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Damit die Verkehrswende Fahrt aufnehmen kann, braucht nicht nur der Radverkehr deutlich mehr Platz auf der Straße. Hamburg will künftig mit 10.000 selbstfahrenden Shuttle-Diensten den privaten Autobesitz überflüssig machen. Aber noch ist das autonome Fahren längst nicht alltagstauglich. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Der Holon Mover (oben) soll in einigen Jahren als autonom fahrendes Shuttle durch die Straßen Hamburgs fahren. Den Fahrgästen wird mehr Komfort versprochen. Etwa mit besseren Sitzen wie im Moia-Taxi (unten).

Die Zahlen der neuesten Mobilitätserhebung klingen vielversprechend: In Hamburg fahren die Menschen weniger Auto. Im Jahr 2022 wurden 5 Millionen weniger Pkw-Kilometer gezählt als noch 2017. Im selben Zeitraum wuchs der Radverkehr: Rund 2 Millionen mehr Kilometer ist Hamburgs Bevölkerung im selben Vergleichszeitraum geradelt. Das hört sich nach viel an, jedoch ist im Stadtverkehr davon bislang kaum etwas zu spüren. Auf den Hauptrouten und an den Verkehrsknotenpunkten sind zwar mehr Radfahrerinnen unterwegs, aber auch dort bestimmen die Kraftfahrzeuge weiterhin das Stadtbild. Zum Beispiel am Dammtorbahnhof. Hier rauschen die Pkw permanent an den Radelnden vorbei, während die neuen Radwege und Aufstellflächen, kaum gebaut, schon wieder zu schmal sind für die vielen Fahrradfahrenden. Szenen wie am Dammtorbahnhof gibt es überall in Hamburg. Bis 2030 will der Hamburger Senat das Kräfteverhältnis auf den Straßen ändern. Dann sollen nur noch 20 Prozent der Wege mit dem Auto zurückgelegt werden, 12 Prozent weniger als zurzeit, und der Anteil des Radverkehrs soll im besten Fall auf 30 Prozent steigen. Die Ziele sind ehrgeizig. Um sie zu erreichen, setzt Hamburg auf ein neues Verkehrskonzept, den Hamburg-Takt. Damit soll der Umweltverbund – also der Bus-, Bahn- Rad- und Fußverkehr sowie das Sharing – so attraktiv werden, dass der eigene Wagen zunehmend überflüssig wird. Mit dem Hamburg-Takt gibt der Senat seinen Bürgerinnen ein Versprechen. Im Jahr 2030 sollen sie rund um die Uhr unabhängig vom Wohnort innerhalb von fünf Minuten das Mobilitätsangebot erreichen, das zu ihrer jeweiligen Lebenssituation passt. Das kann ein Car-Sharing-Auto für die Fahrt ins Grüne sein, ein Leihrad oder ein E-Scooter für die Fahrt zur U-Bahnstation oder eine neue Bus- oder Bahnhaltestelle, die zu Fuß in fünf Minuten erreichbar ist. Damit das klappt, wird der ÖPNV in der Hansestadt in den kommenden Jahren drastisch ausgebaut. Der Takt einiger U- und S-Bahn-Linien soll mithilfe der Digitalisierung auf einen 100-Sekunden-Rhythmus erhöht werden, einige Züge und Bahnsteige werden verlängert, damit mehr Menschen in einem Zug Platz finden, und außerdem werden neue Bahnlinien gebaut. Die wichtigste Stellschraube, um den Privatwagen zu ersetzten, soll in dem Mobilitätsmix aber ein komplett neues Angebot auf der letzten Meile werden.

„Autonome Autos müssen besser sein als menschliche Fahrer, bevor sie im Stadtverkehr eingesetzt werden.“

Philipp Kosok, Verkehrsforscher bei der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Berlin.

10.000 autonome Shuttle-Dienste

Die letzte Meile ist der neuralgische Punkt im Hamburg-Takt. Diese Lücke im ÖPNV-Angebot will der Senat bis 2030 mit autonomen On-Demand-Angeboten schließen. 10.000 selbstfahrende Robotaxis und Shuttle-Busse sollen dann im gesamten Stadtgebiet unterwegs sein und den Privatwagen überflüssig machen. Bei Bedarf sollen sie die Kunden abholen und zum gewünschten Ziel bringen. Im Prinzip funktionieren sie wie Sammeltaxis, nur orientieren sie sich preislich eher am ÖPNV.
Der Kopf und Treiber des Projekts der autonomen Shuttle-Dienste ist der Chef der Hochbahn, Henrik Falk. Er ist überzeugt, dass der Ausbau von Bussen und Bahn allein nicht ausreicht für die Mobilitätswende. „Selbst, wenn wir den ÖPNV bis zum Erbrechen ausbauen“, sagte er beim Stadtgespräch der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Hamburg, sei das System zu starr und unflexibel, um Autobesitzerinnen davon zu überzeugen, dass ihr Privatwagen überflüssig ist. Autonome Taxis und die neuen selbstfahrenden Shuttle-Busse hingegen seien flexibel und deutlich komfortabler als Bus oder S-Bahn und damit attraktiver für viele Autofahrerinnen. Sie könnten die Lücke zwischen ÖPNV und Privatwagen schließen.

