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Henning Rehbaum ist Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag für den Radverkehr. Nach seinem Empfinden „verändert sich gerade etwas in der Fahrradwelt“. Ein Professionalisierungsschub sei deutlich spürbar. Die große Aufgabe sei es nun, „sympathisch zu bleiben“. Das Fahrrad sei ein enormer Sympathieträger. Es braucht aus der Mitte der Gesellschaft starken Rückhalt – aber ohne moralischen Zeigefinger. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Hinweis: Das Gespräch wurde kurz vor dem Bruch der Ampelregierung geführt.

Vor Kurzem waren Sie bei der Klausur Ihrer CDU-Fraktions-Arbeitsgruppe Verkehr. Wie gelingt es Ihnen dort, mit dem Thema Fahrrad durchzudringen und dem Radverkehr Gewicht zu geben?
Als Volkspartei CDU/CSU haben wir uns zum Ziel gesetzt, dass jeder Verkehrsträger zu seinem Recht kommt. Natürlich ist das Auto für viele Menschen, gerade im ländlichen Raum, wo ich herkomme, wichtig, aber auch das Fahrrad spielt im Münsterland eine große Rolle. Das Fahrrad ist bei uns Alltagskultur – und diesen Spirit, dass das Fahrrad etwas ganz Normales ist, für die Breite der Gesellschaft, den will ich in meiner Partei noch viel mehr verankern. Es gibt Regionen in Deutschland, da ist das Fahrrad schon lange angekommen, aber auch andere, vielleicht topografisch schwierigere, da muss es erst noch zur Selbstverständlichkeit werden. Hierzu beizutragen, das habe ich mir zur Aufgabe gemacht.

Von der Gleichberechtigung aller Verkehrsträger wird ja immer wieder gerne gesprochen, aber es gibt hierzu sehr unterschiedliche Interpretationen. Gerade hier in Berlin, unter einer CDU-Verkehrssenatorin, wird mit dem Anspruch „Verkehr für alle“ die Entwicklung des Radverkehrs stark ausgebremst und stattdessen eine „Auto-First“-Politik betrieben. Die Verkehrsthematik wird ideologisch stark aufgeladen – auch von Vertreter*innen Ihrer Partei.
Einseitige Sichtweisen gibt es natürlich in allen Parteien und bei den Grünen hat man manchmal den Eindruck, dass es für sie nur den Radverkehr als Allheilmittel gibt. Immerhin hat die CDU in Berlin, indem sie das Autothema für sich besetzt hat, die Wahl gewonnen – das war ja ein stark vom Verkehrsthema geprägter Wahlkampf. Ich persönlich glaube, dass die Wahrheit in der Mitte liegt. Auf die Dauer müssen wir für alle Verkehrsträger vernünftige Lösungen haben. Ohne Autos wird Berlin nicht funktionieren, daher muss auch das Auto zu seinem Recht kommen. Es gibt nicht nur schwarz oder weiß! Die große Herausforderung für Fahrrad und Auto ist ja das sichere Kreuzungsdesign. Und dafür fehlen in Berlin massenhaft Fachleute.
Das läuft in NRW besser. Dort hat die CDU-Regierung den Radwegebau auch dadurch beschleunigt, dass wir die Umweltverträglichkeitsprüfung abgeschafft haben, denn Radwegebau ist praktizierter Umweltschutz! Das konnten wir dann auch im Bund durchsetzen, im Rahmen der Planungsbeschleunigung – und gegen den anfänglichen Widerstand von Umweltverbänden und den Grünen. Das ist ein Fortschritt.

„Für einen Mischverkehr von Kfz und Fahrrad ist auch Tempo 30 noch zu schnell, diese Temporeduzierung ersetzt keine eigenständige Radverkehrsinfrastruktur.“

Henning Rehbaum, Bundestagsabgeordneter

Der politische Diskurs hat sich in den letzten zwölf Monaten deutlich verändert, populistische Töne sind oft dominierend, eine sachliche Auseinandersetzung zu führen, wird immer schwieriger.
Politische Kräfte, die auf schnelle Maßnahmen dringen, werden abgekanzelt, die Grünen als „Verbotspartei“ gebrandmarkt. Was denken Sie darüber? Können wir ohne dirigistische Vorgaben die Probleme in einem verträglichen Zeitrahmen lösen?

Wir haben tatsächlich keine Zeit zu verlieren, aber wir erleben doch gerade, wie die Ampel beim Klimaschutz scheitert. Aktuell erreichen wir ja nur deshalb die Klimaziele, weil die Wirtschaft schrumpft. Wir haben in Deutschland noch nie so wenig Wärmepumpen verkauft wie gegenwärtig. Habeck hat mit einer chaotischen Förderpolitik alles abgewürgt. Und mit Verboten kommt man dann schon gar nicht weiter. Dann investieren die Leute eben nicht, fahren ihren Diesel, bis er auseinanderfällt. So funktioniert das nicht. Die Regierung muss den Leuten die Möglichkeit aufzeigen, Klimaschutz zu betreiben. Das müssen die auch schaffen können und das muss verlässlich sein, damit man darauf bauen kann. Diese Verlässlichkeit fehlt zurzeit.
Mit dem Deutschlandticket tun wir dem ÖPNV auch keinen Gefallen. Wir brauchen aber einen starken ÖPNV auch in Verknüpfung mit dem Radverkehr. So wie das Ticket aktuell organisiert ist, entzieht es dem ÖPNV massiv Geld. Milliarden, die für seinen Ausbau dringend gebraucht werden. Das ist eine Rolle rückwärts für den Klimaschutz.
Dasselbe gilt für den Radverkehr. Wir müssen, damit die Leute aufs Fahrrad umsteigen, ermöglichen: Vernünftige Radwege, gute Fahrradinfrastruktur, Fahrrad-Parkhäuser, tolle Produkte, wie sie die Industrie ja bereithält, eine zeitgemäße Regulatorik. Jetzt müssen wir Gas geben, damit die Leute fürs Fahrrad motiviert sind.

Der Grat ist ja schmal zwischen dem „Ermöglichen“ und Entscheidungen, die auch einschränken. Wenn es beispielsweise um die Neuverteilung des Verkehrsraums zugunsten des Fahrrads geht, dann sind wir sofort in aufgeheizten Debatten.
Das ist so. Der Kampf um die Fläche ist da. Allerdings gibt es auch viele Symboldebatten: Jeder Kfz-Parkplatz, den man dem ruhenden Autoverkehr abgejagt hat, ist in der Fahrradszene eine Trophäe. Das heizt die Stimmung aber nur weiter auf. Schließlich gibt es genügend Leute, die aufs Auto angewiesen sind, zumindest in bestimmten Lebensphasen. Wir müssen aufpassen, dass sich das nicht weiter aufschaukelt, also raus aus den Schützengräben! Wir müssen bessere Lösungen finden. Wir können auch Fahrradstraßen oder Fahrradzonen in der zweiten Reihe einrichten, das muss nicht an Hauptstraßen sein, wo jeder Meter Straßenbreite zählt. Die haben schließlich auch eine überregionale Transportfunktion.

Wir führen aber auch Geisterdebatten, selbst wir jetzt hier in diesem Gespräch. Sie haben mehrfach betont, dass man das Auto ja nicht abschaffen kann, weil es für viele eine wichtige Funktion hat. Nach meiner Wahrnehmung gibt es aber keine relevante politische Stimme, die das Auto komplett abschaffen will. Warum also reden wir überhaupt darüber?
Diese Debatten gibt es schon auf lokaler Ebene, oftmals über den Umweg des Parkraum-Wegnehmens. Wo sollen die Leute dann ihr Auto abstellen? Das ist dann eine Folgekette. Wenn man in manchen Kreisen fordert, Autos raus aus der Stadt, dann kriegt man da schon Applaus. Das heizt nur unnötig auf. Wir müssen auch aufpassen, dass wir das Pflänzchen Einzelhandel nicht durch zu hohe Parkgebühren kaputtmachen. Es fahren zwar viele mit dem Fahrrad in die Stadt, aber eben nicht alle. Und die bleiben dann weg. Wir müssen aufpassen, dass wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Nicht jede Lösung, die in Kopenhagen gut funktioniert, funktioniert auch in Bergisch-Gladbach.

Warum reden wir bei solchen Themen eigentlich immer nur über „autoarme“ Innenstädte und nicht über attraktive Begegnungsräume, in denen man sich frei bewegen und die Kinder mal laufen lassen kann? Warum steht der Verlust des Autos im Mittelpunkt und nicht der Gewinn, Stichwort Aufenthaltsqualität?
Es braucht maßgeschneiderte Lösungen! Manche Städte sind Industriestandorte, da müssen die Arbeitnehmer auch hinkommen können. In jedem Fall gilt für uns: Erst mal ein Angebot schaffen und dann die Veränderungen beim Verkehr angehen. Also: Erst Parkraum in vertretbarer Nähe zu den Zielen schaffen, dann den Verkehr neu strukturieren. Die Reihenfolge ist wichtig. Das war auch unsere Kritik beim Deutschlandticket: Erst das ÖPNV-Angebot ausbauen und dann ein attraktives Ticket obendrauf setzen. So ist es beispielsweise in Wien gelaufen, dann steigen die Leute auch um. Aber einfach erst die knappen Parkplätze teurer machen und sagen: Dann bleiben die Leute mit dem Auto halt draußen, das ist keine kluge Strategie. Ich bin ein Fan von vielen Park-and-Ride-Stellplätzen und auch von Bike and Ride.

Zurück zum Radverkehr und damit zum Straßenverkehrsgesetz (StVG): Bei unserem letzten Gespräch waren Sie den Ampel-Plänen gegenüber recht reserviert. Jetzt ist der Kompromiss mit den Ländern da. Wie bewerten Sie das Ergebnis? Sind Sie für den Radverkehr zufrieden oder hätten Sie sich anderes gewünscht?
Wir müssen erst mal schauen, wie das anläuft. Das ist jetzt ein klassischer politischer Kompromiss der Bundesregierung mit den Ländern. Kleine Fortschritte sind durchaus zu erkennen. Ich hätte mir gewünscht, dass der unter dem letzten CSU-Verkehrsminister entwickelte Katalog von Rahmenbedingungen für Tempo 30 aufgenommen worden wäre. Ich bin ja kein Freund von innerorts flächendeckendem Tempo 30, aber dass es vor Kindergärten, vor Schulen, vor Krankenhäusern und Altenheimen etc. ohne weitere Bürokratie Tempo 30 geben können sollte, finde ich vernünftig. Das kann ich als bürgerlicher Politiker, der nah an den Menschen im Wahlkreis ist, vorbehaltlos unterstützen. Das sieht man auch als Autofahrer ein, wenn da zur Begründung ein Schild steht „Achtung Kindergarten“. Solche lokal begrenzten Tempolimits sollten leichter möglich sein. Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit ist hingegen keine gute Idee, z.B. wenn man einen zügigen Busverkehr möchte …

… wobei auch bei der aktuellen Regelgeschwindigkeit von Tempo 50 Ausnahmen nach unten und oben problemlos möglich sind …
Für einen Mischverkehr von Kfz und Fahrrad halte ich auch Tempo 30 noch für zu schnell, diese Temporeduzierung ersetzt keine eigenständige Radverkehrsinfrastruktur. Sicherheit ist das ganz entscheidende Thema. Das hat für mich Priorität – und das ist am allerbesten mit einem abgetrennten Radweg zu erreichen.

Welche Entwicklungen sehen Sie im Parlamentskreis Fahrrad? Ist der eine Smalltalk-Runde oder ein zielführendes Instrument für eine fahrradfreundlichere Kultur im Deutschen Bundestag?
Der geistige Vater des PK Fahrrad ist ja unser viel zu früh verstorbener Gero Storjohann. Er war unermüdlich in der Sache, aber zugleich hat er immer wieder auch nach innen in die Partei hinein Brücken für den Radverkehr gebaut. Dieser Spirit schwebt immer noch über dem Parlamentskreis, und die Mitglieder, egal, welcher Partei sie angehören, verstehen sich gut. Alle gemeinsam haben das Ziel, das Fahrrad in die Köpfe und in die Herzen der Parlamentarier zu bekommen und das Fahrrad auch im Bundestag stärker zu etablieren.
Die Sitzungen des Parlamentskreises Fahrrad sind sehr fruchtbar und man erfährt vieles, wofür im hektischen Parlamentsalltag sonst gar keine Zeit wäre, so haben wir uns im PK Fahrrad beispielsweise sehr intensiv über Schulstraßen informiert, das war großartig.


Bilder: Christian Fischer

Die Verkehrspolitik der Ampel hat in der Fahrradwelt bisher wenig Begeisterung hervorgerufen. Mit Volker Wissing verbinden die meisten einen Autominister in der Tradition seiner diversen CSU-Vorgänger und das Ausbremsen der Verkehrswende. Selbst niederschwellig realisierbare Maßnahmen zur Reduktion der Treibhausgase im Verkehrsbereich wie Tempolimits auf Autobahnen und Bundesstraßen waren mit ihm nicht möglich. Die Bundestagsabgeordnete Swantje Michaelsen erklärt im Interview, wo die Verkehrswende gerade steht und welche Hindernisse überwunden werden müssen.

