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Der weite Weg zur Fahrradstadt

Berlin hat als erste Stadt Deutschlands ein Mobilitätsgesetz. Radfahren soll so komfortabel und sicher werden wie Autofahren. Wie schaut es nach der Verabschiedung des Gesetzes im Juni 2018 aus? Ein Zwischenstand. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Die Holzmarktstraße in Berlin-Mitte kennt in der Hauptstadt fast jeder, der Fahrrad fährt. 2018 wurde dort die erste Protected Bike Lane eröffnet – ein breiter grüner Radstreifen auf der Fahrbahn, der mit rot-weißen Pollern die Radfahrer vor dem schnellen Autoverkehr schützen soll. Für Politik und Verwaltung war das der Auftakt zum Umbau ihrer Stadt. Berlin soll Fahrradstadt werden. Noch ist auf den Straßen der Hauptstadt wenig von der Verkehrswende zu sehen. Trotzdem ist Berlin bundesweit ein Impulsgeber. Der Richtungswechsel zu mehr nachhaltiger Mobilität steht allen Städten und Kommunen bevor. Oft fehlt der Politik und somit der Verwaltung jedoch ein Leitbild, eine klare Vision für die nachhaltige Stadt von morgen. In Berlin ist das anders. Dort hat die rot-rot-grüne Koalition 2018 die Rahmenbedingungen für den Umbau im Mobilitätsgesetz festgesetzt. Zukünftig gilt: Der Umweltverbund, also der Rad-, Fuß-, Bus- und Bahnverkehr hat in Berlin Vorrang. Diese Entscheidung traf die Politik nicht freiwillig, sondern auf Druck der Bevölkerung. Und die wollte vor allem eines: sicher Radfahren.

Mehr Sicherheit für Radfahrer: Der Senat testet neue Maßnahmen wie Poller, grüne Farbe oder aufgepinselte Sicherheitssperren.

Mehr Geld, Personal und neue Strukturen auf Landesebene

Die Radverkehrsplanung war über Jahrzehnte ein Randthema in der Hauptstadt. 2016 waren gerade mal dreieinhalb Radverkehrsexperten für das Land und die zwölf Berliner Bezirke zuständig. Als das Mobilitätsgesetz Mitte 2018 in Kraft trat, änderte sich das schlagartig. Das Budget wurde auf 200 Millionen Euro für die Legislaturperiode erhöht und bis Ende 2019 wurden über 50 Radverkehrsexperten eingestellt. Aber weiterhin fehlt Personal. In den Bezirken sind nur 16 der 24 Stellen besetzt. „Wir spüren, wie alle Branchen, den Fachkräftemangel“, sagt Jan Thomsen, Sprecher der Verkehrsverwaltung. Allerdings setzen auch nicht alle Bezirke den Richtungswechsel der Politik um. Der Bezirk Reinickendorf hat beispielsweise die beiden freien Planerstellen noch nicht ausgeschrieben. „Die Bezirke sind politisch autark“, erklärt Thomsen. Der Ausbau der Infrastruktur liege allein in ihrer Hand. Für die bezirksübergreifenden Routen dagegen ist das Land zuständig – in Absprache mit den Bezirken.
Auf Landesebene hat sich der Berliner Senat viel vorgenommen. Bis 2030 sollen 100 Kilometer Radschnellwege geplant und gebaut werden. Das neue Radverkehrsnetz soll modernen Standards entsprechen und über zentrale Achsen alle wichtigen Punkte der Hauptstadt miteinander verbinden. Für die Fahrräder, die bislang kreuz und quer an den S- und U-Bahn-Haltestellen angeschlossen werden, soll es eigene Radstationen oder Parkhäuser geben, mit Schließfächern und sicheren Boxen für E-Bikes.
Ein zentrales Thema in der ganzen Planung ist die Sicherheit. Mit dem Mobilitätsgesetz hat die Politik Vision Zero zu ihrem neuen Leitbild erklärt – also null Verkehrstote und Schwerverletzte. Um das umzusetzen, sollen Kreuzungen komplett neu gestaltet und umgebaut werden. Viele der geplanten Vorhaben sind Neuland für die Planer und die Verwaltungen. Oftmals brauchen sie auch neue Regelwerke, Richtlinien oder Standards. Dafür ist unter anderem das Unternehmen Infravelo wichtig.