Mit dem Robotaxi durch San Francisco

Aber ist die Technik fürs autonome Fahren überhaupt schon ausgereift? Aus Falks Sicht ja. Im Sommer war er auf Delegationsreise in San Francisco. Dort sind bereits Robotaxis unterwegs und Falk ist mitgefahren. „Die Technologie ist da“, sagt er. Die Software kutschierte ihn sicher durch den Stadtverkehr, beachtete Ampeln, bog mal nach rechts, mal nach links ab und das alles so sicher, dass sich der Hochbahn-Chef nach wenigen Minuten langweilte. Jetzt gehe es darum, der Technologie die „edge cases“ auszumerzen. Also die Grenzfälle zu finden, die vielen Situationen außerhalb der Norm, die zu Fehlern führen im Alltagsbetrieb. Dass die alles andere als trivial sind, zeigt ebenfalls der Blick nach San Francisco.
Seit Mitte August durften „Cruise“ von General Motors und der Google-Ableger Waymo in der kalifornischen Hafenstadt mit ihren Robotaxis rund um die Uhr einen kostenpflichtigen Taxiservice anbieten, ohne Operator an Bord. Die Entscheidung war umstritten. Den Vertreterinnen der Stadtregierung, den Rettungskräften und den Mitarbeiterinnen der Verkehrsbetriebe war das zu früh. Immer wieder hatten sie erlebt, dass technische Probleme die Fahrzeuge lahmlegten und den Verkehr blockierten. Wenige Tage nach der Einführung blieben dann auch gleich mehrere Cruise-Fahrzeuge liegen. Ein großes Musikfestival hatte das Mobilfunknetz in dem Stadtteil überlastet, weshalb die Fahrzeuge nicht per Funk umgeleitet werden konnten. Sie blieben stehen und blockierten die Straßen, ein weiteres Fahrzeug blieb im nassen Beton stecken.

Ein fahrerloses Auto der Robotaxi-Firma Cruise fährt im August durch die Straßen von San Francisco. Damit ist es vorerst vorbei.

Fehlerhafte Technik hat schwerwiegende Folgen

Das klingt noch nach Kinderkrankheiten. Doch im Oktober verletzte allerdings ein Cruise-Fahrzeug eine Frau schwer. Dem Unfallbericht zufolge wurde die Fußgängerin zunächst von einem von Menschen gesteuerten Fahrzeug angefahren und vor das selbstfahrende Auto geschleudert. Das Robotaxi blieb zwar sofort stehen, versuchte dann aber, an den Straßenrand zu fahren. Dabei sei die Frau einige Meter mitgeschleppt worden. Die kalifornische Verkehrsbehörde DMV hat der General-Motors-Tochter umgehend verboten, fahrerlose Taxis durch die Stadt zu schicken. Seitdem muss in den Fahrzeugen wieder ein Mensch am Steuer sitzen, der im Notfall eingreifen kann. Die Waymo-Fahrzeuge dürfen weiter fahrerlos durch San Francisco fahren.
„Autonome Autos müssen besser sein als menschliche Fahrer, bevor sie im Stadtverkehr eingesetzt werden und bevor die Gesellschaft die Technik akzeptiert“, sagt Philipp Kosok, Verkehrsforscher bei der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Berlin. Aktuell sei die Technik noch in der Entwicklungsphase, sie funktioniere nicht fehlerfrei. In der jetzigen Phase müssten die Fahrzeuge jede einzelne Sondersituation erlernen. Das heißt: Sie muss programmiert werden. „In der Regel überschätzen die selbstfahrenden Autos die Gefahren. Sie sind übervorsichtig, bleiben stehen, wenn eine Plastiktüte über die Straße weht, und blockieren den Verkehr“, sagt Kosok.

„Wir brauchen Radwege für eine Fahrradstadt.“

Anjes Tjarks
Senator für Verkehr und Mobilitätswende

Shuttlebusse auf festgelegten Routen

Er rechnet damit, dass die ersten selbstfahrenden Fahrzeuge in vier bis fünf Jahren in Deutschland zugelassen werden. „Aktuell gibt es noch kein Fahrzeug, das eine uneingeschränkte Zulassung fürs autonome Fahren auf deutschen Straßen hat“, sagt der Verkehrsforscher. Die rechtliche Grundlage sei aber bereits vorhanden. Im Jahr 2021 hat die Bundesregierung autonomes Fahren auf Level-4-Niveau erlaubt. Das heißt, dass kleine autonome Shuttle-Busse auf genau festgelegten Strecken oder in vorgegebenen Betriebsbereichen unterwegs sein dürfen.
Erste Versuchsfahrzeuge für Level 4 sind seit einigen Jahren mit einer Begleitperson an Bord in verschiedenen Kommunen in Deutschland unterwegs. Ein Sechssitzer pendelt beispielsweise seit dem Jahr 2017 im bayerischen Bad Birnbach im Halbstundentakt durch die Innenstadt. Zunächst nur mit acht Kilometern pro Stunde auf einem 700 Meter langen Streckenabschnitt. Mittlerweile ist er mit Tempo 17 unterwegs und fährt 2000 Meter zum Bahnhof. Seitdem hat sich die Zahl der Fahrgäste schlagartig verdoppelt.

Eine echte Alternative für ländliche Regionen

„Der Einsatz von autonomen Shuttles in ländlichen Gemeinden oder am Stadtrand ist ideal“, sagt Kosok. Wer dort wohnt, braucht rund um die Uhr einen verlässlichen Transport zum Bahnhof. Sei der gewährleistet, sei das Tempo des Fahrzeugs zweitrangig. „Es geht darum, den Menschen überhaupt einmal ein Angebot zu machen“, erklärt er. Und in dem Geschwindigkeitsbereich 15 bis 20 Kilometer pro Stunde könnten die autonomen Shuttle-Busse auf bekannten Routen inzwischen gut und zuverlässig agieren.
Wenn alles nach dem Plan der Senatsverwaltung geht, kurven 2024 die ersten selbstfahrenden Fahrzeuge mit einem Operator an Bord durch die Hansestadt. Die Hochbahn entwickelt mit ihren Projektpartnern, dem Unternehmen Holon und Volkswagen Nutzfahrzeuge (VWN), zwei eigene Fahrzeuge. Das Holon-Shuttle kann dem aktuellen Prototyp zufolge bis zu 15 Passagiere mitnehmen und über eine automatisierte Rampe auch Rollstuhlfahrer. Der Bund fördert das Projekt mit dem Namen ALIKE mit 26 Millionen Euro.
Ein Teil des Geldes soll auch dazu verwandt werden, die Akzeptanz der Bevölkerung für die neue Technik zu stärken. Das Thema polarisiert. Laut einer Statista-Erhebung fehlt 42 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger das Vertrauen in autonom fahrende Fahrzeuge. Sie sind skeptisch und wollen die Verantwortung beim Fahren nicht komplett an ein elektronisches System abgeben.

