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Das aktuelle Jahr schlägt mit den höchsten bislang gemessenen Durchschnittstemperaturen und anhaltenden Hitzewellen alle Rekorde. Messbar, spürbar und sichtbar schreitet der Klimawandel voran und stellt uns vor ebenso dringende wie vielfältige Herausforderungen – auch mit Blick auf die Mobilität.

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)


Schon vor Jahren haben Expertinnen darauf hingewiesen, dass nicht nur die durchschnittlichen Temperaturen steigen, sondern auch sommerliche Hitzeperioden deutlich öfter eintreten, länger dauern und extremer werden – mit hohen Temperaturen, Dürren und Waldbränden sowie lokalen Unwettern mit Starkregen. Tatsächlich erreichte die gemittelte globale Temperatur ab Juni 2023 jeweils monatliche Höchstwerte: Sie lag mehr als 1,6 Grad Celsius über der vorindustriellen Referenzperiode im Zeitraum zwischen 1850 und 1900 und bis zu 1,4 Grad Celsius über dem globalen Durchschnitt zwischen den Jahren 1901 und 2000. Große Sorgen bereitet Klimaforscherinnen zudem aktuell der weltweit sprunghafte dramatische Anstieg der Meerestemperaturen. Seit März 2023 sind die Weltmeere so warm wie nie, und das mit großem Abstand. „Die Erwärmung der Weltmeere hat direkte Folgen für das Leben an Land“, erläutert der deutsche Meteorologe, Ozeanograf, Klimaforscher und Hochschullehrer Mojib Latif. Denn wärmere Ozeane bedeuten mehr Verdunstung, wodurch mehr Energie ins System kommt. Die Folgen sind häufige Wetterextreme wie Stürme, die Infrastruktur zerstören und Waldbrände anfachen können. Gewitter und Starkregen mit enormen Wassermengen können lokal schnell zu Überschwemmungen und reißenden Flüssen und Bächen mit hoher Zerstörungskraft führen.

Klimaschutzmaßnahmen allein reichen nicht

Vielfach wird in öffentlichen und politischen Diskussionen nicht nur die Dramatik der Veränderungen unterschätzt, sondern auch vergessen, dass der menschengemachte Klimawandel weitergeht, selbst wenn es gelingen sollte, den CO₂-Ausstoß drastisch zu reduzieren. „Die Politik muss den Menschen ehrlich sagen, dass wir den Klimawandel in einem gewissen Grad nicht mehr aufhalten können“, sagte der Mobilitäts- und Zukunftsforscher Prof. Dr. Stephan Rammler bereits 2020 im VELOPLAN-Interview. Selbstverständlich bleibt die Reduzierung trotzdem enorm wichtig, um die Folgen einzuhegen und bislang kaum kalkulierbare Kipppunkte im System zu vermeiden. Dringend notwendig ist es zudem, Städte und Landwirtschaftssysteme widerstandsfähig und resilient umzubauen, damit sie mit Hitzestress und Wasserknappheit ebenso umgehen können wie mit Starkwetterereignissen. Der Pfad zur notwendigen Transformation ist dabei grundsätzlich erkannt. Viele deutsche Städte und Kommunen haben in den vergangenen Jahren beispielsweise intensiv an Maßnahmen zum Hochwasserschutz gearbeitet und Pläne zum Umgang mit Hitzeperioden erstellt. Selbst einfache Maßnahmen, wie die Entsiegelung von Flächen und das Pflanzen von Bäumen stoßen im politischen Alltag allerdings oft auf Widerstände. Denn gleichzeitig geht damit meist die Einschränkung von Bauflächen, Parkplätzen oder neu geplanten Straßen einher.

Die Kerngebiete der Städte entwickeln sich schnell zu Hitzeinseln. Hier liegen die Temperaturen tagsüber und nachts deutlich höher als in der Umgebung.

Anteil versiegelter Flächen weiter gestiegen

„Zu viel Grau, zu wenig Grün“ und einen „dramatischen Zuwachs versiegelter Flächen in deutschen Städten“ konstatierte die Deutschen Umwelthilfe (DUH) Ende Juli dieses Jahres. Der Großteil der Städte in Deutschland schütze die Menschen nicht ausreichend vor den extrem hohen Temperaturen infolge der Klimakrise, so das Ergebnis des ersten „Hitze-Checks“ der Deutschen Umwelthilfe unter den 190 deutschen Städten mit mehr als 50.000 Einwohner*innen, basierend auf neuen Daten der Potsdamer Luftbild Umwelt Planung GmbH im Auftrag der DUH. Aktuell würden in Deutschland täglich über 50 Hektar Fläche für Siedlungen und Verkehr verbraucht, was pro Jahr einer Fläche der Stadt Hannover entspräche. Dazu Barbara Metz, Bundesgeschäftsführerin der DUH: „Wir fordern von der Bundesregierung ein rechtlich verbindliches Ziel, die Flächenversiegelung in Deutschland bis spätestens 2035 zu stoppen. In Zeiten der Klimakrise brauchen unsere Städte unversiegelte Böden zur Versickerung von Wasser und Grünflächen zur Kühlung.“ Der anhaltende Trend zu mehr Beton und weniger Grün sei alarmierend. „Statt zu lebenswerten Orten der Erholung entwickeln sich unsere Städte zu Hitze-Höllen.“ Die Bundesregierung müsse jetzt wirksame Maßnahmen ergreifen und bundesweite Standards vorschreiben.

Stark von Hitze betroffen: Anwohnerinnen, Zufußgehende und Radfahrende Städte entwickeln sich im Sommer schnell zu sogenannten Hitzeinseln. Kritisch sind die hohen Tagestemperaturen, vor allem aber die fehlende Abkühlung in der Nacht mit tropischen Temperaturen von über 24 Grad Celsius. Denn Asphaltflächen, parkende Autos, aber auch Beton-, Glas- und Metalloberflächen heizen sich stark auf und speichern die Wärme. Von Hitzewellen besonders betroffen sind damit vor allem weniger wohlhabende Stadtteilbewohnerinnen überall dort, wo es an Grün- und Wasserflächen mangelt, also zum Beispiel in den Stadtzentren und entlang der Einfallstraßen sowie die dort liegenden Einrichtungen, wie Schulen, Krankenhäuser oder Seniorenheime. Große Probleme gibt es auch bei der Mobilität, vor allem mit Blick auf Zufußgehende, ÖPNV-Nutzer*innen und Radfahrende. Hier hilft auch kein individueller Schutz, denn allein der Asphalt heizt sich durch Sonnenstrahlung zum Beispiel auf über 60 Grad Celsius auf. „Liegen Gehsteige in der prallen Sonne, schränkt das die Mobilität insbesondere von älteren und chronisch kranken Menschen ein“, sagt der österreichische VCÖ – Mobilität mit Zukunft. Kritisch sind hier neben den Bürgersteigen vor allem Kreuzungen oder Haltestellen, die keinen Sonnenschutz bieten, sowie fehlende schattige Sitzgelegenheiten, um eine kurze Pause einzulegen. Auch lange Ampelwartezeiten mit Priorität für den Autoverkehr werden in der prallen Sonne schnell zur Tortur. In Gesprächen mit Betroffenen, die bei Hitze zum Selbstschutz tagsüber kaum das Haus verlassen und nachts keinen Schlaf finden, wird die Dramatik schnell sichtbar.