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)


Dass der Bundesverkehrsminister in seinem ersten Amtsjahr den vivavelo Kongress besucht hatte, ließ die Fahrradwirtschaft seinerzeit aufhorchen. Auch ist er formal Schirmherr der Eurobike, ohne jedoch persönlich zur Messe zu kommen oder wenigstens seinen Parlamentarischen Staatssekretär zu entsenden. Zu den Fakten gehört hingegen, dass in seiner Amtszeit die finanziellen Mittel für den Radverkehr massiv zusammengestrichen wurden. Wie mag sich eine solche Bilanz des Verkehrsbereichs für diejenigen Bundestagsabgeordneten anfühlen, die innerhalb der Ampelfraktionen engagiert für die Verkehrswende und für die Radverkehrsförderung eintreten? Was konnten sie bisher für den Radverkehr bewegen? Unter welchem Druck stehen sie im Spannungsfeld zwischen eigenen Überzeugungen, der harten politischen Realität, der ihnen auferlegten Koalitionsdisziplin und den verkehrspolitischen Erwartungen ihrer Basis?
Swantje Michaelsen, Jahrgang 1979, ist seit dem Herbst 2021 Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen für Hannover-Nord. Hier lebt sie auch mit ihrer Familie. Auf ihrer Website schreibt sie: „Verkehrspolitik ist meine Leidenschaft und lebenswerte Städte und Gemeinden, die für Menschen und nicht für Autos gemacht sind, meine Vision.“ Im Deutschen Bundestag ist sie unter anderem Mitglied im Verkehrsausschuss, Berichterstatterin für Straßenverkehrsrecht sowie Co-Vorsitzende des Parlamentskreises Fahrrad. Ihre Themen sind unter anderem der Rad- und Fußverkehr, das Straßenverkehrsrecht und die Verkehrssicherheit.
Weiterhin ist sie Mitglied im Aufsichtsrat der Toll Collect GmbH. Vor ihrer Zeit im Bundestag hat sie als Geschäftsstellenleiterin für den ADFC Hannover gearbeitet.
Ein Gespräch über die Gemütslage in der Verkehrsbewegung, über Zuversicht, eine Politik der kleinen Schritte, Beharrlichkeit und erreichte Zwischenziele.

Wie groß war der Stein, der Ihnen vom Herzen fiel, als die Reform des Straßenverkehrsgesetzes im Juni endlich durch Bundesrat und Bundestag verabschiedet wurde?
Schon sehr groß. Die letzten zwei Jahre und besonders auch die letzten sechs Monate waren sehr intensiv, zuletzt auch eine Zitterpartie. Wir haben viele Höhen und Tiefen hinter uns und mussten oft kämpfen. Einige hatten schon die Hoffnung aufgegeben. Ich selbst war da immer optimistischer. Trotzdem ist es jetzt eine enorme Erleichterung, und das muss erst mal ankommen, dass uns hier wirklich etwas Großes gelungen ist.

Wie groß ist das denn konkret?
Die Novelle des StVG leitet einen Paradigmenwechsel im Straßenverkehrsrecht ein. Seit mehr als 100 Jahren gab es nur ein Ziel im StVG – die Leichtigkeit des (Auto-)Verkehrs. Nun endlich konnten Klima- und Umweltschutz, Gesundheit und städtebauliche Entwicklung als neue Hauptziele im Straßenverkehrsgesetz verankert werden. Diese Ziele geben den Kommunen neue Gestaltungsräume. Als wir vor zwei Jahren mit der Arbeit anfingen, hieß es, die gleichberechtigte Berücksichtigung dieser Ziele mit der Leichtigkeit des Verkehrs wäre verfassungswidrig. Jetzt haben wir den Rechtsrahmen neu aufgespannt. Das wird weitreichende Auswirkungen haben. Einen Teil der neuen Spielräume greift der Entwurf der neuen StVO schon auf – sicher werden weitere StVO-Novellen folgen.

„Es wird in Zukunft darum gehen, die Bahn, den ÖPNV und das Fahrrad weiter zu stärken.“

Swantje Michaelsen

Swantje Michaelsen sitzt für Bündnis 90/Die Grünen im deutschen Bundestag. Sie ist dort Mitglied im Verkehrsausschuss, Berichterstatterin für Straßenverkehrsrecht sowie Co-Vorsitzende des Parlamentskreises Fahrrad.

Swantje Michaelsen wird ja einerseits als Person mit tiefen Überzeugungen wahrgenommen, andererseits als Mitglied einer Regierungsfraktion doch auch für die Ergebnisse der Ampel mit verhaftet. Wie erleben Sie das?
Ich erlebe das Feedback auf meine Arbeit meistens doch als recht differenziert, auch in den sozialen Medien. Ich sehe, dass viele Menschen mehr und mehr erkennen, was wir Grüne in der Ampel erkämpft haben, auch mit dem Wissen, dass das alles noch nicht reicht. Ich erlebe zudem, angesichts der Anfeindungen, Gewalt und Übergriffe, die Parteimitgliedern teilweise entgegenschlägt, eine wachsende Solidarität.
Ich sage überall dasselbe, egal, ob ich beim ADFC oder beim ADAC sitze. Daher wissen die Leute auch, dass ich ehrlich für meine Überzeugungen einstehe und dass ich mich dafür auch in den Gegenwind stelle. Insofern nehme ich wahr, dass manche enttäuscht sind, dass wir zum Beispiel nicht mehr Geld für den Radverkehr ausgeben, aber je mehr die Leute sich informiert haben, umso differenzierter ist die Bewertung. Ich finde übrigens, dass wir als Grüne auch im Verkehrsbereich mit geradem Rücken zu der Bilanz stehen können, umso mehr, nachdem StVG und StVO durch sind. Obwohl das Verkehrsministerium nicht grün geführt wird, obwohl die Situation in der Koalition extrem schwierig ist, obwohl auch die Thematik in der Gesellschaft so umstritten ist, haben wir Grüne eine Reihe von Dingen erkämpft, sei es das 9- und jetzt 49-Euro-Ticket, die Investitionen in die Bahn, die Erweiterung der Maut, die Investition der Maut aus der Straße in die Schiene und nun das StVG und die StVO.

Wie nehmen Sie die aktuelle Stimmung bei denjenigen wahr, die sich beruflich oder ehrenamtlich für die Mobilitätswende engagieren?
Einige aus der Verkehrsbewegung sind gefrustet, dass wir nicht noch mehr für die Mobilitätswende erreichen konnten. Da sind viele Menschen, die seit 10, 20, 30 Jahren kämpfen und gehofft haben, dass grüne Regierungsbeteiligung sehr schnell große Fortschritte für die Mobilitätswende bringt. Gerade in den letzten Jahren hat sich aber gezeigt, dass es unglaublich mühsam ist, Mehrheiten für die Mobilitätswende zu organisieren, insbesondere wenn die politische Gegenseite Konflikte politisch ausbeutet und die öffentliche Meinung sich dreht. Für uns Grüne ist klar: Wir arbeiten jeden Tag weiter mit der Zivilgesellschaft für die Mobilitätswende. Zwischendurch ist es aber wichtig, auch mal innezuhalten und festzustellen: Wir haben auch was geschafft!
Ich will die Lage nicht schönreden, wir sind noch lange nicht am Ziel. Aber es ist wichtig, auch gute Kompromisse und echte Fortschritte als solche zu würdigen und nicht bei dem „Es-reicht-alles-nicht“-Frust zu verharren.

Es gab ja auch bereits noch andere Themenkomplexe, bei denen Sie ganz schön kämpfen mussten, aber letztlich doch erfolgreich waren …
Oh ja, bei der Atomkraftdebatte, die kurz vor dem gesetzlich festgelegten Termin der Abschaltung dann auch innerhalb der Ampel neu aufkam. Da mussten wir die Stilllegung ein weiteres Mal neu erkämpfen. Ohne uns in der Regierung wäre der Atomausstieg gekippt worden! Wir Grünen haben gemeinsam mit der Bewegung über 40 Jahre lang für ein Ende der Atomkraft gekämpft. Dass wir es jetzt wirklich geschafft haben, sollten wir mehr wertschätzen und nicht nur einen Haken dran machen und sagen, „Okay, wo sind die nächsten 1000 grünen Themen und warum ist da noch nichts passiert?“ Da haben viele Menschen jahrzehntelang Stunden über Stunden ihrer Freizeit investiert, bis hin zum Einsatz des eigenen Körpers vieles gegeben. Da muss man auch mal sagen: Da ist uns etwas richtig Gutes gelungen! Bei allem, was noch nicht passiert ist, ist gerade in diesen gesellschaftlich umkämpften Bereichen extrem wichtig, dass wir diese Dinge auch als Positivbeispiel für die eigene Stärkung nutzen. Ich habe an diesem Thema gelernt, was eine Gewissensentscheidung ist.

Weil Sie trotz Koalitionsbeschlusses gegen die gut dreimonatige Laufzeitverlängerung gestimmt haben?
Ja, es war für mich unvorstellbar, diesem Beschluss zuzustimmen. Da habe ich gelernt, wo für mich eine Grenze ist, die ich nicht überschreiten kann.
Ich respektiere jede und jeden, die sich anders entschieden haben, das war für alle extrem schwierig. Es ist sehr schwierig, gegen die eigene Fraktion zu stimmen, und es ist auch richtig so, dass mir das schwergefallen ist. Wir brauchen für unsere Arbeitsfähigkeit schon eine Fraktionsdisziplin. Ich sehe es als gewählte Abgeordnete in einer Demokratie als meine Aufgabe an, Kompromisse möglich zu machen. Natürlich kämpfe ich für meine Ziele und ich versuche, alles dafür zu bewegen, mit guten Argumenten zu überzeugen, keine Frage. Aber wir haben nun mal, sowohl gesellschaftlich als auch innerhalb der Ampel, ganz unterschiedliche Haltungen und Meinungen, und es ist unsere Aufgabe als Demokratinnen und Demokraten, Dinge auszuhandeln und tragfähige Kompromisse zu finden.
Dafür müssen wir im Hinblick auf die gesellschaftliche Debatte um die Demokratie intensiv dafür werben, dass Diskurs, Auseinandersetzung oder Streit Kernbestandteile des demokratischen Prozesses sind. Und der Kompromiss ist Teil des Ganzen.

„Insofern nehme ich wahr, dass manche enttäuscht sind, dass wir zum Beispiel nicht mehr Geld für den Radverkehr ausgeben, aber je mehr die Leute sich informiert haben, umso differenzierter ist die Bewertung.“

Swantje Michaelsen

Der Kampf um lebensfreundliche, menschen- und nicht autozentrierte Städte ist zuletzt schwerer geworden. Gleichzeitig gab es die StVG-Novelle.

Nun ist die Verkehrsthematik in der Bevölkerung ideologisch ja auch ordentlich aufgeladen …
… und es gibt wahnsinnig viele Missverständnisse. Wenn wir das Wort „Verkehrswende“ sagen, dann denken viele Leute, es geht nur darum, den Antrieb beim Auto zu wechseln. Tatsächlich geht es aber doch darum, Mobilität zu verändern. Denn das Auto bringt in der Masse in so vielen Bereichen enorme Probleme, von den Platzproblemen in den Städten über schwere und tödliche Unfälle, Lärm etc. Daraus folgt, dass wir Mobilität neu denken und verändern müssen. Es wird in Zukunft darum gehen, die Bahn, den ÖPNV und das Fahrrad weiter zu stärken und so gut miteinander zu verknüpfen, dass die Kombination eine echte Alternative zum Auto wird. Und, ich finde es wichtig, hier ehrlich zu sein, neben Angeboten braucht es auch an der einen oder anderen Stelle einen Push. Denn sonst sind auch bei perfekt ausgebautem ÖPNV und sicheren Radwegen alle Städte zugeparkt. Das wird politisch von den anderen Parteien quasi nicht adressiert und auch wir sind inzwischen zaghafter geworden, weil man immer gleich heftigstem Gegenwind ausgesetzt ist, außer vielleicht in der Klimabewegung. Das ist ein Problem.

Zurück zum aktuellen Geschehen: Bei der Reform des Klimaschutzgesetzes mit der Abschaffung der einzelnen Sektorenziele haben Sie, wie auch Stefan Gelbhaar, MdB, ebenfalls gegen die Fraktionsmehrheit gestimmt und dies jeweils individuell auch begründet. Was war für Ihre Entscheidung ausschlaggebend?
Zunächst einmal: Unsere Verhandlerinnen und Verhandler haben lange und hart gekämpft, um beim Klimaschutzgesetz noch Verbesserungen zu erzielen. Der Knackpunkt war für mich jedoch die Verschiebung des juristischen Drucks zum Handeln auf das Jahr 2026. Es ist eindeutig falsch, gerade im Verkehrsbereich, der seit Jahren zur CO2-Reduzierung nichts beiträgt, jetzt notwendige Entscheidungen zu verschieben, zumal diese ohnehin erst langfristig wirken. Nun laufen wir sehenden Auges in das Problem hinein, erst mal nicht zu handeln, aber 2026 umso härtere Entscheidungen treffen zu müssen. Das ist das Gegenteil von lösungsorientierter Politik.

