Mit dem Entschluss, die wohl berühmteste Allee der Welt komplett neu zu gestalten und dafür 225 Millionen Euro zu investieren, hat Paris ein starkes Zeichen für die Transformation der Stadt gesetzt. Statt Durchgangsverkehr, Lärm, Hitze und Smog soll es künftig ein grünes Band mit viel Platz zum Flanieren, Verweilen und nur noch Langsamverkehr geben.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)
Paris geht voran: flächendeckend Tempo 30 sofort, 170.000 neue Bäume und sichtbare Ergebnisse bis zu den Olympischen Spielen 2024.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die ehemalige Prachtstraße mit Ladengeschäften für Luxusartikel, teuren Cafés und den weltweit höchsten Gewerbemieten zu einer Hauptverkehrsader mit 3.000 Fahrzeugen pro Stunde gewandelt. Attraktiv ist die rund zwei Kilometer lange Allee vom Louvre-Palast zum Triumphbogen nach den Analysen der Architekturfirma PCA-Stream, die das Projekt mit initiierte, nur noch für Tourismus und Unternehmen. Von den schätzungsweise 100.000 Menschen, die hier vor der Pandemie täglich unterwegs waren, entfielen 72 Prozent auf Touristen, vorwiegend aus dem Ausland, und 22 Prozent auf dort Arbeitende. Von Pariserinnen und Parisern selbst wurde die berühmte Meile, abgesehen von Großveranstaltungen wie der jährlichen Parade am Nationalfeiertag, eher gemieden. Mit zum Niedergang haben zuletzt auch Ausschreitungen der „Gelbwesten“, die Gesundheits- und Wirtschaftskrise und nicht zu vergessen auch der Internethandel beigetragen. Deshalb brauchte nicht nur die Allee, sondern das ganze Viertel eine neue Perspektive. Dazu kommen als weitere zunehmende Probleme Smog und Hitze in der Stadt, die den Bedarf an Frischluftschneisen und baumbeschatteten Straßen immer drängender machen.
Aufenthaltsqualität? Eingequetscht zwischen acht Autospuren bleibt heute kaum Raum für ein Foto. Nach dem Umbau soll der Platz wieder zum Flanieren einladen.
Breite Zustimmung zum Leuchtturmprojekt
Bei der Neugestaltung geht es nach den Plänen vor allem darum, den Einwohnern das Herz der Stadt zurückzugeben. Aufenthaltsqualität steht deshalb ganz oben auf der Prioritätenliste, mit Bäumen, Parkflächen, Sitzgelegenheiten, Spielplätzen, Außengastronomie und viel Raum für Fußverkehr. Unterstützung für die Änderungen kommt nicht nur aus verschiedenen politischen Lagern, sondern auch von den Unternehmen und aus der Bevölkerung. Die mythenhafte Avenue habe in den vergangenen drei Jahrzehnten ihren Glanz verloren, schreibt das „Komitee Champs-Élysées“, ein Zusammenschluss aus 180 Geschäftsleuten, Kulturschaffenden und Ladeninhabern, das vor zwei Jahren den Architekten Philippe Chiambaretta beauftragte, Vorschläge für die Begrünung und Umgestaltung zu entwickeln. Für eine breite Beteiligung der Bevölkerung sorgte eine Ausstellung mit Entwürfen und Modellen in der Halle Pavillon de l’Arsenal und eine Befragung im Internet, an der 100.000 Menschen teilnahmen. Zurückgedrängt werden soll der Autoverkehr unter anderem durch eine Umverteilung des Raums von acht auf maximal vier geschwindigkeitsreduzierte Fahrspuren mit hellem Straßenbelag, der sich weniger stark aufheizt. Geplant ist wenig Autoverkehr und, zumindest in den ersten Visualisierungen, eine gesonderte Spur für den Radverkehr. Neben der Allee sollen vor allem die berühmten Plätze umgestaltet und begrünt werden. Zum Beispiel der Place de la Concorde mit dem Obelisken und der Place Charles-de-Gaulle (ehem. Place de l‘Étoile) mit dem Triumphbogen. Denn hier werden im Sommer inzwischen regelmäßig Temperaturen von über 40 Grad gemessen. Seitenstraßen sollen zu Fußgängerzonen umgewandelt werden und insgesamt wieder „ein großer Garten“ entstehen.
