Kleine Outdoor-Abenteuer als erholsame Fluchten vom Alltag liegen im Trend. Und das Thema Bikepacking schickt sich an, aus dem Nischendasein auf die große Bühne zu treten. Gunnar Fehlau, Fahrradexperte, Buchautor und nicht zuletzt begeisterter Anhänger dieser neuen Form des sportlichen Radtourismus abseits üblicher Routen erläutert die Hintergründe und Chancen für den Tourismus. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


„Backpacking“ bezeichnet im englischen Sprachraum Rucksackreisen. Diese erfolgen keinesfalls aus „Geldmangel“, sondern sind in der Regel eine bewusste Entscheidung. Das Reisen mit dem Rucksack bringt einen in Regionen, die ansonsten nur schwer zugänglich sind. Man ist nahe an Land und Leuten und man erlebt sich selbst bei der direkten Interaktion mit Witterung und Topografie sehr intensiv. Unter anderem in Gestalt des modernen Pilgers ist dies auch in Europa in den vergangenen Jahren populär geworden. Das Bikepacking überträgt diese Idee aufs Fahrradfahren: mit leichtem Gepäck durch mitunter schweres Gelände Touren fahren.

Nordamerika mit extremer Mountainbike-Route Vorreiter

Ausgangspunkt des Bikepacking-Trends ist die „Great Divide Mountain Bike Route“ – die längste Mountainbike-Reiseroute der Welt. 1996 publizierte Michael McCoy für die Adventure Cycling Association diese Route als Kartenset. Sie führt vom kanadischen Banff/Alberta die US-kanadische Grenze und die amerikanische Wasserscheide entlang über die Rocky Mountains bis nach New Mexiko. Die in vielerlei Hinsicht extreme Tour ist 4.418 Kilometer lang und ihre Anstiege summieren sich auf 61.000 Höhenmeter. Macher Michael McCoy sieht über 50 (Tages-)Etappen vor. Montainbike-Sportler John Stamstad legte sie im Sommer 1999 im „Wettkampfmodus“ binnen 18 Tagen, 5 Stunden und 37 Minuten zurück. Weil die Strecke Passagen von bis zu 160 Meilen (ca. 257 km) ohne Versorgungsmöglichkeiten umfasst, packte Stamstad eine leichte Campingausrüstung ein und sorgte für genügend Platz, um ausreichend Lebensmittel verstauen zu können. Aus der Not, nur wenige Versorgungsmöglichkeiten zu haben, wurde eine Tugend: Das Prinzip Selbstversorgung (Self Support Racing), das jede Art privater Unterstützung verbietet, war geboren. 2010 erschien der Film „Ride the Divide“, der das Rennen entlang der Wasserscheide international bekannt machte und für einen weltweiten Boom sorgte. Mittlerweile gibt es einen reichlich gefüllten Veranstaltungskalender mit Bikepacking-Fahrten unterschiedlicher Längen und Schwierigkeitsgrade auf der ganzen Welt.

Bikepacking ist bestens geeignet, um mit Kindern in der Natur unterwegs zu sein. Auch toll: ein gemütlicher Lagerplatz mit Blick auf die Lichter der abendlichen Stadt. So macht Bikepacking Spaß –­ entsprechende Rahmenbedingungen vorausgesetzt.

Neue Produkte fördern den Trend

Die Ausrüstung für solche Fahrten, aber auch kleinere Abenteuer, hat sich inzwischen vom herkömmlichen Mountainbike- und Packtaschensortiment emanzipiert. Fahrradhersteller wie die US-Marke Salsa oder der deutsche Hersteller Bombtrack setzen voll aufs Thema „Adventure by Bike“ mit Rädern, die spezifisch fürs Bikepacking optimiert sind. Sie bieten Komfort und Zuladung, ohne die Sportlichkeit und das Tempo aus den Augen zu verlieren. Wichtigstes Merkmal der Ausrüstung sind die speziellen Taschen, die ohne ausladende Gepäckträger direkt am Rahmen, Lenker und Sattel verzurrt werden. So bleibt das Rad im Gelände handlich.

Corona als Trend-Beschleuniger

Corona kann man zweifelsohne mit als Beschleuniger des Bikepacking-Trends verstehen. In Kombination mit der Idee Mikroabenteuer entdecken viele Menschen das Fahrrad als neues Urlaubsvehikel im direkten häuslichen Umfeld, aber auch für kleine Touren und Reisen in Deutschland oder dem nahen Ausland. Zudem machen die Sportlichkeit und Naturnähe das Bikepacking für ambitionierte Radfahrer attraktiv, die sich von gemütlichen Radreisen entlang von Flussläufen nicht angesprochen fühlen. Weiterhin wird das Thema Bikepacking von der steigenden Verbreitung des sogenannten Gravelbikes befördert. Dieses „Breitreifen-Rennrad“ bringt viele Radfahrer von gut ausgebauten Radwegen und Straßen häufig und gerne auf neue Pisten wie Schotterwege (daher der Name Gravel), schlechte Straßen und Waldwege.

Kundengruppen und Wechselwirkung mit Angeboten

Gegenwärtig ist die Bikepacking-Szene noch sehr homogen: abenteuerinteressierte, naturverbundene und sportliche Radfahrer, vorwiegend männlich. Das ist jedoch gerade im Wandel: Hersteller bieten erste Kinderräder mit direktem Bikepacking-Bezug an und auch Frauen sind zunehmend in diesem Reisestil unterwegs. Dazu kommt, dass eine Wechselwirkung zum touristischen Angebot besteht: Regionale Beispiele zeigen klar, dass nicht erst eine größere Nachfrage vorhanden sein muss, um ein Angebot erfolgreich werden zu lassen. Anders gesagt: Es bieten sich vielfältige neue Optionen, um touristische Angebote gezielt zu erweitern, neue Kundengruppen anzusprechen, die Bekanntheit als Raddestination zu erhöhen und das Image zu verbessern.

Kundengruppen gezielt erschließen

Zur Adressierung der wachsenden Gruppe der Bikepacker empfiehlt sich folgender Dreiklang:

Routen
Bikepacker sind durchaus technikaffin. Insofern ist es nicht mehr zwingend notwendig, eine Strecke zu beschildern oder als Karte zu drucken. Letztlich reicht eine Download-Möglichkeit für einen GPS-Track. Dieser sollte aber technisch (keine unnötigen Punkte), aktuell (Stichwort Baustellen, Wegsperrungen usw.) und klar sein. Klar meint, dass der Track abbildet, was angekündigt wird. Eine MTB-Strecke sollte dementsprechend gemäß den gängigen Schwierigkeitsstufen klassifiziert sein und eine Gravel-Strecke sollte Straßen meiden, ohne deckungsgleich mit einer technisch anspruchsvollen MTB-Strecke zu sein. Auch ist es erfahrungsgemäß sinnvoll, lieber verschiedene Versionen einer Route anzubieten, als dass ein Track diverse Schleifen dreht, um Sehenswürdigkeiten, Umfahrungen von technischen Trials oder Anfahrten zu Restaurants zu integrieren.

Rasten
Wo bekomme ich warme Speisen, wo kann ich einkaufen und welche Stellen eignen sich für Picknicks? Das sind Fragen, die viele Bikepacker gerne bei der Planung beantwortet wissen. Jeder baut sich vorab sein „Tourengerüst“ zusammen, das seiner Fahrt eine Struktur gibt. Hier reicht letztlich auch eine Listung auf einer Internetseite, die (siehe Routen) aktuell, korrekt und klar ist. Hinweis: Sofern eine Werbegemeinschaft oder ein Interessenverband Urheber der Listungen wird, kann sich aus dem Gleichbehandlungsgebot seiner Mitglieder und den Ansprüchen der Bikepacker ein Interessenkonflikt ergeben.

Rechtsrahmen
Bikepacker sind auf der Suche nach Natur und Freiheit. Mancher kommt für den Schlaf zurück in die Zivilisation und bucht Fremdenzimmer oder Hotels. Nicht wenige bleiben auch für die Nacht in der Natur und möchten möglichst ungestört sein. Insofern sind Rast- und Biwakplätze, die ein legales nächtliches Lagern ermöglichen, Pfründe, mit denen eine Region wuchern kann. Ein sehr gutes Beispiel sind die Trekkingplätze der Pfalz. Es gibt inzwischen auch Websites und private Initiativen, die dieses Dilemma zu überwinden versuchen, wie etwa 1Nitetent.com.

Was brauchen Bikepacker vor Ort?