Wie kommt abweichendes Verhalten in Ihrer Fraktion an?
Dann wird man vonseiten des Fraktionsvorstands natürlich angesprochen, was ich auch völlig in Ordnung finde. Da wird dann appelliert und gebeten, die Entscheidung doch noch einmal zu überprüfen, aber ich habe das nicht als Druck empfunden und war auch keinen Nachteilen ausgesetzt. Die Gespräche waren fair und angemessen und sicher notwendig. Ich konnte aber ja meinen Gewissenskonflikt klar formulieren.

Auf Ihrer Website schreiben Sie, dass Sie für eine feministische Verkehrspolitik stehen. Wofür steht der Begriff konret?
Feministische oder auch inklusive Verkehrspolitik steht für ein gerechtes Mobilitätskonzept für alle Menschen. Man muss sich vor Augen halten, dass Verkehrspolitik in Deutschland heute bei vielen in erster Linie als Wirtschaftspolitik verstanden wird. Die Mobilität der Menschen steht nicht wirklich im Zentrum der Überlegungen. Wir haben in der Gesellschaft viele verschiedene Gruppen von Menschen, die mobil sein wollen. Sie unterscheiden sich durch Geschlecht, Alter, Beweglichkeit, Handicaps und vieles mehr. Alle wollen mobil sein, vom Kind bis zum alten Menschen, und der Anspruch einer feministischen Verkehrspolitik besteht darin, dass alle innerhalb des Verkehrssystems auch Berücksichtigung finden. Im Moment berücksichtigen wir in Deutschland aber vor allem diejenigen, die ein Auto haben und Auto fahren wollen. Das sind mehr Männer als Frauen, eher Menschen ohne Behinderungen, mit Geld, weder Kinder noch Jugendliche.

Woran machen Sie das fest?
Die Mobilitätsbedürfnisse der Geschlechter unterscheiden sich gegenwärtig ganz erheblich, weil sie in unserer Gesellschaft oft verschiedene Rollen haben. Es sind überwiegend Männer, gesunde Menschen und Personen mit überdurchschnittlichem Einkommen, die viel Auto fahren. Viele Männer fahren morgens ins Büro und abends nach Hause, dabei fahren sie auch häufig weitere Strecken. Frauen sind in unserer Gesellschaft häufig für die Sorgearbeit und Familienarbeit zuständig, also für die Versorgung von Kindern, aber auch älteren Familienangehörigen oder Pflegebedürftigen. Frauen bringen die Kinder zur Schule oder zum Kinderturnen, besuchen die Schwiegereltern, erledigen die Einkäufe und so weiter. Dadurch haben sie wesentlich komplexere Wegebeziehungen und die sind häufig im Nahbereich. Diese Perspektive, die Perspektive von Kindern, die Perspektive anderer vulnerabler Gruppen kommt aber in der bisherigen Verkehrsdebatte zu wenig vor. Es ist mein Antrieb, diese wichtige Perspektive auf Mobilitätsbedürfnisse zu stärken. Das ist für mich auch eine Frage der Gerechtigkeit.

Auf welche Weise und mit welchem Erfolg lassen sich diese Themen konkret einbringen?
Das machen wir zum Beispiel durch Parlamentarische Fachgespräche und wir diskutieren die Themen der Mobilität von Kindern und Jugendlichen im Parlamentskreis Fahrrad. Außerdem bringen wir die Impulse der Verbände wie VCD und ADFC in die parlamentarische Debatte ein. Wie sieht eine kindersichere Infrastruktur aus? Welche Sorgen haben die Eltern? Ziel ist, dass auch diese Perspektiven in der Verkehrsdebatte verankert werden. Dazu passt auch, dass wir in der Regierung jetzt auf dem Weg sind, eine Fußverkehrsstrategie zu entwickeln. Hier stehen wir zwar erst am Anfang, aber ohne den Fußverkehr in den Blick zu nehmen, kann eine inklusive Verkehrspolitik nicht gelingen.


Bilder: Markus Heft, stock.adobe.com – Teppi

Im Dezember 2023 war die Regierung aus SPD, FDP und Grünen zwei Jahre im Amt. Wie sieht ihre bisherige verkehrspolitische Halbzeitbilanz aus Sicht der Fahrradbranche aus? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Es sollte eine „Fortschrittskoalition“ werden. Das neue Bündnis hatte sich viel vorgenommen. Im 177-seitigen Koalitionsvertrag von 2021 findet sich 72-mal das Wort „Zukunft“, 11-mal ist von „Aufbruch“ die Rede. Doch neben blumigen Worten gibt es kaum etwas zum Thema Mobilität und Verkehrswende. Ein Lichtblick: Die Ampel-Koalitionäre formulierten ihre Absicht, Straßenverkehrsgesetz und StVO so anzupassen, „dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen“.
Der Fahrradbranche fiel ansonsten auf, dass der Begriff „Verkehrswende“ im Koalitionsvertrag überhaupt nicht vorkam. Dem Thema Radverkehr waren ganze vier Zeilen gewidmet, zum Beispiel: „Wir werden den Nationalen Radverkehrsplan umsetzen und fortschreiben, den Ausbau und die Modernisierung des Radwegenetzes sowie die Förderung kommunaler Radverkehrsinfrastruktur vorantreiben.“ Allgemeinplätze.
Für den Radverkehr war der Koalitionsvertrag 2021 daher eine Enttäuschung. Hinzu kam – neutral gesagt – die Überraschung, dass ein FDP-Minister das Ministerium führen sollte. Viele waren davon ausgegangen, dass der Grüne Cem Özdemir Verkehrsminister werden würde. Dessen Haltung zur Verkehrswende war bekannt, Volker Wissing hingegen hier eher ein unbeschriebenes Blatt. In seiner Zeit als Landesminister für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau in Rheinland-Pfalz war er nicht durch eine besonders fortschrittliche Verkehrspolitik aufgefallen.

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Verkehrspolitische Zwischenbilanz

Nach gut zwei Jahren Regierungszeit lässt sich nun eine Zwischenbilanz ziehen. Welche verkehrspolitischen Akzente hat Volker Wissing als Bundesverkehrsminister gesetzt? Hat er die Verkehrswende vorangebracht? In welcher Weise hat er etwas für die Fahrradbranche bewegt?
In den ersten Monaten seiner Amtszeit war auffällig, wie sehr sich Volker Wissing öffentlich bemühte, jede Erwartung zu zerstreuen, er könnte die Rahmenbedingungen für den motorisierten Verkehr verschlechtern oder das Autofahren teurer machen. Die Ablehnung von Tempolimits war sogar im Koalitionsvertrag bereits festgeschrieben worden. Allerdings war nach dem Bundesklimaschutzgesetz (KSG) 2019, das zwei Jahre später als Konsequenz eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts nochmals verschärft wurde, eine klar definierte CO2-Reduktion auch für das Verkehrsressort gesetzlich verpflichtend. Daher stand der Minister unter Druck, hier auch zu liefern.
Doch Volker Wissing schien das KSG nicht weiter zu interessieren. Bisher wurde in jedem Jahr seiner Amtszeit festgestellt, dass der Verkehrssektor die gesetzlichen Vorgaben nicht eingehalten hat und die Reduktionsziele deutlich verfehlt wurden. Für den Minister war dies allerdings kein Anlass, seinen Kurs zu ändern. Stattdessen wurde die Verantwortung weitergeschoben: Nicht Volker Wissing würde die Klimaschutzziele reißen. Es wären die Bürgerinnen und Bürger, die eben mobil sein wollten – so lautete die Begründung seines Parteichefs Christian Lindner. Der Spiegel nannte diese Haltung eine „Verweigerung des Klimaschutzes“ und „Nichtstun als Methode“.

Dass die Radinfrastruktur noch nicht gerade perfekt ist, ist offensichtlich, aktuell wird aber das Bemühen, daran etwas zu ändern, ausgebremst.

Was kümmert mich das Klimaschutzgesetz?

Mit seinem offensichtlich gesetzeswidrigen Verhalten ist Volker Wissing natürlich ein nicht unerhebliches Risiko eingegangen. Deshalb haben er und seine Partei mit dafür gesorgt, dass das KSG in der Weise geändert werden soll, dass es künftig keine separaten Reduktionsziele für den Verkehrssektor mehr gibt, sondern nur noch ein Gesamtpool aller Sektoren betrachtet wird. Das Kabinett hat im Juli 2023 einen entsprechenden Gesetzentwurf verabschiedet, der allerdings noch nicht durch den Bundestag ist (Stand Januar 2024).
Ein Handeln nach dem Motto: „Wenn ich die Vorgaben des Gesetzes nicht einhalten kann, ändere ich einfach das Gesetz“ ist im Hinblick auf das Rechtsempfinden der meisten Bürgerinnen und Bürger und für die politische Moral in Deutschland allerdings verheerend. Es zeigt zudem, wie wichtig der Ampel-Regierung offenbar ein Festhalten am verkehrspolitischen Status quo ist – mit ein bisschen mehr E-Mobilität und verbessertem ÖPNV.
Das temporäre 9-Euro-Ticket sowie nun das 49-Euro-„Deutschlandticket“ für den Nahverkehr ist hingegen ein Punkt, den sich der Verkehrsminister auf der Haben-Seite seiner Bilanz zu Recht ans Revers heften kann.

Planungsbeschleunigung

Ein weiteres wichtiges verkehrspolitisches Thema in den letzten zwei Jahren war die Planungsbeschleunigung für Infrastrukturmaßnahmen. Hier ging es darum, die Genehmigungsverfahren substanziell schneller zu machen. Durch das vom Bundestag im Oktober 2023 verabschiedete Genehmigungsbeschleunigungsgesetz soll sich das ändern, und zwar für alle Bauvorhaben, die im „überragenden öffentlichen Interesse“ liegen. Doch welche sind das? Der Ausbau der Bahn-Infrastruktur war zwischen allen Ampel-Partnern unstrittig. Auch die Einbeziehung von maroden Straßen- und Autobahnbrücken, wodurch lange Staus oder Umleitungen entstehen, waren nachvollziehbar. Ob angesichts der gravierenden Klimaproblematik jedoch auch Autobahnaus- und -neubauten zum „überragenden öffentlichen Interesse“ gehören, darüber wurde lange gerungen. Der Verkehrsminister argumentierte, ohne Straßen gäbe es in Deutschland kein Wachstum und keinen Wohlstand. Schließlich setzte sich die FDP hier durch, die Koalition verständigte sich neben den unstrittigen Themen auf eine Liste von 138 Autobahnvorhaben, bei deren Genehmigung nun unter anderem die Umweltverträglichkeitsprüfung entfällt. Im Sinne der Verkehrswende müsste die Beschleunigung allerdings auch für Radschnellwege und andere bauliche Radwege gelten. Doch was fiel für den Radverkehr ab? Nur der Bau von Radwegen an Bundesstraßen – aber nur dort, weil diese in der Kompetenz des Bundes liegen – soll ebenfalls beschleunigt werden. Tusch!

Standen dem Radverkehr im Jahr 2022 noch 750 Millionen Euro zur Verfügung, so sollen es in diesem Jahr nur noch rund 350 Millionen Euro sein.

Reform des Straßenverkehrsgesetzes

Eine zeitgemäße Reform des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) stand bereits im Koalitionsvertrag. Bisher zielt das Gesetz allein auf die Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs. Klima- und Umweltschutz oder städtebauliche Aspekte spielen keine Rolle. Die Integration dieser Themen ins Gesetz würde den Kommunen mehr Gestaltungsraum vor Ort geben – eigentlich ein klassisches FDP-Anliegen, dass Dinge von denen entschieden werden, die demokratisch legitimiert und unmittelbar betroffen sind: Stichwort Subsidiaritätsprinzip. Nachdem es 2023 endlich einen Regierungsentwurf gab, der von der Fahrradbranche immerhin als „Schritt in die richtige Richtung“ bewertet wurde, scheiterte dieser überraschend im Bundesrat. Also keine Reform, stattdessen gilt das alte Gesetz weiter.

Bis zur Fahrradidylle ist es noch ein weiter Weg. Die Branche und ihre Verbündeten werden kämpfen müssen, um die selbst gesteckten Ziele zu erreichen.

