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Das Fahrrad ist für die Verkehrswende unerlässlich. Und es ist inklusiv: Tatsächlich können auch viele Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten gut fahrradmobil sein. Wir stellen Beispiele und Entwicklungen vor und beleuchten Hintergründe. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Unsicherheit, verlorene Balance-Fähigkeiten oder einfach mehr Komfort-Bedürfnis: Dreiräder sind oft ein Aha-Erlebnis.

Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten und Radfahren: Das ist eine überraschend gut funktionierende Kombi, einfacher, als viele heute noch denken. Grob kann man die technischen Möglichkeiten, die Radfahren zu einem inklusiven Erlebnis machen, zunächst in zwei Kategorien einteilen: Erstens gibt es Fahrräder für zwei Menschen, also verschiedene Arten von Tandems. Hier ist es möglich, dass ein Mensch ohne Einschränkung das Fahrrad steuert und ein Mensch mit Einschränkungen mitfährt. Je nach Fahrradtyp und persönlichen Fähigkeiten ist es dabei möglich, dass beide für den Vortrieb sorgen. Die andere, sehr große Kategorie: Fahrräder mit drei oder vier Rädern, die aufgrund ihrer Bauart durchaus für Menschen mit ganz unterschiedlichen Einschränkungen und Bedürfnissen geeignet sind. Die Bandbreite ist riesig und geht, wie wir noch sehen werden, von Menschen, die einfach einen hohen Komfort- oder Sicherheitsanspruch ans Fahrrad haben, bis hin zu Menschen, die zum Beispiel aufgrund einer Querschnittslähmung ihre Beine nicht mehr bewegen können. Dabei handelt es sich mittlerweile bei diesen Therapie- oder Reha-Rädern meist um Fahrräder mit Motor-Unterstützung bis 25 Stundenkilometer, also Pedelecs. Besser wäre sicher eine allgemeine Bezeichnung wie Sicherheits- und Komforträder, da die Beweggründe, ein Dreirad zu fahren, sehr vielfältig sein können.

„Immer mehr Menschen fahren Fahrrad, und wenn sie das aus irgendwelchen Einschränkungen nicht mehr können oder sich nicht mehr trauen, steigen sie mittlerweile immer mehr aufs Spezialrad um.“

Zusammen unterwegs: Tandems in unterschiedlichsten Variationen sind auch für Menschen mit starken Einschränkungen eine Möglichkeit, zusammen mobil zu sein.

Inklusion on Bike

Das Pino von Hase Bikes ist schon ein moderner Klassiker und das beste Beispiel für die erste Kategorie. Das Rad ist ein sogenanntes Stufentandem. Der Sessel vorne thront über dem kleinen Vorderrad, der Hintermann sitzt aufrecht im Sattel und überblickt seinen Passagier. Er hat Steuer- und Bremshoheit. Der Mensch im Vordersitz kann in seinem eigenen Rhythmus mittreten und erlebt dabei großes Kino – sitzt er doch nicht versteckt hinter einem Rücken wie beim normalen Tandem, sondern im bequemen „Kinosessel“ mit Panoramablick. Dieses Rad gibt es in vielen Variationen und es ist vielfach an spezielle Bedürfnisse anpassbar. Bereits Kinder ab einem Meter Größe können hier mitfahren – und tatsächlich auch mitpedalieren.
„Der Reha-Bereich ist breit“, sagt Dario Valenti, Sprecher des Unternehmens Hase Bikes. „Das geht von Menschen mit Behinderungen bis hin zu solchen, die aus verschiedenen (Alters-)Gründen nicht mehr auf dem Normalrad fahren können oder wollen, aber auf das Radfahren nicht verzichten möchten.“
Wichtig ist immer: Mit Mobilität meint man nicht nur den Sonntagsausflug im Park, sondern auch die Alltagsstrecke. Neben dem Pino für zwei, das zusammengeschoben nur wenig größer als ein Normalrad ist und so auch gut transportiert werden kann, ist Hase Bikes auch Hersteller von Dreirädern mit und ohne Unterstützung, unter anderem von Rädern mit Handantrieb.
Bei Handbikes werden die Pedale durch Handkurbeln ersetzt, an denen wie am normalen Lenker die Brems- und Schaltgriffe montiert sind. Übrigens hat auch hier die elektrische Unterstützung Einzug gehalten, sodass diese Handbikes ohne große Anstrengung gefahren werden können.
Auch vielfältige Anpassungen wie spezielle Kurbeln oder Pedale oder sogar eine Schulterlenkung sind für viele verschiedene Räder von Hase verwendbar. Bei den Dreirädern gilt – nicht nur bei Hase: Die Breite ist mit knapp 80 Zentimetern türentauglich.

