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Zur Fahrradstadt ohne Rad-DNA

Viele ländliche Regionen mit Höhenunterschieden, wie Stolberg in der Städteregion Aachen, haben keine Fahrrad-DNA. Wie bringt man die Bürger trotzdem aufs Rad? Politik, Verwaltung und die Menschen vor Ort gehen in der Kupferstadt gemeinsam neue Wege. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Die Einladung zur Bürgerbeteiligung per Fahrrad im Jahr 2017 war ein Testballon. Aber dann standen 40 Frauen und Männer vor Georg Trocha, dem Mobilitätsmanager der 57.000-Einwohner-Stadt Stolberg, und warteten auf sein Startsignal. Sie wollten ihm die Stellen zeigen, die aus Radfahrersicht dringend verbessert werden mussten. Zu der Zeit arbeitete der Geograf bereits zwei Jahre in Stolberg. Die Politik hatte ihn ins Rathaus geholt, damit er das Leben, das Wohnen und die Mobilität in der Stadt klimafreundlicher gestaltet. Damit ist es der Stadt und den Bürgern ernst. Klar ist aber auch: In Bezug auf die Mobilität steht die Stadt vor einer großen Aufgabe.

Mehr Komfort und mehr Sicherheit: Moderne Abstellanlagen, auch an den Schulen, zeigen die Wertschätzung, die man man Radfahrenden in Stolberg entgegenbringt.

Ausgangsbasis: zwei Prozent Radfahrer

In der alten Kupfer- und Messingstadt ist das Auto das Verkehrsmittel Nummer eins. Bei der letzten Zählung kamen Radfahrer gerade mal auf einen Anteil von zwei Prozent am Gesamtverkehr. Radwege gibt es innerorts nur wenige und die, die es gibt, sind veraltet. Hinzu kommt die schwierige Topografie: Das Zentrum liegt in einem engen, lang gestreckten Tal und dehnt sich über die umgebenden Höhenrücken bis weit in den Naturpark Nord-eifel aus. Für Alltagsradler heißt das: Sie müssen immer mal wieder Steigungen von 10 bis 15 Prozent bewältigen. Früher beschwerlich oder unmöglich, aber heute gibt es ja E-Bikes. Trotzdem, wer hier den Menschen das Radfahren und das Zu-Fuß-Gehen schmackhaft machen will, braucht Fantasie und muss ungewöhnliche Wege gehen. Die Rad-Exkursion im Sommer 2017 war deshalb ein wichtiger Beginn auf Augenhöhe: Die Mitarbeiter aus der Verwaltung stellten den Bürgern ihre Ideen zum Ausbau des Wegenetzes vor. Im Gegenzug zeigten diese ihnen die Schwächen im Netz und wo sie sich im Alltag von Autofahrern bedrängt fühlten. Die Tour habe die Sichtweise der Politiker auf das Thema verändert. „Ihr Blick auf Radverkehrsplanung ist nun deutlich komplexer“, sagt Georg Trocha. Er gehe weit über die rein technischen Elemente hinaus, die beispielsweise Wegebreiten festlegt. Jetzt wissen alle: Sollen Schüler und Erwerbstätige das Rad anstelle des Autos oder des Elterntaxis für ihre Alltagswege nutzen, müssen sie entspannt, sicher und gesund am Ziel ankommen. „Die Planungsphilosophie muss sich ändern, wenn man fahrradfreundlich werden will“, betont der Mobilitätsmanager.

Bürger und Politik wollen Klimaschutz, Bildung und neue Mobilität

Der amtierende Bürgermeister Patrick Haas (SPD) hat die Wahl 2019 mit den Themen Klimaschutz, Bildung und Mobilität gewonnen. Im zweiten Wahlgang erhielt er 60 Prozent der Stimmen. Allerdings steht die Kupferstadt auch unter Zugzwang. Mehr Klimaschutz macht hier nur Sinn, wenn die Mobilität deutlich nachhaltiger wird. Der Mobilitätsmanager der Stadt Georg Trocha hat ein Konzept erstellt, das mit einer Reihe von kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen die Menschen motivieren soll, ihre Autos stehenzulassen. Das Konzept haben die Politiker zunächst mit Trocha unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert und dann einstimmig angenommen. Entsprechend groß ist seitdem der Rückhalt für den Umbau der Stadt aus dem Rathaus. Vorgelebt wird das unter anderem von dem sportlichen 39-jährigen Bürgermeister der Stadt, der auch zu offiziellen Terminen regelmäßig per E-Bike erscheint.