Die Mobilitätswende in Hamburg soll unter anderem mithilfe von Tausenden autonom fahrenden Kleinbussen gelingen. Dazu gehört auch der Sammeltaxidienst Moia.

Shuttle-Dienste können nur autonom fahren

Hier hat Hamburg noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Denn der Erfolg des Hamburg-Takts ist eng verknüpft mit dem Erfolg der selbstfahrenden Robotaxis und Shuttle-Dienste. Fest steht bereits heute: Mit Personal wird Hamburg die Fahrzeuge nicht auf die Straße schicken können. Das wäre zu teuer und außerdem fehlen die Fahrer.
Bewähren sich die autonomen Shuttles jedoch im Praxistest, bekommt der ÖPNV mit den On-Demand-Angeboten eine zusätzliche Säule und obendrein eine ganz neue Qualität. Die Dienste könnten nicht nur in den dünn besiedelten Randgebieten Autofahrten ersetzen, sondern auch im Stadtgebiet. In vielen Städten gibt es Lücken im ÖPNV-Netz. In Hamburg funktionieren die Querverbindungen zwischen manchen Stadtteilen nicht gut. Dort könnten die selbstfahrenden On-Demand-Angebote den Anwohner*innen lange Umwege mit dem ÖPNV ersparen. „Damit rückt der Service bei der Fahrtzeit und der Flexibilität deutlich näher an den privaten Pkw heran. Das autonome Shuttle kann also zu einem echten Gamechanger werden“, sagt Kosok.
Die kommenden Jahre werden zeigen, ob der Hamburg-Takt funktioniert und die autonomem On-Demand-Dienste tatsächlich die Pkw-Flotte reduzieren. Der Platz, den sie freiräumen könnten, wird in Hamburg dringend für die Verkehrswende gebraucht. Beispielsweise für mehr Grün, um Extremwetter abzupuffern, für mehr Fußverkehr, aber auch, um den Radverkehr zu steigern. Hamburgs Senator für Verkehr und Mobilitätswende Anjes Tjarks bringt es auf den Punkt: „Wir brauchen Radwege für eine Fahrradstadt“, sagte er beim Stadtgespräch der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Hamburg. Nach den aktuellen Regelwerken könnten bestenfalls Radwege für eine weiterhin autozentrierte Stadt gebaut werden. Mit solchen Radwegen wird die Hansestadt ihr Ziel von einem Radverkehrsanteil von bis zu 30 Prozent womöglich nur schwer erreichen.


Bilder: Holan, Moia, Cruise, Daniel Reinhardt

Genug sichere Plätze zum Abstellen sind für mehr Fahrradmobilität unverzichtbar. Gute Konzepte und Produkte gibt es, bislang hapert es hierzulande aber noch an der Umsetzung. Experten fordern angesichts neuer Fördermöglichkeiten mehr Dynamik. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


Fahrräder und E-Bikes nehmen als städtische Verkehrsmittel immer mehr Fahrt auf, doch beim Abstellen wird es schwierig. Das Fahrrad vor das Haus stellen? Unsicher und auf den oft knappen Gehwegen wird es noch enger. Oder lieber in den Keller tragen? Insbesondere bei schwereren E-Bikes ein sehr mühsames Unterfangen. Und am Ziel? Kann man wenigstens dort sein teures Rad sicher abstellen – bei Bedarf auch über Nacht? Ganz reale Probleme im Alltag. Der Bedarf nach sicheren Parkmöglichkeiten und Abstellanlagen nimmt deutlich zu und wird sicher auch in den kommenden Jahren nicht nachlassen.

Begehrtes Diebesgut

Die Verkaufspreise für Fahrräder und E-Bikes liegen nach den Angaben der Branchenverbände bei Premium-Fachhändlern in der Regel zwischen rund 800 und 4.000 Euro. Noch einmal deutlich darüber liegen mit über 5.000 Euro sowohl E-Cargobikes als auch die von Pendlern geschätzten schnellen E-Bikes der 45-km/h-Klasse. Für Diebe lohnenswert ist auch der Teilediebstahl. Allein die Kosten für einen E-Bike-Akku belaufen sich auf 600 Euro und mehr und auch ein leistungsstarker Scheinwerfer kann schon mal 200 bis 300 Euro kosten.