Zweiräder mit Motor eine echte Alternative bei Hitze

Radfahrende sind bei Hitze in ihrer Mobilität gegenüber Zufußgehenden im Vorteil, weil sie für die gleiche Strecke weniger Zeit benötigen und durch den Fahrtwind gekühlt werden. Gleichzeitig steigt die körperliche Anstrengung bei Hitze jedoch stark an, ebenso wie der Flüssigkeitsbedarf. Ärzte warnen beim Radfahren je nach Streckenprofil und Wind bereits ab 25 Grad Celsius vor einer Überlastung des Organismus. Bei hohen Temperaturen hilft dementsprechend hauptsächlich der Fahrtwind in Kombination mit einer Motorunterstützung. Genau das bieten E-Bikes (Pedelecs und S-Pedelecs), E-Scooter oder die in den südeuropäischen oder asiatischen Staaten seit jeher beliebten Motorroller. Eigentlich ist es zudem eine Binsenweisheit, dass Radfahrende, egal ob mit oder ohne Motor, wesentlich dazu beitragen, die CO₂-Bilanz sowie das Klima in den Städten positiv zu beeinflussen. Wichtig sind dabei neben der Energiebilanz, Wärme- und Schadstoffemissionen auch die benötigten Stellflächen.

Große Bäume sorgen in der Stadt für einen hohen Kühleffekt. Weniger nützlich sind dagegen baumlose Grünflächen, die einen etwa zwei- bis viermal geringeren Kühleffekt als baumbestandene Flächen bieten.

Erhebliche Verbesserungen der Infrastruktur möglich

Mit Blick auf die Infrastruktur lassen sich sowohl für Zufußgehende als auch für Radfahrende oft mit einfachen Mitteln erhebliche Verbesserungen erreichen. Dazu zählen schattige öffentliche Sitzgelegenheiten und Trinkbrunnen ebenso wie die Entwicklung von Alternativrouten durch Grünanlagen und Wälder, beschattete Straßen, Kreuzungen und Haltestellen, kühlere Busse und Bahnen oder optimierte Ampelschaltungen und kürze Wartezeiten für den Fußverkehr. Messungen zeigen dabei beispielsweise, dass die Temperaturen einer baumbestandenen Allee sowohl direkt auf der Straße als auch in den angrenzenden Räumen und an den Fassaden jeweils nur rund halb so hoch sind wie auf einer Straße ohne Baumbestand. Technisch einfach umzusetzen ist auch die Umwidmung von Pkw-Parkflächen, beispielsweise mit mobilen Bäumen und Sitzgelegenheiten, Gastronomieflächen sowie die Entsiegelung. Stadtplanerinnen empfehlen zudem große Alleen, um für eine gute Durchlüftung zu sorgen. All das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein essenzieller Faktor auf dem Weg hin zu hitzeresilienteren Städten wohl unabdingbar die Verringerung der Pkw-Dichte und die Umnutzung von Pkw-Parkflächen und -Verkehrswegen ist. Beispiel Berlin: In der Hauptstadt waren zum Stichtag am 1. Januar 2024 laut Statista insgesamt rund 1,24 Millionen Pkw zugelassen – ein Rekordwert. Die Anzahl der regis-trierten Pkw ist dabei im Verlauf der vergangenen zehn Jahre kontinuierlich angestiegen. Gemäß einer Mitteilung der Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt gibt es innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings 229.680 öffentliche Straßenparkplätze, was einer Gesamtfläche von 2.644.608 Quadratmetern entspricht. Gänzlich anders sieht beispielsweise die Entwicklung in Paris aus: Seit rund zehn Jahren werden hier unter dem zentralen Konzept der „15-Minuten-Stadt“ zahlreiche Projekte umgesetzt, um den Autoverkehr zu reduzieren, Radverkehr und ÖPNV zu steigern, den öffentlichen Raum zu begrünen und die Stadt so lebenswerter, gesünder und klimafreundlicher zu machen. Einer kürzlich veröffentlichten Studie des Stadtplanungsinstituts zufolge legten die Bewohnerinnen der Metropole von Oktober 2022 bis April 2023 die meisten Wege zu Fuß zurück (53,5 Prozent). An zweiter Stelle standen öffentliche Verkehrsmittel (30 Prozent), gefolgt von Radfahrer*innen mit 11,2 Prozent. Lediglich 4,3 Prozent der Wege wurden mit dem Auto zurückgelegt (Berlin ca. 26 Prozent).

Einige Städte haben inzwischen Hitzemodelle entwickelt, um gefährdete Gebiete und Handlungsfelder zu identifizieren.

Unterschätzte Hitzefolgen

Die WHO und Gesundheitsexpert*innen betonen immer wieder den zunehmenden und inzwischen extremen Bewegungsmangel in Deutschland und die Entwicklung hin zu immer mehr übergewichtigen Menschen. Die Lebenserwartung werde dadurch abgesenkt, es gebe eine ständig steigende Krankheitslast und wir müssten für die Zukunft wohl auch mit der finanziellen Überforderung der Sozialversicherungssysteme rechnen, erläutert Prof. Dr. med. Swen Malte John von der Universität Osnabrück. Mit der Zunahme an heißen Tagen wird Bewegung im Sommer nicht nur schwieriger, sondern im Hinblick auf vulnerable Gruppen auch immer gefährlicher. Mehr als 47.000 Menschen starben einer aktuellen Studie zufolge in Europa im Jahr 2023 an Hitzefolgen. Vielfach unterschätzt werden zudem auch die sozialen Folgen. Gerade Älteren fehlen während Hitzeperioden wichtige Kontaktmöglichkeiten. Auch wirtschaftlich macht sich die Hitze in den Städten deutlich bemerkbar – und das nicht nur bei den Energiekosten für Kühl- und Klimaanlagen. An Hitzetagen zum Einkaufen in die Stadt oder ins Restaurant? Viele winken ab. Die Menschen konsumierten in Restaurants tagsüber zurückhaltend oder blieben gleich zu Hause, erklärte kürzlich Mario Pulker, Obmann des österreichischen Gastronomie-Fachverbands. Die Umsätze könnten nicht durch die Abendstunden ausgeglichen werden.