Die Tatsache, dass Bikepacker bereits in ganz Deutschland unterwegs sind, erlaubt nicht den Umkehrschluss, dass sie keine besondere touristische oder infrastrukturelle Ansprache benötigen. Vielmehr müssen sie gegenwärtig ohne eine solche auskommen. Vordergründig ist Bikepacking eine Art des Radfahrens, die breiter gedacht ist und neben der Versorgung für viele auch die Outdoor-Übernachtung mit umfasst. Bikepacker sind öfters auch mit Schlafsack, Isomatte etc. unterwegs und schlagen ihr Lager nachts irgendwo in der Natur auf. Genau hier wären neue Regelungen und eine Legalisierung nötig: Denn das Schlafen in der Natur bewegt sich in Deutschland je nach Standortwahl und Ausgestaltung in der rechtlichen Grauzone oder ist gar eindeutig nicht zulässig – im Gegensatz beispielsweise zu Schweden, wo das „Jedermannsrecht“ mit der Auflage „nicht stören und nichts zerstören” gilt. Für Bikepacker, die Naturnähe und Nachhaltigkeit als hohes Gut ansehen, gehört diese Philosophie ganz selbstverständlich zum Kodex.

Neue Chance für Destinationen

Bikepacker sind neue, zusätzliche Touristen und bedeuten zusätzliche Einnahmen. Sie benötigen wenig bis keine neue Infrastruktur, deren Erstellung Zeit und Geld verschlingt. Bikepacker sind zudem auch jenseits der ausgelasteten Sommerferienzeit unterwegs. Sie sind für eine besondere Ansprache adressierbar, sofern diese authentisch ist. Mittelgebirge und hügelige Regionen sind ideal für Bikepacker, was bisweilen vernachlässigte Regionen in den Fokus rückt und dazu beitragen kann, neue touristische Potenziale zu erschließen. Gerade weil das Thema Bikepacking in Deutschland auf touristischer Seite bisher kaum besetzt ist, bietet es Regionen viel Potenzial zur Profilierung.

Events als Zugpferd und lokale Kooperationen

Die Wechselwirkung zwischen Radfahrern und Region lässt sich anhand von „Rennen“ griffiger aufzeigen als anhand von Routen. 2006 starteten 34 Fahrer in Emporia, Kansas, auf einen 200 Meilen (ca. 322 km) langen Rundkurs über unbefestigte Straßen. 2019 gingen beim „Dirty Kanza“ genannten Event 3.600 Fahrer an den Start. Angesichts der großen Abreisedistanzen vermögen es nur wenige Teilnehmer morgens vor dem Start anzureisen und nach der Zieleinfahrt umgehend aufzubrechen. Das Ergebnis ist ein massiver Boost für den lokalen Handel, die Hotellerie und Gastronomie von geschätzten 3 Millionen USD am Rennwochenende. Das berühmte Rennen „Leadville 100“, das seit 1994 jährlich in der alten Minenstadt Leadville, Colorado, stattfindet, wurde überhaupt nur initiiert, um der lokalen Wirtschaft zu helfen. Auch hier spülen knapp 2.000 Teilnehmer samt Entourage viel Geld in eine strukturschwache Region. Ob Bikepacking darüber hinaus als touristisches Format für eine Region funktioniert, hängt sicher auch mit weiteren Maßnahmen und vor allem den lokalen Akteuren in der Region zusammen. Darum sind Initiativen wie „Bikepacking Roots“ wichtig, die Routen erarbeiten und die Kommunikation übernehmen. Gute Ansprechpartner sind auch lokale Fahrradhändler, die die Fahrradszene vor Ort kennen und sich über Kooperationen freuen.

Prominente Bikepacking-Touren in Deutschland

  • Bikepacking Trans Germany
  • Grenzsteintrophy
  • Hanse Gravel
  • Mainfranken Graveller

Bilder: www.ortlieb.com | Russ Roca | pd-f, www.pd-f.de / pressedienst-fahrrad, www.ortlieb.com | pd-f

Winterberg setzt auf Radtourismus: Tourismusbetriebe profitieren vom E-Bike-Boom und haben dem Sauerland in NRW ein neues Standbein gesichert, das nun mit weiterer Infrastruktur ausgebaut werden soll. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Das Fahrrad in all seinen Erscheinungsformen kann für Tourismus-Destinationen ein wahrer Segen sein. Das gilt für traditionelle Radtouren-Regionen, das gilt fürs Hochgebirge – das gilt aber gerade auch für Gebiete in Mittelgebirgslagen. Ein solches ist Winterberg, die Stadt im nordrhein-westfälischen Sauerland. „Wir verfolgen seit mehr als zehn Jahren eine Strategie, bei der wir den Bike-Tourismus ausbauen und damit ein neues Standbein für unsere Tourismus-Wirtschaft aufbauen“, sagt Michael Beckmann, Geschäftsführer der Winterberg Touristik und Wirtschaft GmbH. „Es gelingt uns immer mehr, die Wertschöpfungskette in den Sommer zu verlängern.“ Vor dem Hintergrund der Klimaveränderungen und der aktuellen Corona-Bedingungen wird klar, wie wichtig und produktiv dieser Ansatz ist.

Destination für alle Radler: Winterberg spricht nicht mehr nur Mountainbiker an, sondern auch immer stärker E-Radfahrer und auch Rennradler. Das Streckennetz wird entsprechend erweitert.

Anfang mit 25 Leih-E-Bikes

Beckmann, selbst begeisterter Mountain-, Renn- und Gravel-Biker, hatte vor einem guten Jahrzehnt so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Mit seiner Frau war er in den bayerischen Bergen unterwegs, als die beiden plötzlich am Anstieg überholt wurden. Sie staunten zunächst, schauten sich das Gefährt an und stellten fest: Ein E-Bike von Flyer, das so gar nicht aussah wie Pedelecs, die damals das Image der E-Mobilität prägten. Die Eindrücke verarbeiteten die Winterberger Touristiker in einem eigenen Ansatz: Neben dem Hochschwarzwald stieg man ab ca. 2008 als erste Region in Deutschland in das Thema E-Bike-Tourismus im Mittelgebirge ein. „Wir haben damals als Tourismuszentrale selbst 25 Räder vermietet“, erinnert sich Beckmann. Heute ist daraus ein Geschäftsmodell geworden, inzwischen stellen die lokalen Tourismusbetriebe etwa 400 Räder zum Verleih, die meisten als elektrifizierte Bikes.

Kürzere Winter

Ein zweites Standbein für den Tourismus: Das ist gerade deswegen nötig, weil die Winter wärmer werden. Winterberg, ein beliebter Ort für Wochenend-Skifahrer aus ganz NRW, aus Hessen, den Niederlanden, Belgien und Dänemark, hatte beispielsweise eine eher schwache Skisaison 2019/20. „Wir haben das Thema der künstlichen Beschneiung früh erkannt und können deshalb einiges kompensieren, aber die langfristige Entwicklung geht schon zu kürzeren Wintern und verlangt uns neue Ideen ab“, sagt Beckmann. 2020 war schon Anfang März Schluss mit dem Skifahren, Corona und die politischen Maßnahmen beendeten die Hoffnung auf einen Endspurt. Zwar litt unter den Maßnahmen auch das Anlaufen des Sommertourismus, aber klar ist: Langfristig erhofft sich die Tourismuswirtschaft in Winterberg neue Kraft von Urlaubern auf Rädern.

Seit 2005 Magnet für Mountainbiker

Für die Kommune in den Höhenlagen NRWs ist es eine Frage der Strategie, den Tourismus der „grünen Jahreszeit“ auszubauen. Man entwarf 2016 das 2. Tourismuskonzept „Winterberg 2020plus“, darin spielt das Mountainbiken eine wichtige Rolle. Dank des Booms der E-Mountainbikes ist das Potenzial in diesem Segment erheblich gewachsen. Mountainbiker waren ja längst Teil der Winterberger Landschaft, seit 2005 der Bikepark Winterberg auf der 776 Meter hohen Kappe eröffnet hatte. Aber das Zielpublikum dieses Areals war ein deutlich kleineres als jenes, das die Touristiker im Sauerland seit einiger Zeit verstärkt in den Blick nehmen.

„Sobald wir an die Radwege möchten, haben wir es in unserer Lage sofort mit Bundes- und Landesstraßen zu tun.“

Michael Beckmann, Winterberg Tourismus

An- und Abreise gern auch ohne Auto

Wenn es um einen umweltfreundlichen und nachhaltigen Tourismus geht, der noch dazu bequem ist für die Besucher, dann sind An- und Abreise sowie die öffentliche Mobilität an der Destination entscheidend. Hier gehört Winterberg einer aktuellen Untersuchung des ADAC zufolge deutschlandweit zu den führenden Tourismus-Destinationen im ländlichen Raum. Mit öffentlicher Anbindung, Radmitnahme in den Zügen und einer guten Mobilität vor Ort punktete Winterberg in dieser Untersuchung und erreichte zehn von elf Häkchen in den geprüften Kategorien.