Haushaltsentwicklung

Die Fahrradwirtschaft ist in erheblichem Umfang von der Haushaltskrise des Bundes nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts betroffen. Zunächst wurde im Herbst 2023 durch die Haushaltssperre die gewerbliche E-Lastenrad-Förderung gestoppt, was viele Hersteller von Cargobikes vor massive Probleme stellt. Auch die Bike+Ride-Offensive wurde blockiert. Schließlich beschloss der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages am 18.01.24 Kürzungen in Höhe von 44,6 Mio. Euro bei dem so wichtigen kommunalen Radverkehrs-Infrastrukturprogramm „Stadt und Land“. Fast komplett gestrichen wurde das „Fahrradparken an Bahnhöfen“. Weitere Kürzungen gibt es bei Finanzhilfen zur Unterstützung des Radverkehrs in Ländern und Kommunen und bei der Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans. Die Kritik der Fahrradverbände ist deutlich, zumal beim Haushalt 2024 die Mittel für den Autobahnausbau verschont blieben und zugleich die Mittel für Regionalflughäfen erhöht wurden. Der ZIV spricht in einer Stellungnahme von einem „Schreddern beim Radverkehr und der Verkehrswende“ durch die Ampel-Parteien. Standen dem Radverkehr im Jahr 2022 noch 750 Mio. Euro zur Verfügung, so sollen es in diesem Jahr nur noch rund 350 Mio. Euro sein. Dabei hatte die Verkehrsministerkonferenz der Länder 2023 unterstrichen, dass Deutschland eine Bundesförderung für den Radverkehr von rund 1 Mrd. Euro pro Jahr benötigt, um zum „Fahrradland“ zu werden.
Die EU hat ihren Mitgliedsländern im April als Beitrag zum Klimaschutz erstmals die Möglichkeit gegeben, Fahrräder statt mit dem Standard-Umsatzsteuersatz nur noch mit dem ermäßigten Satz zu belegen. Zum Vergleich: Bus, Bahn und sogar Taxi werden nur mit 7 Prozent MwSt. belegt, das Ausleihen oder der Kauf von Fahrrädern mit 19 Prozent. Die Verbände der Fahrradwirtschaft hatten sich für eine Umsatzsteuersenkung stark gemacht, doch das Finanzministerium entschied anders. Staatssekretär Michael Kellner begründete die Absage auf dem Vivavelo-Kongress im September unter anderem mit einer sehr gut florierenden Fahrradwirtschaft.

Fahrradbeauftragte des BMDV weg

Seit dem 1. Oktober 2023 hat das BMDV keine Radverkehrsbeauftragte mehr. Karola Lambeck wurde auf eine andere Stelle befördert, seitdem ist die Funktion unbesetzt. Frau Lambeck hatte das Amt seit 2018 bekleidet und war auch in der Fahrradbranche durchaus geschätzt. Nun sind personelle Wechsel innerhalb eines Ministeriums nichts Ungewöhnliches. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Position bisher nicht neu besetzt wurde und dass es keine Information darüber gibt, wann beziehungsweise ob es einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin geben wird oder ob das BMDV diese Funktion künftig für entbehrlich hält. Für Letzteres gäbe es angesichts eines personell und strukturell inzwischen deutlich gestärkten Radverkehrsreferats im BMDV sachlich durchaus Argumente. Doch offiziell gibt es keine Erklärungen.Was sagen die
Fahrradverbände?
Mit der radverkehrspolitischen Bilanz der Ampel-Regierung ist in der Fahrradwirtschaft kaum jemand zufrieden. Im Gegenteil: Burkhard Stork, Geschäftsführer des ZIV, kritisiert, dass die Bundesregierung die Orientierung in der Verkehrspolitik verloren habe und appelliert, die Verkehrswende nicht bis zur Bundestagswahl 2025 zu verschleppen: „Wir erwarten, dass schnellstmöglich der Vermittlungsausschuss angerufen wird, um die StVG-Reform zum Abschluss zu bringen.“ Auch der Verband Zukunft Fahrrad sowie der ADFC sind von der bisherigen Regierungsarbeit im Hinblick auf die Verkehrswende enttäuscht und appellieren gemeinsam mit anderen Verbänden der Mobilitätsbranche an die Koalition, „in der verbleibenden Amtszeit ihre Verkehrspolitik stärker an ökologischen und sozialen Kriterien auszurichten“. Hinter den Kulissen fallen die Worte deutlich drastischer aus, aber richtigerweise will man mit der Regierung im Gespräch bleiben. Ein zugespitztes Ampel-Bashing würde zwar gerade gut in den Zeitgeist passen, wäre aber letztlich eher kontraproduktiv. Da ist es klug, sich mit scharfen öffentlichen Statements etwas zurückzuhalten.

Volker Wissing – wes Geistes Kind?

Bundesminister prägen als Person maßgeblich ihr Ressort, und das gilt auch für Volker Wissing und den Verkehrsbereich. Nach gut zwei Jahren zeichnet sich ein klares Bild ab: Sein abgewählter Amtsvorgänger Andreas Scheuer hatte recht, als er den Koalitionsvertrag der Ampel mit den Worten kommentierte: „Schön, dass die Ampel meine Politik der letzten Jahre fortsetzt.“ Allerdings mit einem Unterschied: In der zweiten Hälfte von Scheuers Amtszeit wurde vieles für den Radverkehr bewegt und es wurden höhere Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt. Unter Volker Wissing findet das Gegenteil statt.
Gleich nach seiner Nominierung positionierte sich Wissing massiv als Anwalt der Autofahrer. Das hätte noch taktischer Natur sein können, aber der Minister meint es ernst mit der Überzeugung, dass der Kfz-Verkehr die Grundlage unseres Wohlstands ist. Wie seine Vorgänger ist er zuallererst Autominister, vielleicht mit einer Einschränkung: ÖPNV (Ländersache) und die Bahn scheinen ihm wichtiger zu sein, Stichwort Deutschlandticket. Aber das Fahrrad?
Die Fahrradbranche sah es als positives Signal, dass Volker Wissing höchstpersönlich am 7. April 2022 zum Parlamentarischen Abend während des Vivavelo-Kongresses kam und enthusiastische Worte über das Fahrrad sagte. Aber das war‘s dann auch mit dem Ministerengagement. Zur Eurobike nach Frankfurt kam nur noch sein Staatssekretär. In seiner eigenen, 13-seitigen „Halbzeitbilanz“ nennt das Ministerium den Radverkehr ganz am Ende auf elf Zeilen und zählt als Erfolge die Verstetigung des Förderprogramms „Stadt und Land“ auf, das Erscheinen einer Broschüre mit ergänzenden Fortbildungskursen sowie die Zertifizierung des BMDV als „Fahrradfreundlicher Arbeitgeber“ in Gold. Das war‘s.
Die grundlegende Desillusionierung über Volker Wissing begann aber durch seinen respektlosen Umgang mit dem Bundesklimaschutzgesetz. Nachdem 2022 erstmals festgestellt wurde, dass der Verkehrsbereich die Sektorziele gerissen hat, musste das BMDV ein Sofortprogramm erstellen. Der Expertenrat der Bundesregierung hat dies als inhaltlich unzureichend bezeichnet, was Volker Wissing aber nicht weiter störte. 2023 wurde erneut amtlich das Verfehlen der gesetzlichen Ziele festgestellt. Diesmal verweigerte das BMDV sogar ein Sofortprogramm mit dem Argument, man wolle das Klimaschutzgesetz ohnehin ändern, was aber bis heute (Stand Januar 24) nicht rechtswirksam geschehen ist. Ende November 2023 verurteilte das OLG Brandenburg die Bundesregierung dazu, Paragraf 8 des KSG einzuhalten und Sofortprogramme aufzulegen. Die Bundesregierung legte Revision ein, um weiter Zeit zu gewinnen. Ein derartiger Umgang mit dem wichtigen Gut der Zukunftssicherung durch den Klimaschutz und vor allem auch mit unserem Rechtssystem erschüttert ganz grundsätzlich das Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in die politische Moral der Regierung. Ein schwerwiegender Vorgang, den Volker Wissing, selbst Rechtsanwalt und Angehöriger einer Partei, die sich die Rechtsstaatlichkeit besonders auf die Fahne geschrieben hat, mitzuverantworten hat. Gleichwohl liegt hier auch eine Verantwortung beim Bundeskanzler und dem gesamten Kabinett.
Wes Geistes Kind Volker Wissing ist, zeigte sich auch beim Gerangel um die Reform des auch für den Radverkehr so wichtigen Straßenverkehrsgesetzes (SVG), das die Verkehrswende ein Stück weit hätte erleichtern können. Zunächst verzögerte das BMDV das Angehen des Themas, dann gab es um jede Formulierung zähe Verhandlungen innerhalb der Ampel-Parteien und schließlich, nach dem Scheitern des Gesetzes im Bundesrat, verzichtete der Minister auf die umgehende Anrufung des Vermittlungsausschusses, um doch noch zu einer Einigung zu gelangen. Es wirkt so, als wäre es kein allzu großer Schmerz für Volker Wissing, wenn nun wieder alles beim Alten bliebe.

Albert Herresthal


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Ein integrierter Ansatz für nachhaltigere Verkehre verlangt, Raum und Mobilität stärker zusammenzudenken. Dafür sollte der gesetzliche Rahmen reformiert werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Die Gestaltung von Quartiers- und Stadträumen bestimmt maßgeblich mit, ob sich Menschen beispielsweise fürs Fahrrad, den Bus oder das Auto entscheiden. Im Projekt „Integrierte Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung“ will die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) unter anderem die Frage beantworten, wie individuelles Mobilitätsverhalten funktioniert und welche Interventionsmöglichkeiten zur Förderung nachhaltiger Verkehrsmittelentscheidungen es gibt. Als zentraler Hebel für die Schaffung vielfältiger und klimaresilienter Städte wurden dabei die Wechselwirkungen zwischen räumlichen Strukturen und Mobilität identifiziert. Das ist keine grundlegend neue Erkenntnis, jedoch spannt das Projekt der Akademie einen größeren Bogen, indem sie die integrierte Stadtplanung als Kooperation und fachliche Synergien von Politik, Verwaltung, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft skizziert.

Vier räumliche Maßstabsebenen

Aufgezeigt werden die Wechselwirkungen von Raum und Mobilität an den vier Maßstabsebenen Straße, Stadtquartier, Gesamtstadt sowie Stadtregion. Für jede der Ebenen werden jeweils spezifische Einflussfaktoren beschrieben. So fördert beispielsweise eine hohe Aufenthaltsqualität in Straßen den sozialen Austausch im öffentlichen Raum und die Fortbewegung zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Im Stadtquartier bestimmen Infrastruktur und Erreichbarkeit der Alltagsziele die Mobilitätsoptionen. Entsprechend belebt werden Quartiere durch den Zugang zum öffentlichen Verkehr und durch kürzere Wege. In der Gesamtstadt sollen Standorte verteilt und gut mit dem ÖV oder nicht motorisierten Verkehrsmitteln erreichbar sein. Wichtig für eine Stadtregion ist die Abstimmung von Siedlungsentwicklung, Infrastrukturentwicklung und Verkehrsachsen. Verläuft die Entwicklung beispielsweise entlang von ÖV-Achsen, können im Umfeld von Bahnhöfen und Haltestellen lebendige Zentren entstehen.

Räumliche Maßstabsebenen: Im lebendigen Stadtquartier geht es darum, die Alltagswege zu verkürzen. Für die Gesamtstadt sollen die Standorte im Stadtraum verteilt und mit dem ÖV oder nicht motorisierten Verkehrsmitteln gut erreichbar sein.

Verkehrsmittelwahl nicht immer rational

Ausführlich auf individuelles Verhalten im Kontext von Raum und Mobilität geht der Zwischenbericht ein. Demnach geben zwar, wie zuvor beschrieben, äußere Strukturen oder Angebote den Rahmen vor, Verhaltensentscheidungen sind jedoch nicht unbedingt im ökonomischen Sinn vernünftig. So steht die Wahl von Wohnort und Arbeitsstätte in Wechselwirkung mit der Aktivitätenwahl oder dem individuellen Mobilitätsverhalten. Entscheidungen über Alltags- und Freizeitaktivitäten haben Auswirkungen auf Ziele, Distanz, Frequenz und Abfolge zurückgelegter Wege. Darüber bestimmen sich auch individuelle Mobilitätsoptionen. Das Mobilitätsverhalten ist bestimmt durch Anzahl und Länge täglicher Wege. Bewegungsverhalten beinhaltet beispielsweise schnell oder langsam, zielstrebig oder mäandrierend. Bewegungsverhalten, Aktivitätenwahl und Mobilitätsverhalten beeinflussen sich gegenseitig und haben Auswirkungen auf andere Verkehrsteilnehmende sowie die Wahrnehmung von Raum.

Verhalten nach Budget, Geschlecht und Alter

Wichtig für das Verhalten sind soziodemografische Faktoren. So bedeutet etwa ein höheres Einkommen mehr Freiheit bei der Standortwahl. Die Geburt eines Kindes führt tendenziell zu vermehrter Pkw-Nutzung, ebenso der Fußwege. Je besser der ökonomische Status, desto mehr Wege werden zurückgelegt, während Haushalte mit geringem Budget 28 Prozent mehr Wege zu Fuß gehen. Männer legen fast ein Drittel mehr Wege mit dem Auto zurück als Frauen. Frauen sind um 20 Prozent häufiger zu Fuß unterwegs. Die Hälfte der Frauen fühlt sich unsicher, bei Dunkelheit allein unterwegs zu sein. Mit dem Alter nimmt die Einschränkung der Mobilität zu. Hinzu kommen neuerdings städtische Hitzewellen, bei denen bis zu 65 Prozent ihre Aktivitäten im öffentlichen Raum reduzieren.

Vorstellung in Berlin: Mit den Ergebnissen des Acatech-Projekts wurden auch Handlungsempfehlungen als Orientierungs- und Argumentationshilfe für kommunale Praktikerinnen und Praktiker vorgestellt.