„Mehr als 47.000 Menschen starben einer aktuellen Studie zufolge in Europa im Jahr 2023 an Hitzefolgen.“

Alarmstufe rot – auch für Europa

Weltweit sehen sich Kontinente und Länder einer teils dramatischen Hitzekrise gegenüber. Und sie kommt auch zu uns. Diesen Sommer gilt bereits seit einiger Zeit für Italien und andere südeuropäische Länder und Regionen offiziell Alarmstufe Rot. Temperaturen von bis zu 45 Grad Celsius tagsüber, Nächte mit 30 Grad Celsius und eine Wassertemperatur des Mittelmeeres von ebenfalls bis zu 30 Grad Celsius stellen die hitzegewöhnten Regionen vor enorme Herausforderungen. Klimaexpert*innen zufolge könnten ähnliche Verhältnisse bald auch in deutschen Regionen und Städten herrschen. Man kann sich fragen, ob und wie wir darauf vorbereitet sind, mit Blick auf die Gesundheit, die Alterspyramide, Biodiversität, Dürren und ihre Auswirkungen auf die Landwirtschaft und die Wälder oder auch die Energieversorger, die essenziell auf Kühlwasser für Kraftwerke angewiesen sind. Generell lassen die Aussichten wenig Positives erwarten. „Am stärksten werden durch den Klimawandel die Iberische Halbinsel, Mitteleuropa einschließlich des Alpenraumes, die Ostküste der Adria und Südgriechenland durch extreme Temperaturen beeinflusst“, so das Umweltbundesamt. Bis 2100 könne die Temperaturzunahme in Teilen Frankreichs und der Iberischen Halbinsel sechs Grad Celsius übersteigen. Rückblickend könnte die heißeste Zeit heute also die kühlste der kommenden Jahrzehnte sein. Sich darauf einzurichten, kostet Willen, Überzeugungskraft, Geld und Zeit. Was aller Voraussicht nach nicht hilft, ist Fatalismus.


Bilder: stock.adobe.com – Olga Demina, Saltwire, Greenpeace, Stadt Köln, stock.adobe.com – decorator

Große Hitze und Starkregen setzen den Innenstädten zu. Um die Folgen des Klimawandels abzupuffern, müssen Stadtstraßen zukünftig deutlich grüner werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Es sind die Städte, die die Folgen des Klimawandels besonders spüren. Während der Sommermonate ist die Hitze im Zentrum ihr größtes Pro-blem. Die asphaltierten Straßen und die Gebäude heizen sich überproportional stark auf und erwärmen wie riesige Heizkörper die Umgebung bis spät in die Nacht. Zudem führen die hohen Temperaturen zu extremen Regen, der die Abwasserkanäle schnell überlastet und zu Überschwemmungen führt. Verkehrsforscherinnen und -planerinnen sind sich einig: Ein weiter so wie bisher können sich Städte und Gemeinden nicht mehr leisten. Ihre Straßen und Plätze sollten zügig an das veränderte Klima angepasst werden.
Dr. Michael Richter erforscht seit Jahren, wie die klimagerechte Straße aussehen kann. Der Geoökologe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HafenCity Universität (HCU) in Hamburg und Experte für umweltgerechte Stadt- und Infrastrukturplanung. In den vergangenen Jahren hat er mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Rahmen des „BlueGreen-Streets“-Projekts Werkzeuge und Methoden entwickelt, um Städte gezielt abzukühlen. Ein zentraler Hebel ist dabei der Umbau der Straßen. „Im Gegensatz zu vielen Gebäuden gehören die Straßen den Städten. Die Politik und die Verwaltung haben es demnach in der Hand, diese Flächen relativ schnell an die neuen Gegebenheiten anzupassen“, sagt er.
In der Praxis heißt das: auf der Fläche zwischen den Gebäuden ausreichend blaue und grüne Infrastruktur einplanen, also ausreichend Flächen für Wasser, Bäume und Grün anzulegen. „Die zentrale Aufgabe ist, den Wasserkreislauf wieder in Gang zu bringen und über Speichersysteme im Boden das Stadtgrün auch während Trockenperioden mit Wasser zu versorgen“, sagt Richter. Nur wenn das gelingt, können Bäume ihre Aufgabe erfüllen und in den Sommermonaten Wasser verdunsten und die Zentren abkühlen.

„Im Gegensatz zu vielen Gebäuden gehören die Straßen den Städten.“

Dr. Michael Richter, HafenCity Universität Hamburg

Königstraße in Hamburg-Altona: Wo jetzt noch Beton und Asphalt den Eindruck prägen, will die Hansestadt eine „Straße der Zukunft“ errichten.

