtungen haben die Frauen immer noch das Recht und die Verpflichtung, pünktlich zu erscheinen. Egal was passiert, die Show muss weitergehen.“ Unsichere und unzuverlässige Verkehrssysteme scheinen damit ebenso wenig geeignet wie zu teure. Denn auch das Budget bestimme stark ihre Mobilitätsoptionen. Auch zwischen beruflichen Terminen bewegten sich Frauen ständig in einem Spannungsfeld: Status, Aussehen, Frisur, die Möglichkeit, Kleidungsstücke zu wechseln und aufzubewahren, oder unterwegs noch etwas vorzubereiten oder zu erledigen – alles Probleme, die sicher auch Männer kennen, sehr wahrscheinlich allerdings in einem anderen Maß.

Kind zur Schule bringen, kurz in die Post, Hund zum Tierarzt und noch schnell bei den Schwiegereltern vorbei: Die Aufgaben und Wege von Frauen sind vielfältig.

Gute und sichere Mobilität: wichtig für alle

Die Wichtigkeit guter Mobilität für Familien unterstreicht auch die Marken- und Kommunikationsexpertin Verena Begemann. Sie hat sich für verschiedene Branchen mit dem Gender-Thema befasst und kennt die vielfältigen Anforderungen als Mutter von zwei Kindern aus erster Hand. „Vielfach wird vergessen oder ausgeblendet, dass Mobilität das zentrale Element von Teilhabe am sozialen Leben ist. Dabei profitieren von einer guten, sicheren, funktionierenden und bezahlbaren Mobilität alle: die Frau, der Mann, die Kinder, zu pflegende Angehörige und nicht zuletzt auch die Gesellschaft an sich.“ Nur Ziele auszugeben, zum Beispiel mehr Radverkehr oder weniger Begleitmobilität (Stichwort Elterntaxi), ist für sie der falsche Weg. „Wie bei Marken müssen wir uns fragen, was eigentlich die konkreten Bedürfnisse und Anreize sind und wo möglicherweise Hindernisse wie Imageprobleme oder bewusste und unbewusste Ängste liegen“, so die Kommunikationsexpertin. „Nur so gelingt es, bestehende Nutzer zu binden und neue hinzuzugewinnen.“

Beteiligungsverfahren anders denken

Dr.-Ing. Silvia Körntgen verweist im Gespräch darauf, dass Personen mit spezifischen Nutzungsansprüchen an den öffentlichen Raum oder sozial benachteiligte Gruppen geringere Chancen hätten, ihre Interessen durchzusetzen. Dazu zählten Frauen ebenso wie Kinder und Jugendliche, Rentner, mobilitätseingeschränkte Personen oder Menschen mit Migrationshintergrund. Hier gelte es Beteiligungsverfahren anders zu gestalten. Gut geeignet seien zum Beispiel problemorientierte Bestandsanalysen im Rahmen von Stadtteilspaziergängen.

Großes Potenzial für Familienentlastung

Auch die Fahrradbranche habe Frauen als Kundengruppe neu entdeckt und böte inzwischen ein ausdifferenziertes Angebot. „Bei Alltagsrädern, aber auch bei Mountainbikes und vor allem bei Lastenrädern eröffnet dabei die Motorunterstützung völlig neue Optionen. Übrigens nicht nur für Frauen, sondern für alle und alle Altersgruppen“, erklärt Begemann. Ausgereifte Produkte seien da, jetzt müsse es darum gehen, auch die Rahmenfaktoren zu verbessern und da gebe es noch sehr große Potenziale. Beispiel Elterntaxi: „Eltern, die sich selbst nicht sicher fühlen auf der Straße, werden ihre Kinder nur allein zur Schule oder zu sozialen Aktivitäten fahren lassen, wenn es keine andere Möglichkeit gibt.“ Umgekehrt stecke in jedem Weg, den ein Kind allein zurücklegt, ein riesiges Entlastungspotenzial für Familien. „Tretroller sind hier aus meiner Sicht zum Beispiel eine völlig unterschätzte Lösung, weil sie pro­blemlos in jeden Kofferraum passen, in Bus und Bahn mitgenommen werden können und auch Kindern, die auf dem Rad noch nicht sicher sind, eine Möglichkeit geben, selbstständig unterwegs zu sein.“ So rollert der achtjährige Sohn der Bielefelderin mit seinen Freunden zum Beispiel nachmittags immer selbstständig zum Sportplatz, „abends, wenn es dunkel ist, holt die Kinder ein Elternteil aus unserer WhatsApp-Gruppe Elterntaxi ab.“ Ein gutes Beispiel, wie digitale Medien und Intermodalität verschmelzen und auch außerhalb von Ballungszentren neue Angebote schaffen.

Probleme: Aggression und fehlende Sicherheit

Mehr objektive und subjektiv empfundene Sicherheit wären eine gute Basis, um mehr Menschen aufs Fahrrad zu bekommen. Die Realität entwickelt sich hier aber alles andere als positiv: „Nach den Erkenntnissen der Polizei sind aggressive Verhaltensweisen im Verkehr in den letzten Jahren häufiger geworden”, sagt Julia Fohmann vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR). Damit stößt sie auf große Zustimmung in der Bevölkerung: In einer im September 2019 veröffentlichten Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach beklagten 90 Prozent der befragten Verkehrsteilnehmer eine zunehmende Aggressivität – ein Thema, mit dem sich kürzlich auch der 58. Deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar auseinandersetzte. Ernüchternde Ergebnisse zeigte auch der ADFC-Fahrradklima-Test 2018, der einen Trend verzeichnet, nachdem sich Menschen beim Radfahren immer unsicherer fühlen (Note 4,2 gegenüber 3,9 in 2016). 74 Prozent der Befragten sagten außerdem, dass man Kinder nur mit schlechtem Gefühl allein mit dem Rad fahren lassen könne – in den Großstädten waren es sogar 85 Prozent. Als Problem gesehen werden vor allem zu viel Verkehr, zu schnelles Fahren, rücksichtslose Autofahrer und Fahrzeuge auf dem Radweg.

ADFC: Mehrheit braucht stressarmes Radfahren

Ein aggressives Verkehrsklima ist laut ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork „Gift für den Radverkehr“. Es führe dazu, dass die Menschen sich lieber in Autotrutzburgen verschanzen anstatt, wie politisch erwünscht, gern und häufig auf das Rad zu steigen. „Rücksichtkampagnen reichen nicht. Wir brauchen Infrastruktur, die schützt, und Sanktionen, die richtig wehtun!“ Vom ADFC gefordert wird unter anderem die konsequentere Verfolgung von gefährlichem Verhalten, mehr Polizeistaffeln auf dem Fahrrad und kommunale Bauprogramme für physisch geschützte Radwege. Laut Untersuchungen des Verbands hätten große Teile der Bevölkerung grundsätzlich Interesse, Rad zu fahren. 60 Prozent der Menschen gehörten zur Gruppe der „Interessierten, aber Besorgten“, die stressarme Strecken bräuchten. Die Mehrheit dieser Gruppe stellen Frauen, Kinder, deren Eltern sowie ältere Menschen.

Neue Philosophien: Städte als Begegnungsräume

Wie sehr Städte und Stadtviertel durch verkehrsreiche Straßen zerschnitten, von parkenden Autos zugestellt und durch rücksichtslose Autofahrer zu gefährlichen Orten gemacht werden, erlebt Dr. Ute Symanski hautnah in ihrem Büro in Köln-Ehrenfeld sowie in Gesprächen mit Verbänden, Vereinen, Verkehrsexperten und Entscheidern auf allen Ebenen. Der Organisationssoziologin, Beraterin und politischen Aktivistin (u. a. Radkomm-Konferenz, Aktionsbündnis Auf-
bruch Fahrrad NRW) geht es, was auf den ersten Blick vielleicht unverständlich wirkt, gar nicht zentral um Rad- und Autoverkehr, sondern um mehr „Begegnungsräume“ für Menschen. Ihr Ausgangspunkt „Die Stadt gehört den Menschen, die in ihr leben“ findet in Diskussionen und auch politischen Prozessen inzwischen breite Zustimmung, wie unter anderem das einstimmige Votum des Verkehrsausschusses im NRW-Landtag für ein Radverkehrsgesetz zeigte.