Kippsicher für den City-Verkehr

Eine weitere Variante des Dreirads ist in den letzten Jahren immer beliebter geworden: Das Tadpole (englisch für Kaulquappe) mit zwei gelenkten Rädern vorne und einem hinten. Es kommt eigentlich aus dem sportlichen Bereich. Der Liegeradhersteller HP Velotechnik hat mit dem Scorpion eine technische Basis, die er mit vielen Details an die Bedürfnisse des Fahrers oder der Fahrerin anpassen kann. Dieses Rad hat nicht nur in seiner tiefen Grundversion, sondern auch mit höherem Komfortsitz dank breiter Spur gute Kippsicherheit. Aber nicht nur Geometriedetails zählen. „Das Thema Motor ist bei uns ein ganz wichtiges Segment geworden“, sagt Alexander Kraft, Pressesprecher des bei Frankfurt sitzenden Unternehmens. „Beim Delta TX stehen vier unterschiedliche Motorvarianten zur Auswahl“, erklärt er. Sogar solche mit Rückwärtsgang gibt es im Sortiment. Für Menschen mit Einschränkungen ist das einfache Rangieren besonders wichtig – schon beim Abholen aus der Parkanlage. Tatsächlich, so Kraft, sei die Tadpole-Variante des Dreirads – zwei Räder vorn – in der City für viele noch ungewohnt. Neben der aufgeräumteren Optik schätzen viele das einfachere Aufsteigen auf Delta-Dreiräder – seitlich auf den Sessel setzen und sich in Fahrtrichtung drehen. Das Bein wird dabei wie nebenher über den Rahmen gehoben. Das Delta TX kommt übrigens serienmäßig mit Motor. Und gerade diese Dreiräder bieten beste Möglichkeiten zum Gepäcktransport – vom großen Korb hinter dem Sitz über verschiedene Transportboxen und Taschen geht die Range bei den Herstellern. „Damit kommt man in der City genauso zurecht wie auf der Radtour über Land“, sagt Kraft. „Sieht man einmal von der falschen Infrastruktur ab, die dem Radfahrer unter anderem zu wenig Breite gewährt.“

Rotes Dreirad: Tadpole (englisch für Kaulquappe)heißt die Bauart des Dreirads mit zwei gelenkten Vorderrädern. Die Variante ist in den letzten Jahren immer beliebter geworden.

Blaues Dreirad: Sogenannte Delta-Trikes sind nicht nur sehr einfach zu handhaben, sie vermitteln mit Federung und hochwertigen Sitzen auch Komfort, wie man ihn vom Auto kennt. Dabei kann man sie bestens an die Alltagspraxis anpassen.

Trikes sind vielfältig einsetzbar. Sie machen beim gemütlichen Dahinrollen durch die Natur genauso Spaß wie im Alltag in der City – vorausgesetzt, die Infrastruktur lässt das zu.

Dreirädrige Hollandräder

Ein Therapierad ist ein sehr individuelles Produkt, sagt Marnix Kwant, Directeur Business Development beim Hersteller Van Raam. „Wir haben kein einziges Rad fertig auf Lager“, so Kwant. Jedes Fahrrad ist eine Individualisierung. Und das ist wichtig. Verkauft wird – wie bei oben genannten Herstellern auch – grundsätzlich nur über einen Händler.
Das Unternehmen aus dem niederländischen Varssefeld ist nach eigenen Angaben Weltmarktführer im Bereich Therapierad. Gemeint sind auch bei Van Raam für das urbane Segment vor allem Dreiräder – elf verschiedene Typen gibt es hier. Dabei gibt es auch die klassischen Variationen von Rädern, die wie Hollandräder wirken, aber zwei Hinterräder besitzen. Wer sich nicht mehr aufs normale Fahrrad traut, Angst vor Stürzen hat und Ähnliches, orientiert sich an solchen Rädern. Das ist oft der klassische Zugang zum Spezialrad. „Das können sich die Kunden und Kundinnen gut vorstellen, zu fahren“, sagt Kwant. Der Unterschied zum gewohnten, normalen Rad ist optisch gering. Beim ersten Ausprobieren aber merken sie oft, dass dieses Dreirad ganz anders funktioniert und in Kurven langsam gefahren werden muss. „Dann erst entdecken viele den Easy Rider, das Sesseldreirad von Van Raam, für sich. Den Komfort, auf einem Sitz mit Lehne zu sitzen und das trotz ungewohnter Optik einfache Handling. Als reines Stadtfahrzeug führt Van Raam das Modell Easy Rider Compact im Sortiment, das maximale Wendigkeit bieten soll. Spezialteile gibt es auch bei den Niederländern für alle möglichen Arten von Bedürfnissen bis hin zur kompletten Steuerung auf einer Lenkerseite oder Schulterlenker für Menschen ohne Arme. In der Produktion setzt Van Raam auch auf moderne Techniken wie Stahl oder Nylon aus dem 3-D-Drucker, um individuelle Spezialteile herzustellen.
„Der Markt in Deutschland für Spezialräder wächst sehr stark“, sagt Kwant. „Immer mehr Menschen fahren Fahrrad, und wenn sie das wegen irgendwelcher Einschränkungen nicht mehr können oder sich nicht mehr trauen, steigen sie mittlerweile immer mehr aufs Spezialrad um.“ Dabei sind die Bedürfnisse vielfältig: Neben Gleichgewichtsproblemen ist es der Wunsch, langsamer fahren zu können oder mehr Komfort auf dem Rad zu haben. „Was ist Behinderung, was nicht? Das ist egal, es geht um Bedürfnisse der Radfahrenden“, so Kwant.

