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Die Stadt neu per Rad erleben

Zwischen Sightseeing und Lifestyle: Radtouren in der Stadt sind eine Nische – aber mit viel Potenzial. In Zeiten von Corona könnte daraus ein neuer Markt entstehen. Eine Tour durch Hamburg und Erfahrungen aus Bremen und Berlin machen Lust auf mehr. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Sightseeing per Fahrrad: Entspannter kann man eine Stadt kaum erkunden. Die Guides präsentieren die Sehenswürdigkeiten oft aus ungewöhnlichen Perspektiven.

Volle Strände, leere Innenstädte: Corona trifft vor allem die Städte schwer, die sonst von Tourismus, Messen und Veranstaltungen profitieren. Die Tourismusbranche muss insgesamt umdenken und neue attraktive Angebote suchen. Experten sehen den Radtourismus hier als weiteres Standbein. Das Segment boomt zwar seit Jahren, allerdings vor allem im Bereich der Radreisen. City-Sightseeing per Fahrrad für Urlauber und Thementouren für Einheimische könnten gezielt weiterentwickelt und vermarktet werden. Und auch das Label „Fahrradstadt“ wirkt auf viele Reisende anziehend.

Entspannt die Stadt kennenlernen

Die Wetter-App hat für den Tag eine Mischung aus Wolken und Sonne versprochen. Perfekte Bedingungen für eine Sightseeing-Tour per Fahrrad. Vier Deutsche und drei Niederländer warten an diesem Juli-Morgen vor der Tür des Tourenanbieters „Hamburg City Cycles“ auf ihre Leihräder. Seit 2009 bietet Lars Michaelsen Sightseeing-Touren per Rad in der Hafenstadt an. Als er startete, war sein Angebot noch ein Novum. „Die ersten drei Jahre mussten wir immer wieder erklären, dass wir keine Sportreisen veranstalten. Die Leute kannten das Produkt nicht“, sagt er. Stramme Waden brauchen die Teilnehmer nicht, um mit den Guides mitzuhalten. In dreieinhalb Stunden legen die Gäste nur rund 13 Kilometer zurück. „Das würde man auch zu Fuß schaffen“, sagt Michaelsen. Mit dem Rad ist es allerdings deutlich entspannter.
Unser erster Stopp an diesem Tag liegt 20 Meter oberhalb der berühmten Hafenstraße und des Alten Elbtunnels. Das Gebäude mit dem riesigen Kuppeldach und den imposanten Steinportalen markiert den Eingang zu dem 420 Meter langen Tunnel. Er wurde 1911 für die Hafenarbeiter eröffnet. Sie sollten bei jedem Wetter und zu jeder Tages- und Nachtzeit sicher die Elbe queren können. Im Sommer 2019 wurde er für Autos gesperrt. Seitdem haben Fußgänger und Radfahrer den Zubringer von der einen Elbseite zur anderen komplett für sich. Das kommt gut an. Nun sind dort doppelt so viele Menschen unterwegs wie zuvor.

Sicher unterwegs trotz fehlender Routen

Auf Schleichwegen lotst uns Tourenleiterin Emilie zur Elbphilharmonie. So entspannt sind Radfahrer selten in der Hafenstadt unterwegs. Hamburg will zwar Fahrradstadt werden, aber von dem Ziel sind die Planer noch weit entfernt. Viele Pendler meiden mit dem Rad das Zentrum, weil sie das Fahren auf den schmalen Radstreifen im Berufsverkehr abschreckt. Die Guides umfahren diese Strecken. „Wir fahren lieber 200 Meter mehr und eine weitere Kurve als auf den Radstreifen“, sagt Michaelsen. Schließlich sollen sich auch ungeübte Radfahrer während der Tour sicher fühlen.

77 %

der Radreisenden wollen nicht nur abseits der Zentren
unterwegs sein, sondern Kultur und Bewegung verbinden,
wie die ADFC-Radreiseanalyse 2020 zeigt.