Blaugrünes Projekt

Einige der Elemente, die Richter mit seinen Kolleginnen und Kollegen entwickelt hat, um Stadtbäume besser mit zu Wasser versorgen, wurden im Rahmen von „BlueGreenStreets“-Projekten bereits in Berlin und Hamburg getestet. Außerdem begleiten die Wissenschaftler den Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG), den Umbau der Königstraße zur „Straße der Zukunft“. Für Hamburg ist das ein Leuchtturmprojekt. Auf der 1,2 Kilometer langen Straße zwischen der Reeperbahn und dem Altonaer Rathaus verknüpft die Hansestadt Klimaschutz und Klimaanpassung mit der Mobilitätswende.
Es ist ein Umdenken in großem Stil. Die Flächen für die Alltagsmobilität sollen dort in den kommenden Monaten grundlegend neu verteilt werden. Geplant ist, die zwei äußersten Fahrstreifen der vierspurigen Straße jeweils zu 2,5 Meter breiten Protected Bikelanes umzubauen und die Gehwege auf 2,65 m zu verbreitern. Zusätzlich werden mehr Grünstreifen angelegt und 47 zusätzliche Bäume gepflanzt. Sie sollen der Straße Allee-charakter verleihen und Grünanla-gen miteinander verbinden, die noch von der Königstraße zerschnitten werden.
Damit sich die Bedingungen für Radfahrende bereits vorher verbessern, wurden 2021 76 Parkplätze am Fahrbahnrand provisorisch entfernt und mit Farbe zu Radwegen markiert. Fahrspuren können relativ schnell mit Farbe, Poller, Baustellenbaken oder Fahrbahnschwellen in alltagstaugliche Radspuren verwandelt werden. Bei Grünanlagen ist das deutlich schwieriger. Trotzdem lohnen sich laut Richter auch hier provisorische Lösungen.
„Pop-up-Lösungen schaffen sofort Entlastung für Anwohnende, Radfahrer und Fußgänger und überbrücken die Zeit bis zum Umbau“, sagt er. Das zeigt das Beispiel vom Jungfernstieg in Hamburg. Der breite Prachtboulevard mit Blick auf die Alsterfontäne wurde 2020 für den privaten Autoverkehr provisorisch gesperrt. Seitdem teilen sich Radfahrer*innen dort die Fahrbahn mit Bussen und Taxis. In der Mitte der vier Fahrspuren wurden Pflanzkübel für Bäume und Blumen aufgestellt sowie Stadtmöbel zum Verweilen. Seitdem überqueren die Menschen entspannt die Straße und nutzen den gewonnenen Raum. Wird der Zeitplan eingehalten, rücken im kommenden Sommer die Baufahrzeuge an. Dann wird die Breite der Fahrbahn baulich reduziert und an der Wasserseite eine vierte Baumreihe angelegt.
Neue Bäume zu pflanzen oder großzügige Grünanlagen anzulegen, funktioniert in der Regel nur beim Sanieren von Straßen oder im Neubau. Selbst dann ist das Pflanzen von Bäumen laut Richter oft schwierig. Das liegt am Erdreich. Der Untergrund ist in Innenstädten stark verdichtet. Unter der Fahrbahn verläuft eine Vielzahl von Kabeln und Rohren für Gas, Strom, Telekommunikation und vieles mehr. Am Jungfernstieg befindet sich außerdem der Zugang zu einer U- und S-Bahnhaltestelle. Neue Bäume zu pflanzen, ist hier eine Herausforderung. Neben dem Platz im Erdreich für ihre Wurzeln fehlt den Bäumen obendrein oft das Wasser.
Wie in vielen anderen Städten war auch in Hamburg lange die Vorgabe: Regenwasser soll schnellstmöglich in die Kanalisation geleitet werden. In der Königstraße soll dieser Prozess nun rückgängig gemacht werden. „Entscheidend ist, dass wir den Wasserkreislauf wieder in Gang bringen“, sagt Uwe Florin, Mitarbeiter der Abteilung „Grün“ beim Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG). Mit Mitarbeitern des „BlueGreenStreets“-Projekts will die LSBG verschiedene neue Systeme testen, um die entsiegelten Flächen zu bepflanzen und zu bewässern. Das saubere Niederschlagswasser von den öffentlichen Flächen wird in der Königstraße direkt zu den Bäumen oder in die Grünflächen geleitet, damit es dort versickern kann. Das entlastet bei Starkregen das Siel und reduziert das Risiko von Überschwemmungen.
Für die Bäume werden außerdem sogenannte Baumrigolen angelegt. Ihr Markenzeichen ist, dass ihre Pflanzmulden größer sind als die herkömmlicher Stadtbäume. Das gilt für die unversiegelte Oberfläche wie für die Pflanzmulde. Zudem leiten die verwendeten Materialien, wie Kies und andere Substrate, das Regenwasser entweder direkt ins Grundwasser und ins umliegende Erdreich oder sie speichern es wie ein Schwamm, um es nach und nach ins umliegende Erdreich abzugeben. Auf diese Weise sollen Bäume Hitzeperioden besser überstehen und an heißen Tagen die Umgebung kühlen.

Vorher, nachher: Der Sankt-Kjelds-Platz in Kopenhagen ist nach dreijähriger Umbauphase kaum wiederzuerkennen.

Bäume machen einen Unterschied

Mehr Bäume sind entscheidend, um das Stadtklima zu verbessern. Sie sind natürliche Klimaanlagen. Ihr Blätterdach hält die Sonnenstrahlen ab und beim Verdunsten von Wasser kühlen sie ihre Umgebung. „Im Idealfall senkt ein ausgewachsener Baum die Temperatur seiner Umgebungsluft um etwa fünf Grad“, sagt Florin. Das steigert die Aufenthaltsqualität und macht Radfahren oder Zufußgehen selbst an heißen Tagen erträglich.
„Wir versuchen blue-green, also mehr Wasser und Grün, inzwischen bei jeder Straßenbaumaßnahme in Hamburg umzusetzen, und es gelingt uns sehr häufig“, sagt Professorin Dr. Gabriele Gönnert, die bei der LSBG den Fachbereich Hydrologie und Wasserwirtschaft leitet. Aber die Flächenkonkurrenz ist groß – auf der Straße wie im Untergrund.
Torsten Perner kennt das aus seinem Alltag. Er ist Verkehrsplaner bei Ramboll, einem international tätigen Beratungsunternehmen, das auch im Bereich Stadt- und Verkehrsplanung tätig ist. „Die verschiedenen Behörden, die Industrie, die Wirtschaftskammer, Umweltverbände und viele andere ringen bei der Planung um jeden halben Meter Straßenraum“, sagt er. Um die Straßen jetzt fit für die Zukunft zu machen und ausreichend Platz für Grünanlagen und für den Rad- und Fußverkehr unterzubringen, sei ein Umdenken bei der Stadt- und Verkehrsplanung notwendig. „Wir müssen die Straße neu denken“, sagt er, „sie ist mehr als Verkehr auf 20 bis 40 Meter Breite.“ Gut gestaltet werde sie zum attraktiven Aufenthaltsraum mit verschiedenen Funktionen, den die Menschen gerne passieren.

Der Steindamm zählt nicht unbedingt zu Hamburgs schönsten Straßen. Dass bei der Umgestaltung der Straße kaum Parkplätze entfernt wurden, ändert daran wenig.