Neue Mobilität braucht Diebstahlschutz

Andreas Hombach vom Abstellanlagen-Hersteller WSM betont die wichtige Rolle von E-Bikes für die Mobilitätswende: „Das E-Bike hat die neue Mobilität vor allem in Städten, in denen das Fahrrad bislang aus topografischen Gründen nicht angekommen war, vielfach verstärkt.“ Wie steht es aber mit Angeboten zum sicheren Abstellen im öffentlichen Raum? Schon im persönlichen Umfeld kennt wohl jeder Alltagsradler Orte, die er mit einem schlechten Gefühl anfährt, da es dort keine ausreichenden Möglichkeiten gibt, das Fahrrad sicher am Rahmen anzuschließen. Das Problem bremst die Mobilitätswende, weil hochwertige Fahrräder und E-Bikes auch bei Dieben immer begehrter werden. Abstellen, ohne den Rahmen anzuschließen, ist nirgends empfehlenswert, denn so landet das Rad trotz bestem Schloss schnell auf einem Transporter. Was also tun? Die gute Nachricht: An Geld fehlt es den Kommunen mittlerweile selten. An-dreas Hombach verweist als aktuelles Beispiel auf das „Sonderprogramm Stadt und Land“ des BMVI, das gerade in Kraft getreten ist. Dabei bekommen Regionen erstmals bis zu 90 Prozent der Kosten für Rad-Infrastruktur vom Bund – normal ist Radverkehr Ländersache. Dabei wird ausdrücklich auch Geld für den Bau von Abstellanlagen und Fahrradparkhäusern zur Verfügung gestellt. Oftmals fehlten jedoch die Planer und manchmal auch das tiefere Verständnis für das Thema. Noch immer sei zum Beispiel in vielen Verwaltungen nicht klar, welche Abstellanlagen empfehlenswert sind. „Bitte keine Felgenkiller für teure E-Bikes“, appelliert Andreas Hombach und spricht dabei den längst überholten Vorderradbügel an, der kaum Diebstahlschutz bietet, sondern parkende Räder nur ordnet, verbunden mit dem hohen Risiko, das Vorderrad zu beschädigen. Als „Eier legende Wollmilchsau“ empfiehlt der Experte stattdessen einen Anlehnbügel mit zweitem Querrohr, je nach Parksituation auch mit Überdachung. „Da kann man einfach alles anschließen; das ist auch die beste Lösung für Cargobikes und Liegeräder.“ Ein Vorteil sei, dass der Abstand der einzelnen Bügel zueinander flexibel angepasst werden kann. Wirklich sicher sind aber auch diese Lösungen nicht, denn mit der zunehmenden Verbreitung hochwertiger Räder wächst auch die Professionalität der Diebe. Mittlerweile werden an schlecht einsehbaren Orten statt der hochstabilen Schlösser lieber die Anlehnbügel durchschnitten. Diese Entwicklung könnte auch die Verbreitung von Fahrradparkhäusern oder abschließbaren Boxen für Fahrräder vorantreiben. Sie kosten zwar ein Vielfaches und benötigen mehr Platz, bieten dafür aber nicht nur Schutz vor Diebstahl und Nässe, sondern auch vor neugierigen Blicken.

10 %

Eigenfinanzierung.
Regionen erhalten bis zu 90 Prozent der Kosten für Radinfrastruktur
vom Bund – auch für Abstellanlagen und Fahrradparkhäuser.
Die Hamburger Fahrradhäuschen bieten Platz für 12 Räder und gehören seit den 1990er-Jahren zum Stadtbild.

Clevere Lösungen in Benelux und Hamburg

Während hierzulande in den letzten Jahren in Wohngebieten nach und nach immerhin mehr Abschließmöglichkeiten durch Bügelparker geschaffen wurden, gibt es bei den niederländischen Nachbarn schon seit Jahrzehnten bewährte Konzepte wie spezielle Parkhäuser oder die sogenannte Fietstrommel, eine geschlossene und überdachte Anlage in verschiedenen Versionen, die auf freien Flächen oder umgewidmeten Pkw-Parkplätzen aufgestellt wird. Anwohner können hier einen Radstellplatz im Abo für rund 60 Euro pro Jahr mieten. Die Nachfrage ist hoch und ähnliche Projekte und Anlagen finden sich (z. B. unter dem Namen Velo-Boxx) inzwischen auch großflächig in Belgien und Dänemark. In Deutschland gibt es zwar ebenfalls eine hohe Nachfrage, aber öffentlicher Raum ist knapp und Autoparkplätze umzuwidmen bleibt vielerorts bislang ein Tabu. Regional gibt es eine ähnliche Lösung tatsächlich aber auch hier. In Hamburg ist das „Fahrradhäuschen“ gut vertreten: „Wir haben mittlerweile einige Hundert in Wohngebieten aufgestellt“, sagt Rainer Köhnke, Geschäftsführer des Unternehmens Velopark. Ursprünglich entstanden war die Abstellanlage aus einem sozialpolitischen Projekt. Seit 1995 können Anwohner mit Platz vor dem Haus dieses zehneckige Häuschen von der Stadt aufstellen lassen. „Etwa 7.000 Euro kostet das, die Hälfte steuert die Kommune hinzu“, so Köhnke. Die Stadt Hamburg hat eine eigene Internetseite zur Beantragung eines Häuschens, das zu einem Hamburger Standard geworden ist. Es braucht maximal sechs Quadratmeter und bietet Platz für bis zu zwölf Räder. Die Aufhängung für die Hochkant-Unterbringung ist drehbar gelagert. So spart man Platz, da man den Raum nicht betreten muss. Wer sein Rad abholen will, öffnet die gut lenkerbreite Tür und dreht die Spindel so weit, bis sein Rad in der Öffnung erscheint. Das Rad in der Schiene leicht nach oben schieben, das Vorderrad aus dem Haken und aus dem Ständer nehmen, fertig. Trotz der Erfolgsgeschichte beliefert Velopark neben Hamburg nur wenige deutsche Städte. In Dortmund allerdings konnte das Hamburger Häuschen etwas Fuß fassen, auch hier subventioniert die Kommune einen Großteil der Anschaffungs- und Aufstellungskosten. In Düsseldorf und der Fahrraddiebstahl-Hochburg Münster schützen einige vergleichbare, regional und teils angelehnt ans Hamburger Vorbild entwickelte Fahrradgaragen E-Bikes und Fahrräder in Wohngebieten. Wichtig dabei immer: geringer Flächenbedarf bei maximaler Raumauslastung. Das originale Hamburger Häuschen ist laut Rainer Köhnke in der Schweiz stark vertreten.

„Man muss jetzt sehr schnell und groß handeln, es gibt heute eine enorme Dynamik.“