Planung dank Skigebiet einfacher

Seit 2015 bietet Winterberg seinen Gästen einen Trailpark mit 40 Kilometer Strecke und 20 Kilometer Trails. Hier richtet man sich explizit auch an Anfänger und an Familien und hat damit viel Erfolg. Zuletzt hat die kommunale Tourismusgesellschaft noch einmal 300.000 Euro in den Trailpark investiert, um den Flow im überwiegend aus Naturtrails bestehenden Areal zu erhöhen und die Streckenqualität zu steigern. „Wir haben das Glück, dass wir hier ohnehin ein Skigebiet haben und der Bebauungsplan uns entsprechende Maßnahmen auch für Bike-Strecken erlaubt“, sagt Beckmann. Denn man könne nicht einfach so Bike-Strecken in den Wald bauen, mit Förstern, Jägern und Waldbesitzern gebe es vorher durchaus einiges zu klären. Auch jenseits der kommunalen Grenzen gehen die Attraktionen für Radtouren und Mountainbike-Ausflüge weiter. Im umliegenden Sauerland gibt es inzwischen ein ausgiebiges Streckennetz für verschiedenste Radfahrprofile.

Wenige Konflikte auf den Wegen

Für die Touristiker gilt es auch immer wieder, gegen Vorurteile zu arbeiten, aufzuklären, neue Entwicklungen mit Forschung zu begleiten. So gab es gegen die frühen Ausprägungen des Radtourismus, die Mountainbiker und ihre Wohnmobile, durchaus Vorbehalte im Ort. Das sei längst passé, sagt Beckmann, weil die Gäste eben doch für Umsatz in den Winterberger Tourismus-Betrieben sorgen. Inzwischen prägen Biker in den warmen Monaten das Bild – und auch hier haben die Winterberger genau hingeschaut. „Wir haben früh das Konfliktpotenzial zwischen Bikern und Wanderern erforschen lassen“, sagt Beckmann. Das Ergebnis: Eigentlich sei alles halb so wild, nur an gewissen neuralgischen Punkten setze man jetzt auf verstärkte Aufklärung, Beschilderung und Hinweise. Mehr als nur ein Gimmick: „Für das gegenseitige Verständnis haben wir etwa auch das Winterberger Schelleken eingeführt“, eine Klingel für fünf Euro, mit der Mountainbiker ihre Mitmenschen auf sich aufmerksam machen können.

Längere Verweildauer

Durch den Ausbau des Sommertourismus ist es Winterberg gelungen, die durchschnittliche Verweildauer der Touristen auf 3,2 Tage zu steigern. „Wir können es nicht ganz genau beziffern, aber der Effekt von Radtouristen ist hier deutlich positiv“, sagt Beckmann. Zwar sei die Wertschöpfung der Wintertouristen noch höher, wenn man die Ausgaben für Übernachtung, Skiverleih, Skipass und Gastronomie zusammenrechnet, aber das ist eben kein Wachstumsgeschäft mehr.

Neue Strecken auch abseits der Trails

Dagegen lässt sich der Fahrradtourismus auch unter sich wandelnden klimatischen Bedingungen ausbauen, und das nimmt man im Mittelgebirge in Angriff: Winterberg möchte sich verstärkt als Ausgangspunkt für E-Bike-Touren etablieren, die nicht durch anspruchsvolles Gelände führen. Die Touristiker entwerfen neue Strecken, die mit E-Bikes komfortabel befahrbar sind. Es geht um die Einbindung attraktiver Orte wie etwa Bad Berleburg oder Schmallenberg – und um die Erweiterung der Routen. „Wir müssen allerdings vor allem eine passende Ladeinfrastruktur aufbauen und Partner gewinnen, die Ladestationen bereitstellen“, sagt Beckmann. Das passiert derzeit, weil man den Touristen ein gutes Gefühl geben möchte, wenn man sie etwa auf eine Tour zum Möhnesee schickt. Auch ist die Verzahnung mit dem ÖPNV und Schienennahverkehr wichtig, damit die Gäste wieder zurückkommen können. Ein Bus mit Bike-Anhänger ist bereits an Sonntagen im Einsatz, man darf Räder auch mitnehmen in den Innenraum des Linienverkehrs. Aber mit zunehmender Nutzerzahl dieser Radwege wird auch dieses Angebot auszubauen sein.

Effekt für die Alltagsmobilität?

Eine Hoffnung, die Touristik-Chef Beckmann hat, ist das Überschwappen des Effekts auf die Alltags-Rad-Mobilität in seiner Kommune. Bislang ist es in Winterberg eher so, dass die „harte Infrastruktur“ schwer zu verändern ist. Man hat die Bikeparks ins Gelände gelegt, hat an Wirtschaftswegen Schilder aufgestellt. „Aber sobald wir an die Radwege möchten, haben wir es in unserer Lage sofort mit Bundes- und Landesstraßen zu tun.“ Das bedeutet nicht nur finanziell, sondern auch bezüglich Regularien und Entscheidungswegen einen erheblich höheren Aufwand, als wollte man einfach eine kommunale Straße umgestalten. „Wir haben es aber leider oft mit einer Infrastruktur zu tun, die für Radfahrer eher unattraktiv ist. Das wollen wir dringend angehen“, erklärt Beckmann. Er weist auf eine Vorstudie zu einem E-Bike-Verleihsystem hin, bei dem nicht nur Touristen, sondern auch die einheimische Bevölkerung von der umweltfreundlichen Mobilität profitieren sollen. „Wir brauchen aber auch mehr Abstellboxen und bessere Radwege in den Orten“, erklärt Beckmann.

Vorstoß bei NRW-Landesregierung

Ein Beispiel ist der Ruhrtalradweg, der bis nach Winterberg hinaufführt. Der Weg ist fast komplett auf gut befahrbaren, asphaltierten Strecken angelegt – allerdings hier oben im Sauerland, auf dem Gebiet der Kommune Winterberg, auf nicht asphaltierten Wirtschaftswegen auslaufend. „Die sind nicht so gut in Schuss, und das wollen wir ändern“, sagt Beckmann. Gemeinsam mit der Ruhr Tourismus GmbH setzt man sich nun beim Land in Düsseldorf dafür ein, die Radstrecken auch im Sauerland so ausbauen zu lassen, dass sie mit allen Radgattungen bequem zu befahren sind.

Neue Möglichkeiten und mehr Impressionen

Touristiker Beckmann hat noch einiges vor mit den Fahrradgästen. „Wir können die Sommersaison verlängern, immer mehr Menschen mit E-Mobilität auch im anspruchsvollen Mittelgebirge bewegen und sogar davon ausgehen, dass es künftig auch im Winter ein Publikum für Radangebote geben wird.“ Ihm schwebt eine neue Streckensystematik in der Bike Arena vor, bei der er die neue E-Mountainbike-Realität stärker berücksichtigen will. Das setzt auch neue Schilder voraus, was durchaus ein Investment ist. Er hätte gern einen Pumptrack für Kinder und auch eine weitere Verzahnung der Radstrecken mit dem Angebot der Ski-Infrastruktur. Auch in diesem Jahr sind zwei zusätzliche Ski-Verleiher ins Geschäft mit dem Radpublikum eingestiegen. Trotz Corona, das Winterberg 2020 um wichtige Events gebracht hat, setzt die Tourismusvermarktung auch weiterhin auf die Strahlkraft sportlicher Großveranstaltungen. Die Deutsche Meisterschaft der Rennradfahrer hat man zwar für 2021 an Stuttgart abgetreten, möchte sie aber 2022 unbedingt zu Gast haben. Die Dirt Masters, ein renommiertes MTB-Festival, soll noch im September über die Bühne gehen, allerdings ohne die sonst üblichen Zuschauermassen. Mountainbike-Weltcups gehören für Beckmann ebenso zur strategischen Planung, denn all diese sportlichen Events schaffen Bilder. „Das sind Eindrücke, die Menschen von unserer Destination überzeugen und letztlich als Werbung unbezahlbar wären“, erklärt er.

Winterberg als Blaupause für Mittelgebirgsregionen?