Keine Zeit für jahrelange Umgestaltung

Eine allgemeine Annahme ist, dass eine Stadt über Jahre umgebaut werden muss, damit sich gravierende Verbesserungen für Radfahrer einstellen. Doch so viel Zeit hat Stolberg nicht. Hier produziert allein der Verkehr rund ein Drittel der Treibhausemissionen. Das ist deutlich mehr als im Bundesdurchschnitt, wo der Anteil bei einem Fünftel liegt. Die Menschen hier müssen zügig umsteigen. Radfahren im Alltag muss schnell sicherer und komfortabler werden. Deshalb hat Trocha in seinem Konzept Ziele benannt, die kurz-, mittel- und langfristig umgesetzt werden können. Bereits jetzt werden Radwege regelmäßig von Sträuchern freigeschnitten, Bordsteine abgesenkt oder auf manchen Routen eine Beleuchtung installiert. Hinweise und Tipps holt er sich dafür regelmäßig von Alltagsradlern und Radaktivisten vom ADFC.

Erfolgskritisch: Routinen ändern

Mobilitätsexperten betonen immer wieder die Notwendigkeit, Routinen zu verändern, wenn man zu anderen Mobilitätsmustern gelangen will. Bei Kindern und Jugendlichen ist das leichter, weil sie noch nicht festgelegt sind. Da sie zudem viel Bewegung brauchen, um ihre motorischen und kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln, suchte Trocha Schulen als Partner. Das Goethe-Gymnasium in der Stadt hatte bereits einiges an Vorarbeit geleistet. Seit Jahren gibt es dort eine Fahrrad-AG für Fünft- und Sechstklässler und eine Flotte von Leihrädern. „60 bis 80 der rund 800 Schüler kommen hier mit dem Rad“, sagt Trocha. Das sei wenig, aber an der angrenzenden Gesamtschule mit 500 Schülern wären es gerade mal eine Handvoll. Statt selbst zu laufen oder zu radeln, werden viele Schüler mit dem Auto bis vor das Schultor gebracht. Entsprechend groß ist in dem Quartier vor und nach Schulbeginn das Gedränge auf den Straßen.

„Wenn wir es mit einem Langstreckenlauf vergleichen, sind wir gerade erst aus dem Startblock herausgelaufen. Wir wollen aber mehr – viel mehr“

Georg Trocha, Mobilitätsmanager in Stolberg

Schüler entwickeln Schulwegeplan

Die Lehrer und Trocha wollten das Chaos abstellen. Ihre Idee: Die Bildungseinrichtung sollte „Fahrradfreundliche Schule“ werden. Um das Label zu erhalten, brauchte sie einen Schulwegeplan. Das Besondere an ihrem Vorhaben war, dass die Jugendlichen den Plan erstellten und nicht die Lehrer. Allerdings konnten die Schüler das nicht allein, sondern brauchten dazu professionelle Hilfe. Im Rahmen einer Förderung vom Zukunftsnetz Mobilität NRW unterstützt jetzt der Verkehrsplaner Jan Leven vom Wuppertaler „Büro für Forschung, Entwicklung und Evaluation“ (Bueffee) die Projektgruppe. Etwa zehn Schüler der elften Jahrgangsstufe erarbeiten mit seiner Unterstützung den Wegeplan. Dabei gehen sie vor wie Verkehrsplaner. „Die Jugendlichen analysierten zunächst ihr eigenes schulisches Umfeld“, erläutert Jan Leven. Die Grundlage dafür ist eine Online-Befragung aller 800 Schüler des Goethe-Gymnasiums. Anhand ihrer Antworten identifizieren die Jugendlichen dann die Hauptrouten sowie mögliche Gefahrenstellen entlang der Strecken. Nach den Sommerferien werden sie die Strecken zu Fuß und per Rad abfahren und mögliche Gefahrenstellen fotografieren. Aus den momentan üblichen Routen, ihren Erkenntnissen und ihren Zielen zur nachhaltigen Mobilität an der Goethe-Schule entwickeln die Jugendlichen dann ihr eigenes Wegenetz. Das wird Routen bereithalten für Radfahrer, E-Tretroller-Fahrer und Kinder, die zu Fuß gehen. Damit die Empfehlungen rechtlich abgesichert sind, übernimmt Leven die Feinjustierung. „Das Ziel ist es, ein Radschulnetz zu entwickeln, das sicher befahren werden kann“, sagt Leven.