„Wir müssen ein neues Modell erfinden. Die Stadt der Zukunft ist grün und verkehrsberuhigt.“
Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris
Ziel: Re-Transformation
Bürgermeisterin Anne Hidalgo und die Planer verweisen darauf, dass sie mit der Neugestaltung das Quartier zu seiner ursprünglichen Berufung zurückführen und damit gewissermaßen eine Re-Transformation planen. Denn noch bis 1833 bestanden die Champs-Élysées (übersetzt „die Gefilde der Seligen“) aus Park- und Grünflächen. Erst im 19. Jahrhundert kam es zur systematischen Bebauung und nachfolgend zu dem überbordenden Auto- und Lkw-Verkehr, der heute den Bereich um die berühmten Denkmäler bestimmt. Auch die Umgebung des Eiffelturms soll deshalb künftig grundlegend umgestaltet und begrünt werden. „Wir müssen ein neues Modell erfinden“, so die Bürgermeisterin. Die Stadt der Zukunft sei grün und verkehrsberuhigt. Auch in Bezug auf den zeitlichen Horizont hat sich Paris ambitionierte Ziele gesetzt. In diesem Jahr wird bis auf wenige Ausnahmen flächendeckend Tempo 30 in der Stadt eingeführt, und viele der geplanten Änderungen sollen bereits zu den Olympischen Sommerspielen in Paris im Jahr 2024 umgesetzt sein. Bis 2025 sollen beispielsweise rund 170.000 Bäume gepflanzt werden. Die komplette Umgestaltung der Champs-Élysées soll dann, wie viele andere Projekte der grünen und fahrradfreundlichen „Stadt der 1/4 Stunde“, bis 2030 abgeschlossen sein.
Michel Lussault, Geograf Universität Tours:
„Die Champs-Élysées sind einer jener Hyper-Orte, die die Besonderheit haben, Repräsentationsräume im strengen Sinne des Wortes zu sein, in denen die Dynamik einer Gesellschaft inszeniert wird. In diesem Sinne ist es nicht verwunderlich, dass sich das moderne Modell der Champs-Élysées erschöpft hat, denn es verkörpert, was wir als urbane Gesellschaft geworden sind, das heißt, es zeigt, wie mächtig die Urbanisierung in den letzten sechzig Jahren war, aber auch, wie problematisch ihre Auswirkungen waren. Wenn die Pariser die Champs nicht mehr mögen, und wenn die Champs die Pariser nicht mehr mag, dann liegt das daran, dass dort die Sackgassen eines Entwicklungsmodells inszeniert werden.“
Die französische Hauptstadt, einer der größten Ballungsräume Europas, entwickelt sich zum Vorreiter für die Neuorganisation und Transformation einer Region, mit dem definierten Ziel, mehr Lebensqualität für alle zu schaffen. Bemerkenswert ist der große Konsens bei den Bürgern und in der Politik von links bis rechts. Im Bereich Verkehr geht es mit großen Schritten Richtung Fahrrad, vor allem auch durch das willkommene Engagement versierter Aktiver mit konkreten Plänen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)
Sébastien Marrec ist Wissenschaftler, Spezialist für Fragen der urbanen Mobilität und bekannter sozialmedialer Multiplikator, wenn es um die Radinfrastruktur in Frankreich geht. Und jetzt ist er zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort: „Auf der Welt gibt es nur selten solche Gelegenheiten, wie wir sie gerade hier in Frankreich und insbesondere in Paris erleben“, sagt der Doktorand der Universität Rennes 2, der in der Stadtverwaltung der Hauptstadt recherchiert und mitarbeitet: „Das Fahrradfahren ist der große Gewinner und es gibt eine einzigartige Chance, jetzt die Verkehrsinfrastruktur maßgeblich umzubauen.“ Paris, die Metropole an der Seine, und der Ballungsraum um die Stadt bieten derzeit spannende Erkenntnisse über den Umbau eines Verkehrssystems im laufenden Betrieb. Eine kompakte, verwinkelte, dicht besiedelte und von historischen Gebäuden dominierte Zweimillionenstadt liegt im Herzen eines der größten urbanen Siedlungsräume Europas, der Region Île-de-France mit mehr als zwölf Millionen Einwohnern. Hier drücken nicht nur sehr erfolgreich Fahrrad-Aktivisten aufs Tempo, sondern inzwischen auch Politikerinnen und Politiker von ganz links bis ziemlich weit rechts. Als die Sozialistin Anne Hidalgo 2014 neue Bürgermeisterin von Paris wurde, verkündete sie schnell ambitionierte Pläne. Von einer Linken, noch dazu in einer Koalition mit den Grünen, konnte man das erwarten. Eine Wahlperiode später aber gibt es einen großen Konsens: „Auch die Konservativen haben relativ schnell erkannt, dass man auf das Fahrrad als Verkehrsmittel bauen muss“, sagt Sébastian Compagnon, auf den urbanen Verkehr spezialisierter Redakteur bei der Tageszeitung „Le Parisien“.