Ziel: lebenswerte Städte und Dörfer

Für Niederländer ist es ganz normal, dass Städte eine hohe Aufenthaltsqualität und Sicherheit für alle bieten. Die zweite Bürgermeisterin von Utrecht, Loot van Hoojidink, bringt die Philosophie auf den Punkt: „Meine Hauptfrage lautet: In was für einer Stadt wollen wir leben?“ Von dieser Frage käme man direkt zum Fahrrad. „Radfahren hat so viele Vorteile; es geht um Lärm, es geht um saubere Luft, es geht um das Klima, aber auch darum, wie freundlich es in einer Stadt ist. Man hat wirklich die Vorstellung, dass die Menschen der Chef auf der Straße sind und nicht die Maschinen.“ Von mehr Radverkehr spricht auch die niederländische Ingenieurin und Geschäftsführerin der SOAB Mobilitäts- & Raumplanung Ineke Spapé gerne erst in zweiter Linie, obwohl sie oft als „Fahrradprofessorin“ tituliert wird. „Mehr Radfahren lohnt, Ziel sind aber lebenswerte Städte und Dörfer!“ Für sie gehört das Thema Radverkehr auch nicht allein in die Hände von Verkehrsplanern. Vielmehr ginge es darum, auch andere Bereiche mit einzubeziehen, wie zum Beispiel Gesundheit, Tourismus, Wirtschaft, Raumplanung etc. Ihr „Thermometer für (Verkehrs-)Sicherheit: mehr Frauen, Kinder, Omas.“

Konsequentes Umsteuern statt Pillepalle

Kommentar von Reiner Kolberg

Ambitionierte Ziele haben sich Bund, Länder und Kommunen in Bezug auf den Radverkehr gesetzt. Doch die Realität und die Erfahrungen zeigen hier, wie auch beim Klima oder der E-Mobilität, dass mit dem Setzen von Zielen in der Praxis nichts gewonnen wird, wenn sie nicht mit klaren Maßnahmen, messbaren Teilzielen und deren Kontrolle verbunden werden.

Deutlich mehr Menschen aufs Fahrrad oder E-Bike werden wir wohl nur bekommen, wenn es gelingt, auch einen guten Teil der Unsicheren und der Bequemen zu gewinnen. Aber warum sollte man aufs Rad umsteigen, wenn es mit dem Auto gefühlt oder tatsächlich einfacher und sicherer geht? Und Hand aufs Herz: Lassen Sie Ihre Kinder heute guten Gewissens allein mit dem Rad durch die Stadt fahren?

„Honig für Radfahrer, Essig für Autofahrer“, beschreibt die Expertin Ineke Spapé das Erfolgsrezept vieler niederländischer Kommunen. Für Deutschland wäre das nicht weniger als eine 180-Grad-Wende. Zeitnah gelöst werden müssten zudem auch im Straßenverkehr sichtbare soziale Probleme, wie aggressives Fahren, Rasen oder die Nutzung des Autos zum Demonstrieren von Macht und Dominanz. Gegen dieses nach Experten klassisch männertypische Verhalten gehen andere Länder entschieden vor: Mit verschärfter Überwachung und harten Sanktionen, bis hin zum Einziehen des Pkws vom Halter (nicht vom Fahrer), wie kürzlich im dänischen Parlament diskutiert wurde. Starker Tobak für Autoverleiher oder Vermieter. Andererseits: Wie bekommt man mehr Sicherheit und mehr Radverkehr, wenn man es bei Veränderungen im Kleinen belässt und Probleme nicht bei der Wurzel packt?


Bilder: ADFC – Westrich, Eyecon Design, Verena Begemann, stock.adobe.com – Kara, Babboe

Der international bekannte E-Bike- und Lastenradhersteller Riese & Müller aus Mühltal bei Darmstadt genießt einen exzellenten Ruf für seine Produkte. Doch es lohnt sich auch ein anderer Blick auf das Unternehmen: Es möchte Mitarbeiter und Politik auf eine langfristige Reise mitnehmen – in eine Welt mit besserer Verkehrspolitik. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Geschäftsführung im neuen Werk: Markus Riese (auf dem Lastenrad), Heiko Müller und Sandra Wolf leiten das hessische Unternehmen Riese & Müller.

Fortschrittliche Mobilität, zukunftsfähige Strukturen und gesellschaftliche Wirkung sind vor allem Sache der öffentlichen Hand. Beispiele für verkehrspolitische Initiativen gibt es aber auch in der Privatwirtschaft. Natürlich: Unternehmen, in der Radbranche wie überall, vermarkten zunächst einmal ihre eigenen Erzeugnisse, betreiben Storytelling und versuchen so, den Nerv der Kunden zu treffen. Umso bemerkenswerter ist es, wenn sich Unternehmen Ziele setzen, die über Gewinnmaximierung hinausgehen. Solch ein Unternehmen ist der hessische E-Bike- und Lastenradspezialist Riese & Müller. Dessen Co-Geschäftsführerin Sandra Wolf sagt: „Wir wollen positive Impulse setzen, für unsere Mitarbeiter, ihre Familien, unseren Standort und auch darüber hinaus.“

150 Millionen Umsatz, 500 Mitarbeiter

Riese & Müller ist eine Edelschmiede der deutschen Radbranche. Schon seit den Neunzigerjahren steht das Unternehmen im Ruf, vor allem innovative Produkte zu entsprechenden Preisen anzubieten. Am Beginn der Firmengeschichte standen die beiden Ingenieure Markus Riese und Heiko Müller, die Anfang der Neunzigerjahre das vollgefederte Faltrad „Birdy“ konstruierten, das heute immer noch produziert und weiterentwickelt wird. Inzwischen leiten die beiden Gründer das Unternehmen gemeinsam mit der renommierten Branding-Expertin Sandra Wolf. Was in den vergangenen knapp drei Jahrzehnten und zuletzt mit deutlich höherer Geschwindigkeit geschah, beeindruckt: Der Umsatz 2019 betrug etwa 150 Millionen Euro, in den vergangenen drei Jahren legte man stets mehr als 60 Prozent zu. Riese & Müller beschäftigt bald 500 Mitarbeiter und eröffnete im südhessischen Mühltal vergangenes Jahr eine neue Firmenzen­trale mit Werk und Verwaltung. Die entsprechende Investition betrug 30 Millionen Euro. „Wir arbeiten jeden Tag hart daran, dass wir unsere Werte erhalten, auch wenn wir immer größer werden – bei unseren Produkten und bei unserer Kultur“, sagt Heiko Müller.
Werte, zukunftsfähige Mobilität, der Blick über die wirtschaftlichen Kennzahlen hinaus – bei Riese & Müller ist das ein wichtiger Gesprächsstoff. Im Vorjahr kündigte das Management an, bis 2025 „das nachhaltigste Unternehmen der E-Bike-Branche“ werden zu wollen. Klar ist: Der Anspruch ist hoch. Wenn es um künftigen Erfolg geht, so meint Sandra Wolf, muss das auch so sein. Denn ohne nachhaltige Strategie werde man weder bei den Konsumenten noch am Arbeitsmarkt den eigenen Erfolg wahren.

„Herausragende unternehmerische Investitionen und Haltung“: Der Landkreis Darmstadt-Dieburg zeichnete Riese & Müller als „Unternehmen des Jahres 2019“ aus.

Das Personal wünscht Sinn

Für den Umgang mit seinen Mitarbeitern hat Riese & Müller in der Branche und darüber hinaus auch in der Politik viel Anerkennung geerntet. Klar: Im Netz äußern sich auch unzufriedene Mitarbeiter, es gibt im Zuge der Expansion auch Aussteiger, nicht alles läuft glänzend. Aber dem Unternehmen gelingt es, in einer wirtschaftlich seit langer Zeit florierenden Region den steigenden Personalbedarf zu decken. „Wir profitieren am Arbeitsmarkt inzwischen davon, dass wir die Bewerber inhaltlich überzeugen“, sagt Sandra Wolf, „bei uns ist der Sinnfaktor der Arbeit groß.” Das gilt im Übrigen nicht nur für Mitarbeiter in der Verwaltung, sagt die Geschäftsführerin, sondern auch für die Frauen und Männer in der hellen Fertigungshalle. „Bei jüngeren Mitarbeitenden sehen wir aber verstärkt, dass sie bewusst von größeren Unternehmen abwandern und zu Firmen wie unserer wechseln“, beobachtet Wolf.

Personalpolitik als Chefsache

Schon früh hat Sandra Wolf einen für die Fahrradbranche noch ungewohnten Ansatz verfolgt: Personalarbeit ist Chefsache, Employer Branding eine strategische Pflicht, das Unternehmen im Zweifel am kürzeren Hebel, wenn es um gute Mitarbeiterinnen geht. Zum Thema Employer Branding veröffentlichte sie schon vor sieben Jahren einen Fachartikel bei velobiz.de, und noch heute ist sie die Strategin bei Riese & Müller. „Die Kultur ist für uns als Arbeitgeber etwas ganz Entscheidendes“, sagt sie, „es unterscheidet uns, dass die Chefs immer sichtbar sind, dass wir mit dem Fahrrad ins Unternehmen kommen, dass das Miteinander so wichtig ist wie vor 15 oder 20 Jahren.“

Daseinssinn macht attraktiver

Fachleuten zufolge wird ein glaubwürdiges soziales Engagement und ernsthaftes Hinterfragen, wie das Unternehmen mit den Menschen und der Welt umgeht, immer mehr zum neuen Trend und erhält als „Corporate Purpose“-Bekenntnis Gestalt. Die Management-Beraterin Anne M. Schueller rät dazu, drei Ebenen zu betrachten:

• Corporate Purpose für die Organisation als Ganzes

• Brand Purpose der Marken/Produkte für die Kunden

• Employee Purpose für die Mitarbeitenden

„Purposeful Organisations“, also Unternehmen mit einem Daseinssinn und einer Philosophie hinter dem Geschäftsmodell, sind ihrer Meinung nach leicht in der Lage, sowohl eine zahlungsbereite Klientel als auch Top-Talente zu gewinnen und zu halten. Sie würden von der Gesellschaft geschätzt und erlangten den Zuspruch der Medien. Und sie seien in der Lage, eine Gefolgschaft um sich zu scharen, die zu Multiplikatoren würden.