Jörg Thiemann-Linden, Mitglied Planerbüro „Team Red“, Bonn

Platz zum Abstellen ist eigentlich da

Ein Problem bei der Schaffung von Abstellflächen ist die Verfügbarkeit von Raum, vor allem in den Städten. Hier müssen die fehlenden Flächen künftig wohl vermehrt vom Auto kommen, was rein rechnerisch aber ein Vorteil ist. „Wir erreichen durch die Umwidmung eine enorme Stellplatzvermehrung“, so Jörg Thiemann-Linden, freier Planer für den Radverkehr und Mitglied des Planerbüros „Team Red“ in Bonn. „Ein Autostellplatz entspricht acht Stellplätzen für Fahrräder.“ Besonders wichtig für Fahrradabstellanlagen sei dabei die Positionierung nah an möglichen (Einkaufs-)Zielen. Auch die Geschäftsleute hätten mittlerweile erkannt, dass die Portemonnaie-Dichte steigt, je mehr Menschen ihr Fahrzeug abstellen können.
Mehr Platz fürs sichere Abstellen von Fahrrädern und gleichzeitig mehr Sicherheit verspricht auch das Konzept, das verbotene Kfz-Parken um Kreuzungen und Einmündungen wirkungsvoll mit Fahrradbügeln zu verhindern und wieder wichtige Sichtbeziehungen zu gewährleisten. So könnten allein an einer Standardkreuzung laut ADFC-Konzept 16 Bügel und damit 32 sichere Fahrradstellplätze entstehen.
Auch Lastenräder vergrößern das Platzproblem nach Expertenmeinung nicht, denn meist werden sie von Städtern anstelle eines Autos genutzt. Braucht es dazu spezielle Lastenrad-Parkplätze? „Meiner Einschätzung nach nicht“, so Arne Behrensen, Geschäftsführer der Beraterfirma Cargobike.jetzt und Mitglied im Vorstand des Radlogistik Verband Deutschland e. V. (RLVD). „Wenn der Raum vorhanden ist, ist nicht zu argumentieren, warum in diesem Gebiet separate Abstellanlagen für Cargobikes installiert werden sollten. Was die Ladezonen anbelangt: Wo geliefert wird, da muss eine Ladezone sein – ganz einfach.“
Zum Glück werde nach den Erfahrungen des Planers Thiemann-Linden heute fast grundsätzlich auch in Deutschland die Abstell-Infrastruktur einbezogen, wenn in einer Kommune neue Radweganlagen geplant werden oder wenn ein Marktplatz oder ein Shoppingcenter umgebaut wird. Das reiche aber noch nicht. „Man muss jetzt sehr schnell und groß handeln, es gibt heute eine enorme Dynamik.“

Bei ausreichendem Abstand lassen sich an Anlehnbügeln mit Querrohr auch Cargobikes bequem und sicher abstellen.
Beim Sharea-Angebot der ZEG-Tochter Eurorad können Kunden E-Fahrzeuge für spezifische Zeiträume aus extra gefertigten Garagen mit einem digitalen Verleihsystem mieten.

Neue Mobilität als Teamarbeit

Egal ob es ums sichere Abstellen, Abschließen, Lademöglichkeiten, neue Technologien oder Kommunikation geht, wenn neue Mobilität erfolgreich sein soll, dann ist persönlicher Einsatz und Teamarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren gefordert. Mit diesem Ziel lancierte der deutsche Sicherheitsspezialist Abus im letzten Jahr die Kampagne „Get Urbanized“. Ein Videoclip (s. Youtube / Get urbanized) motivierte dabei zum Radfahren. „Wir wollten zum Nachdenken anregen“, so Torsten Mendel, PR-Manager des Unternehmens. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit Humor wurden in dem Clip die kleinen Schrecken des Arbeitspendelns per Auto und öffentlichen Verkehrsmitteln dargestellt. Probleme, die man mit Fahrradpendeln umgehen kann. Interessant an der Kampagne: Sie zeigte keine Produktwerbung. „Das Primäre war für uns, für Fahrradmobilität zu werben. Erst dann der Gedanke: Wer sich aufs Fahrrad setzt, der kann unser Kunde werden“, sagt Mendel, dessen Unternehmen unter anderem Fahrradschlösser und -helme herstellt. Bei Abus glaubt man, dass man auch mit dem richtigen Schloss und dem passenden Anschließbügel die Mobilität vorantreiben kann. Dazu entwickelt der Hersteller heute auch digitale Lösungen, wie per App und Bluetooth steuerbare Schlösser mit Alarmfunktion. Für die weitere Entwicklung und neue digitale Lösungen ist man bei Abus mit Produzenten von Abstellanlagen genauso im Gespräch wie mit Stadtplanern und Wohnungsbaugesellschaften.
Auf vernetzte Lösungen setzt auch das Unternehmen Eurorad, einer der wichtigsten Innovatoren der Fahrradbranche. Unter dem Namen SHAREA stellt Eurorad Unternehmen, Städten und Kommunen, Wohnungsbaugesellschaften, Energieversorgern etc. eine neuartige Plattform zur Verfügung, welche die Möglichkeit bietet, ein eigenes Sharing-Konzept zu betreiben. Die maßgeschneiderte E-Mobility-Lösung aus einer Hand umfasst topaktuelle IoT-vernetzte E-Bikes, Cargobikes und E-Scooter, modernste App-Technologie, individuelle Abstellanlagen, kompletten Service und einen umfassenden Rundum-Versicherungsschutz. Vorteile für die Betreiber: fest kalkulierbare Kosten und kein Aufwand im laufenden Betrieb.
Angesichts der dynamischen Entwicklung bei der Technologie und den Möglichkeiten der Vernetzung lohnt es sich also auf jeden Fall, nicht nur „in Metall“, sondern auch in neuen Lösungen zu denken. Die Niederländer sind bei ihren Fahrradparkhäusern hier übrigens bereits viel weiter und arbeiten mit integrierten Lösungen für Zugänge und Abrechnungen per Smartcard und Apps und sorgen so für eine lückenlose Verbindung mit Sharing-Anbietern und dem öffentlichen Verkehr.

Umfassender Leitfaden zur Planung aus Hessen

Einen umfassenden Leitfaden zur Planung von Radabstellanlagen hat das hessische Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen herausgegeben. Für den Leitfaden wurden verschiedene Situationen vom Wohnhaus über den Gewerbebetrieb bis zu öffentlichen Plätzen untersucht. Die Aufgaben sei keineswegs trivial, so die Macherinnen und Macher, denn die Anforderungen seien von Ort zu Ort sehr unterschiedlich.