Normen, Werte und Einstellungen

Auch psychologische Aspekte werden beleuchtet. Eine positive Affinität zum Fahrrad etwa hat, wer seit der Kindheit gerne das Rad benutzt hat. In der Jugend wird das Zweirad Mittel zur Selbstständigkeit, die Umgebung auf eigene Faust zu erkunden. Fördert man durch Bildung in Schule und Familie frühzeitig positive Erfahrungen mit aktiver Mobilität, kann dies langfristig ein umweltfreundliches Verkehrsverhalten begünstigen. Und ob jemand in öffentliche Verkehrsmittel einsteigt, ist auch eine Frage des Images. So besitzen Buslinien ein schlechteres Image als schienengebundene Verkehrsmittel. Als Interventionsansatz werden statussensible Angebote und begleitende Kommunikations- und Marketingmaßnahmen empfohlen.

„Die Novellierung des StVG ist eine wichtige Basis für ein Mobilitätsgesetz mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort.“

Helmut Holzapfel, Co-Projektleiter

Wechsel und Krisen als Chancen

Auch eine neue Lebensphase bietet die Chance, mit Routinen und Gewohnheiten zu brechen. Mit Bezug einer Wohnung oder Wechsel des Arbeitsplatzes kann das eigene Mobilitätsverhalten hinterfragt werden. Hilfreich können deshalb Mobilitätsberatungen für Neubürgerinnen und Neubürger oder junge Familien sein. Betriebe können Anreize setzen, wenn sie Mitarbeitenden Abomodelle für Dienstfahrräder oder ein Mobilitätsbudget anbieten. Ebenso bewirken externe Schocks oder unvorhergesehene Ereignisse individuelle Verhaltensänderungen. Als Beispiel wird die Covid-19-Pandemie genannt, in der zahlreiche Personen ihr Standort-, Aktivitäts- und Mobilitätsverhalten hinterfragt haben. Digitale Transformationen haben standortunabhängiges Arbeiten ermöglicht.

Partizipation aller Teilnehmer

„Als einseitiger Top-down-Prozess wird die Transformation der Mobilität jedoch nicht erfolgreich sein. Wichtig ist, dass sich alle gesellschaftlichen Gruppen als Teil dieser Veränderung verstehen, diese für sich als Gewinn betrachten, die Prozesse mitentwickeln und in ihren Alltag integrieren“, heißt es im acatech-Bericht. Konflikte entstehen zum Beispiel bei unterschiedlichen Vorstellungen von Raumnutzung. Deshalb sollte der Austausch zwischen Nutzergruppen ermöglicht werden. Die Akzeptanz neuer Angebote wie temporär verkehrsberuhigte Zonen wird größer durch die Einbindung lokaler Akteurinnen. In Partizipationsprozessen wird das Wissen von Quartieranrainerinnen genutzt und fließt mit in die Planung ein.

Raumebene Stadtregion: Wichtig ist hier die Abstimmung von Siedlungsentwicklung, Infrastruktur und Verkehrsachsen. Rund um Bahnhöfe und Haltestellen können attraktive Zentren entstehen.

Regelwerke reformieren, Zusammenarbeit fördern

Dreh- und Angelpunkt von Interventionen, um auf Verhaltensänderungen einzuwirken, bleibt das Zusammenspiel von Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung. Zu den Bausteinen gehören Umweltzonen, der Ausbau von Fuß- und Radinfrastrukturen, Bike-Sharing-Systeme und Quartiersverbindungen durch den ÖV. Die Empfehlungen der Acatech richten sich auch an die Politik. Co-Projektleiter Helmut Holzapfel sagt: „Es ist ein Dilemma: Kommunen sollen die Mobilitätswende vorantreiben, doch sobald sie Neues ausprobieren, um öffentlichen Raum vielfältiger zu nutzen und etwa Straßen für Fußgängerinnen und Fußgänger zu öffnen, droht schnell der Gang vor Gericht. Die Novellierung des StVG ist eine wichtige Basis für ein Mobilitätsgesetz mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort.“ Kommunen sollten mehr rechtlichen Spielraum erhalten, um integrierte Maßnahmen eigenständig umzusetzen. „Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser“, findet Co-Projektleiter Klaus Beckmann (Interview). Eine entsprechende Reform ist 2023 im Bundesrat jedoch gescheitert.
Patentlösungen für lebenswerte Stadtregionen gibt es nicht. Deshalb sollten Experimentierklauseln erweitert und das temporäre Abweichen von Vorschriften erleichtert werden. So könnten innovative Ansätze und ihre Wirkung rechtssicher ausprobiert werden. „Die Sendlinger Straße in München ist ein gutes Beispiel“, sagt Co-Projektleiter Klaus Beckmann. „Die Straße wurde zunächst versuchsweise zur Fußgängerzone umgewidmet. Seither flanieren die Menschen, sie genießen den neu gewonnenen Freiraum und auch der Einzelhandel profitiert von der höheren Besucherfrequenz. Schon nach einem Jahr war klar: Das soll so bleiben.“
Programme mit angepassten Förderbedingungen sollten einen integrierten Ansatz in Kommunen und Regionen unterstützen für eine langfristige und sichere Planung.

Erfolge in Paris, Freiburg und Hannover

Als Beispiel für einen integrierten Planungsansatz wird unter anderen die französische Hauptstadt Paris genannt mit ihrer Fokussierung auf gute Erreichbarkeit nach dem Konzept der 15-Minuten-Stadt. Dort wurde von 2001 bis 2018 ein deutlicher Rückgang der täglich mit dem Auto zurückgelegten Wege verzeichnet, während sich die zu Fuß zurückgelegten Wege um etwa 50 Prozent erhöht haben. Die Anzahl mit dem Auto zurückgelegter Wege fiel 2018 sogar unter die 6-Millionen-Marke. In Freiburg im Breisgau wiederum verfolgt man seit Ende der 1980er- Jahre das Ziel, Verkehr durch eine abgestimmte Stadtentwicklungs- und Mobilitätspolitik zu vermeiden. Die Wirkung einer integrierten Planung wird deutlich sichtbar. So stieg zwischen 1982 und 2016 der Anteil des Umweltverbunds von 61 auf 79 Prozent, der des motorisierten Individualverkehrs sank von 39 auf 21 Prozent. Nicht zuletzt steht die Region Hannover mit ihrer Regionsversammlung als Beispiel für eine institutionalisierte Form regionaler Zusammenarbeit. Bereits 2011 wurde ein Verkehrsentwicklungsplan für die Region verabschiedet, der auf räumliche Integration abzielte. Im 2023 fortgeschriebenen Verkehrsentwicklungsplan ist eine Senkung des CO2-Ausstoßes von 70 Prozent bis 2035 vorgesehen. Zwischen 2011 und 2017 ging der MIV-Anteil in der Region von 59 auf 55 Prozent zurück, der des Umweltverbunds stieg von 41 auf 45 Prozent.

„Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser“

Interview mit Acatech-Co-Projektleiter Prof. Klaus Beckmann

Was sind Kernanliegen des integrierten Ansatzes?
Es geht um die Frage, welche Effekte auf den Verkehr wir bei der Stadtentwicklung berücksichtigen müssen. Wie können wir die erwünschten Effekte im Verkehr stützen, die unerwünschten bremsen oder umlenken? Das bedeutet, dass ich über die verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen nachdenken muss. Es beginnt im Straßenraum vor der Haustür. Der ist nicht nur Verkehrsfläche, sondern ebenso für Aufenthalt, Kontakte oder Spiel. Ich kann auch Grünflächen zur Verbesserung des Stadtklimas bereitstellen.
Das geht dann ins Quartier hinein. Was ist bereits an Einrichtungen vorhanden? Welche sollte man schaffen, die im Alltagsleben Ziele von Menschen sein können? Von der Schule über den Kindergarten, die Einkaufsgelegenheiten bis hin zu Ärzten. Das muss ich versuchen mitzudenken.
Man könnte jetzt sagen, das ist doch alles fix. Die letzten zwei Jahre haben jedoch gezeigt, dass vieles, von dem wir gemeint haben, es sei fix, nicht so fix ist. Ich erinnere an den für die Innenstädte problematischen Niedergang der Kaufhäuser. Welche Nutzungen ich da reinbringen kann. Ausschließlich Handel ist vielleicht zu monofunktional. Ich muss überlegen, ob nicht auch Wohnungen oder Arbeitsplätze infrage kämen – oder eine Bibliothek. Was wir jahrelang an den Rand der Städte geschoben haben, kann vielleicht wieder in die Stadt rücken. Bei den räumlichen Maßstabs-ebenen bin ich da vom Quartier im Übergang zur Gesamtstadt. Wo liegen die Orte, die Zugänge zu Fußgänger- und Zweiradverkehrsnetzen oder zum ÖPNV bieten? Kann ich die mit der U-Bahn oder Tram erreichbar machen? Hier sind die Botschaften. Wir brauchen Integration. Städtebau auf der einen Seite, Mobilität auf der anderen. Und das über alle Ebenen vom Quartier bis in die Region hinein.

Wie wichtig ist eine selbstständige Planung für die Kommunen?
Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser. Die Politikerinnen und Politiker aus den Gemeinde- und Stadträten müssen letztlich die Wirkungen überprüfen und eventuell nachkorrigieren, also Erfahrungen sammeln. Vor allem die Kritik der Bürgerinnen und Bürger ist aufzunehmen, um sich damit auseinanderzusetzen. Die Verantwortlichkeit ist bei den Kommunen zu sehen. Dieser Weg ist im Augenblick eingeschränkt, beispielsweise durch das bisherige Straßenverkehrsgesetz.
Natürlich gibt es Argumente dafür zu sagen, es wäre nicht förderlich, wenn wir in Kommune A und der Nachbarkommune B völlig gegensätzliche Regelungen hätten. Deswegen bedarf es eines Rahmens wie das Straßenverkehrsgesetz und die Ableitung als StVO. Aber das ist im Augenblick relativ strittig. Es gibt mehr als 1000 Gemeinden, die postuliert haben: Gebt den Städten und Gemeinden mehr Kompetenzen und Verantwortlichkeiten im Bereich der Gestaltung von städtischen Verkehrsräumen. Das betrifft zum Beispiel die Geschwindigkeiten.

Was beeinflusst die individuelle Verkehrsmittelwahl?
Das fängt bei der Wohnungssuche schon mit dem Angebot an. Wo liegt das in der Stadt? Wie erreiche ich von dort meinen Arbeitsplatz und Einkaufsgelegenheiten? Ist das ein gut ausgestattetes Quartier? Was für Mobilitätsoptionen habe ich selbst und bevorzuge ich? Bin ich Fußgänger, Fahrradfahrer, ÖPNV-Nutzer oder passionierter Autofahrer?
Es gibt einige Wohnungsbaugesellschaften, die bereits integrierte Angebote von Wohnungen und Mobilitätsmöglichkeiten machen. Als Nutzer mieten Sie also eine Wohnung und haben vielleicht damit schon einen Mobilitätspool. Dieser kann ein Fahrrad, ein Pedelec, einen Leih-Pkw oder eine ÖPNV-Fahrkarte beinhalten. Gerade im kommunalen Bereich, in Quartieren und Stadtteilen, spielen nicht motorisierte Verkehrsmittel von den Füßen bis zu den Zweirädern eine bedeutende Rolle.

Der integrative Ansatz ist umfangreich: Wer hat den Masterplan, wer fängt an?
Das Schwierige und Interessante daran ist, dass es keine Musterlösung gibt nach dem Motto: Nur so geht´s. Das hängt von den lokalen Rahmenbedingungen ab. Was habe ich für ein Radwegenetz? Wie kann ich das Straßennetz umgestalten? Ich muss bei allem, was die Stadtplanung und die Verkehrsplanung entscheiden, fragen: Was bedeutet das hinsichtlich der städtischen Lebensqualitäten sowie der Mobilitäts- und damit Teilnahmemöglichkeiten? Das sind zentrale Fragen, die man sich ständig stellen muss. Manche Städte haben gute Erfahrungen gemacht, indem sie Masterpläne erstellt und schrittweise in der Verwaltung und Politik umgesetzt haben. Das schließt nicht aus, dass man, wenn Menschen aus dem Quartier sagen: Das ist etwas, was wir für nötig halten, dies berücksichtigen, also davon profitieren sollte.

Ein Leitfaden, der mit dem Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) entwickelt wurde, unterstützt Kommunen bei der Transformation ihrer Governance und zeigt Handlungsbausteine auf für integriertes Arbeiten.