Vom Behelfsrad zum Luxus-Trike

Die Wahrnehmung ändert sich: Wurden Reha- und Therapieräder noch vor wenigen Jahren als „Behindertenräder“ gebrandmarkt, können sie heute oft technisch wie optisch überzeugen. Der Rahmenbau ist teils dem klassischen Fahrrad sogar voraus, Komfort zeigt sich oft schon durch die Möglichkeit vieler ergonomischer Anpassungen oder in der Auswahl von unterschiedlichen Sitzen. Bei den genannten Herstellern gibt es beispielsweise Sessel mit unterschiedlich starker Polsterung, vielfältiger Einstellbarkeit und speziellen Ausstattungsdetails wie verstellbaren Kopfstützen. Unterstützungsmotoren sind fast immer an Bord. Automatische Getriebe sind stark im Vormarsch und Sicherheitsdetails wie Blinker ziehen gerade in das Segment ein. Alles wie geschaffen für eine neue Mobilität für alle – für die die Infrastruktur jetzt deutlich nachziehen sollte.

Herausforderungen für die

Fahrrad-Infrastruktur

Radwege haben in Deutschland heute eine offizielle „lichte Breite“ von mindestens 1,50 Metern – das ist schon zu wenig, wenn ein einspuriges Rad ein anderes überholen soll. Dreiräder brauchen nochmals deutlich mehr Platz. Schon heute sind also, auch durch den hohen Zuwachs an mehrspurigen Lastenrädern, die Radwege deutlich zu schmal. Zusätzliche Probleme, die nicht nur in der City die inklusive Fahrradmobilität weiter einschränken:

Umlaufgitter, wie sie unter anderem oft an Knotenpunkten von gemeinsamen Fuß- und Radwegen mit anderen Wegen platziert sind. Sie sind für Tandems, aber auch für Drei-räder nur sehr schwer oder gar nicht passierbar.

Dasselbe gilt für manchmal zu eng aufgestellte Sperrpfosten (Poller).

Seitlich schiefe Ebenen: Gerade bei straßenbegleitenden Radwegen auf Gehweg-Niveau gibt es oft ein starkes seitliches Gefälle, das dem Radfahrer, vor allem mit Mehrspurer, das Fahren schwierig macht. Letztere kommen hier stark in Schieflage und müssen sich gegen die Schräge stemmen. Für viele Menschen mit Behinderung nicht nur unbequem, sondern gefährlich.

Lichtsignalanlagen mit Anforderungstaster, sogenannte Bettelampeln, sind ein klares Symbol für die Unterordnung des Rad- und Fußverkehrs gegenüber dem Autoverkehr. Schlimmer noch: Ihre Tasten sind oft, und dann gerade für Menschen auf mehrspurigen Rädern, sehr schwierig zu erreichen.

Schon seit dem Zuwachs von Cargobikes im Gespräch: Abstellanlagen für Räder jenseits der klassischen Zweiradmaße. Therapieräder sind oft zu breit und/oder zu lang für die üblichen Maße, mit denen Anlehnbügel aufgestellt sind.

Die Infrastruktur in Bahnhöfen ist schon für Nutzer und Nutzerinnen normaler Fahr-räder ein Daueraufreger. Mit Blick auf Therapieräder multipliziert sich das: Aufzüge zu Bahn- und U-Bahnsteigen sind oft zu schmal für Mehrspurer und zu kurz für große Räder. Auf Bahnsteigen ist man mit dem Rad oft ein Störfaktor, weil Säulen oder andere Hindernisse gerade unter Zeitdruck umschoben werden müssen. Und auch das Schieben ist ein Problempunkt: Manche Menschen mit Einschränkungen können Fahrrad fahren, aber kaum gehen. Sie können, wenn sie nicht auf dem Bahnsteig in Schrittgeschwindigkeit rollen dürfen, keine kombinierte Nutzung von Bahn und Fahrrad realisieren.


Bilder: Hase Bikes, Van Raam, HP Velotechnik, stock.adobe.com – ARochau – Maryana

Hase Bikes zählt zu den Marktführern bei Fahrrädern für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen. Einer der Bestseller in diesem Segment, das Trigo Up E von Hase Bikes, hat jüngst eine umfassende Überarbeitung erhalten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


„Mit dem Trigo Up E können auch Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen oder ältere Menschen sportlich unterwegs sein“, sagt Marec Hase, Gründer und Geschäftsführer von Hase Bikes. „Der tiefe Einstieg sorgt dafür, dass man bequem Platz nehmen kann. Die stabile Delta-Bauweise und der niedrige Schwerpunkt machen das Trigo Up E zudem extrem kippsicher, auch in den Kurven.“
Das Pedelec-Trike hat mit 30 Kilogramm ein geringes Eigengewicht, trägt aber bis zu 140 Kilogramm. Perfekt für mehrere Fahrer*innen unterschiedlicher Größe: Der Lenker wird ohne Werkzeug in Höhe, Winkel und Abstand eingestellt und auch der Sitz ist höhen- und neigungsverstellbar. Außerdem lässt er sich stufenlos auf Körpergrößen von 1,40 bis 2 Meter einstellen. Auch dazu benötigt man kein Werkzeug, sondern löst einfach den Klemmhebel, schiebt den Sitz in die richtige Position und arretiert den Klemmhebel wieder. „Die Sitzpolster können an mehreren Stellen individuell angepasst werden. Zusätzlichen Komfort bietet die optional erhältliche Kopfstütze, die ebenfalls verstellbar ist“, erklärt Marec Hase.
Wichtigste Neuerung ist fünf Jahre nach der Markteinführung die serienmäßige Ausstattung mit einem Elektroantrieb. Während beim bisherigen Modell die Motoroption nur als Nachrüstung erhältlich war, ist das neue Trigo Up E nun mit dem leistungsstarken Shimano-Motor Steps E5000 und einem 504-Wh-Akku ausgestattet.
Das Trigo Up E ist als fertig vorkonfiguriertes Serienmodell oder als individuell zusammengestelltes Custom-Modell erhältlich, das neben typischen Fahrradoptionen auch spezielle Lösungen aus dem Reha- und Handicap-Bereich wie Spezialpedale, Kurbelverkürzer und Pedalpendel bereithält.