„Der Radverkehr ist in der Stadt in den vergangenen zwei Jahren auf das Zweieinhalbfache gewachsen.“
Sébastien Marrec
Stadtspitze geht entschlossen voran
Weniger Stau, bessere Luft, weniger Autos, mehr Lebensqualität: Diese Versprechen und Ziele verband Hidalgo zu Beginn ihrer ersten Amtszeit mit vielen anderen Stadtoberen in Europa. Doch mit symbolkräftigen Maßnahmen und wachsender Entschlossenheit hat die Sozialistin mit ihrer Koalition das Thema auch tatsächlich vorangetrieben. Einen Pflock ins Herz der vormals autogerechten Stadt rammte die neue Stadtregierung bereits 2016, als die Linkskoalition den Autoverkehr von der rechten Seine-Seite auf mehr als drei Kilometern mitten in der City verbannte. Hidalgo sprach von einer „Rückeroberung“. Seither hat sie in der internationalen Öffentlichkeit einen Ruf als Vorkämpferin. Stein van Oosteren, der den Radaktivistinnen und -aktivisten der Region unter dem Dach der Initiative „Colectif Vélo Île de France“ eine Stimme gibt, sieht Hidalgos Antritt auch als einen entscheidenden Moment für den Umbau des gesamten Verkehrs in der Region an. „Im politischen Denken hat sich seither viel verändert.“ Wobei Philipp Hertzog, deutscher Übersetzer in Paris und Aktivist beim Verein „Paris en Selle“ (Paris im Sattel) schon vorher einen wichtigen Grundstein für die Akzeptanz des Fahrrads als Fortbewegungsmittel im Alltag gesehen hat: Vélib‘, das Pariser Bike-Sharing-System, das schon 2007 startete. Aber bis vor einem guten Jahrzehnt war das Fahrrad kein Verkehrsmittel, das die Planer in Paris ernst genommen hätten. Der Anteil des Radverkehrs am Straßenverkehr betrug 2010 entsprechend nur etwa 3Prozent im Stadtgebiet und 1,6 Prozent im Großraum Paris. So annoncierte die Stadtregierung unter Hidalgos erster Regentschaft ein ambitioniertes Ziel: Bis 2020 den Modal Share der Radfahrer im Stadtgebiet auf 15 Prozent zu bringen. Das hat sicher nicht geklappt. Aber der Anteil der Radfahrer wuchs immerhin schon auf 5 Prozent, so lassen es die Daten der Stadtverwaltung extrapolieren. Der Umbau und die Akzeptanz für das Fahrrad als Fortbewegungsmittel sind rasant vorangeschritten. Und Hidalgo, die 2020 erneut zur Bürgermeisterin gewählt wurde, lässt ihre Verwaltung gerade eine neue Radstrategie ausarbeiten und stockt das Fahrradbüro in der Straßenbau-Administration langsam, aber sicher personell auf. Und so gilt die Seine-Metropole so manchen Medien inzwischen, trotz katastrophaler Ausgangslage, als Musterbeispiel für die „Verkehrswende“ – etwa beim „Spiegel“. Dabei ging es mit den Maßnahmen etwas schleppend los, erst drei Jahre nach Hidalgos Wahl kam einigen Gesprächspartnern zufolge Zug in die Umsetzung des Plans, der mit 150 Millionen Euro budgetiert war und eine Verdopplung der Radwege von 700 auf 1.400 Kilometer vorsah. „Richtig los mit der Umsetzung ging es erst ab 2018“, beobachtete Paris-en-Selle-Aktivist Hertzog. Aber alles braucht seine Zeit und Inspiration: In der Stadtverwaltung musste Know-how aufgebaut werden, während in der Bürgerschaft der Wunsch wuchs, das Fahrrad aufzuwerten. Ein Bürgerhaushalt 2015 war auch die Geburtsstunde von Paris-en-Selle: Junge Radfahrende schlossen sich zusammen und sorgten dafür, dass ihr Thema zum wichtigsten Vorhaben bei dieser Bürgerbeteiligung wurde. In der Folge stellte die Stadt acht Millionen Euro für die Verbesserung der Radinfrastruktur bereit. Ein Meilenstein.