Info: www.acatech.de


Bilder/Grafiken: acatech, David Ausserhofer

Wer den Verkehrsraum umgestalten und neu verteilen will, begegnet meist großen Widerständen, egal ob durch die Bevölkerung oder das ortsansässige Gewerbe. Albert Herresthal, Herausgeber des Informationsdienstes Fahrradwirtschaft, sprach mit Kirsten Pfaue, Leiterin des Amts Mobilitätswende Straßen in Hamburg, darüber, wie sie in der Hansestadt Akzeptanz für ihre Maßnahmen erzeugt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Verkehrspolitik ist immer ein Konfliktfeld, denn Veränderungen gefallen nicht jedem. Wie gelingt es Ihnen, vor Ort eine möglichst breite Akzeptanz für die Umgestaltungen zu schaffen?
Die Hamburger Radverkehrsförderung haben wir einerseits durch das stadtweite Erheben und Analysieren von Daten untermauert. Wir haben in Hamburg ein dauerhaftes und automatisiertes Radverkehrszählnetz aufgebaut. Die Daten von rund 100 Messquerschnitten mit Wärmebildtechnik sind online abrufbar. Darüber können wir Entwicklungen erläutern und konkrete Maßnahmen erklären. Zahlen, Daten, Fakten schaffen Akzeptanz und Verständnis. Denn am Ende bilden sie das Verhalten der Menschen selbst ab und diese gehören als Nutzerinnen und Nutzer in den Mittelpunkt. Außerdem haben wir einen guten Maßnahmen-Mix hinbekommen zwischen Marathon, also lang andauernden Projekten wie dem Netzausbau und Sprints, also schnell umzusetzenden Maßnahmen wie der Roteinfärbung von Kreuzungsbereichen, der Umsetzung von Pop-up-Bikelanes und der Schaffung von mehr Protektion. Letztlich ist es so, dass Maßnahmen Akzeptanz haben, wenn die Menschen merken, dass sie ihre tägliche Mobilität verbessern. Durch mehr Komfort und mehr Sicherheit.

Setzen Sie Planungen auch gegen Widerstände durch oder ist die Akzeptanz der unmittelbar Betroffenen für Sie eine Voraussetzung für die Umsetzung?
Mit dem Kopf durch die Wand ist keine gute Grundhaltung und sicher nicht meine. Ich bin überzeugt davon, dass in jeder Kritik auch eine Botschaft und eine Chance stecken. Deshalb gilt es, in einem ersten Schritt ernsthaft zuzuhören, die Belange in den Prozess einzubauen und dann abzuwägen.

„Mit dem Kopf durch die Wand ist keine gute Grundhaltung.“

Kirsten Pfaue, Leiterin des Amts Mobilitätswende Straßen in Hamburg

Vielerorts kämpfen ansässige Einzelhändler um jeden Parkplatz und eine optimale Anbindung mit dem Auto. Erleben Sie das in Hamburg auch so? Welchen Weg haben Sie im Gespräch mit den Händlern gefunden, Verständnis für Ihre Planungen zu erreichen?
Wir haben uns in unserem „Hamburger Bündnis für den Rad- und Fußverkehr“ einen Grundsatz gegeben und zwischen allen Partnern abgestimmt, der heißt, dass alle Beteiligten der Information von Bürgerinnen und Bürgern, Betroffenen, Politik und Interessenverbänden in ihren Zuständigkeiten einen hohen Stellenwert einräumen. Dies insbesondere dort, wo bereits artikuliertes öffentliches Interesse, eine Verknüpfung mit anderen Planungsprozessen im Stadtteil, hoher Einzelhandels- und Gewerbebesatz, Parkplatzmangel oder viele Straßenbäume in engem Straßenraum Konflikte möglich erscheinen lassen. Hier soll stets eine Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden. Unser Ziel in Hamburg ist es, ins Gespräch zu kommen und zu verdeutlichen, welche Chancen auch für Händlerinnen und Händler durch eine bessere Radverkehrsanbindung bestehen – vor allem in Kombination mit dem ÖPNV.

Gibt es Projekte, die am Widerstand gescheitert sind, und wie gehen Sie damit um?
Natürlich ist es auch schon vorgekommen, dass wir Projekte „on hold gestellt“ oder umgeplant haben, weil es Rückmeldungen und Diskurse gab, die uns veranlasst haben, Dinge zu überdenken. Wichtig ist, sich dann nicht festzubeißen, sondern die Dinge in Ruhe mit allen Stakeholdern zu erörtern.

Welche Rolle spielen Presse und Medien für Ihre Arbeit und wie gelingt es, dass sie eine konstruktive Rolle einnehmen?
Der gesellschaftliche Konsens, dass wir eine Mobilitätswende brauchen, der ist in Hamburg da, und die Zahlen zeigen dies auch eindrucksvoll. In 2022 wurden 68 Prozent aller Wege der Bevölkerung Hamburgs mit Verkehrsmitteln des Umweltverbunds, also im ÖPNV, mit dem Fahrrad und zu Fuß, zurückgelegt. Im Vergleich zu 2017 ist dieser Anteil um 4 Prozentpunkte gestiegen. Den größten Zuwachs erreichte dabei das Fahrrad, dessen Anteil in 2022 gegenüber 2017 um sieben Prozentpunkte auf 22 Prozent angestiegen ist. Das ist enorm! Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs sank von 36 Prozent in 2017 auf 32 Prozent in 2022. Dies gibt meiner Arbeit natürlich viel Rückenwind und letztlich wissen wir doch alle, auch Presse und Medien, dass ein „einfach weiter so“ nicht geht. Auch gegenüber den Medien ist es deshalb wichtig, und dies ist unser Bestreben, transparent und klar zu erläutern, was wir warum tun. Dies hilft enorm.

Zur Person

Kirsten Pfaue hat mit dem Thema Fahrrad eine erstaunliche Karriere gemacht: Von 2010 bis 2014 war sie Landesvorsitzende des ADFC Hamburg, 2015 wurde sie Radverkehrskoordinatorin der Freien und Hansestadt Hamburg und heute leitet sie das Amt „Mobilitätswende Straßen“. Doch auch bundesweit ist Kirsten Pfaue gefragt. So wurde sie 2022 zur Vorsitzenden des Beirats Radverkehr im Bundesverkehrsministerium gewählt.
Doch Posten sind nur das eine, spannender sind die tatsächlichen Ergebnisse auf der Straße. Und hier hat Hamburg in den letzten zehn Jahren große Fortschritte gemacht, wenn auch beginnend auf sehr niedrigem Niveau (Bewertung Fahrradklimatest 2012: Schulnote 4,4). Heute findet man Velorouten und Fahrradstraßen, gerade auch an sehr prominenten Stellen, etwa entlang der Außenalster. Zwar ist Hamburg von durchgängigen Netzen für den Radverkehr noch weit entfernt, aber es ist eine konsequente Strategie erkennbar, deren Umsetzung im Vergleich zu vielen anderen Städten relativ geräuscharm erfolgt.


Bild: bvm.hamburg

Berlin hat eine neue Regierung. Die ersten Amtshandlungen der neuen Verkehrssenatorin brachten Radaktivist*innen in Aufruhr. Was steckt dahinter – und was ist zu erwarten? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Die Aufregung in der Hauptstadt vor den Sommerferien war enorm. „Die neue Senatorin entpuppt sich als Autoverkehrssenatorin, die zwar ‚Miteinander‘ propagiert, während ihr Herz aber eindeutig für die autogerechte Stadt schlägt“, kommentierte Ragnhild Sørensen die Aktivitäten der neuen Berliner Senatsverwaltung. Nicht nur die Sprecherin vom Verein Changing Cities, der seinerzeit den Volksentscheid zum Fahrradverkehr vorangetrieben hatte, Tausende waren in Berlin innerhalb weniger Tage mobilisiert worden und protestierten gegen den vermeintlichen Autopopulismus des neuen schwarz-roten Senats. Ende Juni feuerte Changing Cities aus vollem Rohr: „Verkehrssenatorin wickelt das Mobilitätsgesetz ab“, stand über einer Pressemitteilung. Die Medien der Hauptstadt berichteten über „mögliche Kürzungen beim Radverkehr“.

Neue Senatorin lässt Maßnahmen ruhen

Der konkrete Anlass für den Aufruhr war ein Verwaltungsvorgang, den selbst politische Widersacher der neuen Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) für eine legitime Maßnahme halten. Die Politikerin hatte am 16. Juni angekündigt, dass alle von der rot-grün-roten Vorgängerregierung beschlossenen Radwege-Bauprojekte überprüft würden. Während Schreiner von vornherein von einem „Ruhen“ der Maßnahmen und einer „Priorisierung“ mit dem Ziel eines funktionierenden Verkehrsmixes sprach, wähnten Vertreterinnen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) ebenso wie grüne Politikerinnen in den Berliner Bezirken einen möglichen „Stopp“ des Radwege-Ausbaus. Der ADFC sah die Gefahr, dass „bewusst Politik gegen die Radfahrer“ gemacht werde.

Freigabe nach Check durch die „Task Force“

Faktisch war Folgendes geschehen: Senatorin Schreiner hatte mit ihrer Verwaltung 19 Radwege-Baumaßnahmen überprüft, die noch von der alten Regierung beschlossen worden und in den folgenden drei Monaten für die Umsetzung vorgesehen waren. Eine „Task Force“ im Verkehrssenat hatte die Aufgabe, diese Projekte zu prüfen. Wer genau sich hinter dieser „Task Force“ verbarg, beantwortet die Pressestelle des Verkehrssenats wie folgt: „Die Task Force ist eine kleine agile Einheit, die sich aus Expertinnen und Experten der Radwegeverkehrsplanung zusammensetzt. Die Gruppe prüft und plant ideologiefrei Radwege in der ganzen Stadt. Sie wird dies auch weiterhin machen.“ Die Ergebnisse kamen in den folgenden Wochen Stück für Stück an die Öffentlichkeit, in der längst eine Negativberichterstattung hohe Wellen schlug. Mit drei Ausnahmen gab die Senatorin schließlich die geplanten Vorhaben und die Finanzmittelzusagen wieder frei. Viel Lärm um nichts also? Stefan Gelbhaar, direkt gewähltes Bundestagsmitglied für Bündnis 90/Die Grünen im Bezirk Berlin-Pankow und Radpolitik-Vordenker, ordnet das Handwerk ein: „Wie das kommunikativ in die Wege geleitet wurde, wie an die Bezirke gegangen wurde, was die Bezirke teilweise daraus gemacht haben, das war jetzt nicht nur kommunikativ, sondern auch politisch: einfach sehr schlechte Governance.“

„Die Verkehrswende will keiner stoppen, auch nicht die Senatorin.“

Andreas Knie
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wahlkampfthema: „Politik gegen Autofahrer“

Die jüngste Eskalation zwischen Verkehrsaktivistinnen, Vertreterinnen der Bündnis-Grünen und der CDU-Senatsverwaltung geschah vor dem Hintergrund einer verankerten politischen Auseinandersetzung. Ein dankbares Wahlkampfthema für die CDU war die vermeintliche Ideologie, mit der wiederum die Grünen in der alten Regierung Mobilitätspolitik betrieben hätten. Das Motiv der leidenden Autofahrer schwang in Berlin ständig mit. Nach der Wahl sagte der neue Regierende Bürgermeister Kai Wegner, die Mehrheit in seiner Stadt sei es leid gewesen, dass laufend Politik gegen Autofahrer gemacht werde. „Dafür stehe ich nicht zur Verfügung.“ Allerdings kann kaum die Rede davon sein, dass Wegner mit einem harten Autofahrer-Wahlkampf agiert hätte, sagen die politischen Beobachter. „Die Grünen hätten im Mobilitätswahlkampf stärker und überzeugter auftreten können. So musste die CDU nicht einmal einen harten Auto-Wahlkampf machen“, sagt etwa Heinrich Strößenreuther, Radverkehrsaktivist mit CDU-Parteibuch. Auch Andreas Knie, Mobilitätsforscher beim Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, hielt die Aufregung für übertrieben. „Kontroversen werden schon mal gerne künstlich herbeigeschafft“, sagt Knie, „die große Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner weiß um die Situation, weiß um die Probleme mit versiegelten Flächen und dem Verkehr.“ Daher ist der Forscher sicher: „Um es klar zu sagen: Die Verkehrswende kann man gar nicht mehr stoppen und die will auch keiner stoppen, auch nicht die Senatorin.“

Gewachsene Unzufriedenheit trifft neuen Senat

Mit einem etwas distanzierteren Blick auf die Vorgänge des Sommers tritt ein spannendes Muster zutage. Eine neue, eher konservative, Regierung tritt das Erbe jener Politiker an, die wiederum vor einigen Jahren stark vom Erfolg der Radverkehrs-aktivistinnen angetrieben worden waren. Die Baumaßnahmen in der Hauptstadt haben auch überregional Aufsehen erregt. 130 Kilometer hatte die Vorgängerregierung nach Berechnungen von „Changing Citites“ als neue Radwege ausgewiesen, das war deutlich weniger als eigentlich angestrebt. „Außerdem war das sehr großzügig gerechnet und oftmals nicht in der Qualität, wie sie im Berliner Mobilitätsgesetz gefordert wird“, urteilt Strößenreuther. Aus seiner Sicht war der Protest, der sich nun im Sommer gegen die neuen Verant-wortungsträgerinnen entlud, länger schon gewachsen. „Der Boden für den Widerstand gegen die Verkehrssenatorin ist sehr fruchtbar“, sagt Strößenreuther, „denn die Unzufriedenheit hat sich bereits mit der rot-grün-roten Regierung aufgestaut, kann sich aber jetzt eher entladen, da die eigene Klientelpartei nicht mehr in der Regierung ist.“

Auch nach sechs Jahren rot-grün-rotem Senat gibt es in Berlin beim Radverkehrsausbau noch viel zu tun. Die Berliner Verwaltungsstruktur mit viel Entscheidungskompetenz in den Bezirken macht den Weg dabei nicht einfacher, sagen Beobachter.