Mehr Informationen: http://www.hasebikes.com

Bilder: Hase Bikes

Das neue Gravit Dust von Hase Bikes ist ein Cargobike, das auch auf der Schotterpiste Spaß macht. Das Konzept hinter dem Rad ist ein besonderes. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Das Gravit Dust lässt die Grenzen verschiedener Radgattungen verschwimmen. Das Gravel- und Lastenrad ist für Sport, Reisen oder die alltäglichen Transportaufgaben geeignet. Auf Wunsch lässt sich das Fahrrad auch mit Elektromotor und Akku konfigurieren. Für ein Lastenrad soll das Gravit Dust erstaunlich wendig sein, verspricht der Hersteller Hase Bikes.
Das Gewicht ist mit 20 Kilogramm gering angesichts der möglichen Zuladung von bis zu 200 Kilogramm. 40 Kilogramm können auf dem mitgelieferten Cargoboard auf 50 mal 85 Zentimetern untergebracht werden. Für weitere Transportkapazitäten lässt sich unterhalb des Cargoboards der Lowrider von Hase Bikes anschrauben, an dem bis zu zwei kleine und zwei große Taschen Platz finden.

Das Cargoboard ist abnehmbar und der Teleskoprahmen lässt sich auf 1,74 Meter zusammenfahren. Das Rad passt dann auf einen Auto-Heckträger. Der Rahmen lässt sich auf Körpergrößen zwischen 1,50 und 2 Metern einstellen. Ausgestattet ist das in der Farbe Candy Purple lackierte Rad mit 26-Zoll-Laufrad hinten und 20-Zoll-Laufrad vorne. Die Shimano-Deore-Kettenschaltung kann sich aus 11 Gängen bedienen. Angesteuert wird sie durch den Micro­shift-Schalt-/Brems-hebel XLC. Das Gravit Dust ist seit Juli 2023 lieferbar.


Bilder: Hase Bikes

London, Sydney, Waltrop … Lucy Saunders hat kein Problem damit, neben den internationalen Metropolen auch die 30.000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen zu besuchen. Eingeladen wurde sie vom verkehrspolitisch engagierten Fahrradhersteller Hase Bikes. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Lucy Saunders lebt in London, berät Städte auf der ganzen Welt und spricht auf internationalen Kongressen. Ihre Vision sind „Healthy Streets“, also „gesunde“ Straßen. Straßen dienen aus ihrer Sicht nicht nur der Fortbewegung, sondern sind Lebensräume und Begegnungsorte von Menschen. Deren Gesundheit und Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt ihres Ansatzes. Wie groß oder klein eine Stadt ist, spielt dabei keine Rolle: „Veränderungen sind überall möglich. Entscheidend ist immer, dass es Menschen gibt, die sie anstoßen“, sagt sie im Interview beim Fahrradhersteller Hase Bikes. Dessen Geschäftsführerin Kirsten Hase hat die Verkehrsvisionärin nach Waltrop eingeladen. Hase Bikes ist spezialisiert auf Delta Trikes und Tandems, die im Freizeitsport, auf Radreisen, im Familienalltag und im Reha- und Handicap-Bereich auf der ganzen Welt gefragt sind. Hergestellt wird jedes einzelne davon in der Manufaktur auf dem alten Zechengelände in Waltrop wo das Unternehmen von Kirsten und Marec Hase seit 20 Jahren ansässig ist.
Die beiden engagieren sich seit Langem für verkehrspolitische Themen, haben Fahrraddemos organisiert und veranstalten eigene Events. „Obwohl wir überzeugt sind vom Fahrrad als Fortbewegungsmittel, gehen wir jetzt einen Schritt weiter, weg von der Konzentration auf ein Verkehrsmittel hin zu einer ganzheitlichen Stadtplanung“, beschreibt Kirsten Hase ihre Motivation zum Projekt „Lebendige Stadt“. „Waltrop wird, wie so viele Städte, an wichtigen Stellen vom Individualverkehr dominiert. Und weil wir hier leben und arbeiten, möchten wir hier etwas bewegen.“ Insgesamt geht das Ziel von Kirsten und Marec Hase aber über Waltrop hinaus. Sie möchten den Menschen Visionen geben und zeigen, dass der öffentliche Raum lebenswerter gestaltet werden kann. „Healthy Streets kann unserer Meinung nach die oftmals sehr aggressive Diskussion über die Verkehrswende komplett entschärfen“, sagt Kirsten Hase.
Das ist auch Lucy Saunders Bestreben: „Das Wichtigste ist, miteinander ins Gespräch zu kommen und dabei Menschen unterschiedlichen Alters, mit verschiedenen Bedürfnissen und Lebenssituationen einzubeziehen. Ich weiß, dass es einen langen Atem braucht, bis etwas geschieht und Veränderungen spürbar werden, aber es lohnt sich.“ Saunders ist Expertin für öffentliche Gesundheit, außerdem Stadt- und Verkehrsplanerin und hat über viele Jahre den Zusammenhang zwischen städtischen Räumen und menschlicher Gesundheit erforscht. Hieraus hat sie „Healthy Streets“ entwickelt und schon in vielen Städten weltweit angewendet. In London wird gerade ein Konzept, das sie im Auftrag des Bürgermeisters zusammen mit ihrem Team erarbeitet hat, sukzessive umgesetzt. In Vorträgen und Schulungen inspiriert sie Menschen auf der ganzen Welt dazu, Straßen und Städte als Lebensraum zu betrachten und sie gesünder, sicherer und attraktiver zu gestalten. Jetzt ist sie in Waltrop.