Nachhaltigkeit im Betrieb

Sinn über Nachhaltigkeitsversprechen will das Unternehmen an vielen Stellen ganz direkt stiften: Man ist ökologisch, Solarzellen liefern Energie, die Mitarbeiter holen sich ihr Wasser aus Trinkbrunnen im Gebäude – auch den Kaffee trinken sie aus wiederverwendbaren Bechern. Vier Mitarbeiter mit Behinderung kommen von der Diakonie und werden hier ins Arbeitsleben integriert. Alle Kollegen profitieren von günstigen Angeboten an der Kaffeebar – wo es ausschließlich Lebensmittel in Bio- und Demeter-Qualität gibt sowie Milch von einem nahegelegenen Biobauernhof. Auch bei der Werkskleidung stellte Riese & Müller um: Auf Textilien von Vaude – auch wegen der nachhaltigen Ausrichtung des Lieferanten.

Eigene Mitarbeiter auf eigenen Bikes

Die Bezahlung muss natürlich stimmen. Aber Sandra Wolf bezeichnet das eher nachrangig als „Hygienefaktor“. Bei Riese & Müller verdienen Männer und Frauen in derselben Position „selbstverständlich“ dasselbe, sagt Wolf. Wichtig seien zudem gute Konditionen für die betriebliche Altersversorgung. Vor allem aber sind die besonderen Konditionen für E-Bikes ein spannendes Argument für die Mitarbeiter. Riese & Müller kooperiert mit dem Anbieter Jobrad, der Mitarbeitern die Anschaffung eines hochwertigen Rades über den Arbeitgeber zu attraktiven Leasing-Konditionen ermöglicht. Knapp 25 Prozent der Mitarbeiter nutzen das Angebot aktuell, „Tendenz stark steigend“, wie Unternehmenssprecher Jörg Lange einordnet. Auch für Familie und Freunde erhalten Mitarbeiter Rabatte, um das Thema E-Bike und Lastenrad in ihrem Umfeld noch populärer zu machen.

„Wir wollen positive Impulse setzen, für unsere Mitarbeiter, ihre Familien, unseren Standort und auch darüber hinaus.“

Sandra Wolf

E-Mobilität wird sichtbar

Ein zentraler Aspekt, der Riese & Müller für Mitarbeiter attraktiv und für die Gesellschaft spannend macht: „Wir wollen nicht nur mit einem anderen Produkt eine alternative Mobilitätsform bieten, sondern Lösungen für eine wirkungsvolle und angenehme Alltagsmobilität der Zukunft erreichen“, sagt Wolf. Die Überzeugung, dass man neue Formen der Mobilität nicht nur beim Produktabsatz vorantreiben möchte, sitzt tief. „Und wenn unsere Mitarbeiter jetzt immer mehr auf unseren Fahrzeugen durch die angrenzenden Gemeinden pendeln, dann wird E-Mobilität sichtbar und kann dort etwas bewirken“, meint Sandra Wolf. Ganz praktisch passiert das schon in Mühltal, wo bislang, trotz verstopfter Bundesstraßen, wenig Rad- und E-Bike-Fahrer zu sehen waren. Jetzt fahren an jedem Arbeitstag 150 oder 200 E-Bikes durch die Gemeinde. Inzwischen gibt es in der Kommunalpolitik immer mehr Anträge zur Fahrradmobilität, es geht um neue Wege, aber auch um Konflikte und überhaupt um den Umgang mit den neuen Verkehrsteilnehmern. Das sei, so Wolf, ein kleines Zeichen dafür, was alles möglich ist.

Unterstützung für die Wissenschaft: Sandra Wolf (r.) gemeinsam mit den Professorinnen Martina Klärle (l.) und Petra Schäfer von der Frankfurt University of Applied Sciences. Riese & Müller unterstützt eine wissenschaftliche Mitarbeiterstelle.

Die Industrie stark repräsentieren

Über den unmittelbaren Wirkungskreis hinaus ist Riese & Müller längst politisch aktiv, etwa als Mitglied im ADFC, dem Zweirad-Industrie-Verband ZIV und dem Fachverband der Fahrradbranche VSF sowie im neuen Bundesverband Zukunft Fahrrad. „Alle diese Verbände sind auf ihre Weise wichtig, weil sie darauf hinarbeiten, das Fahrrad als wichtigen Träger einer zukunftsfähigen Verkehrsplanung ernst zu nehmen“, argumentiert Wolf.
In der Schweiz arbeitet man interessanterweise mit der Denkfabrik des dortigen Automobilverbands zusammen und bringt gemeinsam mit der „Mobilitätsakademie“ Kunden im Leihprogramm carvelo2go aufs Lastenrad. Das Sharing-Programm soll örtliche Strukturen und den lokalen Handel stärken.
Bei der Verbandsarbeit liegt Wolf die Bündelung der Stimme der Industrie besonders am Herzen, um die wirtschaftliche Bedeutung der Branche zu betonen. Dies sei vor allem wichtig, um die Klimaziele der Bundesregierung noch zu erreichen. „Inzwischen gibt es in unserer Branche eine ganze Reihe von Firmen, die für den Rest des Landes als Vorreiter taugen“, sagt Wolf. Digitalisierung, Elektromobilität, ethische Ansätze in der Geschäftsführung, veränderte Arten der Fortbewegung und der Lebensqualität – für all diese Themen fänden sich heute in der Industrie glaubwürdige Vertreter.

„Wir möchten Stadtplaner ermutigen, Dinge auszuprobieren und durch Beobachtung die Veränderungen zu messen.“

Sandra Wolf

Investitionen in mehr Planungs-Know-how

Für mehr Know-how zur Planung einer veränderten, fahrradfreundlichen Infrastruktur braucht es nach Sandra Wolfs Überzeugung mehr dafür abgestellte Experten in den städtischen Verwaltungen. „Verkehrspolitik mit Zukunft und mit Blick aufs Fahrrad muss ein kommunales Thema sein, doch heute hängt das immer noch stark von der Überzeugung Einzelner ab“, so Wolf. Das sollte sich ändern, findet sie. Riese & Müller möchte daran mitwirken, dass mehr Planer ausgebildet werden, die die Lehren einer autozen­trierten Verkehrspolitik verarbeiten und neue Erkenntnisse in die Planung einbringen. Daher engagiert sich das Unternehmen seit Februar 2020 auch für die akademische Forschung und unterstützt eine neue, zum kommenden Wintersemester startende Stiftungsprofessur Radverkehr an der Frankfurt University of Applied Sciences mit einer 50-Prozent-Stelle für eine wissenschaftliche Mitarbeiterposition.


Empfehlungskatalog für Radverkehrsplaner und Entscheider

von Sandra Wolf, Riese & Müller

Wir möchten Stadtplaner ermutigen, Dinge auszuprobieren und durch Beobachtung die Veränderungen zu messen. Besonders in kleinen Kommunen können viele wirkungsvolle Maßnahmen ohne hohe Kosten schnell umgesetzt werden.

Um Pendler vom Auto auf das E-Bike zu bekommen, muss das Radschnellwegenetz zwischen Städten und Gemeinden stark ausgebaut werden. Ein erster Schritt, der nichts kostet und zur stärkeren Nutzung vorhandener Fahrradwege führt, ist die Freigabe der Radwege auch für schnelle E-Bikes, sogenannte S-Pedelecs. Auf innerstädtischen Radwegen kann ein Tempolimit von 25 km/h für ein sicheres Nebeneinander von Fahrrad- und E-Bike-Fahrern sorgen. Kürzlich wurden in Tübingen durch den Oberbürgermeister Boris Palmer verschiedene Radwege für schnelle E-Bikes freigegeben. Diese Freigabe ist besonders für Pendler, die einen weiteren Anfahrtsweg haben, ein wichtiges Argument, um das Auto stehen zu lassen.

Eine sichere und durchgehende Radwegeinfrastruktur in der Stadt, die sich an den Qualitätskriterien von VCD, ADFC und Radentscheid orientiert. Die Fahrradwege müssen so konzipiert werden, dass zwei Fahrradfahrer nebeneinander fahren können und gefahrloses Überholen ohne das Verlassen des Fahrradweges möglich ist. Oftmals können schon kleine Maßnahmen, wie farbliche Markierungen von Fahrradwegen, ein wirkungsvolles Mittel sein, um den Anteil des Radverkehrs zu erhöhen. Nur wer sich mit dem Rad sicher fühlt, wird das Auto öfter stehen lassen und so einen wirkungsvollen Beitrag zur Reduzierung des Feinstaubs in Städten leisten.

Schaffung von mehr sicheren Fahrradabstellanlagen (möglichst überdacht und mit Lademöglichkeit für Akkus), vor allem an Umschlagspunkten wie Bahnhöfen und Straßenbahnhaltestellen, am Arbeitsplatz, an Schulen, öffentlichen Ämtern, Einkaufs- und Freizeiteinrichtungen und am Wohnort. Auch sichere Abstellmöglichkeiten für E-Cargo-Bikes müssen bereitgestellt werden.