Vélib‘ Métropole
Das Bikesharing-System Vélib‘ Métropole (bis 2018 Vélib) gilt mit über 13.000 Fahrrädern, davon rund ein Drittel E-Bikes, an mehr als 1.200 feststehenden Verleihstationen in Paris und Gemeinden im Umland als das weltweit größte seiner Art. Vélib‘ ist ein Kunstwort, das sich aus den Begriffen Fahrrad (vélo) und Freiheit (liberté) zusammensetzt. Anfang 2018 erhielt ein neues Konsortium die Konzession für 15 Jahre.
Radverkehr mehr als verdoppelt
Wer heute nach Paris schaut, sieht erstaunliche Entwicklungen. „Der Radverkehr ist in der Stadt in den vergangenen zwei Jahren auf das Zweieinhalbfache gewachsen“, erklärt Sébastien Marrec. Ein einschneidendes Erlebnis für die Pariser war der Generalstreik gegen die Rentenreform Ende 2019. Viele Menschen stiegen aufs Fahrrad, um nicht im Stau festzustecken. Es folgte das Corona-Jahr – und dann preschte die Stadtregierung, inzwischen politisch sekundiert von der französischen Regierung, voran. Es entstanden sogenannte Corona-Pistes, gesicherte bidirektionale Fahrradwege auf großen Hauptstraßen. Dafür nahm man dem Autoverkehr Platz weg. 50 Kilometer solcher Strecken waren bis Anfang November auf dem Pariser Stadtgebiet bereits eingerichtet, noch mal 10 Kilometer in Planung. „Was auf diesen Wegen los ist, ist verrückt, vielerorts reichen sie schon nicht mehr aus“, beschreibt Journalist Sébastian Compagnon die aktuelle Lage. Der Umbau geschieht nicht auf Nebenwegen, sondern auf Hauptverkehrsachsen: Auf der Rue de Rivoli zwischen Place de la Concorde und Place de la Bastille, also mitten im Herzen der Stadt, gibt es eine solche Spur. Hidalgo erklärte im September, dass aus einer spontanen Maßnahme eine permanente Infrastruktur werde. „Dort geht es bereits um eine Erweiterung der Radspur“, sagt Compagnon. Woanders dringen die Aktivisten auf einen raschen Ausbau, etwa am Parc de la Villette, wo das Radaufkommen mit bis zu 10.000 Menschen am Tag so groß war, dass die Stadt die Velofahrer mit Hubbeln ausbremste – und die Fahrradbewegung im Januar rote Teppiche auslegte, um einen besseren Streifen zu erstreiten. Andernorts macht die Verwaltung den Fortschritt messbar, inzwischen stehen in Paris 70 Zählstationen. In der Rue d’Amsterdam zwischen der Place de Clichy und dem Bahnhof Saint-Lazare, entstand die erste Fahrradstraße der Stadt. Und auf der Place de Catalogne hat der Radverkehr nun im gesamten Kreisverkehr nicht nur eine gesicherte und in gelber Farbe abgesetzte Spur, sondern auch Vorfahrt. „Man erkennt jetzt, dass es einen Paradigmenwechsel gegeben hat“, erklärt der Forscher Marrec. Die Verwaltung in Paris ist immer stärker dazu übergegangen, eine separate Infrastruktur für Radfahrende einzurichten, anstatt sie auf geteilten Fahrbahnen etwa mit Bussen zu halten. „Man teilt inzwischen den Ansatz der niederländischen Denkschule“, sagt Marrec.