Umdenken nach Milliardenschaden

Wie das aussehen kann, macht Kopenhagen vor. Die dänische Hauptstadt war zwischen 2010 und 2014 dreimal von Starkregen und Überflutungen betroffen. Der stärkste Wolkenbruch im Juli 2011 überflutete Straßen und Keller und verursachte Schäden von fast einer Milliarde Euro. Daraufhin hat die Stadtverwaltung mit dem Kopenhagener Ver- und Entsorgungsbetrieb 2012 den Sky-brudsplan (Wolkenbruchplan) beschlossen. Dieser legt fest, wie die Stadt zukünftig vor Überschwemmungen geschützt werden soll. 300 Projekte wurden innerhalb von drei Jahren identifiziert, die in den nächsten 20 Jahren schrittweise umgesetzt werden, um die Stadt zur Schwammstadt umzubauen.
Dazu gehören der Sankt-Kjelds-Platz und die angrenzende Straße Bryggervangen im Stadtteil Osterbro. Etwa 25 Prozent der Fläche des Platzes und der Straße wurden entsiegelt und zu einem grünen Regenwasserschutzgebiet umgewandelt. Der Boden ist dafür teilweise abgesenkt worden und es wurden 586 neue Bäume gepflanzt. Bei Starkregen kann sich das Wasser in den Vertiefungen sammeln und langsam versickern.
Wer sich die Vorher-Nachher-Bilder anschaut, erkennt die Umgebung rund um den Platz und die Straße Bryggervangen nach dreijähriger Umbauphase kaum wieder. Wo früher der Boden versiegelt war und Autos parkten, laufen heute Passanten auf verwinkelten Wegen zwischen Bäumen und Büschen zur Arbeit, zum Einkauf oder zum Parkhaus. Zahlreiche begrünte Ecken und Nischen mit und ohne Sitzgelegenheiten laden die Anwohner*innen dazu ein, Zeit draußen zu verbringen.
Der Sankt-Kjelds-Platz und die Bryggervangen Straße wurden komplett neu strukturiert. Um Ähnliches in Deutschland zu realisieren, müssten nach den Ramboll-Experten alle Beteiligten Abstriche machen. Stets mit dem Ziel vor Augen, die Straße fit für den Klimawandel zu machen. „Dazu gehört, dass Radfahrer sich mit schmaleren Wegen zufriedengeben, wenn die Straße zu schmal ist“, sagt Perner. Im Gegenzug drosseln Autofahrer ihr Tempo auf 30 km/h, damit Radfahrer sicher unterwegs sind. Das funktioniert momentan jedoch nur in der Theorie. In der Praxis dürfen laut Straßenverkehrsordnung die Verkehrsplaner Tempo 30 nur in Ausnahmefällen anwenden.
Ein schnelles Mittel, um mehr Grün in die Straßen zu bringen, ist laut Perner auch der Umbau von Parkplätzen an Hauptverkehrsstraßen. „Mit dem gezielten Abbau dieser Parkplätze kann schnell viel Fläche für Grün geschaffen werden“, sagt Perner. Für ihn ist das überfällig. Aber viele Städte tun sich damit schwer. Auch Hamburg. Beim Umbau der Hauptstraße Steindamm wurden von den 132 Parkplätzen beispielsweise nur 31 entfernt.
„Bisher ist die Klimaanpassung eine freiwillige Aufgabe von Kommunen“, sagt Richter. Er fordert einen zentralen Klimaanpassungsplan, der bundesweit gültig ist. „Nur so schaffen wir es, schnell von der Phase der Pilotprojekte zur Standardanwendung in der Praxis zu kommen“, sagt er. Die Zeit drängt. Das hat der Sommer 2022 gezeigt.

Zukunft Schwammstadt

Für etliche Stadtplanerinnen und Verkehrsforscherinnen ist die Schwammstadt eine Lösung, um die Städte an die Folgen des Klimawandels anzupassen. Wenn es regnet, sollen die Grünflächen so viel Wasser aufnehmen und speichern wie nur möglich. Richtig angelegt, haben sie eine Doppelfunktion. Sie werden zu einem natürlichen Klärwerk. Die Pflanzen, Erdreich und Mikroorganismen filtern die schädlichen Inhaltsstoffe aus dem Wasser, bevor es tiefer in den Boden sickert.
So können die Grundwasserspeicher wieder aufgefüllt werden und die wie Schwämme vollgesogenen Böden über längere Zeit Wasser an die Pflanzen ringsum abgeben. Berlin investiert massiv in neue Stauräume. Bis 2024 sollen gut 300.000 Kubikmeter Zwischenspeicher entstehen. Bei starken Regenfällen soll das Wasser über Notwasserwege auf Sport- und Spielplätze fließen, um kritische Infrastrukturen zu schützen. Damit soll verhindert werden, dass das alte Mischkanalsystem überläuft und das Schmutz- und Regenwasser ungefiltert samt schädlicher Stoffe in die Gewässer fließt.

Link zu Toolbox A und B

Mit seinen Kolleginnen hat der Wissenschaftler im Rahmen des „BlueGreenStreets“-Projekts die einen Leitfaden nebst Praxisbeispielen entwickelt. Beides soll Planerinnen und Praktiker*innen dabei helfen, Lösungen für ihre Straßenzu entwickeln.

repos.hcu-hamburg.de/handle/hcu/638


Bilder: SLA, Andrea Reidl, stock.adobe.com – Jusee

In den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten haben sich Städte immer wieder neu angepasst und neu erfunden: vor dem Hintergrund von technologischen und sozialen Entwicklungen, Kriegen, Epidemien, Naturkatastrophen, aber auch enormem wirtschaftlichen Wachstum, sprunghafter Bevölkerungszunahme und vielem anderen. Auch heute stehen die Städte vor einem hohen Transformationsdruck – besonders im Verkehrssektor. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Klimawandel. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Die Richtung, in die es bei der anstehenden Transformation der Städte gehen soll bzw. muss, ist in der breiten Bevölkerung noch nicht angekommen. Unter Fachleuten und zunehmend auch in der Politik und in den Verwaltungen gibt es hier jedoch inzwischen einen breiten Konsens, auch wenn über das Wie, das Wann und um die Finanzierung noch diskutiert und gestritten wird. Im Kern geht es dabei um die Notwendigkeit, Städte gleichzeitig klimaneutral zu machen und resilienter gegen die Auswirkungen des Klimawandels. Gegen große Hitzewellen mit Rekordtemperaturen und anhaltender Trockenheit, gegen Starkregen, Stürme und über die Ufer tretende Flüsse und Meere. Dazu kommt die demografische Entwicklung mit immer mehr Älteren und, nicht zu vernachlässigen, weitere wichtige Themen wie soziales Miteinander, allgemeine Lebensqualität und als Kernpunkt bezahlbare Mobilität für alle.

77 %

der Menschen in Deutschland
leben in Städten oder Ballungszentren.