Ein Schulterschluss mit ansässigen Firmen, da eine Zusammenarbeit häufig ein großes Potenzial für Radverkehr und somit die Entlastung der Straßen birgt. Besonders der Berufsverkehr sorgt für viele Staus auf den Straßen und kann durch gemeinsame und intelligente Konzepte, die Städte mit Firmen entwickeln, deutlich reduziert werden.

Schaffung von autofreien Zonen um Kindergärten und Schulen, um die große Gefahr der „Elterntaxis“ zu reduzieren und das Fahrrad als „Kindertaxi“ attraktiver zu machen.

Fortbildungspflicht/-möglichkeit für Städteplaner, Verkehrsplaner und Lokalpolitiker in Städten wie Kopenhagen, Utrecht usw.

staatliche Subventionierung der Anschaffungskosten (Bike & Sicherheitsfeatures wie Helm, Kleidung etc.) und Wartungskosten

flächendeckendes Angebot für Fahrsicherheitstrainings

(mehr) öffentliche Vertreter auf E-Bikes als Vorbildfunktion


Über Riese & Müller

Riese & Müller wurde 1993 von Markus Riese und Heiko Müller gegründet. Dritte Geschäftsführerin ist Sandra Wolf. Ursprünglich bot das Unternehmen ein vollgefedertes Faltrad, heute ist es Spezialist für hochwertige motorunterstützte Mobilität und Cargobikes. Das Unternehmen erwirtschaftete 2019 einen Umsatz von ca. 150 Millionen Euro und beschäftigt 500 Mitarbeiter. Wichtige Exportmärkte sind die USA, Norwegen und die Niederlande. Der Landkreis Darmstadt-Dieburg, in dem Riese & Müller sitzt, zeichnete die Firma als „Unternehmen des Jahres 2019“ aus. „Mit den herausragenden unternehmerischen Investitionen, aber auch mit ihrer unternehmerischen Haltung und der Marke, die weltweit strahlt, stärkt die Riese & Müller GmbH den Wirtschaftsstandort Landkreis Darmstadt-Dieburg eindrucksvoll“, sagte Landrat Klaus Peter Schellhaas. Das Unternehmen gewann mit seinem ersten Produkt 1993 den Hessischen Innovationspreis. Auch für seine weiteren Produkte hat Riese & Müller bereits vielfach Eurobike-Awards und Design-Preise erhalten.


Bilder: Philipp Hympendahl, Riese & Müller, www.pd-f.de – Florian Schuh

Strava, das soziale Netzwerk für Radsportler, bietet seine Informationen auch für die Verkehrsplanung an. Millionen Freizeitradler sorgen für eine Datenmenge, die auch das Interesse von Planern weckt. Seit Jahren versucht das kalifornische Start-up auch in Deutschland Fuß zu fassen. In Hessen gibt es nun den ersten Kunden hierzulande. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Man hat hehre Ziele in Kalifornien. Eine weltweite Community von Sportbegeisterten will das US-Start-up Strava sein, ein globaler Sportverein – und ein ernst zu nehmender Partner für die Planung von Verkehrsinfrastruktur. Seit einigen Jahren versucht sich das Technologieunternehmen mit Sitz in San Francisco an diesem zusätzlichen Geschäftsmodell mit dem Namen „Metro“. Wie etwa auch bei Bike Citizens werden GPS-basierte Nutzerdaten von Fahrradfahrern für die Planer sichtbar und verwendbar gemacht. „Es wäre eine großartige Sache, wenn wir einen kleinen Beitrag dazu leisten könnten, dass es in Städten weniger Staus, Abgase und Parkplatzprobleme gibt“, hat Mark Gainey, Gründer und Chef des Unternehmens, vor einiger Zeit als Losung ausgegeben.
Im Laufe der vergangenen sechs Jahre hat Strava mit Kommunen und Behörden in aller Welt an dieser Idee gearbeitet. Los ging es in Portland, Oregon, wo man nach guten Standorten für Fahrradzähler suchte und dafür die Spuren aus dem digitalen Netzwerk betrachtete. Es kamen Kooperationen in den USA, Australien und Kanada hinzu, und jetzt hat Strava Metro erstmals einen Kunden in Deutschland: Der Zweckverband Raum Kassel (ZRK) und Strava verkündeten im November eine zunächst für zwei Jahre geplante Zusammenarbeit.

„Die Daten sprechen Bände.“

Paul Niemeyer, Strava

15.000 Euro für zwei Jahre

Dass man Daten aus dem Netz vielleicht auch für Radinfrastrukturplanung nutzen könnte, auf diesen Gedanken war Kai Georg Bachmann in der Praxis gestoßen. Bachmann, Verbandsdirektor des ZRK, ist selbst Rennradfahrer, Langstrecken-Radpendler und Strava-Nutzer. Zudem ist er studierter Informationstechniker, weshalb er sich gut vorstellen konnte, dass sich die Daten des Radlernetzwerks nutzen lassen. „Mir ging es darum, die ohnehin gesammelten Informationen eines Big-Data-Anbieters für unsere Planungszwecke zu verwenden.“ So meldete sich Bachmann bei Strava – und kurz darauf unterschrieb der ZRK einen Zweijahresvertrag über die Nutzung von Metro. 15.000 Euro ruft der Anbieter für die etwa 100.000 Datensätze auf, die Kosten tragen ZRK, Stadt und Landkreis Kassel jeweils zu einem Drittel. Neben den Daten für 2019 wird Strava auch noch das Material für 2020 zur Verfügung stellen.

Wege über Stadtgrenzen hinaus betrachten

Der ZRK hat jetzt Zugriff auf die Daten aller Strava-Bewegungen im Raum Nordhessen. „Das ist für uns wertvoll, weil wir die Entwicklungsplanung für den Großraum Kassel machen, worunter auch die zehn Umlandkommunen fallen“, erklärt Bachmann. Konkret denkt er daran, dass man das Wegenutzungsverhalten von Radfahrern über Stadtgrenzen hinweg betrachten kann. Das liefere Informationen, die etwa beim derzeit laufenden Planungsprozess für drei Raddirektverbindungen helfen könnten, so hofft Bachmann. „Es geht auch um die genaue Betrachtung, wo mit der Radinfrastruktur etwas vielleicht nicht funktioniert“, erklärt er.

Heatmaps und Filter nach Alter oder Geschlecht

Mit Strava Metro lassen sich die Datenschätze relativ simpel in einer sogenannten Heatmap visualisieren. So erkennt man schnell, welche Routen häufig und welche kaum oder gar nicht frequentiert werden. „Unsere neue Plattform ist sehr einfach zu bedienen und erfordert auch keine Installation oder technische Anbindung“, sagt Paul Niemeyer, der Strava in Deutschland vertritt. Allerdings lassen sich die Daten in diesem Web-Angebot auch granularer betrachten. So können die Nutzer Filter setzen, um bestimmte Wege in den Blick zu nehmen, etwa kurze Strecken. Auch Alters- und Geschlechterverhältnisse lassen sich abbilden. „Die Daten sprechen Bände über die Radinfrastruktur“, so Niemeyer. Für fortgeschrittene Anwender ist auch der Export etwa in Form von GIS-Daten möglich, sodass die Strava-Informationen in die bekannte Planungsumgebung einlaufen.

Mit Hitze gemacht: Die sogenannte Heatmap zeigt mit Farben, wo besonders viel und besonders wenig los ist. So erkennt man auf einen Blick, wie sich Ströme bündeln und wo das Netz am stärksten genutzt wird.

Nicht repräsentativ, aber nutzbar

So alt wie das Angebot von Strava ist der Zweifel, ob die Daten eine sinnvolle Erkenntnisquelle für öffentliche Planer sind. Schließlich stammen sie von überdurchschnittlich fitten Sportlern, die meistens auf unterdurchschnittlich leichtem Gerät unterwegs sind. Forscher der TU Dresden setzten sich bereits vor Jahren mit dem Thema auseinander und kamen zu einem differenzierten Fazit: Die Nutzergruppe von Strava sei nicht repräsentativ für die Allgemeinbevölkerung. „Gleichwohl kann unter gewissen Gesichtspunkten und mit einigen Korrekturen selbst ein durch die Nutzer von Sportapps erzeugter Datensatz ein sehr gutes Abbild des Radverkehrsverhaltens liefern“, argumentierte Sven Lißner von der TU Dresden in einem Leitfaden zum Thema, der 2017 im Zuge des Nationalen Radverkehrsplans veröffentlicht wurde. „Seither hat sich an dem Grundthema nichts geändert“, sagt der Verkehrsingenieur Lißner. „Wenn ich zum Beispiel Aussagen über kurze Alltagsfahrten älterer Menschen treffen möchte, bietet mir der Datensatz von Strava dazu keine repräsentativen Einblicke.“ Ja, aber – so ist der Blick des Forschers auf diese Informationen. Strava selbst verweist auf Studienergebnisse, die nahelegen, dass die Daten repräsentativ sind. Allerdings stammen die Daten aus den USA. Sicher ist: Man hat hier keinen Querschnitt der Bevölkerung. Aber auch solche Daten können deutlich wertvoller sein als etwa ein Blick auf die Zahlen der Verkehrszählung mit Automaten. „Man erfährt ja immer etwas über Verkehrsmengen in bestimmten Verkehrsbeziehungen und nicht nur an einem Punkt“, sagt Lißner.