„Die Politik ist gegenüber den Wünschen der Aktivisten immer zugänglicher geworden.“
Stein van Oosteren, Colectif Vélo Île de France
Zivilgesellschaft treibt die Transformation an
Die rasche Transformation geht entscheidend auf das Konto der Zivilgesellschaft – und das macht die Geschichte in Paris noch bemerkenswerter. Die Mitglieder von „Paris en Selle“ sind nur eine von zahlreichen Gruppen, die systematisch fürs Radfahren werben. Philipp Hertzog erklärt, der Fokus liege auf der Infrastruktur. Zudem setzten die Aktivisten seit Beginn ihrer Kampagnen auf klare Botschaften, mit denen die Bürger etwas verbinden. In Paris entstand so die Idee einer „Vélopolitain“. Das ist ein Kunstwort und verbindet „Vélo“ mit dem Namen der bei den Parisern geliebten U-Bahn, die zwar hocheffizient ist, aber außerhalb der Corona-Pandemie längst an ihre Kapazitätsgrenze stieß. Die Idee der Aktivisten war es, eine parallel dazu laufende Rad-Infrastruktur zu schaffen, die ebenfalls durch farbige und nummerierte Linien symbolisiert wird. Bürgermeisterin Hidalgo nahm diesen Plan mit in den Wahlkampf 2020 und versprach, 60 Hektar an Pkw-Stellfläche zugunsten der „Vélopolitain“ zu entfernen. Das Erstaunliche am Kommunalwahlkampf war auch, dass es für die Fahrrad-Lobby von den Spitzenkandidaten nur noch Zustimmung gab. Die verkehrspolitischen Ansätze der Special-Interest-Vertreter sind theoretisch durchdacht und greifbar gemacht. „Sie wissen, wie sie es vermarkten“, beobachtet Sébastian Compagnon. Neben der Vélopolitain vertritt Hidalgo auch das Konzept der „Stadt der Viertelstunde“, wo Bürgerinnen und Bürger jeden Alltagsbedarf, Unterhaltung und die Arbeit zu Fuß oder per Fahrrad erreichen. Hinter diesem Ansatz steckt der Sorbonne-Professor Carlos Moreno. Moreno gilt als einer der Hintermänner in Hidalgos mutiger Infrastrukturpolitik. In der „Financial Times“ erläuterte Moreno das Konzept. So erhofft er sich verschiedene Nutzungsformen für ein und dasselbe Gebäude, weniger Autos auf den Straßen und „ein neues Verhältnis zwischen Bürgern und dem Lebensrhythmus in ihren Städten“. Ob die Stadt der Viertelstunde eine Utopie bleibt oder ein realistisches Ziel wird in einer sich verändernden Lebenswelt, bleibt abzuwarten. Fakt aber ist, dass es heute zwischen der Kernstadt Paris und ihrem mehr als zehn Millionen Einwohner zählenden Umland erhebliche Pendel- und Alltagsbeziehungen gibt. Auch hier gilt der Radverkehr inzwischen, befeuert durch grüne Erfolge bei den Kommunalwahlen 2020, als Schlüsselelement. „Die Olympischen Spiele 2024 sind ein wichtiger Anlass, den Verkehr umzubauen“, urteilt Sébastien Marrec. Das ist jedoch alles andere als simpel, denn in der Region gibt es eine Vielzahl an Zuständigkeiten. Neben der Stadtregierung in Paris gibt es einen Polizeipräfekten und einen Präfekten von Paris, die beim Umbau von Straßen mitreden, außerdem hat die staatliche Architekturorganisation ABF einen wachenden Blick auf die Bau-Ensembles, wenn ins Stadtbild eingegriffen wird. Jenseits der Stadtgrenzen sind es die Départements und die Städte, die für Straßen und Verkehr zuständig sind, zudem thront darüber noch die Präsidentin der Region und es gibt den sehr mächtigen RATP, Betreiber des ÖPNV im Großraum Paris. In diesem Dickicht ist es keine Selbstverständlichkeit, eine durchgehende Radinfrastruktur anzulegen.
Auch die kältere Jahreszeit hat den Fahrrad-Boom nicht gestoppt, ganz im Gegenteil. Längst fordern die Radvertreter deshalb eine Erweiterung der Spuren auf den Hauptachsen.