Mobilitätsgesetz aus bürgerschaftlichem Engagement

Das Berliner Mobilitätsgesetz ist ein Novum in Deutschland. Es steht für die Verkehrswende in der Hauptstadt und ist aus dem Protest der Zivilgesellschaft hervorgegangen. Ohne den „Volksentscheid Fahrrad“ würde es das Gesetz wohl nicht geben. Die 2016 gegründete Initiative forderte sichere und moderne Radwege für 8- bis 80-Jährige. Anfangs wurden die Aktivisten von Planern und Politikern noch belächelt. Auf unzähligen Infoveranstaltungen warben sie jedoch für ihre Idee und demonstrierten an Unfallorten für mehr Verkehrssicherheit oder an viel befahrenen Straßen für Protected Bike Lanes. Ihr Anliegen traf einen Nerv. Während des Wahlkampfes 2017 zum Berliner Abgeordnetenhaus sammelten sie innerhalb weniger Wochen rund 100.000 Unterschriften für ihre Sache. Damit machten sie Radverkehr zum Wahlkampfthema. Ihr Engagement mündete 2018 im Mobilitätsgesetz, dessen Rahmenbedingungen die Mitglieder vom Volksentscheid Fahrrad gemeinsam mit Verbänden, Experten und der rot-rot-grünen Landesregierung ausgehandelt haben.

Infravelo baut Berlin um

Das landeseigene Unternehmen Infravelo wurde 2017 gegründet und soll den Prozess hin zu einer besseren Radverkehrsinfrastruktur strukturieren und koordinieren. Die Bauingenieurin Katja Krause leitet Infravelo. Als gebürtige Berlinerin kennt sie die Probleme ihrer Stadt genau. Sie hat in der Hauptstadt studiert und anschließend in Berlin und Köln als ausgewiesene Tunnelspezialistin Tiefbau-Projekte betreut. Nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs war sie dort fünf Jahre lang für die darunterliegende U-Bahn-Baustelle zuständig. Da brauchte sie einen kühlen Kopf als Planerin und Krisenmanagerin. Seit 2017 sorgt sie dafür, dass der Richtungswechsel in der Verkehrspolitik auf Berlins Straßen Gestalt annimmt. Rund 30 Mitarbeiter helfen ihr zurzeit dabei. Zusammen mit ihrem Team ist sie für die bezirksübergreifenden Radverkehrsprojekte zuständig. Dazu gehört unter anderem der Bau von Radschnellwegen und Fahrradparkhäusern. Allerdings planen sie selten selbst. Stattdessen halten sie die Fäden in der Hand, vergeben Aufträge für Projekte und Machbarkeitsstudien, entwerfen Pilotprojekte und diskutieren mit den Anwohnern ihre Pläne. „Wir sind Bauherren, Planer und Kommunikatoren“, sagt Katja Krause.

„Wie sieht der Radweg der Zukunft aus?“

Grundlagenarbeit für Beschleunigung braucht Zeit

Ein großer Teil der Arbeit von Infravelo ist Neuland, und aktuell leisten sie vor allem wichtige Aufbauarbeit. Dazu gehört auch die neue Projektdatenbank für das landesweite Radwegenetz. Diese Plattform ist ein Novum. Erstmals sehen die Radverkehrsplaner auf einen Blick, was ihre Kollegen in den Nachbarbezirken aktuell planen, bauen oder bereits abgeschlossen haben. Das erleichtert allen Beteiligten, die Projekte gemeinsam zu koordinieren. Zuvor endete jede Planung an der Bezirksgrenze. Außerdem werden Vorhaben, die die Pläne des Senats vorantreiben, automatisch markiert und gebündelt. Auf diesem Weg werden beispielsweise Unfallschwerpunkte schneller umgebaut. Zeit ist ein wichtiger Faktor in Berlin. Der Bau eines Radwegs dauert hier momentan rund vier Jahre. Ingmar Streese, Staatssekretär für Verkehr, ist das zu lang, er will den Prozess verkürzen. „Die Verwaltung arbeitet teilweise seit 100 Jahren auf derselben Grundlage“, sagt er. Anhand eines fiktiven Radwegs analysiert er zurzeit mit Mitarbeitern der Infravelo und fünf Berliner Bezirken die einzelnen Arbeitsschritte. Schlussendlich wollen sie mit einer eigenen Vorlage zum Radwegebau den gesamten Prozess beschleunigen.