„Ideale Voraussetzungen für Aktivisten“

Was das bedeutet, war in Berlin gut zu erkennen in den vergangenen Wochen. Fahrradvertreterinnen und Politikerinnen der Grünen gingen in Alarmismus über. Auch die SPD, Regierungspartnerin der CDU, schloss sich öffentlich dem Widerstand gegen vermeintliche Sparmaßnahmen beim Radverkehr an. So erbte Senatorin Schreiner einerseits den Frust, andererseits hat sie eine besonders aufmerksame Community um sich herum. „Als Aktivist“ sei er erstaunt gewesen, „dass das Mobilitätsgesetz so schnell und so stark auf der Agenda war, wie nur ein kleiner Funke eine verkehrspolitische Explosion entzündet – das sind optimale Voraussetzungen, um miteinander das Thema Verkehrswende voranzutreiben, den sonst bleiben alle in ihren Schützengräben“, sagt Strößenreuther.
Grünen-Abgeordneter Gelbhaar sieht die kritische Masse als wichtige Rahmenbedingung. Anderthalb Wochen nach der Bekanntgabe des Moratoriums für die Radwege habe es einen zwölf Kilometer langen Demonstrationszug von Radfahrenden gegeben. „Das ging sehr schnell“, sagt Gelbhaar: „Das hat CDU und SPD im Senat beeindruckt und richtigerweise aufgeschreckt.“ So lässt sich bislang auch zumindest in den Äußerungen der Politikerin Schreiner keinesfalls eine Abkehr vom Radwegeausbau erkennen. „Der neue Senat hat ein ganz klares Ziel: Mehr Radwegekilometer zu bauen als die Vorgängerregierung“, heißt es aus der Pressestelle des Verkehrssenats.

Was hinterließ der alte Senat?

Mobilitätsforscher Andreas Knie hat sich selbst ein Bild gemacht. Er urteilt positiv: „Die Senatorin will es richtig machen. Und da muss man auch tatsächlich selbstkritisch sagen, dass die bisherige Regierung im Kampf um diese Gebiete, im Kampf um die ersten Meter das eine oder andere Stückwerk hinterlassen hat.“ Am Plan, ist Knie sicher, werde nicht gerüttelt. Tatsache ist, dass die alte Regierung den Prozess zwar vorangetrieben hat, die Maßnahmen aber teilweise sehr schleppend vorankamen. Gelbhaar verteidigt hingegen die Arbeit der Vorgängerregierung. Auf Bezirks-ebene hätten vor sechs Jahren die Straßenbau-Fachleute den Radverkehr „mitgemacht“, auf Landesebene habe es „anderthalb Leute für ganz Berlin“ gegeben. „Das hat sich geändert. In jedem Bezirk gibt es Menschen, die für den Radverkehr zuständig sind. In der Senatsverwaltung ist eine ganze Abteilung aufgebaut worden.“
Heinrich Strößenreuther sieht eine Verwaltungsbeschleunigung als elementar an. Die Lage habe sich schon mit der neuen Staatssekretärin unter der Vorgängerregierung verbessert, nun sei mit Claudia Elif Stutz eine Fachfrau und erfahrene Beamtin aus dem Bundesverkehrsministerium in den Senat gewechselt. Wichtig: Elif Stutz fahre selbst ganzjährig Rad, sagt Strößenreuther. Die von Rot-Grün-Rot geschaffenen personellen Kompetenzen, etwa 80 Personen, reichten zwar eigentlich nicht aus, glaubt Strößenreuther. Aber es sei eben eine Beschleunigung der Verwaltungsarbeit relevant, um das Thema voranzutreiben.

„Für die Verkehrswende muss beständig nachgelegt werden. “

Stefan Gelbhaar
Bündnis 90/Die Grünen

Sorge vor Veröden der Radpolitik

Grünen-Radpolitiker Stefan Gelbhaar hingegen ist in Sorge. Klar könne man jetzt nicht offen gegen die Radverkehrspolitik agieren. „Nach diesen Vorgängen steht im Raum, dass die Abteilung eben politisch abgeschnitten wird, dass sie langsam verödet, relevante Entscheidungen nicht getroffen oder verzögert werden.“ Seine Sorge: Bei den Haushaltsberatungen könnte die neue Regierung eher Budgets für Großprojekte freiräumen, etwa den U-Bahn- und Straßenbau. „Dann fehlen Geld und Personal bei realistischen Projekten in Sachen Straßenbahn und Fahrrad.“ Er befürchtet, dass sich zwar auf dem Papier zunächst nichts ändern werde, aber die Priorität des Radverkehrs nach unten rücke. „Die Frage ist: Kommen weiter viele neue Projekte dazu oder wird das Thema entschleunigt? Derzeit sehen wir nur Projekte, die von der alten Regierung noch auf den Weg gebracht wurden. Für die Verkehrswende muss allerdings beständig nachgelegt werden.“

Senat „will“ Budget auch nutzen

Die neue Regierung kündigt an, dass sie nicht nur Gelder für den Radverkehr im Haushalt einstellen wolle (29,32 Mio. Euro 2024, 29,81 Mio. Euro 2025), sondern anders als die Vorgängerregierung diese Mittel auch tatsächlich ausgeben „will“. Dies ist ein bekanntes Problem ineffizienter, aber ambitionierter Politik. Und hier setzen die Beobachter auf die Kraft der neuen Führung. Für Heinrich Strößenreuther wird es besonders wichtig sein, an die S-Bahn-Stationen auch qualitativ hochwertige Bike-and-Ride-Anlagen zu bauen und gefährliche Kreuzungen zu entschärfen. Hier stockte der Fortschritt zuletzt. Forscher Andreas Knie weist auf ein spezifisches Thema der Hauptstadt hin: In Berlin kümmern sich abseits der großen Straßen die Bezirke um den Straßenbau. „Es bräuchte ein Landestiefbauamt, wo der Senat nicht nur anordnet, sondern auch baut – oder wo die Bezirke Anträge stellen können.“ Eine Verwaltungsreform wäre seiner Ansicht nach also geboten, um dem Radverkehr nachhaltig Schub zu verleihen.

„Verkehrsbuch ohne Autohass“

Radverkehrs-Aktivist Heinrich Strößenreuther schreibt derzeit gemeinsam mit Michael Bukowski und Justus Hagel ein neues Buch, das die nachhaltige Stadtentwicklung inspirieren soll und dabei das „Gegeneinander“ durch „Miteinander“ ersetzen soll. „Das Verkehrsbuch ohne Autohass – wie wir alle den Kulturkampf um die Straßen gewinnen“ heißt das Projekt, für das seit Anfang August auf der Crowdfunding-Plattform Startnext Geld gesammelt wird. Strößenreuther kündigt gegenüber VELOPLAN an, dass das Buch auf jeden Fall veröffentlicht werde. Mit dem Crowdfunding möchten die Autoren auch Aufmerksamkeit darauf lenken, dass „Verkehrsfrieden“ geschafft werde.

https://www.startnext.com/verkehrsbuch-ohne-autohass/blog/beitrag/crowdfunding-ohneautohass-super-angelaufen-p102201.html


Bilder: stock.adobe.com – Tobias Seeliger, Stefan Gelbhaar, Albert Herresthal, stock.adobe.com – Marco

Der 8. Nationale Radverkehrskongress hat in Frankfurt von der Verzahnung mit der Eurobike profitiert. Rund 700 Radverkehrsakteur*innen kamen ins Kap Europa. Der gastgebende Verkehrsminister Dr. Volker Wissing begrüßte sie allerdings nur digital. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


„Es ist nicht immer einfach, aber es lohnt sich“, fasste Frankfurts Bürgermeister Mike Josef die Arbeit der Radverkehrsplanung beim Eröffnungsplenum des NRVK zusammen. Die gastgebende Stadt sei auf dem Weg zur Fahrradstadt bereits mit großen Schritten vorangekommen, dennoch bleibe besonders im Gebäude- und Verkehrssektor viel zu tun. Das betrifft vor allem die Politik, die den Planer*innen Rückendeckung geben muss. In dieser Hinsicht wurden besonders Aussagen hinsichtlich des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) beziehungsweise der ihr nachge-
lagerten Straßenverkehrsordnung (StVO) vom rund 700-köpfigen Plenum mit Applaus untermalt. MdB Mathias Stein von der SPD betonte in einer Diskussion des Parlamentskreises Fahrrad, dass die kommende StVG-Novelle das Präventionsprinzip beinhalten sollte, nach dem Schutzmaßnahmen auch ohne bereits geschehene Unfälle leichter angebracht werden sollen. Der Parlamentskreis wurde in der letzten Wahlperiode gegründet, um parteiübergreifend Querschnittsthemen wie Industrie oder Tourismus zu besprechen.

Mehr Handlungsspielraum für Kommunen

Der parlamentarische Staatssekretär Oliver Luksic freute sich über die Frankfurter Woche des Radverkehrs und kündigte an, dass es zeitnah einen Gesetzesentwurf geben soll. Zu erwarten ist in diesem, dass gemäß dem Subsidiaritätsprinzip mehr Handlungsspielraum für Kommunen entsteht. „Das Thema des Kongresses ist gut gewählt – schneller mehr, besserer und sichererer Radverkehr. Denn die schnelle Umsetzung von Maßnahmen ist das Gebot der Stunde. Die Fördermittel für den Radverkehr stehen im Haushalt des Bundes bereit. Wir haben in dieser Legislatur Finanzierungs‐ und Planungssicherheit für die Kommunen geschaffen. Wir fördern den Radverkehr mit zahlreichen Programmen und unterstützen die zuständigen Länder und Kommunen unter anderem dabei, ihre Radinfrastruktur sicherer und komfortabler zu machen“, so Luksic. Er plädierte außerdem dafür, die Mittel zu nutzen, die der Bund zur Verfügung stellt. Luksic vertrat den Minister Volker Wissing als Gastgeber. Wissing sei in Berlin im Rahmen der deutsch-chinesischen Konsultationen vom Bundeskanzler einbestellt worden. Neben Luksic und Josef trat der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir als Eröffnungsredner auf: „Besonders freut es mich, dass der Nationale Radverkehrskongress erstmals im Zusammenhang mit der Eurobike durchgeführt wird. Das zeigt die wirtschaftliche Bedeutung des Radverkehrs und verstärkt den Austausch zwischen den unterschiedlichen Akteuren.“ Al-Wazir plädierte dafür, die positive Wirkung des Radverkehrs auf die Lebensqualität zu kommunizieren. „Die Kopie ist die höchste Form der Anerkennung“, zitierte er weiterhin Oscar Wilde. Das Land Hessen fördert aktuell zum Beispiel Nahmobilitätskoordinatoren und -koordinatorinnen, die kleinen Kommunen beratend zur Seite stehen.

Frankfurts Oberbürgermeister Mike Josef war zum NRVK gerade noch frisch im Amt, hier bei der Radtour zur Eurobike mit Hessens Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir und PStS Oliver Luksic.

Branchenverbände zeigen Präsenz

Nachdem die zweijährlich stattfindende Veranstaltung 2021 digital durchgeführt wurde, war sie 2023 zum ersten Mal an die Eurobike angegliedert. Auch die Fahrradbranche war auf dem NRVK durchaus präsent. Der Zweirad-Industrie-Verband, der Verbund Service und Fahrrad sowie Zukunft Fahrrad suchten an ihren Ständen den Austausch und waren inhaltlich in das Vortragsprogramm involviert. Die zwei Kongresstage boten 16 Fachforen, sieben Side-Events und 14 Exkursionen. Im Zentrum steht, den Nationalen Radverkehrsplan 3.0 umzusetzen. Auf der großen Bühne kamen namhafte Experten und Expertinnen zu Wort, darunter Patrick Döring von Wertgarantie, die Paracycling-Weltmeisterin Denise Schindler und Fairnamic-Chef Stefan Reisinger sowie Madeleine Brüse, Geschäftsführerin des Fahrradherstellers Müsing Bikes. Am zweiten Konferenztag fanden elf Exkursionen statt, die interessante Beispiele für Infrastruktur, Kampagnen und Projekte in Frankfurt und anderen Orten in Hessen besuchten. Auch Führungen über das Eurobike-Gelände waren Teil des Programms.
Die Sieger des Deutschen Fahrradpreises wurden in Frankfurt ebenfalls geehrt. In der Kategorie Infrastruktur konnte sich die Stadt Münster mit der Kanalpromenade durchsetzen. Auf einem Betriebsweg entstanden dort 27 Kilometer kreuzungsfreier Radweg. In der Rubrik Service & Kommunikation übergab Christine Fuchs von der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e.V. den 1. Preis an die Kölner Verkehrsbetriebe. Im dortigen Pilotprojekt können ÖPNV-Nutzer*innen kostenlos Lastenräder ausleihen. Zur fahrradfreundlichsten Persönlichkeit wurde in diesem Jahr nicht ein Mensch, sondern mit dem Freiburger SC gleich ein ganzer Verein ernannt.