Mittendrin statt nur Zuschauer

An diesem Morgen ist wenig los auf den Straßen. Die Touristenströme sind noch nicht zurück in der Hafenstadt. Selbst der Kai ist leer. Wir stoppen an der Elbphilharmonie, in der neuen Hafen City und am Rand der Speicherstadt, dem größten zusammenhängenden Lagerhauskomplex der Welt. Der Duft von gerösteten Kaffeebohnen weht herüber, eine Barkasse fährt laut dröhnend durch den schmalen Zollkanal und die Möwen ziehen kreischend ihre Kreise. Das ist Hamburg – hautnah. Michaelsen ist überzeugt: „Wer einmal mit dem Rad eine Stadt erkundet hat, setzt sich anschließend nicht mehr in einen Bus“. Denn beim Radfahren bekomme man mehr von der Atmosphäre einer Stadt mit. „Man erfasst die Stadt mit allen Sinnen“, sagt er. Außerdem ist man flexibler. Auf zwei Rädern schafft man zwar weniger Sehenswürdigkeiten, dafür sieht man nicht nur seine Seite der Busreihe, sondern das komplette Stadtbild. Mehr noch: Man wird ein Teil von ihr. Für eine kurze Zeit ist man mittendrin und schwimmt im Strom der Gruppe mit. Will man sich im Vorbeifahren etwas genauer ansehen, reduziert man das Tempo oder hält spontan an.

Entdeckerreise auf verwinkelten Pfaden

Ein weiterer Vorteil: Man kann per Rad durch kleine Gassen fahren, die für den Autoverkehr gesperrt sind. Die Deichstraße ist so eine. Hier soll 1842 der „Große Brand“ ausgebrochen sein, der weite Teile der Altstadt und das alte Rathaus zerstört hat. Dort machen wir Kaffeepause. Im „Café am Fleet“, einem Mix aus Café und Museum für außergewöhnliche Blechdosen und Reklameschilder. „Urig, wie ein Kolonialwarenhändler aus meiner Kindheit“, sagt eine Tour-Teilnehmerin aus Karlsruhe. Sie ist mit einer Freundin für drei Tage in Hamburg. Zuvor waren sie auf Rügen. „Eigentlich hatten wir zu dritt Spanien gebucht“, sagt sie. Aufgrund von Corona wurde die Reise storniert und sie mussten kurzfristig umplanen. Ein Reisebüro hat ihnen die Fahrt auf die Ostseeinsel und nach Hamburg organisiert – ebenso die Stadtrundfahrt per Rad.

„Alles, was mit Fahrrad fahren zu tun hat, ist angesagt, und das nicht erst seit Corona.“

Christian Tänzler, Pressesprecher VisitBerlin

Wachstum in der Nische

„Die Hälfe der Kunden bucht im Voraus, die anderen kommen spontan“, sagt Michaelsen. Die Kompakt-Tour startet jeden Morgen um 10.30 Uhr. Zwar hat Michaelsen auch eine englische Variante im Programm, aber „Tourismus in Hamburg ist zu 75 Prozent deutschsprachig.“ Viele Gäste kämen aus dem Münsterland und Sauerland. Und es werden immer mehr. Der Städtetourismus in Hamburg ist in den vergangenen fünf Jahren jedes Jahr um fünf Prozent gewachsen. Das spürt auch Michaelsen. Sein Geschäft lief gut vor Corona. Neben den Touristen buchten viele Vereine, Firmen oder Schulklassen bei ihm Führungen für Wandertage oder Betriebsausflüge. Hinzu kamen Gruppen, die Geburtstage feierten, oder Junggesellenabschiede. Sie machen im Regelbetrieb die Hälfte seines Umsatzes aus. Obwohl sein Geschäft stetig wächst, sagt er: „Sightseeing mit dem Fahrrad ist immer noch eine Nische.“ Das Segment ist klein, aber ausbaufähig und bietet gerade in der aktuellen Zeit eine gute Alternative.