FixmyBerlin: Online-Plattform schafft Transparenz

Bei den Bürgern kommt von der Aufbauarbeit bislang nur wenig an. Was sie sehen, ist: Auf der Straße passiert kaum etwas. Das soll sich ändern. Im Auftrag der Senatskanzlei und des Bundesverkehrsministeriums hat das Start-up FixmyBerlin eine interaktive Karte entworfen, die sämtliche Bauvorhaben für den Radverkehr nebst Projektstand in der Hauptstadt anzeigt. Über die gleichnamige Plattform können sich interessierte Bürger nun jederzeit über die verschiedenen Bauprojekte genau informieren. „Anfangs fürchteten die Verwaltungen, dass die Beschwerden zunehmen“, sagt Heiko Rintelen, Geschäftsführer von FixmyBerlin. Aber das Gegenteil sei der Fall. Die Plattform entlastet die Behörden spürbar: „30 bis 50 Prozent ihrer Arbeitszeit haben die Mitarbeiter früher für das Beantworten von Bürgeranfragen verwendet“, sagt er. Seit es die Karte gibt, seien die Anfragen deutlich zurückgegangen.

Anhand von Bildern können Bewohner entscheiden, ob sie auf den abgebildeten Radwegen Fahrrad gerne fahren würden oder nicht. Die digitalen Lösungen dafür existieren.

Bedarfsabfrage per Mausklick

Mittlerweile nutzen die ersten Bezirke die Plattform konkret für ihre Radverkehrsplanung. Friedrichshain-Kreuzberg hat im vergangenen September die Anwohner gefragt, an welchen Stellen im Bezirk Fahrradbügel fehlten. Die Resonanz war riesig. Über 1200 Wunschstandorte gingen innerhalb von vier Wochen auf FixmyBerlin ein. Sie werden jetzt geprüft und nach und nach umgesetzt. Dialogveranstaltungen mit den Bürgern zum Bau von Radwegen findet Rintelen weiterhin wichtig. „Aber in diesem Fall reichte eine einfache Abfrage völlig aus und sprach eine viel breitere Gruppe in der Bevölkerung an.“ Momentan testet das Team eine neue Methode im Vorfeld der Radverkehrsplanung. Mit dem Berliner Tagesspiegel haben die Daten-, Kommunikations- und Verkehrsexperten eine Umfrage gestartet, die anhand von 3D-Visualisierungen sämtliche Typen an Radinfrastruktur zeigt und abfragt, auf welcher Art von Radwegen sich die Menschen am sichersten fühlen. „Einen ernsthaften Dialog kann ich digital nicht abbilden“, so Rintelen. Aber die Stadtbewohner könnten anhand der Bilder durchaus entscheiden, ob sie auf den abgebildeten Radwegen Fahrrad fahren würden oder nicht. Mit dieser Umfrage betritt das Team Neuland. Bislang gibt es kaum Untersuchungen über Menschen, die nicht Rad fahren. Damit Stadtbewohner aber zukünftig tatsächlich mehr Alltagswege auf zwei statt auf vier Rädern zurücklegen, muss man die Beweggründe kennen, die einen Umstieg verhindern. Die Ergebnisse stehen noch aus. Das Team von FixmyBerlin erhofft sich von der Umfrage ein klares Stimmungsbild, das den Planern bei ihren Entscheidungen hilft. Wenn die Ergebnisse beispielsweise zeigten, dass das Sicherheitsgefühl der Radfahrer bei einer Radwegbreite von unter 2,3 Metern problematisch sei, brauche man diese Maßnahme gar nicht erst zu bauen, sagt Rintelen. Mit der Plattform beschreitet FixmyBerlin einen neuen Weg in der Infrastrukturplanung. Auf diesem Weg kann die Verwaltung die Bevölkerung direkt fragen, was für einen Typ Infrastruktur sie sich wünscht. Das ist ein komplett neuer Ansatz. Die Bevölkerung kann an der Entwicklung neuer Standards mitwirken. Bislang ist das allerdings noch Zukunftsmusik.