Städte und Umland neu denken

Statistisch gesehen leben fast 70 Prozent aller Deutschen in Orten mit weniger als 100.000 Einwohnern. Warum also, so könnte man fragen, liegt der Fokus auch hierzulande auf den urbanen Zentren? Die Antwort liegt darin, dass im dicht besiedelten Deutschland mit 230 Menschen pro Quadratkilometer nicht klar abzugrenzen ist, wo die Stadt endet und wo das Land beginnt. 77 Prozent der Menschen leben in Städten oder Ballungsgebieten und nur 15 Prozent in Dörfern mit weniger als 5.000 Einwohnern. „Wir haben eine urbanisierte Gesellschaft. Das gilt auch für den ländlichen Raum“, sagt die Geografie-Professorin Ulrike Gerhard von der Universität Heidelberg. „Stadt und Umland gehören zusammen.“ Die Lebensweisen unterschieden sich kaum, Pendlerströme flössen in beide Richtungen. Das gilt in besonderem Maße für Kleinstädte und Dörfer in der Umgebung von Großstädten. Sie prosperieren, während anderswo ganze Regionen massiv unter Landflucht leiden. Vor diesem Hintergrund macht es sicher Sinn, sich über die Funktion von Städten und ihren Problemen Gedanken zu machen.
Einen anderen Ansatz stellen Stephan Jansen und Martha Wanat in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Bewegt Euch. Selber! Wie wir unsere Mobilität für gesunde und klimaneu-trale Städte neu erfinden können“ in den Mittelpunkt. Hier heißt es: „Städte sind die Stätten des Stresses, des Klimawandels, der Pandemien, aber eben seit ihrer Gründung auch die Orte der ganzheitlichen Gesundheit und der Innovation und Transformation für das, was wir Fort-Schritt nennen. Städte verdichten Probleme der Gesellschaft – und sind zugleich Lösungslabore dieser Probleme.“ Anknüpfend an Vordenker wie Prof. Dr. Jan Gehl (u.a. „Städte für Menschen“), Mikael Colville-Andersen (u.a. Copenhagenize) oder Prof. Dr. Carlos Moreno (Konzept 15-Minuten-Stadt) vertreten sie zudem ein Konzept, in dem die Rolle der Mobilität auf eine andere Art definiert wird. „Mobilität ist wichtig, weil sie überall verfügbar sein sollte, aber sie sollte nicht im Mittelpunkt stehen, so wie wir das mit dem Auto in den letzten 100 Jahren getan haben“, so Martha Marisa Wanat. „Im Vordergrund sollte immer das Soziale sein und immer die Lebensqualität der Bewohner*innen des Quartiers – mit Spiel- und Sportplätzen, Grünflächen, Cafés und Läden für Dinge des täglichen Bedarfs.“ Tatsächlich lässt anhand der Vergangenheit gut zeigen, wie sehr die Zunahme des Autoverkehrs dazu beigetragen hat, nachbarschaftliche Beziehungen zu zerstören, Rad- und Fußverkehr zu behindern und das Aussterben der Nahversorgung vor Ort voranzutreiben.

„Mobilität sollte nicht im Mittelpunkt stehen, so wie wir das mit dem Auto in den letzten 100 Jahren getan haben. Im Vordergrund sollte immer das Soziale sein und immer die Lebensqualität der Bewohner*innen des Quartiers.“

Martha Marisa Wanat

Gesunde Stadt der kurzen Wege

Anfang des Jahres hat AGFS-Vorständin Christine Fuchs im Veloplan-Interview (Ausgabe 01/2022) die neuen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e.V. beschrieben. „Unsere Vision ist die einer gesunden Stadt. Die Frage ist, wie vereinbaren wir die Bedürfnisse der Nahmobilität mit einer grünen Infrastruktur (…) sowie einer blauen Infrastruktur, mit der wir für eine Bewässerung sorgen und Städte besser vor Hochwasser schützen.“ Nicht zu vergessen seien neben Umweltgesichtspunkten auch Umfeldthemen, also Aufenthaltsqualität, Stadt der kurzen Wege, Bewegung, Sicherheit etc. „Wir vertreten die Auffassung, dass sich die Nahmobilität und die grüne und blaue Infrastruktur hervorragend ergänzen.“
Wie das aussehen kann, hat Carlos Moreno, Professor für komplexe Systeme und intelligente Städte an der Pariser Sorbonne ausgearbeitet und zusammen mit der Bürgermeisterin von Paris Anne Hidalgo in Teilen in der französischen Hauptstadt bereits umgesetzt. Die Stadt der Nahmobilität oder der kurzen Wege ist für ihn eine 15-Minuten-Stadt, das heißt alles, was die Menschen benötigen, ist innerhalb von einer Viertelstunde ohne Auto erreichbar – für das Umland geht er von 30 Minuten aus. Dieses Konzept beschreibt er als einen neuen, „holistischen“ Ansatz: Zum einen würde damit der nachhaltige Konsum in der Nachbarschaft gefördert und zum zweiten die Lebensqualität in den Quartieren und Stadtvierteln bleibend erhöht. Mit dem Konzept verbunden ist für ihn die Notwendigkeit, angesichts der Klimakrise unsere Gewohnheiten zu ändern. “Wir müssen einen neuen Lebensstil entwickeln“, erläutert Prof. Moreno. Die polyzentrische 15-Minuten-Stadt sei mit verschiedenen kaskadierenden Effekten dazu der richtige Weg. „Wir müssen einen neuen Weg aufzeigen, wir brauchen Transformation und wir brauchen ein Bekenntnis dazu.“

Die achtspurige Avenue des Champs Élysées zählt wohl zu den bekanntesten Stadtstraßen der Welt. Bis 2030 soll dort der Autoverkehr weitgehend verdrängt werden.

Großer Veränderungsdruck

„Die Politik und die Bevölkerung sind in Deutschland sehr träge, wenn es um Veränderungen im Verkehr geht“, sagt Lars Zimmermann vom Hamburger Büro Cities for Future. „Aber der Veränderungsdruck ist da und vielen ist klar, dass die Veränderungen viel schneller und stärker passieren müssen.“ Die Mission des Büros ist es, Städten, Gemeinden und Unternehmen zu helfen, die Klimaziele zu erreichen und damit gleichzeitig lebenswertere Städte zu gestalten. Für Lars Zimmermann, der fast ein Jahrzehnt in den Niederlanden gelebt hat, ist der Wandel möglich und machbar: „Die Zukunftsvision für Deutschland ist in den Niederlanden bereits Realität!“ Letztlich käme es auf den Willen an. „Der Wandel ist möglich, aber wir brauchen ein ganz anderes Tempo.“ Letztlich hätte die Corona-Pandemie eindeutig gezeigt, was alles machbar sei, wenn man Veränderungen wolle. Diese Erkenntnis lasse sich auch auf andere Bereiche übertragen. Dem Radverkehr müsse im Rahmen einer Gesamtstrategie eine höhere Priorität eingeräumt werden als dem Autoverkehr. Radfahren müsse als einfachste, logischste und selbstverständlichste Verkehrsart etabliert werden, die für alle den größten Benefit bietet. Insgesamt sieht er große Chancen für einen grundlegenden Wandel. „Die Ausgangsvoraussetzungen für Veränderungen waren noch nie so gut.“