Zum Download:nahmobil-hessen.de/unterstuetzung/planen-und-bauen/radabstellanlagen


Bilder: SecuBike Fietstromme, Wikimedia – Creative Commons, Heinrich Strößenreuther, Eurorad

In die Metropolregion Hamburg sollen künftig deutlich mehr Menschen aus den umliegenden Bundesländern mit dem Rad pendeln. Mit einem 270 Kilometer langen Radschnellwegenetz will man vor allem für Pendler aus ländlichen Regionen ein neues, attraktives Angebot schaffen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


In den Niederlanden längst Standard, in Hamburg noch Vision: Für Pendler im Umland soll es künftig ein Netz von Radschnellwegen geben.

Berufspendler brauchen häufig gute Nerven. Besonders, wenn sie in den ländlichen Regionen rund um eine prosperierende Großstadt wie Hamburg leben. Aus dem Alten Land, der Marsch und der Heide fahren jeden Morgen mehr als 300.000 Pendler in die Hamburger Innenstadt. Spätestens an der Landesgrenze stehen sie im Stau oder drängen in überfüllte Busse und Bahnen. Zu den Stoßzeiten hat das Straßen- und Schienennetz der Hansestadt sein Limit längst erreicht. 2019 war Hamburg die Stauhauptstadt Deutschlands. Zur Staubekämpfung baut man in den Niederlanden seit Jahrzehnten Radschnell-wege. Das will die Metropolregion Hamburg jetzt auch versuchen, und zwar in großem Stil. Ein Netz aus sieben Routen soll in naher Zukunft sternförmig aus allen Himmelsrichtungen in die Hafenstadt führen.

„Noch ist das Netz aus Radschnellwegen ein Versprechen.“

Susanne Elfferding, Projektkoordinatorin

Das Projekt ist ehrgeizig

Die kürzeste Route von Ahrensburg zur Stadtgrenze ist immerhin 8,5 Kilometer lang. Die beiden längsten Strecken im Hamburger Südwesten und Südosten bringen es sogar auf über 50 Kilometer. Sie führen von Lüneburg und Stade durch viele kleine Ortschaften zu den Elbbrücken. Wenn alle Routen fertig sind, soll im Hamburger Umland ein 270 Kilometer langes Premiumnetz für Fahrradfahrer die Straßen vom Autoverkehr entlasten und für Klimaschutz und bessere Luft sorgen. Allerdings wird das noch dauern. „Noch ist das Netz aus Radschnellwegen ein Versprechen, noch bauen wir nicht“, betont Susanne Elfferding, die für die Metropolregion das Projekt koordiniert. Die Partner sind die Hansestadt Hamburg und über 1.000 Orte, 20 Landkreise und kreisfreie Städte aus den Ländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Diese Zusammenarbeit über vier Landesgrenzen hinweg ist einzigartig. Neben den sieben Radschnellwegen, die auf Hamburg zulaufen, sind auch noch zwei im Norden von Schleswig-Holstein geplant.

„Ich finde den Begriff Radboulevard treffender.“

Hartmut Teichmann, Stadtplaner

Basis: Gute Planung und gute Kommunikation

„Ende des Jahres sollen die Machbarkeitsstudien für die neun Routen fertig sein“, erläutert Susanne Elfferding. Die Technische Universität Hamburg hatte zuvor das Potenzial von über 30 Strecken ermittelt. Ausschlaggebend war schlussendlich, wie viele Arbeitsplätze, Schulen, Supermärkte und Bahnhöfe die Menschen auf den jeweiligen Routen innerhalb von 15 Radminuten erreichen könnten. Dabei zeigte sich: Die Bürger im schleswig-holsteinischen Kreis Pinneberg würden von ihrer 32 Kilometer langen Radschnellstrecke wahrscheinlich am meisten profitieren. „Etwa 70.000 Pendler fahren täglich Richtung Hamburg und rund 30.000 in die Gegenrichtung“, sagt Hartmut Teichmann, Stadtplaner des Kreises. Er erwartet, dass viele von ihnen das Auto gegen das Fahrrad oder E-Bike tauschen, wenn die Strecke fertig ist, und rechnet mit einem Anstieg des Radverkehrsanteils von 16 auf 25 Prozent. Bis es so weit ist, müssen er und seine Kollegen jedoch vor allem noch viel Aufklärungsarbeit leisten. Die verschiedenen Bürgerbeteiligungen haben Teichmann beispielsweise gezeigt: Die Bezeichnung Radschnellweg irritiert viele Anrainer. Sie fürchten, dass rasende Radfahrer seltene Vogelarten vertreiben, ihre Kinder anfahren oder die Fußgänger stören, die im Moor spazieren gehen. „Ich finde den Begriff Radboulevard treffender“, sagt Teichmann. Damit ließen sich viele Vorurteile von vornherein ausräumen. Bis zum Baubeginn ist dafür noch jede Menge Zeit. Wenn Ende des Jahres alle Machbarkeitsstudien fertig sind, muss beispielsweise erst noch geklärt werden, wer die Trägerschaft der Radschnellwege übernimmt und wer sie bezahlt. Der Bund beteiligt sich mit durchschnittlich 75 Prozent an den Kosten für die Planung und den Bau. Allerdings bundesweit nur mit 25 Millionen Euro. Die reichen für die geplanten 270 Kilometer nicht aus. Aber Radschnellwege werden auch nicht ausgerollt wie Rollrasen. Zunächst werden Teilstücke gebaut. Teichmann rechnet mit einem positiven Effekt in der Bevölkerung, wenn der erste Abschnitt fertig ist. Denn Fotos und Imagefilme würden die Vorteile der Premiumrouten nur eingeschränkt abbilden. „Die Menschen müssen es selbst erfahren“, sagt er. Dann werde die Planung und Umsetzung der anderen Abschnitte leichter. Aber auch das wird seine Zeit dauern. Stadtplaner Teichmann sagt: „Wenn alles gut läuft, wird der erste Abschnitt Mitte der 20er-Jahre fertig sein.“


Bilder: M. Zapf – MRH, Metropolregion Hamburg

Zwischen Sightseeing und Lifestyle: Radtouren in der Stadt sind eine Nische – aber mit viel Potenzial. In Zeiten von Corona könnte daraus ein neuer Markt entstehen. Eine Tour durch Hamburg und Erfahrungen aus Bremen und Berlin machen Lust auf mehr. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Sightseeing per Fahrrad: Entspannter kann man eine Stadt kaum erkunden. Die Guides präsentieren die Sehenswürdigkeiten oft aus ungewöhnlichen Perspektiven.