Die Region Winterberg wurde bereits 1906 bahntechnisch und damit touristisch erschlossen und ist mit ihrer in der weiteren Umgebung einzigartigen Höhenlage von 670 bis 842 Metern der älteste Wintersportplatz im Westen Deutschlands. Dokumentationen zeigen, dass man den Fremden und dem damals aufsehenerregenden Skisport anfangs sehr kritisch gegenüberstand. Das änderte sich, als man entdeckte, welche neuen Einnahmequellen sich damit in der Region erschließen ließen. Seitdem dominiert der Tourismus als Wirtschaftsfaktor. Wichtigste touristische Einzugsgebiete sind das Ruhrgebiet, das Rheinland, die Region Niederrhein sowie die Niederlande, Belgien und Dänemark. International bekannt ist Winterberg auch als Austragungsort von Weltcuprennen des Bob- und Rennrodelsports. Schon früh hat man sich hier auch mit den absehbaren Folgen des Klimawandels beschäftigt. Beschneiungsanlagen sollen die Wintersaison verlängern, gleichzeitig sollen der Sommertourismus und der Bikesport für verschiedenste Bedürfnisse und Zielgruppen künftig die Arbeitsplätze und Einnahmen sichern. Als Kleinstadt zählt Winterberg nur 14.000 Einwohner, kommt aber auf rund 1,5 Millionen Übernachtungen pro Jahr. In der Region gibt es inzwischen 1.140 km ausgewiesene Bikerouten, 40 km ausgewiesene Trails im Trailpark Winterberg und 480 km ausgewiesene Wanderwege.


Bilder: Stephan Peters Design, F. Kraeling Motorsport-Bild GmbH, Sauerland Tourismus, Stephan Peters Design, F. Kraeling Motorsport-Bild GmbH

Radrouten sind für die touristische Erkundung einer Region bestens geeignet, sie helfen aber auch beim Alltagsverkehr, vor allem in der Stadt. Das Kölner Planungsbüro Via erläutert, warum eine gute Wegweisung auch in Zeiten von Apps unverzichtbar ist. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


„Natürlich sind die bekannten Wegweiser auch Werbung für den Radverkehr“, sagt Michael Schulze vom Kölner Planungsbüro Via. Eigentlich sind sie aber viel mehr. Bei Via werden unter anderem Fahrrad-Wegweisesysteme für Städte geplant und entwickelt. Die vor weißem Hintergrund rot oder grün bedruckten Schilder in 20 mal 80 Zentimetern Größe kennen wir alle. Aber sind diese Leitsysteme in Zeiten von Smartphones am Lenker und Software wie Komoot oder Google Maps überhaupt noch wichtig?

Schilder werben und lenken

In der City finden sich auf den langen Schildern für den Alltags-, aber auch den touristischen Verkehr Hinweise auf wichtige Orte wie Bahnhöfe, Kirchen oder wichtige Plätze mit Sehenswürdigkeitscharakter. Außerhalb leiten die Schilder in die nächsten Orte, zum Badesee, zu kulturellen Stätten oder Aussichtspunkten. Gelegentlich zeigen Piktogramme neben diesen Orten auch besonders steile Wegabschnitte, einen Park-and-Ride-Parkplatz oder auch eine Geschäftsstelle des ADFC. Viele Informationen für den Radfahrer auf kleiner Fläche also. Unterschieden wird deshalb zwischen dem genannten Vollwegweiser und dem Zwischenwegweiser – also der kleine Pfeil mit dem Fahrrad-Symbol darunter auf quadratischen Flächen. Die ersten Funktionen sind damit klar: Sie erleichtern den Weg, lenken die Radler, zeigen Entfernungen und werben gleichzeitig für interessante Ziele.

Große Unterschiede zur GPS-Navigation

Wer den Weg per Fahrradnavigation und Wegweisung vergleicht, kann oft einen deutlichen Unterschied feststellen: Die Wegweiser-Route ist gelegentlich etwas länger, dafür aber ruhiger und bietet meist mehr Erlebnischarakter; sei es aufgrund der Landschaft, durch die sie führt, oder wegen der Points of Interest, die dort vorbeigleiten. Zumindest dann, wenn es sich um touristisch relevante Regionen handelt. Natürlich funktioniert das auch für Einheimische, die so potenziell komfortabler und sicherer unterwegs sind. Tipp: Einfach ausprobieren. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Planungs-Auftraggeber haben eigene Schwerpunkte in Sachen Qualität, Direktheit der Verbindungen und Gefälligkeit der Strecke. „Das wichtigste Kriterium für die Qualität einer Route ist natürlich die Fahrradinfrastruktur beziehungsweise die Eignung der Wege für den Fahrradverkehr“, betont der Geograf Michael Schulze. Beim Planungsbüro Via werden auch Radverkehrskonzepte erstellt und klassische Radweganlagen geplant und entwickelt, „was teilweise eher schon in den Ingenieurbereich geht“, erklärt Schulze. Aber es gibt eben auch die Fahrrad-Wegweisung als Aufgabengebiet, eine Kernkompetenz von Via. Zudem müsse man natürlich berücksichtigen, dass nur wenige Radler ein Navi oder das Handy mit GPS-Wegweisung ständig am Lenker hätten.

Die Standorte der Schilder werden nach Gesichtspunkten wie Sichtachsen, Auffälligkeit in der Umgebung etc. penibel geplant. Dafür gibt es Empfehlungen der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen.

Wechselwirkung mit anderen Verkehrsträgern

Bedarf gibt es überall dort, wo in den letzten Jahren nichts oder wenig in Richtung Radrouten getan wurde, so sehen es die Planer. Selten gibt es Aufträge, wo von Grund auf ein neues Netz erstellt werden soll. Meist ist schon ein Radroutennetz vorhanden, und es soll überarbeitet werden. Und das aus guten Gründen. „Wenn einmal 15 Jahre lang nichts am System verändert worden ist, dann kommt das fast einer Neuplanung gleich“, erläutert Schulze. Verkehr sei dynamisch und Veränderungen im Auto- oder Fußgängerverkehr wirkten sich oft direkt auf den Radverkehr aus. Alles hängt mit allem zusammen. Das ist oft auch der Grund, weshalb manche Routen in der Praxis plötzlich nicht mehr funktionieren: So wird aus einer Straße eine Einbahnstraße und der Radweg endet damit plötzlich im Nichts. Oder eine Straße wird zur Fußgängerzone und für die Fahrradfahrer heißt es plötzlich „draußen bleiben“. Es gelte viele Ansprüche zu befriedigen, sagt Schulze. Ein Punkt, den viele aus ihrer eigenen, fixen Perspektive, zum Beispiel als Radler, Autofahrer oder Wanderer, oft vergessen. Dazu käme, „dass Kompromisse eben dauern“. Das geht so weit, dass bei manchen Projekten vor der Fertigstellung die Grundvoraussetzungen plötzlich andere sind. Denn leider sei es immer noch in den wenigsten Städten und Regionen so, dass die Radverkehrs-Infrastruktur an erster Stelle stehe.

Von der Idee zur Umsetzung

Wie kommt man eigentlich vom Bedarf bis zur fertig ausgeschilderten Radwegweisung? „Der gängigste Weg, wie Behörden Kontakt mit dem Planer aufnehmen, ist die Angebotsaufforderung“, sagt Schulze. Allerdings nur, solange keine Ausschreibung stattfinden muss, was beispielsweise ein bestimmtes Kostenvolumen für das Projekt vorschreibt. Diese Summe kann von Bundesland zu Bundesland variieren. Meist ist zudem ab 250.000 Euro eine europaweite Ausschreibung fällig. Der Großteil der Aufträge für die Radrouten-Wegweisung läge allerdings ohnehin unter dieser Summe. Die eigentliche Arbeit beginnt dann mit der Sichtung und Prüfung vorhandener Strukturen: Wo gibt es Lücken in einem Routennetz, wo will man weiterleiten? Neu in Auftrag gegebene Routen werden ins vorhandene Netz eingepflegt. Zu beachten sind dabei bundeseinheitliche Richtlinien und die Vorgaben der Gemeinden. So geht es zum Beispiel bei einem Auftraggeber um eine möglichst schnelle Führung zu den anvisierten Punkten, bei einem anderen um möglichst ruhige Strecken oder darum, möglichst viele Netzschnittpunkte zu erreichen. Andere Kriterien sind „steigungsarm“ oder „alltagstauglich“, was in der Praxis unter anderem „beleuchtet“ heißt. Die Planung liefe auch politisch nicht immer reibungslos: Nicht immer zögen beispielsweise die einzelnen Gemeinden und deren Behörden mit dem Bundesland an einem Strang. Überhaupt hänge eine fahrradoptimierte Planung oft mit einzelnen Personen bei der auftraggebenden Behörde zusammen. Auftraggeber ist meist das Straßenbauamt, das Amt für Straßenverkehrswesen oder das Verkehrsmanagement einer Kommune.