Gesunde Straßen, lebendige Stadt

Los geht es an der Sydowstraße, die vom Hase-Bikes-Standort auf dem alten Zechengelände zum Stadtzen-trum führt. Hier gibt es auf den ersten Blick wenig auszusetzen: Bäume am Straßenrand, bepflanzte Vorgärten, Fußwege auf beiden Seiten der recht breiten Straße, auf der an diesem Freitagvormittag nicht viel los ist. Nach 200 Metern bleibt Lucy stehen und fragt: „Was kann man hier verbessern?“ Darauf, dass es keinen Radweg gibt, kommen alle, aber Lucy geht es um etwas anderes: „Können Menschen auf den Fußwegen nebeneinander gehen und sich unterhalten?“ Nein, die Erfahrung haben der Waltroper Bürgermeister, mehrere Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung, ein Vertreter der Sparkasse, die den Besuch von Lucy Saunders mitfinanziert hat, Kirsten und Marec Hase und einige Waltroper Bürgerinnen schon gemacht. Der Fußweg ist schmal und wird an mehreren Stellen durch die Bäume, die die Straße säumen, zusätzlich verengt. Unterhalten kann man sich hier nicht. Aber ist dieser Anspruch nicht zu hoch gegriffen? Nein, sagt Lucy: „Eine gesunde Straße ist ein Ort, an dem sich Menschen gerne aufhalten.“ Das heißt für die Sydowstraße ganz konkret: „Wer hier zu Fuß geht, sollte die Möglichkeit haben, sich auszuruhen und mit anderen ins Gespräch zu kommen. Breitere Gehwege und ein paar Bänke würden die Straße für alle sehr viel angenehmer machen und letztlich dafür sorgen, dass man das Auto öfter mal stehen lässt.“ Wir sind knapp zwei Kilometer vom Ortszentrum entfernt, eine Strecke, die man als fitter Fußgänger in 20 Minuten zurücklegt. Seniorinnen mit und ohne Gehhilfen brauchen länger, ebenso Eltern mit Kindern im Kinderwagen oder auf Laufrädern, Rollstuhl-fahrerinnen, Hundehalterinnen oder Spaziergängerinnen, die einfach miteinander plaudern möchten. Den Fußweg zu verbreitern, wäre an der Sydowstraße kein großes Problem und hätte einen weiteren positiven Effekt: „Im Moment lädt die sehr breite Straße regelrecht zum Rasen ein. Auf einer schmaleren Fahrbahn hätten Autofahrer noch genügend Platz, würden aber vorsichtiger fahren und könnten ihrerseits sicher sein, niemanden zu gefährden“, sagt Lucy. Das ist einer der Punkte, die Kirsten Hase so begeistern und auch die Teilnehmerinnen des Rundgangs überzeugen: „Bei Healthy Streets geht es um eine lebendige Stadt, in der sich alle wohlfühlen, und nicht um die Konkurrenz verschiedener Fortbewegungsmöglichkeiten.“ Dazu braucht es nicht immer gleich die ganz großen und teuren Baumaßnahmen. Lucy Saunders macht auch einfach umzusetzende Vorschläge. Private Anwohnerinnen, Gastro-nominnen oder Einzelhändler einladen, Bänke vor die Tür zu stellen oder Bäume im Vorgarten zu pflanzen, die mittelfristig Schatten spenden. Bordsteine absenken, damit Menschen im Rollstuhl, mit Rollator oder Kinderwagen die Straße leichter überqueren können. Selbst Blumen an Balkonen und Gartenzäunen machen einen Weg einladender.

Kirsten Hase hatte sichtliche Freude an der Besucherin aus London, die es sich auch nicht nehmen ließ, die Ruhrgebietsstadt Waltrop mit der kommunalen Verwaltung zu begehen.

Achtung, Durchgangsverkehr!