Städte müssen schnell umdenken

„In vielen Städten findet jetzt in der Branche das große Umdenken statt, um die deutschen Touristen anzusprechen“, sagt Iris Hegemann vom Deutschen Tourismusverband (DTV). Die internationalen Besucher aus England, Italien oder Spanien dürfen oder können dieses Jahr nicht in die Städte reisen. Hamburg fehlen die Besucher der vielen Musicals, Festivals und Messen. Sie machen etwa zwei Drittel aller Übernachtungsgäste aus. Anfang Juli lag die durchschnittliche Auslastung der Hotels in der Hansestadt bei 20 Prozent. In anderen Städten wie Berlin sieht es nicht besser aus. Diese großen Zahlen können natürlich nie durch Radtouristen ersetzt werden. Aber seit Jahren zeigt sich: Der Radtourismus liegt im Trend. „Er ist ein flächendeckendes Thema und wächst in allen Regionen. Die Städte werden sich dem Thema mehr widmen müssen“, sagt die Expertin. 77 Prozent der Radreisenden wollen nicht nur abseits der Zentren unterwegs sein, sondern Kultur und Bewegung verbinden, wie die ADFC-Radreiseanalyse 2020 zeigt. Aber bevor für sie ein Abstecher in die Städte attraktiv ist, müssen diese laut Hegemann noch viel Basisarbeit leisten.

Bremen lockt mit App

Zur Basis für attraktive Touren gehört neben einer sicheren und selbsterklärenden Infrastruktur für Radfahrer auch ein digitales Routenangebot. „Radtouristen sind oftmals Individualisten“, weiß die DTV-Expertin. Sie seien gerne auf eigene Faust unterwegs. Bremen hat das bereits vor Jahren erkannt und reagiert. Die Wirtschaftsförderung hat mit „Bike it“ eine Fahrradnavigations-App für die Region bei Bike Citizens aus Graz in Auftrag gegeben, die sich jeder Radler kostenlos herunterladen kann. Neben der Navigation und einer Radroutenplanung gibt es dort bereits 15 Thementouren. Die richten sich nicht nur an Städtetouristen auf Sightseeing-Tour oder Reiseradler, die die Stadt erkunden wollen: „Bike it“ ist vor allem auch für Neubürger interessant, die ihre Stadt entdecken wollen, oder Einheimische, die nach neuen Wegen vor der eigenen Haustür suchen.

„Fahrradstadt“ als langfristiger Publikumsmagnet

In Berlin gibt es sowohl Online-Angebote als auch geführte Touren. 163 km umfassen die Themenrouten für Radfahrer laut Christian Tänzler, Pressesprecher von VisitBerlin. Manche der Wege seien gut ausgebaut, manche müssten saniert werden. Für ihn hat Radtourismus aber zukünftig noch eine andere Facette. „Alles, was mit Fahrrad fahren zu tun hat, ist angesagt“, sagt er, „und das nicht erst seit Corona.“ Deshalb ist für ihn das Label „Fahrradstadt“ langfristig ein Markenzeichen für grüne, lebenswerte urbane Zentren. Berlin arbeitete bereits seit Jahren mit zunehmendem Erfolg daran, dieses Image zu erreichen. „Radfahren ist hier Teil des Lifestyles geworden“, der Anteil der Radfahrer wachse seit Jahren. Die vergangenen Monate haben dieses Bild international noch einmal verstärkt. Die Bilder der Pop-up-Bike-Lanes gingen um die Welt. Berlin wurde zum Vorreiter für eine krisensichere Radinfrastruktur. „Die Menschen sehen: In Berlin fahren alle Fahrrad“, sagt Tänzler. Das wollten Touristen während ihres Aufenthalts ebenfalls erleben, zum Teil des Lebensstils zu werden und auf Rädern durch die Kieze zu cruisen. Auf den Pop-up-Bike-Lanes sei das noch einfacher und bequemer als zuvor. Von diesen Gästen will er künftig noch mehr in die Stadt locken. Die Reiseradler seien bereits da. „Ich habe noch nie so viele Langstreckenradler in der Stadt gesehen wie in den vergangenen Wochen.“ Sie blieben ein bis zwei Nächte und radelten dann weiter, oftmals in Richtung Norden in die nächste Fahrradstadt: Kopenhagen.


Bilder: Thomas Kakareko, Andrea Reidl,