„Eine fahrradoptimierte Planung hängt oft mit einzelnen Personen bei der auftraggebenden Behörde zusammen.“

Michael Schulze, Planungsbüro Via

Ringen um den optimalen Weg

Der Entwurf der Wegweisung wird mit den Auftraggebern besprochen, gegebenenfalls Änderungsvorschlägen nachgegangen. Denn die optimale Wegweisung ist nicht immer das, was der Auftraggeber wünscht, wenn dadurch Einschränkungen oder besondere Kosten entstehen. Bei alledem helfen Erfahrung, Fingerspitzengefühl – und der Computer. So ist bei Via über die Jahre zusammen mit einem IT-Partner ein spezielles Computerprogramm für die Konzeption und das Management von Leitsystemen entstanden. Es ist laut Via nicht nur für Fahrradleitsysteme, sondern auch für Kfz- oder Mountainbike-Leitsysteme nutzbar und unterstützt die Planung: Standortwahl, Zielauswahl, Themenroutenauswahl, relevante Entfernungen, Steigungen, alles ist über Datenbanken integriert. Mit ihm werden zwar keine Kriterien zur Routenwahl erarbeitet, aber es erleichtert die Arbeit der Planer deutlich.

Ein Stück Fahrradkultur entsteht

Die Standorte der einzelnen Schilder werden nach Gesichtspunkten wie Sichtachsen, Auffälligkeit in der Umgebung etc. penibel geplant. Dazu sind Mitarbeiter wie Schulze zur Sichtung der tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort. Dazu kommt: Nicht überall dürfen Schilder aufgestellt werden. Oft braucht es dazu privaten Grund, was zusätzlich Zeit und Geld kostet. Für die Wegweiser selbst und deren Aufstellung gibt es Empfehlungen, die von der Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen entwickelt wurden. Aber nicht alle Gemeinden halten sich daran, oft aus finanziellen Erwägungen. Lohnenswert ist es allerdings schon, denn bei solider Planung und guten Ausführung entsteht so ein echtes Stück sichtbarer Fahrradkultur für die Öffentlichkeit.


Bilder: stock.adobe.com – hkama, Georg Bleicher

Viele ländliche Regionen mit Höhenunterschieden, wie Stolberg in der Städteregion Aachen, haben keine Fahrrad-DNA. Wie bringt man die Bürger trotzdem aufs Rad? Politik, Verwaltung und die Menschen vor Ort gehen in der Kupferstadt gemeinsam neue Wege. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Die Einladung zur Bürgerbeteiligung per Fahrrad im Jahr 2017 war ein Testballon. Aber dann standen 40 Frauen und Männer vor Georg Trocha, dem Mobilitätsmanager der 57.000-Einwohner-Stadt Stolberg, und warteten auf sein Startsignal. Sie wollten ihm die Stellen zeigen, die aus Radfahrersicht dringend verbessert werden mussten. Zu der Zeit arbeitete der Geograf bereits zwei Jahre in Stolberg. Die Politik hatte ihn ins Rathaus geholt, damit er das Leben, das Wohnen und die Mobilität in der Stadt klimafreundlicher gestaltet. Damit ist es der Stadt und den Bürgern ernst. Klar ist aber auch: In Bezug auf die Mobilität steht die Stadt vor einer großen Aufgabe.

Mehr Komfort und mehr Sicherheit: Moderne Abstellanlagen, auch an den Schulen, zeigen die Wertschätzung, die man man Radfahrenden in Stolberg entgegenbringt.

Ausgangsbasis: zwei Prozent Radfahrer

In der alten Kupfer- und Messingstadt ist das Auto das Verkehrsmittel Nummer eins. Bei der letzten Zählung kamen Radfahrer gerade mal auf einen Anteil von zwei Prozent am Gesamtverkehr. Radwege gibt es innerorts nur wenige und die, die es gibt, sind veraltet. Hinzu kommt die schwierige Topografie: Das Zentrum liegt in einem engen, lang gestreckten Tal und dehnt sich über die umgebenden Höhenrücken bis weit in den Naturpark Nord-eifel aus. Für Alltagsradler heißt das: Sie müssen immer mal wieder Steigungen von 10 bis 15 Prozent bewältigen. Früher beschwerlich oder unmöglich, aber heute gibt es ja E-Bikes. Trotzdem, wer hier den Menschen das Radfahren und das Zu-Fuß-Gehen schmackhaft machen will, braucht Fantasie und muss ungewöhnliche Wege gehen. Die Rad-Exkursion im Sommer 2017 war deshalb ein wichtiger Beginn auf Augenhöhe: Die Mitarbeiter aus der Verwaltung stellten den Bürgern ihre Ideen zum Ausbau des Wegenetzes vor. Im Gegenzug zeigten diese ihnen die Schwächen im Netz und wo sie sich im Alltag von Autofahrern bedrängt fühlten. Die Tour habe die Sichtweise der Politiker auf das Thema verändert. „Ihr Blick auf Radverkehrsplanung ist nun deutlich komplexer“, sagt Georg Trocha. Er gehe weit über die rein technischen Elemente hinaus, die beispielsweise Wegebreiten festlegt. Jetzt wissen alle: Sollen Schüler und Erwerbstätige das Rad anstelle des Autos oder des Elterntaxis für ihre Alltagswege nutzen, müssen sie entspannt, sicher und gesund am Ziel ankommen. „Die Planungsphilosophie muss sich ändern, wenn man fahrradfreundlich werden will“, betont der Mobilitätsmanager.

Bürger und Politik wollen Klimaschutz, Bildung und neue Mobilität

Der amtierende Bürgermeister Patrick Haas (SPD) hat die Wahl 2019 mit den Themen Klimaschutz, Bildung und Mobilität gewonnen. Im zweiten Wahlgang erhielt er 60 Prozent der Stimmen. Allerdings steht die Kupferstadt auch unter Zugzwang. Mehr Klimaschutz macht hier nur Sinn, wenn die Mobilität deutlich nachhaltiger wird. Der Mobilitätsmanager der Stadt Georg Trocha hat ein Konzept erstellt, das mit einer Reihe von kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen die Menschen motivieren soll, ihre Autos stehenzulassen. Das Konzept haben die Politiker zunächst mit Trocha unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert und dann einstimmig angenommen. Entsprechend groß ist seitdem der Rückhalt für den Umbau der Stadt aus dem Rathaus. Vorgelebt wird das unter anderem von dem sportlichen 39-jährigen Bürgermeister der Stadt, der auch zu offiziellen Terminen regelmäßig per E-Bike erscheint.

Keine Zeit für jahrelange Umgestaltung

Eine allgemeine Annahme ist, dass eine Stadt über Jahre umgebaut werden muss, damit sich gravierende Verbesserungen für Radfahrer einstellen. Doch so viel Zeit hat Stolberg nicht. Hier produziert allein der Verkehr rund ein Drittel der Treibhausemissionen. Das ist deutlich mehr als im Bundesdurchschnitt, wo der Anteil bei einem Fünftel liegt. Die Menschen hier müssen zügig umsteigen. Radfahren im Alltag muss schnell sicherer und komfortabler werden. Deshalb hat Trocha in seinem Konzept Ziele benannt, die kurz-, mittel- und langfristig umgesetzt werden können. Bereits jetzt werden Radwege regelmäßig von Sträuchern freigeschnitten, Bordsteine abgesenkt oder auf manchen Routen eine Beleuchtung installiert. Hinweise und Tipps holt er sich dafür regelmäßig von Alltagsradlern und Radaktivisten vom ADFC.

Erfolgskritisch: Routinen ändern

Mobilitätsexperten betonen immer wieder die Notwendigkeit, Routinen zu verändern, wenn man zu anderen Mobilitätsmustern gelangen will. Bei Kindern und Jugendlichen ist das leichter, weil sie noch nicht festgelegt sind. Da sie zudem viel Bewegung brauchen, um ihre motorischen und kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln, suchte Trocha Schulen als Partner. Das Goethe-Gymnasium in der Stadt hatte bereits einiges an Vorarbeit geleistet. Seit Jahren gibt es dort eine Fahrrad-AG für Fünft- und Sechstklässler und eine Flotte von Leihrädern. „60 bis 80 der rund 800 Schüler kommen hier mit dem Rad“, sagt Trocha. Das sei wenig, aber an der angrenzenden Gesamtschule mit 500 Schülern wären es gerade mal eine Handvoll. Statt selbst zu laufen oder zu radeln, werden viele Schüler mit dem Auto bis vor das Schultor gebracht. Entsprechend groß ist in dem Quartier vor und nach Schulbeginn das Gedränge auf den Straßen.