An der Berliner Straße in Waltrop ist die Situation zunächst komplizierter. Hier donnert der Durchgangsverkehr – Lkw, Busse und Autos – durch die Stadt. Während in vielen Städten jahrelang um eine Ortsumgehung gestritten wird, hat Lucy auch hier leichter umzusetzende Ideen, um diese Situation zu entschärfen. Für einen weiteren Fußgängerüberweg, der automatisch auch den Durchgangsverkehr verlangsamen würde, müsste man am Straßenrand nur wenige Parkplätze wegnehmen. Bürgermeister Marcel Mittelbach und die Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung greifen diese Idee dankbar auf. Jeder in Waltrop weiß, wie gefährlich es ist, von der Sparkasse auf der einen Seite zu der gegenüberliegenden besten Bäckerei der Stadt und zurück zu kommen. Hier kommt allerdings ein Thema zur Sprache, das auch in der Podiumsdiskussion am nächsten Tag eine Rolle spielen wird: Die Berliner Straße ist eine Landesstraße. Hierfür ist das Land NRW zuständig und muss Veränderungen begutachten, genehmigen und letztlich auch finanzieren. Andere Straßen und Plätze „gehören“ dem Kreis oder der Stadt. Die Zuständigkeiten sind nicht immer klar, die Genehmigungsverfahren oftmals langwierig. Da kann man schon mal die Geduld verlieren.

Unternehmerisch denken?

Fast 100 Menschen sind am nächsten Tag zur Podiumsdiskussion ins „Schaltwerk“, den Ausstellungs- und Veranstaltungsraum von Hase Bikes, gekommen. Kirsten Hase geht in ihrer Begrüßung gleich ans Eingemachte: „Ich bin Unternehmerin und gewohnt, Entscheidungen zu treffen und zügig umzusetzen. Ich freue mich, dass hier heute Entscheiderinnen und Bewohnerinnen unserer Stadt miteinander beraten, was wir in Waltrop verändern können.“ Auf dem Podium sitzen neben Lucy Saunders der Bürgermeister Marcel Mittelbach und Landrat Bodo Klimpel. Eigentlich sollte auch das Verkehrsministerium von NRW vertreten sein, doch dessen Staatssekretär hat kurzfristig abgesagt. Die gute Nachricht: An diesem Nachmittag wird eine weitere Ortsbesichtigung an der Berliner Straße beschlossen, zu dem auch das Ministerium eingeladen werden soll. Drei Tage später sagt der Minister zu. Das freut Marcel Mittelbach, den Bürgermeister, sehr. „Es ist wichtig, Vereinbarungen zu treffen, wie wir weiter vorgehen wollen, selbst wenn wir mit langwierigen Prozessen rechnen müssen.“ Er hat sich viel Zeit genommen für das Projekt „Lebendige Stadt“, weil er weiß, wie wichtig die Verkehrssituation für die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger ist. Demnächst wird er die erste Fahrradstraße der Stadt eröffnen. „Lucy Saunders hat uns weitere, neue Möglichkeiten gezeigt, wie wir das Leben in Waltrop attraktiver machen können.“ Viele Gäste sind ebenfalls begeistert, auch Teilnehmer aus Ratsfraktionen, die die Aktion im Vorfeld sehr kritisch betrachtet haben. Bodo Klimpel, der Landrat des Kreises Recklinghausen, gibt zu bedenken, dass in Deutschland viele Normen und Vorschriften berücksichtigt werden müssen und man nicht einfach mal etwas ausprobieren kann. Den Vorschlag hat Lucy am Marktplatz gemacht. Hier sind Parkplätze für mehr als 150 Autos, nur zweimal in der Woche findet tatsächlich ein Lebensmittelmarkt statt. Der Platz liegt in der prallen Sonne und heizt sich durch die vielen Autos zusätzlich auf. Nur 200 Meter entfernt gibt es weitere Parkmöglichkeiten, die kaum genutzt werden. „Wenn man diese Fläche in einem Parkleitsystem vorrangig anbietet, wird nicht der ganze Marktplatz für den ruhenden Verkehr gebraucht. Vielleicht lässt sich dieses Konzept einmal für ein paar Monate ausprobieren.“ Das ist gar nicht so unrealistisch, weil der Platz mehrmals im Jahr für Feste genutzt wird und die Besucher dann an anderen Stellen parken.
Im Schaltwerk bei Hase Bikes vereinbaren die Gesprächspartner*innen, sich erst einmal mit der Berliner Straße zu beschäftigen. Kirsten Hase: „Wir haben erreicht, was wir im ersten Schritt erreichen wollten: Lucy hat uns konkrete Vorschläge gemacht. Die Menschen haben miteinander geredet und eine Vereinbarung getroffen, wie wir weiter vorgehen möchten. Wir starten mit einer Ortsbesichtigung mit dem Verkehrsminister.“ Das ist auch aus Lucys Sicht ein gutes Ergebnis ihres Besuchs. Zu viele Themen auf einmal führen nur dazu, dass sich die Beteiligten überfordert fühlen. Ihre Tipps für alle, die in ihrer Stadt etwas erreichen möchten: „Fangt mit einer realisierbaren Maßnahme an. Holt möglichst viele Menschen für eine Sache ins Boot. Überfordert die Entscheider nicht mit unterschiedlichen Anfragen. Feiert jeden noch so kleinen Erfolg. Führt immer wieder Gespräche mit allen Gruppen in eurer Stadt. Und das Wichtigste: Stellt euch darauf ein, dass es viel Zeit kosten wird. Aber steter Tropfen höhlt den Stein.“

Lucy Saunders‘ 10 Punkte
für Healthy Streets

1. Jede*r soll sich willkommen fühlen

Deshalb müssen Straßen einladende Orte sein, an denen jede*r spazieren gehen, Zeit verbringen und sich mit anderen Menschen austauschen kann. Das ist wichtig, damit wir alle durch körperliche Aktivität und soziale Interaktion gesund bleiben.