Erfolgsmodell: Aktive Hand in Hand mit Politik und Verwaltung
Darauf aber zielt der Niederländer Stein van Oosteren, der Sprecher des Zusammenschlusses „Colectif Vélo Île de France“. Es sei schön und gut, wenn es im Stadtkern von Paris vorangeht. Aber gerade die Vorstädte bräuchten einen Schub in Sachen Radverkehr. Van Oosteren war es, der 2017 über Social Media nach Menschen suchte, die Ideen für den Ausbau der Radinfrastruktur haben könnten – Menschen wie er selbst. Dabei bemerkte er, dass die einzelnen Gruppen in der Region kaum miteinander vernetzt waren. Das galt es zu ändern, um gemeinsame Ziele zu entwickeln. Als „Kernreaktion“ bezeichnet er, was dann am Abend vor Weihnachten 2017 passierte: Betroffene aus der Region setzten sich erstmals zusammen, Vertreter von damals 21 Vereinen gründeten dann 2019 das Kollektiv und kümmern sich seither um das „wahre Problem“. Das liege, sagt van Oosteren, nicht „in den Städten, sondern zwischen den Städten.“ Auch das „Colectif Vélo Île de France“ setzt auf eingängige Ideen. Über Monate sammelten die Vertreter in der Region Ideen für ein besseres Netzwerk, konstruierten daraus einen Plan und gaben ihm einen ansprechenden Namen: RER-V. Jeder Bewohner der Region und auch die meisten Touristen denken beim Begriff RER an die beliebte Schnellbahnlinie, und wie die Metro-Radlinien im innerstädtischen Paris soll auch das RER-Vélo-Netzwerk entsprechende Verbindungen nachbilden. „Wir haben das Netzwerk kopiert und auch einen Kostenplan erstellt“, sagt Stein van Oosteren. 500 Millionen soll die Umsetzung kosten. Dass auch im Umland von Paris, politisch befördert durch Frankreichs Zentralregierung, immer mehr Corona-Radwege entstanden, machte die Angelegenheit greifbar. Vor allem aber, sagt Van Oosteren, sei immer deutlicher geworden, dass die Politik den Wünschen der Aktivisten zugänglich sei. Der Niederländer arbeitet für die Vertretung seines Landes bei der Unesco in Paris, er kennt sich aus in Diplomatie, und so arbeitet er hinter den Kulissen geschickt daran, die Ambitionen in der Abstimmung der Behörden untereinander umzusetzen. Auch hier erlebt er, dass die Aktivistinnen und Aktivisten mit ihren gut vorbereiteten Plänen auf offene Ohren stoßen.
„Auch die Konservativen haben relativ schnell erkannt, dass man auf das Fahrrad als Verkehrsmittel bauen muss.“
Sébastian Compagnon, Le Parisien
Paris und Umland wachsen zusammen
Das Fahrrad als Transportmittel – es vereint die Politiker. Während die Linke in Paris ihre Pläne für die nächste Legislaturperiode neu schreibt, steigt auch die konservative Chefin der Region, Valérie Pécresse, in den Wettbewerb pro Fahrrad ein. Schon 2019 startete sie ihr eigenes Mietradprogramm, fokussiert auf mehrmonatige Miete von E-Bikes. Und nun stellte sie sich hinter den RER-V, ein gewaltiger Erfolg für van Oosteren und seine Mitstreiter. 300 Millionen Euro versprach die konservative Politikerin und nahm damit auch die Städte und Départements in die Pflicht. „Solch einen Umbau auf Antrieb von unten hat es seit Beginn der Republik nicht gegeben“, jubelt der Niederländer. Vielerorts häufe die Verwaltung jetzt Wissen an zum fahrradgerechten Umbau der Straßen, in Montreuil lud man niederländische Experten ein und eröffnete in diesem Jahr bereits das erste Teilstück der RER-V-Linie A. Es wächst also etwas zusammen. Im Übrigen auch zwischen Paris und dem Umland. Sébastian Compagnon weist auf ein besonderes Teilstück hin: Zwischen der Hauptstadt und der futuristischen Wirtschaftsvorstadt La Défense konnten sich die Vertreter der Behörden einigen. Auch hier, auf der Pont de Neuilly, nahm die Verkehrsdirektion den Pkw-Fahrern eine Spur weg – und ermöglichte es so 5.700 Radlern pro Tag, die Strecke direkt und in Sicherheit zurückzulegen.
Bilder: PCA-Stream, Stein van Oosteren, Paris-en-Selle, Sébastien Marrec, stock.adobe.com – olrat, Paris-en-Selle – Pierre Morel, Léo Wiel
Europaweit erkennen die Städte und Kommunen langsam die Tragweite der Probleme, denen sie aktuell gegenüberstehen. Im Bereich des Verkehrs und der öffentlichen Räume gehen immer mehr konsequent voran und ziehen u. a. geplante Maßnahmen vor. Wir haben uns bei unseren Nachbarn umgesehen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)
Wie soll es mittel- und langfristig weitergehen? Kaum jemand rechnet wohl ernsthaft mit dem schnellen Ende der Pandemie und einer Aufhebung der Vorsichtsmaßnahmen. Wie können Menschen auf viel zu engen Rad- und Fußwegen Abstand halten? Wie schafft man Sicherheit auch für Radfahrer, denen Erfahrung und Routine fehlen? Und was passiert eigentlich mit der Gastronomie ohne zusätzliche Flächen? In Deutschland warnen Verbände und Experten vor dem Verkehrskollaps und einem Anstieg der Unfälle mit Radfahrern. Der Hotel- und Gaststättenverband fürchtet das Aus für jeden dritten Betrieb im Gastgewerbe. Wenn es um Straßenraum, Parkplätze, Änderungen der Geschwindigkeit oder Ausnahmeregelungen geht, ist man hierzulande allerdings sehr zurückhaltend. Ganz anders im Ausland.