„Wenn wir es mit einem Langstreckenlauf vergleichen, sind wir gerade erst aus dem Startblock herausgelaufen. Wir wollen aber mehr – viel mehr“

Georg Trocha, Mobilitätsmanager in Stolberg

Schüler entwickeln Schulwegeplan

Die Lehrer und Trocha wollten das Chaos abstellen. Ihre Idee: Die Bildungseinrichtung sollte „Fahrradfreundliche Schule“ werden. Um das Label zu erhalten, brauchte sie einen Schulwegeplan. Das Besondere an ihrem Vorhaben war, dass die Jugendlichen den Plan erstellten und nicht die Lehrer. Allerdings konnten die Schüler das nicht allein, sondern brauchten dazu professionelle Hilfe. Im Rahmen einer Förderung vom Zukunftsnetz Mobilität NRW unterstützt jetzt der Verkehrsplaner Jan Leven vom Wuppertaler „Büro für Forschung, Entwicklung und Evaluation“ (Bueffee) die Projektgruppe. Etwa zehn Schüler der elften Jahrgangsstufe erarbeiten mit seiner Unterstützung den Wegeplan. Dabei gehen sie vor wie Verkehrsplaner. „Die Jugendlichen analysierten zunächst ihr eigenes schulisches Umfeld“, erläutert Jan Leven. Die Grundlage dafür ist eine Online-Befragung aller 800 Schüler des Goethe-Gymnasiums. Anhand ihrer Antworten identifizieren die Jugendlichen dann die Hauptrouten sowie mögliche Gefahrenstellen entlang der Strecken. Nach den Sommerferien werden sie die Strecken zu Fuß und per Rad abfahren und mögliche Gefahrenstellen fotografieren. Aus den momentan üblichen Routen, ihren Erkenntnissen und ihren Zielen zur nachhaltigen Mobilität an der Goethe-Schule entwickeln die Jugendlichen dann ihr eigenes Wegenetz. Das wird Routen bereithalten für Radfahrer, E-Tretroller-Fahrer und Kinder, die zu Fuß gehen. Damit die Empfehlungen rechtlich abgesichert sind, übernimmt Leven die Feinjustierung. „Das Ziel ist es, ein Radschulnetz zu entwickeln, das sicher befahren werden kann“, sagt Leven.

Auto sollen für sichere Wege Platz machen

Neben den bereits üblichen Routen markieren die Schüler unter anderem auch Haltestellen für Elterntaxis, mehrere Hundert Meter vom Schultor entfernt. Hier sollen Mütter und Väter zukünftig ihre Kinder verabschieden. Wie gut die Bring- und Hol-Zonen bei den Eltern ankommen, kann wahrscheinlich bereits im September getestet werden. Im Rahmen der europäischen Mobilitätswoche will Georg Trocha in Kooperation mit der Schule autofreie Tage im Wohngebiet der Goethe-Schule organisieren. Geht es nach ihm, werden dann einige der Hauptstraßen für kurze Zeit zu Fahrradstraßen. Bislang gibt es noch keine in Stolberg. Für Planer und Radfahrer wäre das die Gelegenheit, die Fahrradstraße als weiteres Planungselement zu testen. Für sein Vorhaben sucht der Mobilitätsmanager nun Verbündete. Vor allem die Anwohner müssen die Entscheidungen mittragen, denn sie werden während dieser Zeit ihre Routinen ändern müssen. „Sie müssen ihre Autos in der Garage oder in ihrer Einfahrt parken und nicht mehr auf der Straße“, sagt Trocha. Ohne die Reihen an parkenden Wagen überblicken die Kinder beim Queren besser die Straße und sind auch als Radfahrer deutlich sicherer unterwegs. Aber auch die Anlieger würden von der Projektwoche profitieren. „Sie erleben, wie ruhig ihr Viertel ohne den Bring- und Holdienst sein kann“, sagt Trocha. Den Bürgermeister Stolbergs hat er dabei voll auf seiner Seite. Der oberste Entscheider der Stadt sieht in dem Wohngebiet rund um die Goethe-Schule einen möglichen Vorreiter für ein autoarmes Quartier in seiner Stadt.

Stolberg will noch viel mehr

Mit dem Projekt will sich die Schule das Label „fahrradfreundlich“ verdienen und den Radanteil an ihrem Gymnasium verändern. Aber das ist nicht alles. Nach den Erfahrungen von Verkehrsplaner Jan Leven haben solche Projekte auch eine hohe Strahlkraft. „Sie wirken immer auch in die Stadtverwaltung“, betont er. Dort ist der Wandel längst angekommen. Bereits 2017 hat eine Umfrage zur Mobilität in der Verwaltung gezeigt, dass viele Verwaltungsmitarbeiter gerne zu Fuß, per Bahn, Fahrrad oder E-Bike ins Rathaus kommen würden. Aber es gab noch Knackpunkte: So brauchten sie zum Beispiel ihre Privatwagen für Dienstfahrten. Außerdem fehlten sichere Fahrradabstellanlagen am Rathaus. Die Verwaltung hat auf die Umfrage inzwischen reagiert und mithilfe von Förderprogrammen einen eigenen Fuhrpark aufgebaut. Jetzt gibt es drei E-Dienstwagen und fünf Dienst-E-Bikes. Das zeigt Wirkung. Mehr als 20 Mitarbeiter kommen inzwischen per Rad. Zuvor waren es nur drei. Der neue Fahrradkeller ist für sie bereits zu klein geworden. Jetzt muss angebaut werden. Für Trocha sind das gute Signale und er hat mit breiter Unterstützung aus der Bevölkerung und der Politik noch viel vor. „Wenn wir es mit einem Langstreckenlauf vergleichen, sind wir gerade erst aus dem Startblock herausgelaufen. Das, was wir jetzt machen, sind unsere Anfangsschritte. Wir wollen aber mehr – viel mehr.“

Schritte auf dem Weg zur Fahrradstadt

Zu einer guten Radinfrastruktur gehören auch gute Abstellmöglichkeiten für Fahr-räder. Das schätzen besonders Pendler. Am Stolberger Bahnhof wurde die Zahl der abschließbaren Fahrradboxen von 16 auf 36 erhöht. Außerdem werden in diesem Jahr neue Radabstellanlagen an den weiterführenden Schulen aufgestellt. Als Nächstes sollen nun die Grundschüler überdachte Fahrradstellplätze bekommen. Für den Außendienst der Mitarbeiter hat die Stadt E-Bikes angeschafft. Bald können die Stolberger auch mit „Moritz“, dem ersten „freien E-Lastenrad“ der Stadt, ihren Einkauf erledigen oder mit ihren Kindern auf Tour gehen. Das Rad wird über die Touristeninformation kostenlos verliehen. 2019 hat die Stadt erstmals beim „Stadtradeln“ mitgemacht. Während im vergangenen Jahr rund 40 Teilnehmer dabei waren, waren es in diesem Jahr bereits fast 170. Außerdem veranstaltet die Stadt seit vergangenem Jahr einen Rad-Kulturtag mit Fahrradflohmarkt, Schrauberwerkstatt, Parcours und vielen weiteren Angeboten.


Bilder: Georg Trocha

150 Prozent mehr Ausleihen als im Vorjahr durch Corona. Das ist die Bilanz von „Rad und Tour“ an der Nordsee in Cuxhaven. Neben Touristen sorgen auch viele Einwohner für einen Run auf Mieträder und E-Bikes. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Mit dem Lockdown Ende März mussten Fahrradhändler in vielen Städten ihre Geschäfte schließen. Sie durften zwar noch Räder reparieren, aber sowohl das Verkaufen als auch die Vermietung waren vielerorts verboten. Die Entscheidung war umstritten. Denn viele Menschen, die vorher gar nicht oder selten per Bike unterwegs waren, wollten nun Radfahren – in ihrer Freizeit und im Alltag. Einige Händler fanden ebenso kreative wie nachhaltige Lösungen und brachten die Menschen trotz des Lockdowns aufs Rad.

Mehr Bewegung an der frischen Luft

Einer von ihnen ist Thorsten Larschow aus Cuxhaven. Er hat vor 27 Jahren sein Geschäft „Rad und Tour“ in Cuxhaven eröffnet. Für ihn war der Slogan „stay at home“ zu Beginn des Lockdowns die falsche Strategie. „Corona ist eine Lungenkrankheit. Ich finde, die Leute sollten nicht zu Hause sitzen, sondern sich bewegen. Am besten draußen im Wald, in einer Umgebung, die gesund ist“, sagt er. Dafür ist das Fahrrad perfekt. Man kann damit gemütlich die Promenade ent-langrollen, aber auch mit Abstand Sport treiben. Larschow betreibt neben seinem Geschäft eine Mietradflotte mit 700 Fahrrädern und E-Bikes für Ausflügler und Feriengäste. Die meisten davon standen seit Ende März in den Lagern. Als ein Lieferdienst ihm 50 neue E-Bikes auf den Hof stellte, hatte er eine Idee. Er durfte die Räder zwar nicht vermieten, aber kostenlos verleihen. Unter der Devise „Bewegt euch!“ warb er auf Youtube und Facebook für die kostenlose Ausleihe. Das sprach sich schnell in Cuxhaven und Umgebung herum. 24 Stunden nach dem Aufruf standen die ersten Anwohner auf seinem Hof, bereit für einen Ausflug per Bike.