Heiko Rintelen ist jeden Tag mit dem Rad in Berlin unterwegs. Mit dem FixmyBerlin-Team liefert er digitale Lösungen, die den Austausch mit den Bürgern erleichtern und den Umbau zur Fahrradstadt beschleunigen.

Lasten auf die Räder

Eine Verkehrswende ist mehr als nur der Umbau von Straßen. Um Autofahrern den Umstieg aufs Fahrrad zu erleichtern, fördert die Senatsverwaltung deshalb unter anderem auf vielen Ebenen den Einsatz von Cargobikes – beispielsweise über Kaufprämien. 200.000 Euro waren 2018 im Fördertopf. Privatleute und Gewerbetreibende konnten bis zu 1000 Euro pro Rad beantragen. Die Nachfrage war riesig. Innerhalb weniger Stunden nach dem Start der Kampagne war das Kontingent aufgebraucht. Im Folgejahr wurde das Budget dann auf 500.000 Euro aufgestockt. Aber mit den Lastenrädern ist es in der Stadt ähnlich wie mit den Autos: Eigentlich braucht man sie nur selten. In vielen Großstädten kann man deshalb inzwischen sogenannte Freie Lastenräder über Organisationen, Vereine oder den ADFC kostenlos mieten. Berlin hat mit rund 120 Cargobikes die größte Flotte bundesweit. Sie stehen vor Cafés, Vereinen, Bürgerhäusern oder bei Privatleuten. Der Ortsverband des ADFC organisiert den Verleih und kümmert sich um die Wartung. Die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz hat im vergangenen Jahr 40 Räder gespendet. „Von der sauberen, platzsparenden und leisen Mobilität profitiert der ganze Kiez“, erklärt Regine Günther, Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz das Engagement. Sie hofft, dass damit der Pkw-Verkehr reduziert wird. Eine Umfrage des Berliner ADFC zeigt: Das funktioniert. „40 bis 50 Prozent unserer Nutzer sagen, dass sie damit Autofahrten ersetzen“, erklärt Thomas Bürmann vom Berliner Ortsverband.
Wenn es nach der Senatorin geht, ist auch der Wirtschaftsverkehr bald deutlich klimafreundlicher unterwegs. Das zentrale Problem ist, dass der Online-Handel weiter boomt. In einem Pilotprojekt testete der Senat deshalb mit den fünf Großen der Paketdienstbranche Alternativen zum Sprinter. Am Mauerpark, am Rande des Prenzlauer Bergs, starten seit Frühjahr DHL, DPD, GLS, UPS und Hermes ihre morgendliche Fahrt zum Kunden mit dem Lastenrad statt mit dem Dieseltransporter. Damit das überhaupt funktioniert, brauchen die Dienstleister kleine Zwischendepots im Zustellbezirk. Am Mauerpark hat jeder Lieferdienst zwar eigene Container, aber die Zusteller teilen sich die Lagerfläche. Das gibt dem Projekt auch seinen Namen: Kooperative Nutzung von Mikro-Depots, kurz Komodo. Die Bilanz nach den ersten zwölf Monaten war positiv. Mit ihren elf Cargobikes haben die Fahrer 38.000 Kilometer mit Dieselfahrzeugen ersetzt und damit effektiv elf Tonnen des Treibhausgases CO2 eingespart. Eigentlich war das Projekt nur auf ein Jahr ausgelegt. Aber die Laufzeit wurde immer wieder verlängert, zuletzt bis März 2020. Laut Christian Kaden, der Komodo für die LogisticNetwork Consultants GmbH betreut, soll es noch weitergehen. Allerdings müsse das Container-Dorf umziehen, da der Standort gebraucht wird.