Hohes Maß an Datenschutz

Genau diesen Aspekt betont Strava: Gegenüber den längst eta­blierten Zähl- und Statistikangeboten habe man den Vorteil der Wegebeziehungen, die sich visuali­sieren lassen. Gegenüber anderen Anbietern von GPS-Daten habe man wiederum den größten Schatz an Daten von aktiven Nutzern. Und gleichzeitig biete man ein Datenschutzniveau, das eine Zusammenarbeit mit deutschen Kunden problemlos erlaube: Bei Strava werden die Daten nicht nur anonymisiert, sondern zusammengefasst als Verkehrsmengen auf Strecken ausgegeben – einzelne Fahrten kann man sich also nicht aus dem Datenschatz ziehen.

Investition nicht nur aus Bauchgefühl

ZRK-Direktor Bachmann sieht die Möglichkeiten seines neuen Tools. Zwei seiner Mitarbeiter haben im Dezember vom Strava-Team per Videoschalte eine Einweisung in die Technik bekommen, noch im Fe­bruar wollte man erste Beispielauswertungen angehen. „Man merkt in unserer Region, dass es überparteilich Unterstützung und auch Investitionsbereitschaft für Radprojekte gibt“, sagt Bachmann. „Die damit verbundenen Entscheidungen wollen wir aber nicht nur aus Bauchgefühl treffen.“ Mit den Metro-Daten könne man beispielsweise gut erkennen, welche Radwege sich auszubauen lohnen – oder wo neu angelegte Wege überhaupt nicht angenommen werden. Bachmann sieht auch Potenzial für eine touristische Nutzung, wenn seine Mitarbeiter beispielsweise die GPS-Spuren von Mountainbikern im Gelände finden. Daraus ließen sich dann Tipps erschaffen und durch Touristiker vermarkten.

Kommunen interessiert an Strava Metro 3.0

Für Strava-Vertreter Niemeyer war die Kooperation mit der hessischen Planungsregion ein erster wichtiger Durchbruch. Sein Unternehmen hatte neuerliche Mühe in Metro gesteckt, die Datenauswertung verbessert und als Version 3.0 vermarktet. „Wir sehen einen wachsenden Bedarf und führen derzeit vielversprechende Gespräche mit mehreren Kommunen in Deutschland und Österreich.“ Außerdem sei noch ein Projekt in der Mache, bei dem die Strava-Verkehrsdaten für ein Gesundheitsprojekt als Informationsquelle dienen sollen. Mehr war allerdings zu Redaktionsschluss noch nicht spruchreif.

Über Strava

Strava ist ein soziales Netzwerk zum internetbasierten Tracking sportlicher Aktivitäten. Unter engagierten Hobby-Sportlern, ebenso wie bei Profis ist Strava weitverbreitet. Seit der Gründung im Jahr 2009 haben sich weltweit mehr als 50 Millionen Menschen der Sportler-Community aus 195 Ländern angeschlossen, um ihre Trainings.-Aktivitäten festzuhalten, zu teilen und sich gegenseitig anzuspornen. 25 Millionen Aktivitäten werden hier pro Woche hochgeladenen. Neben Laufen und Radfahren unterstützt Strava insgesamt 32 weitere Aktivitäten wie Schwimmen, Inlineskaten, Rudern oder Skifahren. Das amerikanische Unternehmen mit Hauptsitz in San Francisco beschäftigt über 165 Mitarbeiter.


Bilder: Strava

In München geschieht derzeit Großes. Die Stadt übernimmt die Forderungen zweier Radentscheide und will mit einem Milliardenbudget zahlreiche Straßen auf fahrradfreundlich trimmen. Im Kommunalwahlkampf wurde der Radverkehr damit zum heftig umstrittenen Politikum. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Die Münchner Fraunhoferstraße wäre ein gutes Erklärbeispiel für die anspruchsvolle Aufgabe, vor der Städte- und Verkehrsplaner heutzutage stehen. Die etwa 500 Meter lange Verkehrsachse zwischen Isar und Altstadtring der Landeshauptstadt vereinte bisher auf im Schnitt etwa 20 Meter Breite zwei Gehwege, zwei Stellplatzreihen, zwei Fahrspuren für täglich etwa 16.000 Kraftfahrzeuge und zwei Trambahngleise. Dass parallel zum Straßenverlauf auch noch eine U-Bahn-Station unter der Erde verborgen liegt, mag für die Verkehrssituation über der Erde nebensächlich sein, vervollständigt aber das Bild eines besonders intensiv genutzten Teils des öffentlichen Münchner Raums.
So kennen die Münchner ihre Fraunhoferstraße seit etlichen Jahrzehnten. Bis Juli 2019: Da schloss sich der Stadtrat zwei Bürgerbegehren („Radentscheid“ und „Altstadt-Radlring“) mit deutlicher Mehrheit an. Beide Bürgerbegehren zusammen erzielten 160.000 Stimmen und waren damit wohl so eindeutig, dass alle Parteien im Stadtrat mit Ausnahme der Bayernpartei auf einen nachgelagerten Bürgerentscheid verzichteten und stattdessen die Forderungen der Bürgerbegehren unverändert als Planungsauftrag an die Stadtverwaltung weiterreichten.
Die wiederum ging zumindest in der Fraunhoferstraße äußerst rasch an die Umsetzung: Bereits in der ersten August-Woche wurden auf der gesamten Länge der auch von Radfahrern intensiv genutzten Straße alle der bisher insgesamt 120 Parkplätze auf beiden Straßenseiten mit einem 2,30 breiten, hellroten Fahrradstreifen überpinselt. Gefühlt quasi über Nacht erkannten viele Münchner die Fraunhoferstraße nicht wieder: Wo Radfahrer bisher eine wagemutige schmale Gratwanderung zwischen parkenden Autos und Straßenbahngleisen absolvieren mussten, steht ihnen nun ein großzügig bemessener Anteil am Verkehrsraum zur Verfügung.

Die Münchner CSU stellte den Radverkehr in den Mittelpunkt ihres Kommunalwahlkampfes.

Viel Beifall, viel Kritik

Die Maßnahme wurde erwartungsgemäß von den Radfahrern in München bejubelt. Wohl genauso sind aber auch die kritischen Stimmen zu erwarten gewesen. Vor allem seitens der in der Fraunhoferstraße angesiedelten Unternehmen regte sich heftiger Widerstand, der seitdem regelmäßig Stoff für die Münchner Tageszeitungen liefert. Selbst ein in der Fraunhoferstraße ansässiger Fahrradhändler wurde in Zeitungsberichten zitiert, dass sich der Wegfall der Stellplätze vor seinem Laden negativ auf seinen wirtschaftlichen Erfolg auswirke. Bei einer Bezirksausschusssitzung im vergangenen November haben auch Anwohner wütende Proteste formuliert. Dort fielen drastische Begriffe wie „Terror“ und „Katastrophe“.
Bislang lässt sich die Stadtverwaltung davon offenbar nicht beeindrucken und hat dem Vernehmen nach unlängst eine interne Liste von 41 weiteren Straßen in München angelegt, die nach und nach mit ähnlichen Maßnahmen auf fahrradfreundlich getrimmt werden sollen. Insgesamt seien neue Radwege auf 450 Kilometer Streckenlänge geplant. Das dafür zur Verfügung stehende Budget im Stadthaushalt wird mit 1,5 Milliarden Euro bis 2025 beziffert.

Radverkehr wird Wahlkampfthema

Es ist wohl kein Zufall, dass die Münchner CSU für die Vorstellung ihrer Mobilitätsthemen im Kommunalwahlkampf im Januar in die nach ihrem Standort benannte Gaststätte „Fraunhofer“ lud. Die roten Fahrradstreifen vor dem Eingang zu diesem bei Studenten und Künstlern beliebten Wirtshaus stehen aus Sicht der CSU als sinnbildliches Beispiel dafür, was in der Landeshauptstadt gerade schiefläuft. Die „Süddeutsche Zeitung“ zitiert den Münchner CSU-Chef Ludwig Spaenle, nach dem die Fraunhoferstraße seit ihrer Umgestaltung nur noch eine „nordkoreanische Schneise“ sei.
Die auch mit den Stimmen der CSU im Stadtrat beschlossene Radverkehrsstrategie wurde von der CSU-Oberbürgermeisterkandidatin Kristina Frank und dem Fraktionsvorsitzenden Manuel Pretzl bei der Vorstellung ihrer Mobilitätskampagne mit deutlichen Worten kritisiert. Die getroffenen Maßnahmen seien eine einseitige Bevorzugung der Radfahrer, die CSU wolle aber eine „faire Mobilität“ für alle Verkehrsteilnehmer – also auch für den motorisierten Individualverkehr. Die in den folgenden Wochen aufgehängten Wahlplakate der CSU kannten dann auch nur ein einziges Thema: gegen die „RADikal-Politik von Rot-Grün“. Stattdessen solle München „wieder München werden“. Erst einige Wochen später wendete sich der CSU-Wahlkampf auch wieder anderen kommunalpolitischen Themen wie etwa der Wohnungsnot zu.
„Die CSU (…) will ihre Wähler davon überzeugen, dass die Gegner in Sachen Verkehrspolitik aktuell den Verstand verloren haben“, schrieb dazu jüngst der Lokalpolitikredakteur Andreas Schubert von der „Süddeutschen Zeitung”. Und weiter: „Letztlich handelt es sich um den Versuch einer traditionell autofreundlichen Partei, ihrer Klientel gerecht zu werden, ohne als ewiggestrig dazustehen“.