Große Begeisterung für E-Bikes

Die Ausleihe selbst war kontaktlos. Die Leute hatten online gebucht, ihre Anschrift auf dem vorbereiteten Formular auf einem Stehtisch im Hof hinterlassen und konnten so das vorbereitete Rad direkt mitnehmen. 50 Tage ging das so. Was den Radsportler Larschow besonders freut: Viele der Nutzer waren das erste Mal mit einem E-Bike auf Tour. „Es gibt immer noch viele Menschen, die E-Bikes ablehnen, weil sie meinen, Fahren mit Motor sei nur etwas für Ältere“, sagt er. Sie kamen begeistert zurück.

Neu: Online-Verleih und Lieferservice

Mit den Lockerungen strömten im Mai auch die Gäste an die Nordsee und mit ihnen zogen die Buchungen an. „Wir haben 150 Prozent mehr Ausleihen als im Vorjahr“, sagt er. Von Hektik im Laden spürt man aber wenig. Bereits vor 20 Jahren hat er für seine Mietradflotte ein Online-Buchungsverfahren eingerichtet. Die Gäste sehen so das gesamte Sortiment und reservieren nach Bedarf inklusive Zubehör. 50 Prozent der Gäste lassen sich die Räder zur Ferienwohnung liefern. Das ist in Larschows Service inbegriffen. „Gerade für Familien mit kleinen Kindern ist das praktisch“, sagt er. Wer nur ein paar Hundert Meter zur Leihstation laufen muss, kommt in der Regel selbst vorbei. Während die Online-Buchungen vor Corona unter 20 Prozent betrugen, liegen sie jetzt seinen Schätzungen zufolge zwischen 60 und 70 Prozent.

„Der Radtourismus ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Region“

Thorsten Larschow, Rad und Tour

Fahrräder als Verkehrsmittel unterschätzt

Der große Ansturm auf seine Mieträder spiegelt sich auch sonst in Cuxhavens Zentrum wider. Die kleine Innenstadt ist voll mit Radtouristen und Alltagsradlern, die sich auf den Straßen tummeln oder durch die Fußgängerzone flanieren. Die Fahrradständer sind überfüllt. Rechts und links von ihnen werden in langen Reihen Räder abgestellt. „Der Radtourismus ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Region“, so Larschow, das sei schon lange vor Corona so gewesen. „Aber das touristische Fahrrad als Verkehrsmittel hat die Politik vor Ort noch nicht im Blick.“ Das zeige das neue Verkehrskonzept für Urlauber: Um zu verhindern, dass Einheimische, Urlauber und Tagesgäste mit dem Auto an den Sandstrand nach Duhnen fahren, haben die Entscheider eine Park-and- Ride-Anlage in Cuxhaven gebaut.
Autofahrer können ihren Pkw im Zen-trum am Kreishaus abstellen und dann per Shuttlebus im Viertelstundentakt in den vier Kilometer entfernten Kurort weiterfahren. An eine Fahrradverleih-Station habe allerdings niemand gedacht. „Warum gibt man den Leuten nicht die Möglichkeit, aufs Rad zu steigen?“, fragt Larschow. Er ist sich sicher: „Einige würden das Angebot lieber nutzen, statt den Bus zu nehmen.“ Familien und Senioren, die auf den Shuttle angewiesen sind, hätten dann auch deutlich mehr Platz. Insgesamt zeigen die Erfahrungen an der Nordsee sehr klar die Bedürfnisse der Menschen.


Bilder: Mailin Busko / Rad und Tour

Während es im deutschen Sprachraum repressiver zugeht als allgemein gedacht, zeigen sich die skandinavischen Länder entspannt naturnah. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Zu einem spöttisch-verzweifelten Echo in der Fahrrad- und Mountainbike-Szene hat die im letzten Frühjahr vorgestellte Kampagne der Österreich Werbung unter dem Claim „You like it? Bike it!“ geführt. Denn was hierzulande wohl nur wenigen bekannt ist: Im Gegensatz zum Wandern ist das Radfahren in österreichischen Wäldern verboten, wenn es nicht explizit erlaubt ist. Und natürlich gibt es gegen diese ebenso unverständliche wie unzeitgemäße Regel auch unzählige Verstöße. In Deutschland sieht es dagegen anders aus – bis auf das Land Baden-Württemberg. Hier gilt seit 1995 laut Landeswaldgesetz BW die sogenannte Zwei-Meter-Regel, die das Fahrradfahren im Wald auf Wegen unter zwei Meter Breite bis auf wenige Ausnahmen verbietet.

Wohin mit den Radfahrern?

Nach Ansicht von Betroffenen, Verbänden und Fachmedien schaden sich damit nicht nur die Tourismusregionen selbst, sie kriminalisieren regelmäßig auch Alltagsradler und Sportler. „Die Regelung wird von einheimischen Radfahrern seit Bestehen in der Praxis ignoriert“, schreibt zur Zwei-Meter-Regel die Deutsche Initiative Mountainbike e. V. (DIMB). Der Mountainbikesport werde durch diese Gesetzgebung in die Illegalität gedrängt inklusive großer Probleme für Lehrkräfte und die Jugendarbeit der Vereine. „Ob Familie mit Kindern, Jugendgruppe oder Rentnerausfahrt – sie alle begehen in Baden-Württemberg regelmäßig und häufig ohne Vorsatz Verstöße gegen das Landeswaldgesetz“, heißt es auch beim Online-Medium MTB-News. Nicht nur aus ökologischer Sicht bedenklich ist auch die damit einhergehende regelmäßige Freizeitflucht mit Auto und Rädern in benachbarte Bundesländer oder die MTB-Eldorados in der Schweiz.

Nur Betretungsrecht oder Jedermannsrecht?

Auch bei der Outdoor-Übernachtung gibt es außerhalb von ausgewiesenen Camping- oder Biwakplätzen hierzulande Probleme. Mit Zelt ist es zumeist verboten, und auch mit einem Biwakschlafsack befindet man sich schnell in einer Grauzone. Auch wenn gern der Naturschutz ins Feld geführt wird – die Gründe liegen sowohl beim Mountainbiken wie auch beim Übernachten wohl vor allem in der Historie. Denn im europäischen Ausland geht man mit dem Thema teils deutlich entspannter um. In den skandinavischen Ländern (ausgenommen Dänemark), Schottland und in der Schweiz gibt es das Jedermannsrecht, das allen Menschen grundlegende Rechte bei der Nutzung der Wildnis und sogar gewissem privaten Landeigentum zugesteht. Unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt es unter anderem Zelten und Feuermachen und geht damit deutlich über ein reines Betretungsrecht, wie es in Deutschland oder Österreich besteht, hinaus.

Eine Frage der Tradition

In Schweden ist das Jedermannsrecht sogar ein wichtiger Bestandteil der Kultur, dessen Wurzeln bis ins Mittelalter zurückreichen. Es räumt den Einwohnern und ausländischen Besuchern auch auf privatem Grund große Freiheiten ein, solange man Rücksicht nimmt, behutsam mit der Natur umgeht und keine Schäden anrichtet. Demgegenüber gibt es hierzulande eine gänzlich andere Tradition, die nach Meinung von Betroffenen und Experten nicht die Natur, sondern vor allem die historisch gewachsenen Rechte der Grundbesitzer, Pächter oder Jäger schützt.