Vision Zero: Safety first

Neben dem Aufbau der Infrastruktur ist „Vision Zero“ ein zentraler Pfeiler des Mobilitätsgesetzes. Das gilt auch für den Rad- und Fußverkehr. Von diesem Ziel ist Berlin bislang allerdings noch weit entfernt. Zwar sind die Zahlen der Verkehrsopfer 2019 leicht zurückgegangen, aber bereits in den ersten sechs Wochen des Jahres sind in der Metropole fünf Radfahrer gestorben. Drei von ihnen wurden von einem abbiegenden Bus beziehungsweise abbiegenden Lkws übersehen, überrollt und getötet, einer von einem Raser. In der Vergangenheit hatten tödliche Unfälle bezogen auf die Infrastruktur selten Konsequenzen. Der Flüssigkeit des Autoverkehrs wurde Priorität vor der Sicherheit zugebilligt. Laut Staatssekretär Streese gilt das in Berlin nicht mehr. „Verkehrssicherheit geht vor Schnelligkeit“, sagt er. Gleich am Tag nach dem tödlichen Unfall am Kottbusser Tor, wo eine 68-jährige Radfahrerin von einem rechtsabbiegenden Lkw-Fahrer mit seinem Fahrzeug überrollt und getötet wurde, prüfte eine Kommission der Berliner Verkehrsbehörde die Verkehrssituation vor Ort. „Infolgedessen haben die Vertreter an dieser Kreuzung Tempo 30 angeordnet“, sagt Streese. Außerdem sollen künftig die Grünphasen für Radfahrer und Kraftfahrzeuge an dieser Ampel getrennt werden. Damit sollen Rechtsabbiegeunfälle komplett ausgeschlossen werden.

Druck aus der Zivilgesellschaft u. a. mit Blumen und Ghostbikes sowie gezielten Aktionen, wie von Changing Cities.

Ziel: neuer Berlin-Standard für sichere Kreuzungen

Viele Kreuzungen sind in der Me­tropole mit dem zunehmenden Auto- und Radverkehr überlastet. Allerdings fehlten bislang Ideen zum Umbau. Deshalb haben sich die Berliner im vergangenen Jahr Rat aus den Niederlanden geholt. Dort werden seit Jahren die sogenannten sicheren Kreuzungen nach einem speziellen Design gebaut. In einem Workshop haben die Planer die verschiedenen Entwürfe diskutiert und eigene Muster-Kreuzungen für die 3,7-Millionen-Einwohner-Metropole entwickelt. Drei bis vier der Entwürfe sollen weiter ausgearbeitet und dann als Pilotprojekte umgesetzt werden. Ziel ist es, mittelfristig neue Standards für sichere Kreuzungen in der Hauptstadt zu entwickeln.

Austausch mit Bürgern: Infravelo stellt jedes Vorhaben in den Bezirken zur Diskussion.

Konflikte zwischen Radaktivisten und Verkehrsplanern

Vielen Radfahrern und Radaktivisten in der Hauptstadt dauern die aktuellen Prozesse zu lange. Ihnen fehlen sichtbare Ergebnisse auf der Straße. Insbesondere den Radaktivisten von Changing Cities. Ohne die Nachfolgeorganisation des Volksentscheids Fahrrad würde es das Mobilitätsgesetz nicht geben. Ihre zehn Forderungen sind das Fundament für den Teil zum Radverkehr. Ihre Sprecherin Ragnhild Sørensen äußert deutlich Kritik: „Was bislang gebaut wurde, schafft ein Planer in einem Jahr“, sagt sie. Tatsächlich erscheint die Ergebnisliste bislang von außen betrachtet relativ kurz: Es gibt gerade mal eine Handvoll Protected Bike Lanes in der Stadt, 21 Kilometer neue grün markierte Radwege und 13.500 neue Fahrradbügel. „Punktuell hat sich etwas verbessert”, sagt sie, doch die meisten Radfahrer auf Berlins Straßen spürten davon kaum etwas.
„Wir sind in der Hochlaufphase, in fünf Jahren sieht die Stadt ganz anders aus“, betont dagegen Jan Thomsen, Sprecher der Verkehrssenatorin Regine Günther. Neben der Planung müssten viele Gespräche geführt werden mit Vereinen, Behörden, Verbänden und Anwohnern. „Für einen sieben Kilometer langen Radfernweg haben wir für die Grundlagenermittlung und Vorbereitungen rund 50 Gespräche organisiert“, erläutert sie. Der Naturschutz, aber auch Verbände wie der Fuß e.V. oder Behördenvertreter, beispielsweise der Denkmalschutz, müssten informiert und gehört werden. „Wir haben in Deutschland geregelte Verfahren, wo alle angehört werden. Das ist ein wertvolles Gut.“