Auto sollen für sichere Wege Platz machen

Neben den bereits üblichen Routen markieren die Schüler unter anderem auch Haltestellen für Elterntaxis, mehrere Hundert Meter vom Schultor entfernt. Hier sollen Mütter und Väter zukünftig ihre Kinder verabschieden. Wie gut die Bring- und Hol-Zonen bei den Eltern ankommen, kann wahrscheinlich bereits im September getestet werden. Im Rahmen der europäischen Mobilitätswoche will Georg Trocha in Kooperation mit der Schule autofreie Tage im Wohngebiet der Goethe-Schule organisieren. Geht es nach ihm, werden dann einige der Hauptstraßen für kurze Zeit zu Fahrradstraßen. Bislang gibt es noch keine in Stolberg. Für Planer und Radfahrer wäre das die Gelegenheit, die Fahrradstraße als weiteres Planungselement zu testen. Für sein Vorhaben sucht der Mobilitätsmanager nun Verbündete. Vor allem die Anwohner müssen die Entscheidungen mittragen, denn sie werden während dieser Zeit ihre Routinen ändern müssen. „Sie müssen ihre Autos in der Garage oder in ihrer Einfahrt parken und nicht mehr auf der Straße“, sagt Trocha. Ohne die Reihen an parkenden Wagen überblicken die Kinder beim Queren besser die Straße und sind auch als Radfahrer deutlich sicherer unterwegs. Aber auch die Anlieger würden von der Projektwoche profitieren. „Sie erleben, wie ruhig ihr Viertel ohne den Bring- und Holdienst sein kann“, sagt Trocha. Den Bürgermeister Stolbergs hat er dabei voll auf seiner Seite. Der oberste Entscheider der Stadt sieht in dem Wohngebiet rund um die Goethe-Schule einen möglichen Vorreiter für ein autoarmes Quartier in seiner Stadt.

Stolberg will noch viel mehr

Mit dem Projekt will sich die Schule das Label „fahrradfreundlich“ verdienen und den Radanteil an ihrem Gymnasium verändern. Aber das ist nicht alles. Nach den Erfahrungen von Verkehrsplaner Jan Leven haben solche Projekte auch eine hohe Strahlkraft. „Sie wirken immer auch in die Stadtverwaltung“, betont er. Dort ist der Wandel längst angekommen. Bereits 2017 hat eine Umfrage zur Mobilität in der Verwaltung gezeigt, dass viele Verwaltungsmitarbeiter gerne zu Fuß, per Bahn, Fahrrad oder E-Bike ins Rathaus kommen würden. Aber es gab noch Knackpunkte: So brauchten sie zum Beispiel ihre Privatwagen für Dienstfahrten. Außerdem fehlten sichere Fahrradabstellanlagen am Rathaus. Die Verwaltung hat auf die Umfrage inzwischen reagiert und mithilfe von Förderprogrammen einen eigenen Fuhrpark aufgebaut. Jetzt gibt es drei E-Dienstwagen und fünf Dienst-E-Bikes. Das zeigt Wirkung. Mehr als 20 Mitarbeiter kommen inzwischen per Rad. Zuvor waren es nur drei. Der neue Fahrradkeller ist für sie bereits zu klein geworden. Jetzt muss angebaut werden. Für Trocha sind das gute Signale und er hat mit breiter Unterstützung aus der Bevölkerung und der Politik noch viel vor. „Wenn wir es mit einem Langstreckenlauf vergleichen, sind wir gerade erst aus dem Startblock herausgelaufen. Das, was wir jetzt machen, sind unsere Anfangsschritte. Wir wollen aber mehr – viel mehr.“

Schritte auf dem Weg zur Fahrradstadt

Zu einer guten Radinfrastruktur gehören auch gute Abstellmöglichkeiten für Fahr-räder. Das schätzen besonders Pendler. Am Stolberger Bahnhof wurde die Zahl der abschließbaren Fahrradboxen von 16 auf 36 erhöht. Außerdem werden in diesem Jahr neue Radabstellanlagen an den weiterführenden Schulen aufgestellt. Als Nächstes sollen nun die Grundschüler überdachte Fahrradstellplätze bekommen. Für den Außendienst der Mitarbeiter hat die Stadt E-Bikes angeschafft. Bald können die Stolberger auch mit „Moritz“, dem ersten „freien E-Lastenrad“ der Stadt, ihren Einkauf erledigen oder mit ihren Kindern auf Tour gehen. Das Rad wird über die Touristeninformation kostenlos verliehen. 2019 hat die Stadt erstmals beim „Stadtradeln“ mitgemacht. Während im vergangenen Jahr rund 40 Teilnehmer dabei waren, waren es in diesem Jahr bereits fast 170. Außerdem veranstaltet die Stadt seit vergangenem Jahr einen Rad-Kulturtag mit Fahrradflohmarkt, Schrauberwerkstatt, Parcours und vielen weiteren Angeboten.


Bilder: Georg Trocha