Gerne ein „Jedermannsrecht“ für Deutschland

Kommentar von Reiner Kolberg

Die Städte überhitzt, Badeseen und Strände überfüllt, Reisewarnungen für viele Urlaubsziele. Wohin nur mit den Menschen? Fast 80 Prozent der Einwohner Deutschlands leben mittlerweile in Städten und drängen sich zu Ferienzeiten, an Feiertagen und an den Wochenenden auf den immer gleichen Hotspots. Dabei wäre auch hierzulande Platz genug. Mit der Bahn oder dem Pkw ist man in der Regel in weniger als einer Stunde raus aus der Stadt und kann ab da zu Fuß oder mit dem Fahrrad wunderbare Routen und Plätze neu entdecken und könnte prinzipiell gleich eine Übernachtung in der freien Natur anschließen.
Wer schon einmal – legal oder illegal – naturnah unter freiem Himmel oder in einem kleinen Zelt übernachtet hat, weiß, wie unvergesslich und prägend solche Eindrücke sein können. Mit dem Rad durch den Wald zu fahren und draußen zu übernachten könnte nicht nur in Corona-Zeiten für viele eine preiswerte Lösung sein, um rauszukommen aus der Stadt und das natürliche Umfeld und die Schönheit der Natur wieder neu zu entdecken. Aber wo und für wen gibt es überhaupt noch diese Möglichkeit? Wenn Kinder heute nicht gerade mit Fahrradenthusiasten oder Campingfreunden aufwachsen oder zu den Pfadfindern kommen, stehen die Chancen schlecht, nachdem auch die Wehrpflicht mit der Natursozialisation unter dem Motto „Leben im Felde“ eingestellt wurde.
Heute wird nicht nur in den Medien das Narrativ vom Konflikt der Wanderer mit störenden Radfahrern ebenso gern gepflegt wie das der Mountainbiker und Wildcamper, die den Wald schädigen und die „Natur zerstören“.
Naturschutz, so könnte man meinen, schließt die wirklich freie Bewegung in der Natur aus. Dabei ist wahrscheinlich das Gegenteil der Fall: Ohne eine echte Beziehung zur Natur fällt es umso schwerer, echte Wertschätzung zu entwickeln und sich aktiv für ihre Erhaltung einzusetzen. Mehr naturnahe Erlebnisse, mehr Freiheit verbunden mit einer höheren Verantwortung für sich selbst, seine Umwelt und den Anderen wären sicher eine gute Idee und die Skandinavier haben uns hier mit ihren Gesellschaftsidealen und dem Jedermannsrecht einiges voraus. Aber warum sollten mehr Bürgerrechte nicht auch in Deutschland eine gute Sache und grundsätzlich machbar sein? Im Kleinen anfangen könnte man ja schon mal mit der für Radfahrer unsäglichen Zwei-Meter-Regel in Baden-Württemberg.


Bild: stock.adobe.com – Markus Bormann

Im Fahrradtourismus sicher einmalig ist die von Anfang an auf Synergiegewinnung ausgerichtete Pionierarbeit des Schweizer E-Bike-Herstellers Flyer und der Planer der Herzroute. Die Erfolgsgeschichte, die gerade ihr 25-jähriges Jubiläum feiert, kann weltweit als Vorbild für Planer, Touristiker und Visionäre gelten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Der Gedanke an eine attraktive, mit Motorunterstützung für ganz neue Nutzergruppen fahrbare Route ist älter als das E-Bike selbst. Inspiriert durch eine Radreise durch die USA machte sich der Schweizer Paul Hasler mit seinem „Büro für Utopien“ an ein ehrgeiziges Projekt. Seine Vision: eine Fahrradroute, welche die Kultur und Vielseitigkeit der Schweiz porträtiert. Heute führt die 1989 gegründete Herzroute vom Bodensee über dreizehn Etappen, 720 Kilometer und insgesamt 12.000 Höhenmeter durch die schönsten Gegenden der voralpinen Schweiz zum Genfer See und zieht jährlich über 30.000 Besucher an.

E-Bike eröffnet neue touristische Perspektiven

Flussradwege stehen bei Radtouristen nicht zuletzt wegen der geringen Höhenunterschiede hoch im Kurs. Mindestens genauso reizvoll sind aber auch gut ausgebaute bergige Strecken abseits des Autoverkehrs. Sie bieten einmalige Weite und Fotopanoramen, an denen man sich zumindest in der Schweiz kaum sattsieht. Wie kann man die Region besser für Touristen und nicht nur für durchtrainierte Radsportler erschließen, lautete die Fragestellung auf der einen Seite für Paul Hasler. Auf der anderen Seite suchten die E-Bike-Pioniere der ersten Stunde der späteren Firma Biketec nach einer Möglichkeit, ihre Produkte bekannter zu machen und gezielt zu vermarkten. Auch sie waren dem neuen Markt gedanklich weit voraus. Bereits 1993 hatten sie einen ersten E-Bike-Prototyp, den „Roten Büffel“ gefertigt. Damals hing noch eine schwere Bleibatterie unter dem Oberrohr eines roten Tourenrads. Schnell fand man sich zusammen, aber trotzdem brauchte es in der Folgezeit einen unerschütterlichen Glauben an die Idee, eine hohe Motivation und viel Überzeugungskraft, um die Vision umzusetzen. Denn wie bei vielen bahnbrechenden Ideen wurden die neuen „Elektrovelos“ anfangs von vielen nicht ernst genommen und weniger die Chancen gesehen, als vielmehr Probleme und Risiken beschworen. Der einfache Grund, warum die Macher trotz aller anfänglichen Schwierigkeiten immer hoch motiviert blieben: Alle motorunterstützten Velo-Fahrer kamen bereits nach einer kurzen Strecke mit einem breiten Lächeln im Gesicht zurück.

Neue Akku-Generation bringt den Durchbruch

Nachdem 1995 eine erste Kleinserie von Elektrovelos unter dem Namen Flyer Classic von den Pionieren produziert wurde, nahm die Geschichte des Swiss Flyers mit der Gründung der Firma Biketec im Jahr 2001 weiter Fahrt auf. Parallel wurde die Herzroute geplant und gebaut und 2003 eröffnet. Es war dabei keineswegs ein Zufall, dass das erste landschaftlich großartige Teilstück unweit der damaligen Flyer-Produktionsstätte im bernischen Kirchberg lag. Parallel mit der Eröffnung gelang Biketec der Durchbruch mit der Flyer-C-Serie, Europas erstem Elektrorad mit dem damals revolutionären Lithium-Ionen-Akku. Der trotz neuer Technologie vor allem im Gebirge noch recht eingeschränkten Reichweite begegnete man mit Akku-Wechselstationen in Hotels und an Tourismusinformationen. So konnte man in Minuten voll aufgeladen weiterfahren.

Das Flyer-Werk ist in der Region eine Attraktion. 250 Mitarbeiter arbeiten hier, weitere 50 sind in Tochtergesellschaften in Deutschland, Österreich und den Niederlanden beschäftigt.

Nachhaltige Fertigung, nachhaltiger Tourismus

„Von Anfang an stand das Thema Nachhaltigkeit bei der Herstellung und der Wahl des Standorts zusammen mit Synergien im Vordergrund“, erläutert Anja Knaus, Pressesprecherin des E-Bike-Herstellers, der heute unter dem Namen Flyer zur deutschen ZEG-Gruppe gehört. „Das ist Teil unserer DNA und unsere Erfolgsgeschichte, die sich bis heute fortsetzt.“ Mit dem Umzug in den ebenfalls an der Herzroute gelegenen Ort Huttwil erfüllten sich die Macher um den damaligen CEO Kurt Schär, der auch heute noch als Anteilseigner der Herzroute aktiv ist, einen weiteren Traum: Nachhaltigkeit und ein authentisches E-Bike-Erlebnis vor Ort sollten neben der Schweizer Qualität überzeugen. So wurde das 2009 bezogene Werk als Minergieplus-Gebäude ausgeführt inklusive einer Fotovoltaikanlage auf dem Dach, aus der auch Strom für die Kunden-Akkus bezogen wird, gesammeltes Regenwasser für die Toiletten und vielem mehr. Zudem wurde das Werk auch als Erlebniswelt geplant. Mit Führungen durch die Produktion, Testrädern und einem Verleih sowie eigens eingerichteten Wohnmobilstellplätzen am Firmengelände.

Heute eine Bilderbuch-Erfolgsgeschichte

Die anfänglichen Bedenken sind mit den Erfolgen in kürzester Zeit gewichen. Inzwischen gibt es eine lebendige Public Private Partnership zwischen den Betreibern der Herzroute, Anliegerunternehmen und der öffentlichen Hand. „Herzroute und Flyer arbeiten eng zusammen und ergänzen sich in idealer Weise“, betont Anja Knaus. „Gemeinsam schaffen wir unvergessliche Erlebnisse auf den schönsten E-Bike-Routen der Schweiz.“ Das sehen auch die zunehmend internationalen und durchaus solventen Nutzer so. Über 30.000 Nutzer pro Saison beleben die Region, spülen Geld in die Kassen und hatten in den vergangenen Jahren sicher einen unschätzbaren Wert bei der Verbreitung des positiven Images der E-Bikes und der Region. Heute wird die Erfolgsgeschichte weitergeführt: Flyer reüssiert als E-Bike-Spezialist inzwischen europaweit mit hochmodernen Cityrädern und High-End-Mountainbikes und bietet in Huttwil ein umfangreiches Angebot inklusive Fahrtechnik-, Sicherheits- und Pflegetrainings. Die Herzroute bindet mit Schleifen entlang der Strecke immer neue attraktive Regionen ein und lässt sich für Gäste, die auf mehrtägigen Touren unterwegs sind, viel einfallen, wie zum Beispiel ein „Wohnfass“ als originelle Übernachtungsgelegenheit.


Bilder: Flyer