London
Ziel London: Verzehnfachung des Radverkehrs und
Verfünffachung des Fußgängerverkehrs nach der Lockdownphase.
Mehr Platz für Menschen: Weltweit wird intensiv an Corona- und umwelttauglichem Verkehr gearbeitet.
London
„Wir müssen die Zahl der Menschen, die den öffentlichen Verkehr nutzen, so gering wie möglich halten. Und wir können nicht zulassen, dass diese Fahrten künftig mit dem Auto erledigt werden, weil unsere Straßen sofort blockiert wären und die toxische Luftverschmutzung anschwellen würde”, so Bürgermeister Sadiq Khan zu den Herausforderungen in seiner Stadt. Mit dem „London Streetspace“-Programm sollen Straßen rasch umgestaltet werden, um eine Verzehnfachung des Radverkehrs und eine Verfünffachung des Fußgängerverkehrs zu ermöglichen, wenn die Sperrmaßnahmen gelockert werden. Da die Kapazität des öffentlichen Nahverkehrs in London potenziell nur ein Fünftel des Niveaus von vor der Krise erreichen könnte, müssten Millionen von Fahrten pro Tag mit anderen Verkehrsmitteln durchgeführt werden.
Paris
Die Region Paris will unter anderem 300 Millionen Euro in das – ohnehin geplante – Radwegenetz der Île-de-France schneller investieren mit dem Ziel, die Fahrradnutzung zu verfünffachen. Helfen sollen nicht nur neue (temporäre) Radwege, sondern auch das Fahrradverleihsystem Véligo und Kaufanreize für Pedelecs. Als Sofortmaßnahme wurden Fahrradreparaturen mit 50 Euro pro Rad subventioniert, finanziert werden künftig auch zusätzliche Fahrradständer sowie Radkurse und Sicherheitstrainings. Die Bürgermeisterin Anne Hidalgo sieht sich in ihren Plänen für ein lebenswerteres Paris, die von den Einwohnern mit großer Mehrheit mitgetragen werden, bestätigt. Eine Rückkehr zu alten Verhältnissen sei nach ihren Worten völlig undenkbar.
Brüssel
Dem Vorbild der Stadt Wien, die als eine der ersten Metropolen während der Ausgangsbeschränkungen temporäre Begegnungszonen geschaffen hat, ist auch Brüssel gefolgt und macht deutlich mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer. So wurde das gesamte Zentrum zur Begegnungszone deklariert. Innerhalb des inneren Stadtrings haben Fußgänger und Radfahrer Vorrang. Busse, Straßenbahnen und Autos dürfen zwar weiter in die Zone einfahren, aber nur mit bis zu 20 km/h. Im Hinblick auf weitere Verbesserungen soll ab 2021 im gesamten Stadtgebiet Tempo 30 gelten.
Mailand
Insgesamt 35 Kilometer neuer Radwege sollen in Mailand demnächst entstehen – bis Ende des Sommers allein 22. Aktuell entsteht eine „Maxipiste“ für Fahrräder vom Zentrum in Richtung Norden. Auf einem ersten Teilstück hat man zwei von vier Autospuren umgewidmet. Radfahrer und Fußgänger haben damit viel mehr Platz, ebenso wie die Gastronomen. Zudem soll in weiten Teilen Tempo 30 gelten. Um schnelle Änderungen zu ermöglichen und die Bedingungen für Radfahrer zu verbessern, wurde das italienische Verkehrsgesetz geändert. Und es gibt Kaufprämien vom Staat für Fahrräder. 60 Prozent des Kaufbetrags –maximal 500 Euro – werden volljährigen Einwohnern von Kommunen mit mehr als 50.000 Einwohnern erstattet.