Unternehmen reagieren

Den Veränderungsdruck spüren mittlerweile nicht nur Fachleute aus den Bereichen Stadtplanung und Verkehr oder Lokalpolitiker; auch die Unternehmen sehen für sich und mit Blick auf die Kundinnen und Kunden einen deutlichen Veränderungsbedarf. Bei größeren Unternehmen spielen dabei die ESG-Kriterien (Environmental Social Governance, deutsch: Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) der Vereinten Nationen bzw. die daraus resultierenden Maßnahmen der EU eine immer größere Rolle. Unternehmen müssen sich heute beispielsweise fragen, wie die Umweltbilanz ihres Fuhrparks aussieht oder wie die Mitarbeitenden ins Unternehmen kommen. Die Deutsche Telekom arbeitet beispielsweise aktuell an einer App für Mobility as a Service und will ab dem 1. Januar 2023 bei neuen Geschäftsfahrzeugen ausschließlich auf Elektromodelle setzen.
Auch der Handel sieht mehr und mehr die Notwendigkeit für kurze Wege und gute Erreichbarkeit ohne Auto. Beispiel Ikea: Statt großflächiger Häuser auf der grünen Wiese gibt es jetzt sogenannte Planungsstudios, die eine Brücke bauen zwischen dem Angebot im Internet und dem Erlebnis vor Ort. In den wenige Hundert Quadratmeter großen Geschäften wird ein ausgewähltes Sortiment gezeigt, inklusive Musteroberflächen oder -stoffen. Kunden können sich beraten lassen, planen und sich die ausgesuchte Einrichtung, alternativ zur klassischen Abholung, bequem nach Hause liefern oder auch direkt aufbauen lassen. Andere Anbieter, wie die Rewe-Gruppe, arbeiten im Lebensmittelhandel mit innovativen Filialkonzepten und speziell auf die Bedürfnisse vor Ort ausgerichteten Angeboten. Dazu gehören Mini-Shops in hochfrequentierten Lagen, wie Einkaufsstraßen, Bahnhöfen oder Tankstellen, ebenso wie Geschäfte mit einem breiten Feinkost-Sortiment und angeschlossener hochwertiger Gastronomie, die auch gut situierte Kunden zum Stöbern und Verweilen einlädt. Auch die Discounter drängen inzwischen in die Innenstädte und passen das Konzept und das Sortiment entsprechend an. Statt Großpackungen und Einkaufswagen gibt es alles für den täglichen Bedarf, Frischwaren und auch gekühlte Getränke. Dem Vernehmen nach arbeitet man sowohl bei Aldi als auch bei der Schwarz Gruppe (Lidl und Kaufland) mit Hochdruck daran, bestehende Filialen mit großen Parkflächen zu Lade- und Mobilitätsstationen auszubauen und viele kleine Filialen neu in den Vierteln und nah bei den Menschen zu eröffnen.

Die urbane Zukunft kommt

Wie sehen Städte und Stadtzentren künftig aus? Was folgt nach dem Niedergang der großen Kaufhäuser und wie gestaltet man die Transformation? Auch hier lohnt sicher ein Blick in die französische Hauptstadt. Bis 2030 zu den Olympischen Spielen in Paris 2024 soll die viel befahrene Champs-Élysées für 250 Millionen Euro komplett umgestaltet und zu dem werden, was sie einmal war: eine Prachtstraße mit viel Platz zum Flanieren und Verweilen – nicht nur für Touristen, sondern auch wieder für die Einwohner der Stadt. Wer nicht so lange warten will, kann sich auch bei der „Urban Future 2023“ informieren. Europas größtes Event für nachhaltige Städte findet im kommenden Jahr vom 21. bis 23. Juni in Stuttgart statt. Zur hochkarätigen Konferenz, auf der sich „Zukunftsmacher“ und „top-level city leaders from hundreds of cities in Germany, Europe and beyond“ treffen, werden 2.500 Gäste erwartet. Mehr unter urban-future.org


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Der Klimawandel ist in Wien schon spürbar. Die Stadt baut um und schafft mit „coolen Straßen“ erfrischende Oasen für die Bewohner vor der Haustür. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Temperaturen über 30 Grad sind im Sommer in Wien keine Seltenheit mehr. Mit zusätzlichen Sitzgelegenheiten, Trinkbrunnen und Sprühnebel schafft die Stadt kühle Orte zum Aufhalten im Freien

Seit Jahren landet Wien bei Rankings lebenswerter Städte auf den vordersten Plätzen. Das hat einen Grund. Die Politik räumt dem eine hohe Priorität ein und treibt unter anderem den Umbau der autogerechten Stadt zur „Smart City“ massiv voran. Und der Druck auf die Politik bleibt hoch. Der Klimawandel setzt den Einwohnern, wie in anderen Städten, mehr und mehr zu. Im Sommer 2019 wurde hier bereits an über 40 Tagen die 30-Grad-Marke geknackt. Jeden Tag heizt sich die Stadt in diesen Perioden weiter auf und es bilden sich Hitzeinseln. Mit gezielten Pop-up-Projekten versucht Birgit Hebein, bis November 2020 Wiener Vizebürgermeisterin und Stadträtin für Stadtentwicklung, Verkehr, Klimaschutz, Energieplanung & BürgerInnenbeteiligung, die Hitzeinseln im Zentrum zu entschärfen und den Menschen gleichzeitig mehr Platz im öffentlichen Raum zu schaffen. Ein nachahmenswertes Beispiel sind die „coolen Straßen“ in Wohngebieten.

So lässt es sich aushalten: Der Sprühnebel sorgt für Erfrischung und kühlt gleichzeitig die Umgebung. Die Stelen stehen an Plätzen und in Straßen, die sich besonders stark aufheizen und wo außerdem viele Kinder und Senioren leben.

