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Angebote für neue Zielgruppen gefragt

Mit der technischen Revolution beim Fahrrad und E-Bike und Veränderungen im Tourismus rückt die Frage nach den eigentlichen Bedürfnissen der Menschen und neuen Zielgruppen in den Vordergrund. Design-Thinking-Ansätze und der Blick aus weiblicher Perspektiven zeigen enorme, bislang noch vielfach ungenutzte Potenziale. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Nicht jeder beschäftigt sich im Tourismus gleichermaßen intensiv mit dem Thema Fahrrad und ist mit den rasanten Veränderungen vertraut. Aus fachlicher Sicht fällt das am ehesten auf, wenn in Pressemitteilungen und auf Websites allzu schablonenhafte Bilder benutzt, E-Bikes pauschal dem Thema Genussradfahren zugeordnet werden oder im Sprachgebrauch immer mal wieder vom Urlaub auf dem „Drahtesel“ die Rede ist.

Revolution durchs E-Bike

„E-Mobilität bietet neue Möglichkeiten und vollkommen neue Erlebnisse: lautlose, selbstfahrende Autos. Bikes, mit denen man mühelos Berge erklimmen kann. Es ist die Faszination einer neuen Technologie, die unsere bekannte Welt auf den Kopf stellt“, schreibt Robin Schmitt, Chefredakteur des Magazins E-Mountainbike und mit 30 Jahren Vertreter einer neuen Generation. Zusammen mit seinem Bruder Max-Phillip hat er zu Beginn der E-Bike-Revolution ein urbanes Lifestyle- und E-Bike-Magazin gegründet. Heute hat sich das von der Oma gestiftete Kapital für das Verlags-Startup ausgezahlt und Vater Manfred begleitet seine Söhne nicht nur bei ihren Touren, sondern auch im Geschäft. Die Mehrgenerationen-Geschichte ist ein Beispiel dafür, wie sehr das E-Bike Menschen und Familien zusammenbringen und auch das Wertegerüst mit neuen Koordinaten versehen kann. „Sind Statussymbole überhaupt noch zeitgemäß?“, fragt Robin Schmitt und setzt Freiheit, Entdeckergeist und die neue Möglichkeit, mehr Qualitätszeit mit Menschen zu verbringen, dagegen. „Stell dir vor, du könntest frei entscheiden, mit wem du wohin und wie intensiv fahren möchtest – ungeachtet der körperlichen Fitness und des Alters. Auf einmal musst du nicht mehr mit gleichstarken Schicksalsgefährten fahren, sondern kannst mit deinen Allerliebsten den Gipfel stürmen.“ Das, was er zusammen mit Vater, Bruder, Partnerin, Freunden, Hund und weiteren Weggefährten erlebt, können auch viele andere nachvollziehen. Für sie erschließen sich dank neuer Produkte und Angebote völlig neue Möglichkeiten.

„E-Mountainbiken bringt Generationen zusammen, eröffnet neue Perspektiven und kann vor allem eins: glücklich machen!“

Robin Schmitt, E-Mountainbike Magazin

Fundamental verändert: Bedürfnisse und Zielgruppen

E-Mountainbikes geben nach Robin Schmitt die Möglichkeit und die Kraft, sich dem stressigen Alltag für kurze Zeit zu entziehen. „Sie führen uns raus in die Natur, fördern unseren Spieltrieb und Entdeckergeist und ermöglichen zusammen mit anderen echte Glücksmomente.“ Mit den tieferen menschlichen Bedürfnissen und neuen Konzepten für die Bike-, Outdoor- und Tourismusbranche beschäftigt sich Anna Weiß in der Beratung. Der Design-Thinking-Ansatz, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt, ist für die Mitgründerin eines Special-Interest-Verlags, Co-Founderin des Frauen-Netzwerks Bloomers Outdoors und Gründerin des European Womenʹs Outdoor Summit Basishandwerk. Aus der Beschäftigung mit dem Schwerpunktthema Frauen wuchs die nähere Analyse der spezifischen Bedürfnisse und den sich verändernden Zielgruppen. „Zahlen sind immer wichtig für Entscheidungen. Genauso wichtig sind aber auch Beobachtungen der Gesellschaft. Was passiert hier gerade und wo geht es hin?“ Wichtig sind für sie mit Blick auf den Einzelnen vor allem die unterschiedlichen und gleichzeitigen Rollen, die sich zudem stetig veränderten. Zum Beispiel in der Familie, als Partner oder Elternteil, durch den Beruf und auch die jeweilige Lebenssituation, etwa wenn die Kinder selbstständig werden, oder als Single.