Richtungsentscheid an der Wahlurne

Ob die Münchner CSU mit ihrer kritischen Positionierung gegenüber dem fahrradfreundlichen Umbau der Stadt die Gunst der Wähler für sich gewinnen konnte, wird das Ergebnis der Kommunalwahl am 15. März zeigen, also kurz vor Erscheinen dieser Ausgabe. Zumindest Ende Februar sahen Wahlumfragen die OB-Kandidatin der CSU Kristine Frank abgeschlagen bei 16 % und somit ohne Aussicht, gegen den populären amtierenden Oberbürgermeister Dieter Reiter in die Stichwahl zu ziehen. Wenn sich dieser Trend bewahrheitet, wird die Münchner Kommunalwahl vielleicht als Lehrstück dafür in die Geschichtsbücher eingehen, dass sich gegen den Radverkehr keine Wahlen gewinnen lassen.

Radverkehr in München

Als sich die Stadt München 2012 noch unter Alt-Oberbürgermeister Christian Ude selbst den Titel „Radlhauptstadt“ verlieh, musste so mancher Fahrradaktivist in Deutschland angesichts der unbescheidenen Eigenwahrnehmung der bayerischen Landeshauptstadt schmunzeln. Schließlich war München bis dahin eher als Auto-Mekka denn als Fahrradmetropole bekannt. Den Begriff Radlhauptstadt hat man seitdem an der Isar immer seltener in den Mund genommen.
Dabei war die Selbsteinschätzung zumindest unter den Millionenstädten in Deutschland gar nicht so verkehrt: Rund 18 % der Wege (Modal Split) in München werden mit dem Fahrrad zurückgelegt. Damit steht München im bundesweiten Vergleich recht gut da (zum Vergleich: Berlin 13 %, Köln 14 %, Hamburg 15 %). Allerdings stagniert der Radverkehrsanteil seit einigen Jahren auf hohem Niveau. Auch um hier nun die für 2020 angepeilte 20%-Marke zu überschreiten, formierten sich 2019 zwei Bürgerbegehren, die 90.000 Stimmen für den „Radentscheid München“ und weitere 70.000 Stimmen für den „Altstadt-Radlring“ einsammelten. Nachdem sich der Stadtrat nahezu einstimmig rasch und vollumfänglich den Forderungen der Bürgerbegehren anschloss, stellten deren Initiatoren die Stimmensammlung im Sommer 2019 vorzeitig ein.


Bilder: Stephan Rumpf, Markus Fritsch

Kann man mit der Idee einer grünen Stadt Wahlen gewinnen? Anne Hidalgo, amtierende und erste Frau im Bürgermeisteramt von Paris, hat das vor sechs Jahren gezeigt und die Einwohner überzeugt. Zur kommenden Kommunalwahl Mitte März bewirbt sie sich mit Plänen für einen radikalen Umbau der Metropole. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Die Kampagne „Paris En Commune“ zeichnet das Bild einer lebenswerten Stadt.

Was das Thema Verkehr der Zukunft angeht, schätzen die Einwohner und Einwohnerinnen der ehemals smoggeplagten und nach wie vor mit Autoverkehr überfrachteten Metropole die Bemühungen von Anne Hidalgo um eine lebenswerte Stadt. Radfahren, Zufußgehen und der ÖPNV liegen im Trend, und nach Einschätzung von Beobachtern kann es sich aktuell kein Gegenkandidat leisten, die Rückkehr zu einer autofreundlichen Politik zu propagieren. Die kommende Wahl kann man dabei auch als Richtungswahl sehen. Denn wie kaum ein anderer Kandidat oder Kandidatin tritt sie mit konkreten Plänen für eine weitgehende Transformation der Stadt ein.

„Paris Plage“, der berühmte Stadtstrand am Seine-Ufer. Wo sich früher Auto an Auto reihte, ist ein urbaner Park entstanden, der im Sommer mit Wasserspielen und Booten ergänzt wird.

Ziel: Mehr Lebensqualität

Ende Januar dieses Jahres hat die Sozialistin ihre Kampagne „Paris En Commun“ vorgestellt. Anders als es oftmals dargestellt wird, geht es nicht zentral um eine Neuordnung des Verkehrs, sondern um die gemeinsame Neuorganisation der Stadt zum Wohle der Bürger. Sie beinhaltet vier zentrale Punkte: Ökologie, Solidarität, Engagement und „Stadt der Viertelstunde“. Dabei geht es bei der Stadtgestaltung um mehr Grün und darum, die Stadt im Hinblick auf den absehbaren Klimawandel abzukühlen, um weniger Lärm und mehr öffentlichen Verkehr. Zentrale Ziele im Verkehr sind auch, dass sich wieder jede(r) auf das Fahrrad traut und den Fußgängern in den Quartieren die Straße zurückgegeben wird. Zielgruppen sind dabei vor allem Benachteiligte, Ältere, Kinder und Frauen. Denn sie hätten andere Mobilitätsbedürfnisse, die bislang nicht ausreichend beachtet worden seien, und ein Recht auf Gleichberechtigung. Unter dem Motto „Toutes et tous à vélo“ (Jeder und alles auf dem Fahrrad) heißt es beispielsweise: „Jeder soll die Möglichkeit haben, sich in völliger Sicherheit mit dem Fahrrad zu bewegen, unabhängig von seinem Alter und seinem Zustand.“ So soll zum Beispiel jede Straße künftig einen Radweg und alle Brücken geschützte Radwege erhalten. Statt Autos zu verbieten, will Hidalgo dafür sorgen, dass die Benutzung einfach unpraktisch wird. Im Bereich von Schulen sollen beispielsweise temporäre „Kinderstraßen“ während der Schulzeiten entstehen. Anstatt von fahrenden und vor allem parkenden Autos soll es Aufenthaltsräume, Grünflächen und Beete geben. Konkret will Hidalgo dafür den Großteil der Parkflächen im innerstädtischen Straßenraum umwidmen und vor allem den Durchgangsverkehr mit dem Auto oder Reisebussen sowie den Autopendlerverkehr deutlich zurückdrängen.

Stadt der Viertelstunde

Ein zentraler Bestandteil der geplanten Maßnahmen ist das Konzept „Stadt der Viertelstunde“ (Ville Du Quart D’Heure), nach dem von jedem Ort der Stadt aus innerhalb von 15 Minuten alles zu finden sein soll, was man im Alltag braucht – natürlich ohne Auto. Die Pläne basieren auf der Idee der „segmentierten Stadt“ von Carlos Moreno, Professor an der Sorbonne. Gewünschter Effekt: Bürgerinnen und Bürger würden Zeit und Wege sparen, hätten mehr Platz, sich in ihrem Viertel zu bewegen, und könnten im Alltag ganz einfach auf das Auto verzichten.


Bilder: Pixabay-Free-Photos-paris, Paris En Commune, Celine-Orsingher, Office du Tourisme et des Congrès de Paris

Der Verkehrsausschuss von Nordrhein-Westfalen ist am 20.11.2019 einstimmig dem Antrag der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ gefolgt. Der Mobilitätswandel pro Fahrrad soll gestaltet und in einem Fahrradgesetz festgeschrieben werden. NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst zufolge wird das Projekt mit hoher Priorität vorangetrieben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Zu den Hintergründen und Plänen haben wir mit Dr. Ute Symanski gesprochen. Die Kölner Organisationssoziologin, -beraterin und politische Aktivistin hat sowohl den Kongress Radkomm – Kölner Forum Radverkehr als auch Aufbruch Fahrrad mitinitiiert und geprägt. Als Vertrauensperson begleitet sie den weiteren Prozess.

Was waren Ihre Erwartungen beim Radgesetz und sind sie erfüllt worden?
Unsere Erwartungen sind mehr als erfüllt worden. Wir hätten tatsächlich nicht gedacht, dass es den Beschluss gibt, ein Fahrradgesetz für NRW zu machen. Wir haben neun Forderungen aufgestellt und als Zusatz den Wunsch, dass diese Forderungen in ein Fahrradgesetz überführt werden. Das haben wir bewusst abgeschwächt, weil wir es nicht fordern, aber trotzdem in den Raum stellen wollten. Es war dann überwältigend für uns zu hören, dass unsere Forderungen tatsächlich gesetzlich verankert werden sollen.

Sie haben dazu die „Volksinitiative Aufbruch Fahrrad“ gegründet. Was macht die Initiative aus?
Mit der Initiative Aufbruch Fahrrad verbindet sich viel mehr als einfach nur eine Unterschriftensammlung. Zum einen wollten wir gegenüber der Politik und der Verwaltung beweisen, dass es wirklich sehr viele Menschen im Land gibt, die dafür ihre Stimme geben. Das konnten wir nur mit einer Unterschriftensammlung. Zweitens wollten wir ein Bündnis schmieden und die zivilgesellschaftlichen Akteure, die etwas mit Umweltschutz, Nachhaltigkeit oder Mobilität zu tun haben, zusammenführen. 215 Vereine und Verbände und Initiativen sind mit dabei – ein ganz breites Spektrum, von den großen Organisationen wie dem ADFC oder VCD bis hin zu kirchlichen Initiativen oder Sportvereinen. Wir wollten nach außen zeigen, dass es viele sind, aber auch, dass die Menschen das untereinander mitbekommen und ihnen klar wird, dass sie durchaus eine zivilgesellschaftliche Macht haben. Deshalb ist es auch ein Aktionsbündnis und ein Netzwerk.