Volle Strände, leere Innenstädte: Corona trifft vor allem die Städte schwer, die sonst von Tourismus, Messen und Veranstaltungen profitieren. Die Tourismusbranche muss insgesamt umdenken und neue attraktive Angebote suchen. Experten sehen den Radtourismus hier als weiteres Standbein. Das Segment boomt zwar seit Jahren, allerdings vor allem im Bereich der Radreisen. City-Sightseeing per Fahrrad für Urlauber und Thementouren für Einheimische könnten gezielt weiterentwickelt und vermarktet werden. Und auch das Label „Fahrradstadt“ wirkt auf viele Reisende anziehend.

Entspannt die Stadt kennenlernen

Die Wetter-App hat für den Tag eine Mischung aus Wolken und Sonne versprochen. Perfekte Bedingungen für eine Sightseeing-Tour per Fahrrad. Vier Deutsche und drei Niederländer warten an diesem Juli-Morgen vor der Tür des Tourenanbieters „Hamburg City Cycles“ auf ihre Leihräder. Seit 2009 bietet Lars Michaelsen Sightseeing-Touren per Rad in der Hafenstadt an. Als er startete, war sein Angebot noch ein Novum. „Die ersten drei Jahre mussten wir immer wieder erklären, dass wir keine Sportreisen veranstalten. Die Leute kannten das Produkt nicht“, sagt er. Stramme Waden brauchen die Teilnehmer nicht, um mit den Guides mitzuhalten. In dreieinhalb Stunden legen die Gäste nur rund 13 Kilometer zurück. „Das würde man auch zu Fuß schaffen“, sagt Michaelsen. Mit dem Rad ist es allerdings deutlich entspannter.
Unser erster Stopp an diesem Tag liegt 20 Meter oberhalb der berühmten Hafenstraße und des Alten Elbtunnels. Das Gebäude mit dem riesigen Kuppeldach und den imposanten Steinportalen markiert den Eingang zu dem 420 Meter langen Tunnel. Er wurde 1911 für die Hafenarbeiter eröffnet. Sie sollten bei jedem Wetter und zu jeder Tages- und Nachtzeit sicher die Elbe queren können. Im Sommer 2019 wurde er für Autos gesperrt. Seitdem haben Fußgänger und Radfahrer den Zubringer von der einen Elbseite zur anderen komplett für sich. Das kommt gut an. Nun sind dort doppelt so viele Menschen unterwegs wie zuvor.

Sicher unterwegs trotz fehlender Routen

Auf Schleichwegen lotst uns Tourenleiterin Emilie zur Elbphilharmonie. So entspannt sind Radfahrer selten in der Hafenstadt unterwegs. Hamburg will zwar Fahrradstadt werden, aber von dem Ziel sind die Planer noch weit entfernt. Viele Pendler meiden mit dem Rad das Zentrum, weil sie das Fahren auf den schmalen Radstreifen im Berufsverkehr abschreckt. Die Guides umfahren diese Strecken. „Wir fahren lieber 200 Meter mehr und eine weitere Kurve als auf den Radstreifen“, sagt Michaelsen. Schließlich sollen sich auch ungeübte Radfahrer während der Tour sicher fühlen.

77 %

der Radreisenden wollen nicht nur abseits der Zentren
unterwegs sein, sondern Kultur und Bewegung verbinden,
wie die ADFC-Radreiseanalyse 2020 zeigt.


Mittendrin statt nur Zuschauer

An diesem Morgen ist wenig los auf den Straßen. Die Touristenströme sind noch nicht zurück in der Hafenstadt. Selbst der Kai ist leer. Wir stoppen an der Elbphilharmonie, in der neuen Hafen City und am Rand der Speicherstadt, dem größten zusammenhängenden Lagerhauskomplex der Welt. Der Duft von gerösteten Kaffeebohnen weht herüber, eine Barkasse fährt laut dröhnend durch den schmalen Zollkanal und die Möwen ziehen kreischend ihre Kreise. Das ist Hamburg – hautnah. Michaelsen ist überzeugt: „Wer einmal mit dem Rad eine Stadt erkundet hat, setzt sich anschließend nicht mehr in einen Bus“. Denn beim Radfahren bekomme man mehr von der Atmosphäre einer Stadt mit. „Man erfasst die Stadt mit allen Sinnen“, sagt er. Außerdem ist man flexibler. Auf zwei Rädern schafft man zwar weniger Sehenswürdigkeiten, dafür sieht man nicht nur seine Seite der Busreihe, sondern das komplette Stadtbild. Mehr noch: Man wird ein Teil von ihr. Für eine kurze Zeit ist man mittendrin und schwimmt im Strom der Gruppe mit. Will man sich im Vorbeifahren etwas genauer ansehen, reduziert man das Tempo oder hält spontan an.

Entdeckerreise auf verwinkelten Pfaden

Ein weiterer Vorteil: Man kann per Rad durch kleine Gassen fahren, die für den Autoverkehr gesperrt sind. Die Deichstraße ist so eine. Hier soll 1842 der „Große Brand“ ausgebrochen sein, der weite Teile der Altstadt und das alte Rathaus zerstört hat. Dort machen wir Kaffeepause. Im „Café am Fleet“, einem Mix aus Café und Museum für außergewöhnliche Blechdosen und Reklameschilder. „Urig, wie ein Kolonialwarenhändler aus meiner Kindheit“, sagt eine Tour-Teilnehmerin aus Karlsruhe. Sie ist mit einer Freundin für drei Tage in Hamburg. Zuvor waren sie auf Rügen. „Eigentlich hatten wir zu dritt Spanien gebucht“, sagt sie. Aufgrund von Corona wurde die Reise storniert und sie mussten kurzfristig umplanen. Ein Reisebüro hat ihnen die Fahrt auf die Ostseeinsel und nach Hamburg organisiert – ebenso die Stadtrundfahrt per Rad.