Beobachtung und Evaluation

Auf diesen Erkenntnissen aufbauend könne man dann spezifische Angebote und Produkte entwickeln und in der Kommunikation vor allem über Social Media gezielt platzieren und für eine qualitative Verbreitung sorgen. Die meisten Regionen hätten bislang noch gar nicht auf dem Schirm, welche unterschiedlichen Nutzergruppen es eigentlich gibt. Beispiele für neue Nischen und die gezielte Kundenansprache fänden sich aktuell beispielsweise bei Trekking-Zeltplätzen im Wald, die vor allem von Vätern mit ihren Söhnen schier überrannt würden, oder auch Jungesellen- und Junggesellinnen-Abschiede, bei denen es nicht um Party ginge, sondern um das gemeinsame Erlebnis in der Natur. „Was nicht passiert, ist der Transfer“, meint Anna Weiß. „Wichtig ist es nicht nur, Daten zu sammeln und zu evaluieren, sondern immer auch zu überlegen, welche Angebote und Pakete kann ich entwickeln.“

Schnelle Veränderungen und starke Differenzierung

Nach den Erfahrungen von Anna Weiß sind die Regionen auf die rasanten Veränderungen im Radtourismus sehr unterschiedlich eingestellt. „Meist geht der Blick auf die Zahlen. Aber die sagen nichts über Bedürfnisse aus und sind immer ein Blick in die Vergangenheit und nie in die Zukunft.“ Entscheidend sei auch die Aufgeschlossenheit der Verantwortlichen, sich intensiver mit den Themen zu befassen. Hier hapere es oft. So würden E-Bikes zwar überall in den Blick genommen, allerdings nach wie vor meist in Verbindung mit Trekkingbikes, Genusstouren und der Zielgruppe Ü50. Die Realität sieht allerdings ganz anders aus. Auch die über 50-Jährigen werden laut Anna Weiß vielfach gänzlich falsch eingeschätzt. „Gerade in dieser Generation finden wir oft die Zähen und Sportlichen. Dazu kommt, dass diese Gruppe mit Blick auf die Ressourcen Zeit und Geld von allen die potenteste ist.“ Sie seien auch nicht ständig mit einem Partner oder einer Partnerin unterwegs, sondern würden sich oft gerne Gruppen anschließen. Die wachsende Gruppe der Singles sei beispielsweise sehr offen für Kurse oder geführte Touren, wo sie mit anderen mit einem ähnlichen Mindset in der Gruppe zusammenkämen. Auch das Alter spiele dabei eine eher untergeordnete Rolle: „Ein 50-Jähriger kann hier einer Mitte 20-Jährigen sehr ähnlich sein.“

Passive Frauen? Alte Bilder bestehen fort

Statt einer differenzierten Betrachtung begegnen Anna Weiß oft längst überholte Schablonen – vor allem in Bezug auf Frauen: „Das Bild der Frau im Radtourismus ist vielfach haarsträubend“, so die bestens vernetzte Expertin. Oft würden sie in Analysen „ganz am Schluss, nach der Ausdifferenzierung der Zielgruppen pauschal als homogene Nutzergruppe in einen Topf geworfen. Dabei seien die Aktivitäten von Frauen extrem vielfältig und Frauen für den Tourismus insgesamt hochattraktiv. Studien zufolge seien Frauen neben Senioren die Haupttreiber der Entwicklung, dass immer mehr Sport gemacht wird. „Sie finden sich überall und sind übrigens die am schnellsten wachsende Gruppe in den Alpenvereinen im DACH-Raum.“

„In den Städten und Kommunen sollten überall Pumptracks und kleinere Dirtparks entstehen, um die Jugendlichen nach draußen und zum Sport zu ziehen.“