Kann man mit der Idee einer grünen Stadt Wahlen gewinnen? Anne Hidalgo, amtierende und erste Frau im Bürgermeisteramt von Paris, hat das vor sechs Jahren gezeigt und die Einwohner überzeugt. Zur kommenden Kommunalwahl Mitte März bewirbt sie sich mit Plänen für einen radikalen Umbau der Metropole.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)
Die Kampagne „Paris En Commune“ zeichnet das Bild einer lebenswerten Stadt.
Was das Thema Verkehr der Zukunft angeht, schätzen die Einwohner und Einwohnerinnen der ehemals smoggeplagten und nach wie vor mit Autoverkehr überfrachteten Metropole die Bemühungen von Anne Hidalgo um eine lebenswerte Stadt. Radfahren, Zufußgehen und der ÖPNV liegen im Trend, und nach Einschätzung von Beobachtern kann es sich aktuell kein Gegenkandidat leisten, die Rückkehr zu einer autofreundlichen Politik zu propagieren. Die kommende Wahl kann man dabei auch als Richtungswahl sehen. Denn wie kaum ein anderer Kandidat oder Kandidatin tritt sie mit konkreten Plänen für eine weitgehende Transformation der Stadt ein.
„Paris Plage“, der berühmte Stadtstrand am Seine-Ufer. Wo sich früher Auto an Auto reihte, ist ein urbaner Park entstanden, der im Sommer mit Wasserspielen und Booten ergänzt wird.
Ziel: Mehr Lebensqualität
Ende Januar dieses Jahres hat die Sozialistin ihre Kampagne „Paris En Commun“ vorgestellt. Anders als es oftmals dargestellt wird, geht es nicht zentral um eine Neuordnung des Verkehrs, sondern um die gemeinsame Neuorganisation der Stadt zum Wohle der Bürger. Sie beinhaltet vier zentrale Punkte: Ökologie, Solidarität, Engagement und „Stadt der Viertelstunde“. Dabei geht es bei der Stadtgestaltung um mehr Grün und darum, die Stadt im Hinblick auf den absehbaren Klimawandel abzukühlen, um weniger Lärm und mehr öffentlichen Verkehr. Zentrale Ziele im Verkehr sind auch, dass sich wieder jede(r) auf das Fahrrad traut und den Fußgängern in den Quartieren die Straße zurückgegeben wird. Zielgruppen sind dabei vor allem Benachteiligte, Ältere, Kinder und Frauen. Denn sie hätten andere Mobilitätsbedürfnisse, die bislang nicht ausreichend beachtet worden seien, und ein Recht auf Gleichberechtigung. Unter dem Motto „Toutes et tous à vélo“ (Jeder und alles auf dem Fahrrad) heißt es beispielsweise: „Jeder soll die Möglichkeit haben, sich in völliger Sicherheit mit dem Fahrrad zu bewegen, unabhängig von seinem Alter und seinem Zustand.“ So soll zum Beispiel jede Straße künftig einen Radweg und alle Brücken geschützte Radwege erhalten. Statt Autos zu verbieten, will Hidalgo dafür sorgen, dass die Benutzung einfach unpraktisch wird. Im Bereich von Schulen sollen beispielsweise temporäre „Kinderstraßen“ während der Schulzeiten entstehen. Anstatt von fahrenden und vor allem parkenden Autos soll es Aufenthaltsräume, Grünflächen und Beete geben. Konkret will Hidalgo dafür den Großteil der Parkflächen im innerstädtischen Straßenraum umwidmen und vor allem den Durchgangsverkehr mit dem Auto oder Reisebussen sowie den Autopendlerverkehr deutlich zurückdrängen.
Stadt der Viertelstunde
Ein zentraler Bestandteil der geplanten Maßnahmen ist das Konzept „Stadt der Viertelstunde“ (Ville Du Quart D’Heure), nach dem von jedem Ort der Stadt aus innerhalb von 15 Minuten alles zu finden sein soll, was man im Alltag braucht – natürlich ohne Auto. Die Pläne basieren auf der Idee der „segmentierten Stadt“ von Carlos Moreno, Professor an der Sorbonne. Gewünschter Effekt: Bürgerinnen und Bürger würden Zeit und Wege sparen, hätten mehr Platz, sich in ihrem Viertel zu bewegen, und könnten im Alltag ganz einfach auf das Auto verzichten.
Bilder: Pixabay-Free-Photos-paris, Paris En Commune, Celine-Orsingher, Office du Tourisme et des Congrès de Paris
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