2. Leicht zu überqueren

Menschen möchten ihr Ziel schnell und direkt erreichen. Das dürfen wir ihnen nicht erschweren, sondern müssen unsere Straßen entsprechend gestalten. Frustrierte Menschen machen die Stimmung in einer Stadt immer schlechter.

3. Schatten und Schutz

Sie werden benötigt, damit jede*r die Straße bei jedem Wetter nutzen kann: Wenn die Sonne scheint, brauchen wir Schutz vor der Sonne. Bei Regen und Wind sind wir alle froh über einen Unterschlupf. Schutz und Schatten lassen sich mit Bäumen, Markisen, Kolonnaden etc. leicht realisieren.

4. Orte zum Ausruhen

Viele Menschen empfinden es als anstrengend, längere Strecken zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückzulegen. Sitzgelegenheiten sind daher unerlässlich. Und: Wo Menschen sitzen und sich unterhalten, möchte man auch gerne wohnen.

5. Nicht zu laut, bitte!

Lauter Straßenverkehr ist eine Belastung für die Menschen, die an einer Straße leben, arbeiten oder unterwegs sind, und wirkt sich in vielerlei Hinsicht negativ auf unsere Gesundheit aus. Die Reduzierung des Straßenverkehrslärms schafft eine angenehmere und gesündere Umgebung.

6. Die beste Entscheidung: Laufen und Radfahren

Um gesund zu sein, müssen wir Bewegung in unseren Alltag einbauen. Menschen entscheiden sich zum Laufen oder Radfahren, wenn das für sie die angenehmste Option ist. Gehen und Radfahren oder öffentliche Verkehrsmittel müssen attraktiver sein, als das Auto zu nutzen.

7. Menschen fühlen sich sicher

Fußgänger*innen oder Radfahrende fühlen sich sicher, wenn der motorisierte Verkehr ihnen genügend Raum, Zeit und Aufmerksamkeit gibt. Wir können den Verkehr so beeinflussen, dass Autofahrende rücksichtsvoll und langsam fahren. Wenn Wege beleuchtet und freundlich gestaltet sind, haben Menschen weniger Angst, angegriffen zu werden.

8. Was kann ich erledigen, was gibt es zu sehen?

Straßen und Plätze müssen optisch ansprechend sein und es muss Gründe geben, sie zu besuchen: lokale Geschäfte und Dienstleistungen, Gastronomie und Möglichkeiten, mit Kunst, Natur und anderen Menschen in Kontakt zu kommen.

9. Entspannung!

Straßenumgebung macht Angst, wenn sie schmutzig und laut ist, wir uns unsicher fühlen, zu wenig Platz haben oder nicht leicht dorthin gelangen, wo wir hinwollen. Einladende und attraktive Straßen helfen, sich zu entspannen.

10. Saubere Luft

Die Luftqualität wirkt sich auf die Gesundheit jedes Einzelnen aus, besonders aber auf Kinder und Menschen, die bereits gesundheitliche Probleme haben. Die Verringerung der Luftverschmutzung kommt uns allen zugute.