Sie haben 207.000 Unterschriften gesammelt. Das ist ein enormes Ergebnis. Haben Sie damit gerechnet?
66.000 Unterschriften mussten gesammelt werden und dass wir das schaffen, daran habe ich nie gezweifelt. Aber das wir dann unser Wunschziel von 100.000 Unterschriften mit 207.000 so deutlich getoppt haben, damit bin ich wirklich glücklich. Ich merke auch, dass das eine Zahl ist, die im Land und vor allem in der Politik richtig Eindruck macht.

Wie schätzen Sie die Ergebnisse der Unterschriftensammlung ein?
In der Politik wird die Zahl der Unterschriften sehr hoch gewertet, weil man weiß, dass sie ohne einen Lobbyverband im Rücken zustande gekommen ist und jede Unterschrift umgerechnet in Aufwand einen Euro kostet. Wir haben das alles ehrenamtlich gemacht. Dazu kommt, dass es kein Leitmedium in NRW gibt und wir deshalb wahnsinnig viel Netzwerkarbeit machen mussten.

Feierlaune nach Monaten harter Arbeit bei den Aktivisten der Volksinitiative – und auch eine herzliche Umarmung von Ute Symanski mit NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst fehlt nicht.

Was macht die Zustimmung der Politik in NRW zur Volksinitiative zu etwas Besonderem?
Aufbruch Fahrrad ist die erfolgreichste Volksinitiative in NRW, in dem Sinne, dass der Landtag noch nie die Forderungen einer Volksinitiative vollständig übernommen hat. Mit den gesammelten Unterschriften wird ja nur erreicht, dass sich der Landtag damit beschäftigt. Aber ob dann zugestimmt wird, steht auf einem anderen Blatt. Dass dann einstimmig zugestimmt wurde, das gab es bislang noch nie. Es gab auch nie eine Volksinitiative, die von einer Frau eingereicht wurde. Und dann noch mit einem Mobilitätsthema in einer Männerdomäne. Darüber freue ich mich auch im Sinne der Sache der Frauen. Interessanterweise wird das von vielen, auch in den Medien, bislang gar nicht so wahrgenommen.

Wie geht es jetzt weiter?
Sofort nach dem Beschluss des Landtags wurden Termine zur weiteren Besprechung mit uns und allen Anspruchsgruppen geplant, die jetzt laufen. Bis Mai soll ein erstes Eckpunktepapier erstellt werden. Meine Wahrnehmung aus vielen Gesprächen ist, dass es aktuell eines der priorisierten Projekte im Verkehrsministerium ist. Ich denke, Minister Hendrik Wüst möchte der Erste sein, der ein Radverkehrsgesetz in einem Flächenland umsetzt. Auch das NRW Umweltministerium mit Ursula Heinen-Esser steht dahinter. Sie war eine der Ersten, die sagte, dass die ersten Lesungen vielleicht schon im Herbst stattfinden könnten.

Wie schätzen Sie die Wirkung des Fahrradgesetzes ein?
Ich teile mit Christine Fuchs von der AGFS (Anm.: Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW) die Meinung, dass dieses Gesetz enorm wichtig ist, weil es den Kommunen einerseits Rückendeckung gibt und zudem auch einen Aufforderungscharakter hat. Politik und Verwaltung können sich nur noch schwer hinter einem „das dürfen wir nicht“ oder „das geht nicht“ verstecken.

Was braucht es, damit das Fahrradgesetz eine Signalwirkung in NRW und darüber hinaus entfalten kann?
Enorm wichtig sind Fürsprecher für das Thema. Wenn ein Minister und andere hochrangige Persönlichkeiten sagen: „Wir geben unserem Land ein Radverkehrsgesetz, weil wir zeigen wollen, wie wichtig uns der Radverkehr ist“, dann wird es eine große Signalwirkung geben. Wichtig ist hier auch der direkte Draht zum Bund und dem BMVI. NRW hat gerade beim Thema Mobilität ein großes Gewicht in Berlin.

Maßnahmen für NRW im Überblick

  1. Mehr Verkehrssicherheit auf Straßen und Radwegen
  2. NRW wirbt für mehr Radverkehr
  3. 1000 Kilometer Radschnellwege für den Pendelverkehr
  4. 300 Kilometer überregionale Radwege pro Jahr
  5. Fahrradstraßen und Radinfrastruktur in den Kommunen
  6. Mehr Fahrrad-Expertise in Ministerien und Behörden
  7. Kostenlose Mitnahme im Nahverkehr
  8. Fahrradparken und E-Bike-Stationen
  9. Förderung von Lastenrädern

Forderungen in Langform und aktuelle Informationen unter aufbruch-fahrrad.de


Bilder: Aufbruch Fahrrad, Reiner Kolberg

Mit ungewohnter Klarheit fordert der Deutsche Städtetag (staedtetag.de) seit einiger Zeit nachdrücklich eine Verkehrswende. Im Spitzenverband, der die Interessen der Städte auch gegenüber den politischen Institutionen bündelt, gibt es dazu offenbar große Einigkeit. Gründe, Positionen und Zielrichtungen erläutert Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy.


Herr Dedy, der Deutsche Städtetag setzt sich für eine schnelle Weichenstellung zu einer Verkehrswende ein. Was sind die Beweggründe?
Der Blick in die Städte zeigt: So wie der Verkehr heute organisiert ist, kommt er an seine Grenzen. Staus, Lärm und Abgasbelastungen mindern die Lebensqualität. Und der Verkehr hat in Deutschland noch nicht zu einer wirksamen CO2-Verringerung beigetragen. Deshalb brauchen wir eine Verkehrswende.

Vor welchen Problemen stehen die Städte und Kommunen aktuell konkret?
Es gibt große Herausforderungen, denen sich die Städte stellen: Bezahlbarer Wohnraum, Luftreinhaltung, Investitionsstau, Fachkräftemangel – um einige zu nennen. Uns ist es wichtig, all diese Aufgaben über die einzelnen Fachbereiche hinaus anzugehen. Deswegen ist die Verkehrswende für die Städte nicht bloße Verkehrspolitik. Da geht es zum Beispiel auch um Stadtentwicklung. Unser Ansatz ist, Verkehr stärker als bisher in Regionen zu denken.
Und natürlich müssen die notwendigen Investitionen für die Verkehrswende auch finanziert werden. Bei der kommunalen Verkehrsinfrastruktur haben wir einen Investitionsstau von 38 Milliarden Euro. Deshalb ist es gut, dass die Bundesmittel mit dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz aufgestockt werden. Ab dem Jahr 2025 sollen es zwei Milliarden Euro jährlich sein. Das brauchen wir dauerhaft und dynamisiert. Nur dann haben die Städte Planungssicherheit, um den Umfang der Maßnahmen zu stemmen.

Helmut Dedy, Deutscher Städtetag

Die Städte wollen die Verkehrswende.”

Immer wieder kommen Einwürfe, dass Bemühungen um eine Verkehrswende ideologiegetrieben oder einfach nicht machbar seien. Wie sehen Sie das?
Die Städte wollen die Verkehrswende. Diese Entscheidung haben wir im Städtetag einstimmig und über alle Parteigrenzen hinweg getroffen. Natürlich werden wir in den Städten die Frage beantworten müssen, wie viel Raum will ich dem motorisierten Individualverkehr für andere Verkehrsmittel abnehmen. Wenn zum Beispiel eine Stadt neue Radwege bauen will, kann das nicht auf dem Bürgersteig geschehen. Das zeigt auch, dass Verkehrswende nicht bedeuten kann, einfach jedes Verbrennerauto durch ein E-Fahrzeug zu ersetzen. Diese Gleichung kann nicht aufgehen.

Angesichts langer Planungshorizonte beim Ausbau des ÖPNV sehen viele Experten einen wichtigen Lösungsansatz für die nächsten Jahre in der Stärkung des Fuß- und Radverkehrs.
Die Städte unterstützen es, wenn mehr Menschen im Alltag das Fahrrad nutzen oder zu Fuß gehen. In vielen Innenstädten werden schon jetzt über 30 Prozent der Wege mit dem Rad zurückgelegt, Tendenz steigend. Die Städte wollen das Fahrradfahren weiter stärken, etwa durch gut ausgebaute Radwege, Vorrangschaltungen an Ampeln für Radfahrer oder Fahrradparkhäuser, zum Beispiel an Bahnhöfen. Wo allerdings nicht nur umgeplant, sondern auch aufwendig umgebaut werden muss, da sind auch Bürgerinnen und Bürger und auch der Einzelhandel zu überzeugen.

“Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Der Bund muss den Städten vertrauen.”