Janet Weick, mythos-ebike.de

„Mythos E-Bike“

Kaum eine Frau hat sich in den letzten Jahren so intensiv mit dem Thema E-Mountainbike in der Praxis beschäftigt wie Janet Weick aus Backnang bei Stuttgart mit ihrem Blog „Mythos E-Bike“. Ein Hauptauslöser für den Blog war für die junge, sportlich durchtrainierte und Mountainbike-begeisterte Mutter eine ihrer ersten E-MTB Ausfahrten Ende 2016. „Mir wurde hinterhergerufen weshalb ich jetzt mit dem E-Bike bescheißen würde, ich sei doch noch nicht alt und fett.“ In ihrem vielfach prämierten Blog setzt sich die berufstätige Mutter, die in ihrer Freizeit zusammen mit ihrem Mann und dem inzwischen ebenfalls Mountainbike- und naturbegeisterten Sohn Nino in unterschiedlichsten Destinationen unterwegs ist, kritisch mit Vorurteilen auseinander. Neben dem Ziel, die Akzeptanz zu erhöhen, ging es ihr aber auch immer um den Selbsttest: Wie kann man auf dem Bike als Familie mit einem kleinen Kind in der Natur unterwegs sein? Wie mit einem älteren? Wie lernen Kinder begeistert und spielerisch, mit dem Sportgerät umzugehen? Welche Destinationen sind nicht nur Mountainbike-freundlich, sondern bieten auch Angebote und die nötige Infrastruktur für Familien und Kinder? „Die Vorurteile haben sich seit dem Beginn meines Blogs Ende 2016 Gott sei Dank immer mehr gewandelt“, sagt Janet Weick. Es gäbe aber weiterhin einen riesigen Informationsbedarf und große Potenziale. „In meinem Umfeld, auf unseren Touren und über meinen Blog werde ich immer wieder auf das Thema Biken mit Kindern angesprochen. Und das Interesse wächst.“

Mehr Gemeinsamkeit, mehr Naturverbindung

Die Motorunterstützung hat auch ihr und ihrer Familie ganz neue Perspektiven eröffnet: „Gerade für mich als Frau kann das E-Bike super die Leistungsunterschiede ausgleichen, die von Natur aus gegeben sind, sodass ich gesünder trainieren kann und oben am Berg eben nicht mit knallrotem Kopf fast vom Bike falle, nur weil ich versuche, mit einer starken Männergruppe mitzuhalten.“ Ideal ist das E-Bike auch als Zugmaschine für Kinder im Anhänger, mit sogenannten Nachläufern oder auch für die Kinder selbst. Die Industrie bietet inzwischen nicht nur hochwertige und besonders leichte Mountainbikes für Kinder, sondern rüstet sie auch mit leichten Motoren und Akkus aus. Damit werden die Potenziale auf ein neues Level gehoben. Als Motiv steht für Janet Weick und ihre Familie neben der sportlichen Aktivität vor allem die Verbundenheit mit der Natur im Vordergrund. „Wir schärfen mit unserem Sohn Nino unterwegs den Blick für Pflanzen am Wegrand, Tiere, die Schönheit der Natur und erinnern ihn an die Vergänglichkeit der Gletscher, wenn wir bei Touren daran vorbeiradeln. Und ich nehme sehr positiv wahr, dass das den meisten Bike-Familien genauso geht.“

Politik und Verwaltung gefordert

Für die Zukunft wünscht sich Janet Weick die schnelle Abschaffung des Mountainbike-Verbots auf Wegen unter zwei Metern in ihrer Heimat Baden-Württemberg, die sie immer wieder mit der Familie zu längeren Fahrten mit dem Auto in andere Regionen zwingt, die Integration von Mountainbiken in den Schulsport und vor allem mehr Angebote vor Ort für Kinder. „In den Städten und Kommunen sollten zur Schulung von Koordination, Balance und Beweglichkeit überall Pumptracks und kleinere Dirtparks entstehen, um die Jugendlichen nach draußen zu ziehen und den Fokus auf den Sport zu lenken – weg von der Spielekonsole und dem Smart-phone.“

Top-Empfehlungen für E-Mountainbike-Familien

von Janet Weick, mythos-ebike.de

Arosa Lenzerheide
Kanton Graubünden, Schweiz

Engadin
Kanton Graubünden, Schweiz

Saalbach-Hinterglemm
Salzbuger Land, Österreich

Sölden
Tirol, Österreich


Bilder: Andreas Meyer, Janet Weick – privat