Coole Straßen als Erfrischungszonen

„Coole Straßen“ sind autofrei. Selbst das Parken ist dort verboten. Die Anwohner können den Platz mit Liegestühlen, Planschbecken, Spielen oder Grünpflanzen frei gestalten. Die Stadt steuert Pflanzen bei und installiert Stelen, die mit Sprühnebeln für Erfrischung sorgen. Der Testlauf im vergangenen Jahr in drei Straßen kam so gut an, dass das Projekt für Juni 2020 auf 18 Straßen ausgedehnt wurde. Rückblickend war das ein Glücksgriff. Denn aufgrund der Corona-Pandemie haben viele Wiener den Sommer in der Stadt verbracht. Die Standorte für mögliche Erfrischungszonen im Stadtzentrum hatte die Verwaltung bereits im vergangenen Jahr anhand von Hitzekarten festgelegt. „Es wurden die Stellen in der Stadt identifiziert, die sich besonders stark aufheizen und wo außerdem viele Kinder und Senioren leben“, sagt Kathrin Ivancsits, Sprecherin der Mobilitätsagentur der Stadt Wien. Kleinkinder und ältere Menschen leiden besonders unter den lang anhaltenden hohen Temperaturen. Selbst in der Nacht, weil die Betonschluchten die Hitze speichern und noch viele Stunden nach Sonnenuntergang abgeben.
Der neu gewonnene Platz wurde bestens angenommen. „Die Kinder eignen sich die Flächen sofort an“, sagt Kathrin Ivancsits. Erwachsene brauchten ihrer Erfahrung nach manchmal etwas länger, um sich den öffentlichen Raum tatsächlich zurückzuerobern. Aber von Juni bis September nutzten die Anwohner in fast allen „coolen Straßen“ den neu entstandenen Park vor der Haustür intensiv zum Klönen, um Zeitung zu lesen oder einfach nur um ihrer aufgeheizten Wohnung zu entfliehen. Die Erfrischungszonen vor der Haustür machten es ihnen leichter, die Hitze in der Stadt zu ertragen.

Per App zur Stadterfrischung

175 Nebelduschen, 1.000 Trinkbrunnen, 22 coole Straßen und rund 1.000 Parks gibt es mittlerweile in Wien. Seit ein paar Monaten kann man sich per App auf den kürzesten Weg zu den Plätzen navigieren lassen. Die App „Cooles Wien“ hat die Umweltstadträtin Ulli Sima initiiert. Für sie ist klar, dass jede Maßnahme für sich nur wenig bewirkt. In ihrer Gesamtheit machten sie vielen Stadtbewohnern den Alltag bei Hitze aber deutlich leichter.

Erfolgreiche Pilotprojekte machen Lust auf mehr

Die Messungen der Stadt haben gezeigt, dass die Temperaturen in den coolen Straßen um bis zu fünf Grad sanken. Die größte Abkühlung bringen die Sprühnebel. Inzwischen wurden vier dauerhafte „Coole Straßen Plus“ eingerichtet. In den Straßen oder Straßenabschnitten ist nun der Verkehr beruhigt; es wurden neue Bäume gepflanzt, Wasserspiele, Trinkbrunnen und Nebelduschen installiert und Sitzmöglichkeiten geschaffen. Wo es möglich ist, sollen noch Teile der Fassaden begrünt werden. Die coolen Straßen passen gut ins Konzept der Stadt, den Platz neu zu verteilen. Seit Jahren baut Wien den Verkehrsraum strategisch in Freiräume für Menschen um. Das berühmteste Beispiel ist die Mariahilfer Straße. Sie war über Jahrzehnte eine Hauptverkehrsader für Autofahrerinnen vom Westbahnhof in die Innenstadt. 2015 hat die Stadt ein 1,8 Kilometer langes Teilstück in eine Begegnungszone umgebaut. Seitdem sind dort Auto-, Rad- und Rollerfahrer sowie Fußgänger gleichberechtigt. Das heißt: Alle müssen aufeinander Rücksicht nehmen. In dem Maß, wie in der Mariahilfer Straße Wege und Parkplätze für Autos verringert wurden, wurde hier mehr Platz für Menschen geschaffen. In regelmäßigen Abständen wurden in der Begegnungszone Bänke, Sitzgruppen und Spieltische aufgestellt. Sie sind teilweise überdacht, damit die Menschen bei Regen und Sonnenschein Schutz finden.

Zu Beginn der Corona-Pandemie hat Wien sogenannte Bewegungszonen eingerichtet. Sie sollten Fußgänger zum Spazierengehen einladen und gleichzeitig das Abstandhalten dort leicht machen, wo die Gehwege schmal sind.

Corona ändert die Platzverteilung

„Die Corona-Krise hat uns noch deutlicher vor Augen geführt, dass der Raum in Wien ungleich verteilt ist: Zwei Drittel des Platzes ist durch parkende Autos belegt, für die Menschen wird es an manchen Orten zu eng“, sagt Birgit Hebein. Die Fußwege sind mancherorts so eng, dass die Menschen die Abstandsregeln nicht einhalten konnten. Damit sie sich dort trotzdem sicher bewegen konnten, hatte die Vizebürgermeisterin seit April 26 „temporäre Begegnungszonen“ eingerichtet. Für einige wurde die Laufzeit bis Ende Oktober immer wieder verlängert. Die Regeln dort schränken Autofahrer ein. Für sie gilt Tempo 20 und sie müssen auf Fußgänger Rücksicht nehmen. Diese sind dort gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer und dürfen auch auf der Fahrbahn gehen.

Wien misst seit 25 Jahren die Lebensqualität

Seit 1995 erstellt die Stadt Wien zusammen mit der Universität Wien alle fünf Jahre eine Lebensqualitätsstudie als sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung. Der Vorteil der wiederkehrenden Befragungen ist, dass auch Veränderungen im Zeitverlauf sichtbar gemacht werden. Der letzte Bericht aus dem Jahr 2018 beschäftigt sich vertiefend mit den Themen Stadtentwicklung, Mobilität und Umwelt – Themen, die laut den Machern von großer gesellschaftlicher Brisanz sind. Ein erster Themenblock befasst sich mit der Frage, wie in Wien lebende Personen die Tatsache beurteilen, dass Wien eine wachsende Stadt ist. Dabei wird genauer beleuchtet, wie sich verschiedene Einflussfaktoren wie etwa Geschlecht, Einkommen oder Migrationshintergrund auf die Einstellung gegenüber Wiens Stadtwachstum auswirken.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Lebensqualität in Wiens Wohngebieten. Dabei werden besonders die Zufriedenheiten bestimmter Teilbereiche der Lebensqualität genauer betrachtet. Im dritten Kapitel geht es um die Mobilität mit Blick auf die Entwicklung der Verkehrsmittelnutzung, die Fragestellung, welche Faktoren die Einstellung zum Auto und zu verschiedenen Maßnahmen im Bereich Mobilität beeinflussen, und die Parkplatzsituation in den verschiedenen Bezirken.

Informationen und Download unter

https://www.wien.gv.at/stadt entwicklung/grundlagen/stadt forschung/soziologie-oekono mie/lebensqualitaetsstudien/


Bilder: Christian Fürthner ­– Mobilitätsagentur Wien, PID – Christian Fürthner