„Alles, was mit Fahrrad fahren zu tun hat, ist angesagt, und das nicht erst seit Corona.“

Christian Tänzler, Pressesprecher VisitBerlin

Wachstum in der Nische

„Die Hälfe der Kunden bucht im Voraus, die anderen kommen spontan“, sagt Michaelsen. Die Kompakt-Tour startet jeden Morgen um 10.30 Uhr. Zwar hat Michaelsen auch eine englische Variante im Programm, aber „Tourismus in Hamburg ist zu 75 Prozent deutschsprachig.“ Viele Gäste kämen aus dem Münsterland und Sauerland. Und es werden immer mehr. Der Städtetourismus in Hamburg ist in den vergangenen fünf Jahren jedes Jahr um fünf Prozent gewachsen. Das spürt auch Michaelsen. Sein Geschäft lief gut vor Corona. Neben den Touristen buchten viele Vereine, Firmen oder Schulklassen bei ihm Führungen für Wandertage oder Betriebsausflüge. Hinzu kamen Gruppen, die Geburtstage feierten, oder Junggesellenabschiede. Sie machen im Regelbetrieb die Hälfte seines Umsatzes aus. Obwohl sein Geschäft stetig wächst, sagt er: „Sightseeing mit dem Fahrrad ist immer noch eine Nische.“ Das Segment ist klein, aber ausbaufähig und bietet gerade in der aktuellen Zeit eine gute Alternative.

Städte müssen schnell umdenken

„In vielen Städten findet jetzt in der Branche das große Umdenken statt, um die deutschen Touristen anzusprechen“, sagt Iris Hegemann vom Deutschen Tourismusverband (DTV). Die internationalen Besucher aus England, Italien oder Spanien dürfen oder können dieses Jahr nicht in die Städte reisen. Hamburg fehlen die Besucher der vielen Musicals, Festivals und Messen. Sie machen etwa zwei Drittel aller Übernachtungsgäste aus. Anfang Juli lag die durchschnittliche Auslastung der Hotels in der Hansestadt bei 20 Prozent. In anderen Städten wie Berlin sieht es nicht besser aus. Diese großen Zahlen können natürlich nie durch Radtouristen ersetzt werden. Aber seit Jahren zeigt sich: Der Radtourismus liegt im Trend. „Er ist ein flächendeckendes Thema und wächst in allen Regionen. Die Städte werden sich dem Thema mehr widmen müssen“, sagt die Expertin. 77 Prozent der Radreisenden wollen nicht nur abseits der Zentren unterwegs sein, sondern Kultur und Bewegung verbinden, wie die ADFC-Radreiseanalyse 2020 zeigt. Aber bevor für sie ein Abstecher in die Städte attraktiv ist, müssen diese laut Hegemann noch viel Basisarbeit leisten.

Bremen lockt mit App

Zur Basis für attraktive Touren gehört neben einer sicheren und selbsterklärenden Infrastruktur für Radfahrer auch ein digitales Routenangebot. „Radtouristen sind oftmals Individualisten“, weiß die DTV-Expertin. Sie seien gerne auf eigene Faust unterwegs. Bremen hat das bereits vor Jahren erkannt und reagiert. Die Wirtschaftsförderung hat mit „Bike it“ eine Fahrradnavigations-App für die Region bei Bike Citizens aus Graz in Auftrag gegeben, die sich jeder Radler kostenlos herunterladen kann. Neben der Navigation und einer Radroutenplanung gibt es dort bereits 15 Thementouren. Die richten sich nicht nur an Städtetouristen auf Sightseeing-Tour oder Reiseradler, die die Stadt erkunden wollen: „Bike it“ ist vor allem auch für Neubürger interessant, die ihre Stadt entdecken wollen, oder Einheimische, die nach neuen Wegen vor der eigenen Haustür suchen.

„Fahrradstadt“ als langfristiger Publikumsmagnet

In Berlin gibt es sowohl Online-Angebote als auch geführte Touren. 163 km umfassen die Themenrouten für Radfahrer laut Christian Tänzler, Pressesprecher von VisitBerlin. Manche der Wege seien gut ausgebaut, manche müssten saniert werden. Für ihn hat Radtourismus aber zukünftig noch eine andere Facette. „Alles, was mit Fahrrad fahren zu tun hat, ist angesagt“, sagt er, „und das nicht erst seit Corona.“ Deshalb ist für ihn das Label „Fahrradstadt“ langfristig ein Markenzeichen für grüne, lebenswerte urbane Zentren. Berlin arbeitete bereits seit Jahren mit zunehmendem Erfolg daran, dieses Image zu erreichen. „Radfahren ist hier Teil des Lifestyles geworden“, der Anteil der Radfahrer wachse seit Jahren. Die vergangenen Monate haben dieses Bild international noch einmal verstärkt. Die Bilder der Pop-up-Bike-Lanes gingen um die Welt. Berlin wurde zum Vorreiter für eine krisensichere Radinfrastruktur. „Die Menschen sehen: In Berlin fahren alle Fahrrad“, sagt Tänzler. Das wollten Touristen während ihres Aufenthalts ebenfalls erleben, zum Teil des Lebensstils zu werden und auf Rädern durch die Kieze zu cruisen. Auf den Pop-up-Bike-Lanes sei das noch einfacher und bequemer als zuvor. Von diesen Gästen will er künftig noch mehr in die Stadt locken. Die Reiseradler seien bereits da. „Ich habe noch nie so viele Langstreckenradler in der Stadt gesehen wie in den vergangenen Wochen.“ Sie blieben ein bis zwei Nächte und radelten dann weiter, oftmals in Richtung Norden in die nächste Fahrradstadt: Kopenhagen.


Bilder: Thomas Kakareko, Andrea Reidl,