Bilder: Hase Bikes

Fahrradhersteller mit verkehrspolitischem Engagement sind eher noch die Ausnahme als die Regel. Doch es gibt sie, wie unter anderem der Spezialrad-Anbieter Hase Bikes beweist. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Es ist nicht so, dass Unternehmen der Fahrradbranche generell verkehrspolitisch desinteressiert wären. Das beweist allein schon die große Zahl an Marktteilnehmern, die sich im Zweirad-Industrie-Verband engagieren, der nicht zuletzt, seit der ehemalige ADFC-Frontmann Burkhard Stork dort das Ruder übernommen hat, deutlich verkehrspolitischer geworden ist. Oder sie sind Mitglied im Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF), der 2019 ursprünglich vor allem als Verband der Dienstleister im Fahrradmarkt gegründet wurde und inzwischen ein breites Themenfeld etwa von der Förderung von Cargobikes über die Digitalisierung der Mobilität bis hin zur multimodalen Verkehrsmittelnutzung bearbeitet.
Manche Unternehmen gehen noch einen großen Schritt weiter und werden selbst zum Bindeglied zwischen Zweiradwirtschaft und Verkehrspolitik. Vor allem vor Ort, also im eigenen regionalen Umfeld, können Unternehmen politisch und gesellschaftlich viel bewegen, das zeigen Unternehmen wie Hase Bikes.
„Mein Ding war das schon immer – Alltagsverkehr mit dem Fahrrad“, sagt Kirsten Hase, Marketingchefin des Spezialrad-Herstellers Hase Bikes. „Und ich habe mich schon als Azubi beim Weg in die Arbeit gefragt, ‚warum hört dieser Radweg hier einfach auf?‘ oder ‚warum sind diese Radwege so kaputt? Und wie kann ich etwas dagegen machen?‘“
„Wir haben schon früh damit angefangen, die Leute nicht nur für unsere Räder, sondern für das Fahrrad im Alltagsverkehr ganz allgemein zu sensibilisieren“, so Hase. Ein publikumswirksames Projekt war 2011 „3 Wochen – 3 Klimax“: Drei Personen wurde für drei Wochen ein „Klimax 5K“ des Unternehmens zur Verfügung gestellt. Das ist ein einfach zu handhabendes S-Pedelec auf drei Rädern mit umfangreichem Regenschutz. Als „Tauschpfand“ nahm Hase Bikes den Autoschlüssel in Verwahr. Eine der Testimonials war die damalige Bürgermeisterin von Waltrop, Anne Heck-Guthe. Leider litt damals wie heute die Praxistauglichkeit von S-Pedelecs unter der fehlenden In-frastruktur für diese Fahrzeuge, sicher ein Grund dafür, dass die Bürgermeisterin doch einige Male auf ihr Dienstauto zurückgriff.
Ein ähnliches Konzept stand hinter „Pino statt PKW“. Der Fokus stand diesmal auf dem wandelbaren Tandem Pino aus gleichem Haus. Bei diesem Fahrradmodell sitzt der Passagier oder die Passagierin in einem Liegesitz vor dem Fahrenden und tritt nach vorne. Mit wenigen Handgriffen und einer großen Ladetasche ist das Rad aber auch als Lastenrad einsetzbar. 2021 sollten fünf Waltroper das Pino für drei Wochen gegen das eigene Auto ersetzten und damit dokumentieren, dass ein Auto weder für die Kita-Fahrt noch für den großen Einkauf gebraucht wird. „Es gab jede Menge Bewerbungen, fünf wurden ausgewählt“, erinnert sich Hase. Natürlich wurden die Erfahrungen dokumentiert und das ganze Konzept auch in Pressemeldungen verbreitet. Wichtig bei solchen Aktionen: der Vorher-Nachher-Effekt. Zu welchen Ergebnissen kommen die Testimonials? Und wie offen wird kommuniziert? Bei dieser Tauschaktion jedenfalls konnte ein Gastronom unter den Testimonials erklären, dass er praktisch alle Freizeit- und Alltagsfahrten begeistert mit dem Rad erledigt hatte. Lediglich beim Großeinkauf für seinen Betrieb kam das Packvolumen des Rads doch an seine Grenzen. Dass auch diese Einschränkung dokumentiert wird, ist wichtig für die Glaubwürdigkeit und letztendlich den Erfolg eines solchen Projekts.
Eine Vortrags- und Mitmachveranstaltung plant Hase in Kürze mit Lucy Saunders, die mit Healthy Streets eine Initiative für menschenfreundliche Innenstädte ins Leben gerufen hat. „Ich bin in der Veloplan auf die Verkehrs- und Gesundheitsaktivistin gestoßen, und dachte mir: ‚Die ist klasse.‘“ Und so will Hase die Frau, die sich derzeit um die verkehrspolitische Lage in London kümmert, für einen öffentlichen Workshop nach Waltrop einladen. Kontakte sind geknüpft, das Konzept wird noch ausgearbeitet. Vielleicht wird das Event mit der bekannten Aktivistin parallel zu einem Händler-Workshop stattfinden, sodass auch diese Hase-Partner davon profitieren. „Viele unserer Händler und Händlerinnen sind fahrradpolitisch sehr engagiert.“ So nutzt man den Heimvorteil auch: Platz ist vorhanden, dank neuer Produktionshalle jetzt auch wettergeschützt, und auch hier zählen die vielen Erfahrungen, die man schon mit der Durchführung von Events gemacht hat.

„Wir haben schon früh damit angefangen, die Leute nicht nur für unsere Räder, sondern für das Fahrrad im Alltagsverkehr ganz allgemein zu sensibilisieren“

Kirsten Hase, Marketingchefin des Spezialrad-Herstellers Hase Bikes

Klassiker Fahrraddemo

Kirsten Hase und ihr Ehemann, Firmengründer Marec Hase, fanden auch mit den Grünen in ihrer Stadt einen Veranstaltungspartner. „Die Partei ist sehr offen für Aktionen, die den regionalen Radverkehr stützen und auf fehlende oder marode Infrastruktur aufmerksam machen“, sagt Kirsten Kase. „Und wir standen den Grünen politisch schon immer nahe.“ So führte man in diesem und im letzten Jahr vor Ort bereits zwei Fahrraddemos gemeinsam durch, die auf fehlende und schadhafte Fahrrad-Infrastruktur hinwiesen. Dabei hat Hase Bikes weitgehend die Organisation übernommen. „Die Grünen stecken in so vielen anderen Dinge, dass sie froh sind, wenn die Orga über uns läuft. Für uns ist das keine so große Sache“, sagt Kristen Hase, die mit ihrem Marketingteam schon viele Events ans Laufen gebracht hat. Mit der Partei ist ein politisch zugkräftiger Partner an Bord, der potenziell Teilnehmenden demonstriert: Es geht hier nicht einfach um eine Werbeveranstaltung eines Unternehmens. Dass die auffälligen Spezialräder der Waltroper im Demo-Konvoi besonderes Interesse erregen und Fragen provozieren, ist natürlich trotzdem schön für den Veranstalter.


Bilder: Hase Bikes – Matthias Erfmann, Georg Bleicher