Helmut Dedy, Deutscher Städtetag

Man gewinnt den Eindruck, dass immer mehr Städte im europäischen Ausland umdenken und viel stärker auf den Radverkehr setzen als bei uns. Hinken wir in Deutschland hinterher?
Immer mehr Städte in Deutschland erreichen gute Platzierungen beim Fahrradklima-Test des ADFC. Wir müssen daher nicht immer nur in die Niederlande oder nach Kopenhagen schauen. Denn nicht alle Maßnahmen würden in deutschen Städten funktionieren, auch die rechtlichen Rahmenbedingungen sind andere. Die Radverkehrsinfrastruktur wird sich durch die Förderung im Rahmen des Klimaschutzprogramms weiter verbessern – und das ist gut so. Denn der Radverkehr ist ein wichtiger Baustein für klimafreundliche Mobilität. Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Der Bund muss den Städten vertrauen.

Bundesverkehrsminister Scheuer hat mit dem „Bündnis für moderne Mobilität“, Fördermitteln für den Radverkehr und einer Reform der StVO ja einige Veränderungen auf den Weg gebracht. Sind Sie damit zufrieden?
Das Bündnis für moderne Mobilität ist ein sinnvoller Erfahrungs- und Wissensaustausch zwischen Bund, Städtetag und anderen Organisationen. Wir haben dadurch die Möglichkeit, dem Bund klarzumachen: Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Ein Beispiel: Bisher können die Städte nur an Gefahrenstellen Tempo 30 anordnen, etwa vor einer Schule oder einer Kita. Wenn aber der Schulweg auch an einer Hauptverkehrsstraße entlanggeht, ist das im Moment nicht möglich.
Positiv ist, dass Bund und Länder inzwischen einig darüber sind, dass ein neuer Gebührenrahmen für das Bewohnerparken notwendig ist. Die Städte fordern seit Langem, dass der Spielraum größer wird. Wir können uns einen Rahmen zwischen 20 und 200 Euro pro Jahr für das Anwohnerparken vorstellen. Denn bei dem bisherigen Gebührenrahmen bis 30 Euro werden noch nicht einmal die Verwaltungskosten gedeckt. Wenn der neue Rahmen in Kürze steht, können die Städte selbst entscheiden, wie sie ihre Satzungen ändern. Wichtig ist, dass zukünftig auch der wirtschaftliche Wert des Bewohnerparkausweises berücksichtigt werden kann. Öffentlicher Raum ist ein knappes Gut.

Aus den Kommunen ist zu hören, dass beim Radverkehr sowohl die Beantragung von Fördermitteln als auch Planungsprozesse zu aufwendig seien. Wie kann man das verändern?
Klar ist, dass die Städte den Ausbau der Radinfrastruktur nicht allein stemmen können. Durch das Sofortprogramm Saubere Luft haben die Städte eine Vielzahl unterschiedlicher, aber meist kurzfristiger Fördermöglichkeiten erhalten. Wir brauchen aber eine Verlässlichkeit und Verstetigung der Förderung über Jahre, damit es nicht bei einem „Strohfeuer“ bleibt. Das Ziel der Städte ist es, gemeinsam mit Bund und Ländern die Vision Zero zu erreichen (…) dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum.

Der Deutsche Städtetag will mehr Schutz für Radfahrer und Fußgänger. Wo sehen sie Veränderungsbedarf?

Die Zahl der im Verkehr getöteten Radfahrer bleibt seit 2010 besorgniserregend hoch. Dagegen müssen Kommunen, Bund und Länder gemeinsam mehr tun. Dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum, damit sie Mobilität so organisieren können, dass sie den Bedürfnissen der Menschen vor Ort gerecht wird. Deshalb ist die Entschließung zum sicheren Radverkehr, die die Regierungsfraktionen im Bundestag im Januar 2020 getroffen haben, ein guter Schritt. Darin wird z. B. betont, dass die Städte Erprobungsmöglichkeiten brauchen, zum Beispiel um ein generelles Tempolimit von 30 km/h auszuprobieren.

“Das Ziel der Städte ist es, gemeinsam mit Bund und Ländern die Vision Zero zu erreichen (…) dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum.”

Helmut Dedy, Deutscher Städtetag
Verkehrswende als Gesamtaufgabe: Der Deutsche Städtetag fordert mehr Freiheiten für die Kommunen und eine „konsistente Verkehrspolitik auf Bundes- und Länderebene für eine Transformation der Mobilität”.

Beim Thema Lkw-Abbiegeassistent verweist Bundesverkehrsminister Scheuer immer wieder auf die EU. Was können Kommunen in der Zwischenzeit hier tun und warum folgen sie nicht dem Wiener Beispiel, Lkws ohne Assistenten die Durchfahrt zu verbieten?
Die Assistenzsysteme in Lkw für das Rechtsabbiegen helfen, Unfälle mit Fahrradfahrern an Kreuzungen zu verhindern. Das Bundesverkehrsministerium setzt auf eine freiwillige Selbstverpflichtung der Betreiber von Lkw, um den Abbiegeassistent möglichst flächendeckend einzuführen. Dieser Initiative haben sich auch viele städtische Betriebe angeschlossen. Das ist ein guter Weg, weil dadurch bereits vor dem Inkrafttreten der EU-weiten Regelung ab 2023 Maßnahmen angeschoben werden können, auch wenn nicht alle Lkw damit erreicht werden. Ein Vorgehen wie in Wien ist den deutschen Städten nicht möglich. Sie dürfen Lkw ohne Abbiegeassistenzsysteme die Einfahrt nicht einfach verbieten.

Der Verkehrsexperte Prof. Andreas Knie hat im Interview mit VELOPLAN die Auffassung vertreten, dass zwei Drittel der Menschen in den Großstädten bereit wären, dem Auto Raum zu nehmen und dem Fahrrad mehr Raum zu geben. Wie ist das Stimmungsbild in den Kommunen?
Wir werden es nicht schaffen, den Großteil der Autos von heute auf morgen aus den Innenstädten zu verdrängen. Auch wissen wir, dass sich die Stimmungsbilder zwischen Stadt und Land deutlich unterscheiden. Die Verkehrswende braucht die Akzeptanz der Bevölkerung, das ist klar. Wir wissen heute, dass der Verkehr von morgen vielseitiger und flexibler sein wird. Mit den Möglichkeiten der Digitalisierung wollen wir ihn auch umfassend vernetzen. Dann ist die Mobilität von morgen nicht nur umweltfreundlicher und klimaschonender, sondern komfortabler und schneller als heute.

Thema Bikesharing und E-Tretroller: Man hat den Eindruck, dass die Städte den Entwicklungen ziemlich hinterherlaufen. Was muss sich aus Ihrer Sicht verändern?
Die Zulassung von E-Tretrollern hat von der Idee bis zur Verwirklichung auf Bundesebene ein knappes Jahr gedauert. Die Städte hatten wenige Monate, um Anforderungen an Verleihsysteme umzusetzen. Wir haben deshalb eine Handlungsempfehlung zu E-Tretrollern im Stadtverkehr herausgegeben. Und mit den ersten Anbietern haben wir uns auf gemeinsames Vorgehen verständigt. Das zeigt: Wir setzen uns für Nachbesserungen in den gesetzlichen Regelungen ein, damit das Abstellen von Leihfahrzeugen auf Bürgersteigen und Fußgängerzonen ordentlicher erfolgt und Tabuzonen bei Fahrten mit den Scootern beachtet werden. Die aktuelle Initiative im Bundesrat begrüßen wir deshalb.

Lebenswerte Stadt? Wildwuchs nicht nur bei Pkws und Lieferdiensten, sondern auch bei Leihfahrzeugen.

Die KEP-Branche verzeichnet rasante Zuwächse und eine aktuelle Studie des IFH Köln geht davon aus, dass der Online-Anteil am Lebensmittelhandel bis 2030 auf neun Prozent ansteigt. Was sollten Städte hier tun?
Rund vier Milliarden Paketsendungen werden für das Jahr 2020 erwartet. Damit steigt das Verkehrsaufkommen in den Innenstädten durch Lieferverkehre. Es ist wichtig, dass die Städte und ihre Bürgerinnen und Bürger zuverlässig erreichbar sind. Aber wir wollen, dass die Logistiker sich auf der „letzten Meile“ zusammentun. Gemeinsame Mikrodepots für Paketsendungen und die gebündelte Auslieferung mit Elektrofahrzeugen oder Lastenrädern werden bereits in mehreren Städten erprobt. Das ist der richtige Weg, weil dadurch Lärm und Abgase in den Innenstädten verringert werden und der innerstädtische Verkehr entlastet wird.

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Das Interview mit Helmut Dedy hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im Februar 2020 geführt. Erschienen in Ausgabe 1/20.

Über den Deutschen Städtetag
Der Deutsche Städtetag ist ein freiwilliger Zusammenschluss von kreisfreien und kreisangehörigen Städten in Deutschland. Er vertritt aktiv die kommunale Selbstverwaltung und nimmt die Interessen der Städte gegenüber Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat, Europäischer Union und zahlreichen Organisationen wahr. Zudem berät er seine Mitgliedsstädte, informiert über Vorgänge und Entwicklungen und fördert den Erfahrungsaustausch. Der Verwaltungsjurist Helmut Dedy ist seit 2016 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages und Geschäftsführer des Städtetages Nordrhein-Westfalen.


Bilder: Deutscher Städtetag / Laurence Chaperon, ADFC, Pixabay / Thomas Wolter