Berliner Initiativen bleiben eine Erfolgsgeschichte

Trotz des verzögerten Starts in Richtung Fahrradstadt sind das Mobilitätsgesetz und die Bewegung Volksentscheid Fahrrad Erfolgsgeschichten. Der neue Verein Changing Cities berät als politisch unabhängige Kampagnenorganisation inzwischen bundesweit über 20 Initiativen, die nach ihrem Vorbild ebenfalls per Volksbegehren die Politik dazu drängen, den Radverkehr auszubauen. Berlin ist in Deutschland aktuell Vorbild und Vorreiter. Hier werden die Grundlagen und Standards für eine moderne Radverkehrsplanung geschaffen. Auch wenn der Weg zur Fahrradstadt noch weit ist.

Tipps und Erfahrungen

von Katja Krause, Leiterin der Berliner Infravelo GmbH

Was raten Sie Ihren Kollegen?
Haben Sie keine Scheu vor komplexen, langwierigen Projekten, sondern starten Sie mit diesen. Wir haben mit der Planung der Radschnellwege begonnen. Inzwischen liegen erste Ergebnisse der Machbarkeitsstudien vor und wir stellen unsere Vorhaben den Anwohnern in den Bezirken vor. So dauert der Planungsprozess am Anfang zwar länger, sichtbare Radinfrastruktur auf die Straße zu bringen, aber im Ergebnis schaffen wir langfristig verbesserte Bedingungen.

Wie kann der Ausbau des Radwegenetzes beschleunigt werden?
In Berlin fehlt uns immer noch Personal. Wir brauchen dringend qualifizierte Bewerber. Gerne auch aus anderen Infrastrukturbereichen wie dem Autobahn- und dem Flughafenbau. Außerdem brauchen wir Planungssicherheit. Das heißt: Die Investitionen sollten kontinuierlich auf einem hohen Niveau bleiben, damit wir Tempo beim Bau der Radinfrastruktur sicherstellen können. Momentan befindet sich ein Großteil unserer Projekte in Planung.

Wie reagiert die Bevölkerung auf den Umbau vor ihrer Haustür?
Das Interesse an den Bürgerveranstaltungen in den einzelnen Bezirken ist stets sehr groß. In der Regel kommen 120 Bürgerinnen und Bürger – die zu Fuß, mit Fahrrad und anderen Verkehrsmitteln unterwegs sind. Sie haben großes Interesse daran, was sich in ihrem Bezirk verändern wird. Die Atmosphäre ist sehr konstruktiv. Wir informieren bereits im Vorfeld, wo zum Beispiel die Radschnellverbindung welchen Verlauf nehmen könnte, und fordern die Bewohnerinnen und Bewohner auf, uns ihre Fragen und Anmerkungen zu geben. Alle Hinweise werden aufgenommen und von den Fachplanungsteams kommentiert und in der Planung berücksichtigt. Außerdem veranschaulichen wir anhand von Schaubildern die Umgestaltung des Straßenraums. Wir wollen den Anwohnern zeigen, dass der Umbau der Straße oder die Umverteilung der Flächen attraktiv sein kann. Das funktioniert gut. Berlin hat ein neues Leitbild zur Mobilität und wir helfen dabei, es umzusetzen.


Bilder: Infravelo, FixmyBerlin, Andrea Reidl, Changing Cities