Bilder: Bernd Roselieb, Dirk Michael Deckbar

Ist die Umsetzung der Verkehrswende nur eine Frage der Zeit oder ist noch gar nicht entschieden, wohin die Reise rund um die Mobilität in Deutschland überhaupt geht? In den letzten Jahren hatten viele den Eindruck, dass mehr über das „Wie“ einer Verkehrswende als über das „Ob“ gestritten wurde. Doch inzwischen scheint es, als habe sich der Wind grundlegend gedreht. Tatsächlich kommt die Verkehrswende zumindest auf Bundesebene kaum voran. Die Gegner jedweder Veränderungen im Verkehrsbereich werden zunehmend selbstbewusster und offensiver. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Dass im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien Ende 2021 das Wort „Verkehrswende“ kein einziges Mal vorkommt, hatte bereits hellhörig gemacht. Es hätte politisch ja gar nichts gekostet, den Begriff aufzunehmen, schließlich wäre er für alle Partner jederzeit interpretationsfähig geblieben. Von einer Antriebswende bis hin zu einer substanziellen Neuausrichtung deutscher Verkehrspolitik über die Elektrifizierung hinaus wäre hier alles drin gewesen. Stattdessen: Nicht mal das.
Mittlerweile ist die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Verkehrswende voll entbrannt. Jetzt rächt sich auch, dass nicht eindeutig diskutiert wurde, warum die Verkehrswende notwendig ist. Viele Menschen verbinden das Thema ausschließlich mit dem Klimaschutz. Andere denken dabei in größeren Kategorien, über das Klima hinaus: Schließlich ist auch der Wandel zu lebenswerten, inklusiven und menschengerechten Aufenthaltsräumen in unseren Städten und Dörfern erstrebenswert. Die Schaffung von Begegnungsräumen für Jung und Alt und auch der Lärmschutz durch weniger Autoverkehr sind ohne eine strukturelle Neugestaltung unseres Verkehrs kaum möglich. Fast überflüssig hier zu sagen, dass hierbei der Radverkehr eine tragende Rolle spielen kann und auch der Fußverkehr gestärkt werden muss.

„Bayern ist Autoland und die CSU bleibt auch Autopartei.“

Markus Söder

Autofahrer als Opfer der aktuellen Verkehrspolitik? Wahlslogan einer rechts-populistischen Partei.

Stumme Wirtschaft

Die Fahrradwirtschaft selbst ist in dieser Debatte wenig sichtbar. Das ist bedauerlich, denn die Rolle des Fahrrads als Wirtschaftsfaktor in Deutschland kann nur sie authentisch darstellen. Der Politikwissenschaftler und Soziologe Prof. Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) mahnt: „Die Branche insgesamt muss sich bewusst werden, dass Erfolge insgesamt nur durch politische Lobbyarbeit funktionieren.“ Das Auto konnte nur deshalb so erfolgreich sein, weil die frühen Automobilisten viel dafür geworben hätten, dass die Regeln geändert werden, dass es mehr Platz und mehr Geld für Autos gibt. „Und die Fahrradindustrie glaubt immer, das fiele vom Himmel.“
Das Thema Verkehrswende sollte auch nicht ausschließlich unter dem Aspekt der Klimakatastrophe diskutiert werden, das würde zu kurz greifen. Bereits der Begriff „Verkehrswende“ ist unglücklich gewählt. „Mobilitätswandel“ wäre treffender, weil der Mobilitätsbegriff umfassender ist. Jede Wende, jede Veränderung macht Menschen Angst, wie der Kommunikationsexperte Michael Adler feststellt, „weil die unter archaischen Gesichtspunkten immer mit Bedrohung verbunden war“. Daher ist es auch besser von „Wandel“ zu sprechen, denn Wandel kommt von innen, er wird von vielen mitgestaltet, ist häufig ein gesellschaftlicher Prozess.
Solche Spitzfindigkeiten sind all denen egal, die heute für die Kontinuität der Dominanz des Automobils kämpfen. Dass die AfD das Auto in Deutschland als „bedrohte Art“ sieht, überrascht nicht, „Rettet den Diesel“ wurde zum Schlachtruf. Als dann die FDP den Verbrenner mit dem Argument klimaneutraler E-Fuels vor der Verbannung durch die EU schützen wollte, wurde deutlich, dass das Thema offensichtlich auch für den Wahlkampf taugt. Aus dieser Überzeugung schöpft auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, der Anfang Mai vor großem Publikum erklärte „Bayern ist Autoland und die CSU bleibt auch Autopartei“. Er fügt noch an, dass der ländliche Raum das Auto eben braucht und deshalb auch die Autobahnen weiter ausgebaut werden müssen. Es scheint, als stünden wir wieder ganz am Anfang der Debatte über den Sinn oder Unsinn einer Verkehrswende in Deutschland. Weit her ist es dabei mit dem Niveau vieler Äußerungen zu dieser Auseinandersetzung nicht, besonders wenn man in die digitalen Medien schaut. Die Verkehrswende wird Teil eines Kulturkampfes.
Dabei ist gar nicht so entscheidend, was da gesagt wird, sondern wie etwas vorgebracht wird. So sagte der im April noch designierte Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, man werde nicht „gegen den Willen vieler Anwohner 2,30 Meter breite Fahrradwege fertigstellen, die am Ende kaum einer nutzt“. Er sagte das in einem Ton, als wären 2,30 Meter breite Radwege eine absurde Idee. Dabei entspricht diese Breite dem seit 2018 geltenden Berliner Mobilitätsgesetz. Dieses soll jetzt auch vom neuen, CDU-geführten Senat „weiterentwickelt“, sprich: autofreundlicher verändert werden. Kai Wegner wollte aber auch auf den „Klassiker“ der politischen Polemik nicht verzichten: Es ginge den Anhängern von mehr Radverkehr wohl mehr um Ideologie als um Lösungen. Die anderen wollten mit dem „Kopf durch die Wand“.
Ja, der gute alte Ideologie-Vorwurf. Merke: Man selbst lässt sich grundsätzlich nur von sachlichen Fakten, von pragmatischer Vernunft und gesundem Menschenverstand leiten. „Alle anderen sind ja immer Ideologen“, sagt Prof. Andreas Knie. Ideologie als abqualifizierendes Schimpfwort. Zwar stammt der Begriff aus dem Griechischen und bedeutet eigentlich etwas Positives, nämlich die „Lehre von den Ideen“. Aber im gängigen politischen Sprachgebrauch steht die Ideologie heute meist für starre und totalitäre Weltanschauungen. Ein Totschlag-Vorwurf also.
Der Riss zum Thema Verkehrswende geht nicht nur durch die Parteilandschaft, sondern auch durch die Wählerschaft innerhalb ein und derselben Stadt. Das zeigt sich vielerorts an den Wahlergebnissen der Stadtteile und Bezirke. Meist sind die Bewohner*innen des Stadtkerns tendenziell eher Befürworter der Verkehrswende, während in den Außenbezirken eher konservativ und autofreundlich gewählt wird.

Widerstände gegen Veränderungen gehören dazu, selbst wenn es um Dinge geht, die wir heute für selbstverständlich halten, wie etwa die Einführung der Gurtpflicht 1975.

Vergiftete Atmosphäre

Die verkehrspolitische Auseinandersetzung ist in Deutschland heutzutage oft schon so vergiftet und emotional aufgeladen, dass ein vernünftiger gesellschaftlicher Diskurs über sinnvolle Ziele für die Verkehrsentwicklung fast unmöglich scheint. Dabei entzündet sich der häufigste Streit am Ausbau von Radverkehrsinfrastruktur. Meist geht es hier um die Konkurrenz beim begrenzten Verkehrsraum, insbesondere dann, wenn dem Automobil Platz weggenommen und die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs (MIV) eingeschränkt werden soll. Dann wird auch nicht mehr von Kritikern gesprochen, sondern von „Autohassern“. Neben der Pathologisierung einer anderen Meinung wird die Gegenseite auch gern bewusst missverstanden. Bei der Forderung nach „weniger Verkehrsbelastung“ wird gleich unterstellt, das Auto solle komplett abgeschafft werden. Gegnerinnen jeglicher Veränderungen entdecken dann auch gern ihr soziales Herz: Wo soll der Pflegedienst denn parken? Wie soll die Oma zum Arzt kommen? Und der kleine Handwerks-Familienbetrieb, wie soll der die Kundschaft erreichen? Und ja, natürlich: Ein Tempolimit bedroht grundsätzlich das hohe Gut der Freiheit. Wir stecken also mitten in einer Auseinandersetzung, in der die wahren Motive der Protagonistinnen meist geschönt sind. Auch handfeste wirtschaftliche Interessen werden verschleiert. Offensichtliche Lobbyisten sind klug genug, nicht offen aufzutreten und lieber Dritte „soziale“ Argumente vorbringen zu lassen. Auch die interessierte Politik sorgt sich um den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ und fordert deshalb, man müsse bei jeder Veränderung „die Menschen mitnehmen“. Das klingt nett und ist im Kern auch richtig, wird aber einseitig interpretiert. Denn die Politik muss sich natürlich fragen lassen, was sie dafür getan hat, „die Menschen“ auf notwendige gesellschaftliche Veränderungen rechtzeitig offen und ehrlich vorzubereiten. Maßnahmen gegen die Klimakrise beispielsweise sind Handlungen zur gesellschaftlichen Gefahrenabwehr, um noch viel größere Schäden für die Spezies Mensch abzuwenden. Das ist nicht ideologisch, sondern schlicht eine Güterabwägung. Über die darf sicher gestritten werden, doch das geschieht bei uns nicht mit „offenem Visier“. Der Debatte fehlt es häufig an der Redlichkeit ihrer Akteur*innen. So kann ein gesellschaftlicher Dialog nicht gelingen.

„Wir müssen viel mehr sagen, wo die Reise hingeht, in fünf oder zehn Jahren, auf welche Vorteile wir zusteuern.“

Michael Adler

Widerstände überwinden

„Die Menschen mitnehmen“ ist eine nette Floskel, besonders wenn der Ausspruch unterstellt, man müsse alle Menschen überzeugen können. Ein Blick zurück zeigt, dass es gegen gesellschaftliche Veränderungen immer lautstarke und emotional gezeigte Widerstände gab, auch gegen solche, die heute gewiss niemand wieder rückgängig machen will. Drei Beispiele genügen, um das zu belegen: Die Einführung von Fußgängerzonen in den 1950ern (Widerstand der ansässigen Kaufleute), die zwangsweise Einführung des Sicherheitsgurts beim Auto in den 1970er- Jahren und das Rauchverbot in Gaststätten 2008. Immer wurden die Debatten erbittert und oft auch mit fadenscheinigen und vorgeschobenen Argumenten geführt. Doch am Ende war die Zustimmung überwältigend.
Redlichkeit in der Debatte ist ein wichtiges Stichwort. Wenn sie fehlt, ist einer fruchtbaren Diskussion die Grundlage entzogen. Beim Klimaschutzgesetz spielt aber auch die Bundesregierung selbst eine zwielichtige Rolle. Der Staat erwartet von seinen Bürgerinnen und Bürgern zu Recht Gesetzestreue, aber das muss auch umgekehrt gelten dürfen. Es war schon grenzwertig genug, dass erst das Bundesverfassungsgericht 2021 die Bundesregierung zwingen musste, ihr Klimaschutzgesetz wirkungsvoll nachzuschärfen. Aber gut. Dann stellt die Bundesregierung fest, dass der Verkehrsbereich die gesetzlichen Klimaziele deutlich verfehlt und bei unveränderter Verkehrspolitik auch weiter verfehlen wird. Doch anstatt nun entsprechende Maßnahmen aufzusetzen, beschließt die Regierung die künftige Aufweichung der Sektorenziele, um nicht weiter gegen das Gesetz zu verstoßen. Eine „Insolvenzanmeldung“ nennt das Prof. Andreas Knie: Die Regierung sage damit, „Wir wollen uns nicht ändern, weil wir glauben, wir können uns nicht ändern“. Dieser Winkelzug der Bundesregierung, das Klimaschutzgesetz jetzt anzupassen, um sich aus der Schusslinie zu nehmen, hat in der Bevölkerung viel Vertrauen gekostet. Das führt zu einer weiteren Verhärtung.
Anders als bei der Corona-Pandemie, als sich die politischen Entscheider*innen intensiv von der Wissenschaft beraten ließen, scheint die Bundesregierung und allen voran Bundesverkehrsminister Volker Wissing völlig taub gegen jede fachliche Kritik. Die kommt ja nicht nur von den „üblichen Verdächtigen“, sondern praktisch von allen Seiten, auch von Sachverständigen aus dem eigenen Haus.

„Viele Chancen (…) wurden nicht genutzt, andere (…) werden nur langsam realisiert.“

OECD-Bericht über Deutschland

Verkehrsblockaden sind kein neues Phänomen, aber selten war die politische Bewertung so kritisch wie gegenwärtig gegen die Klimaproteste.

Resistenz gegen Kritik

Die auf die Klimakrise bezogene Kritik an der Verkehrspolitik der Bundesregierung ist so eindeutig, dass diese Resistenz schon beispiellos ist. Zuletzt hat Anfang Mai die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem Wirtschaftsbericht für Deutschland eine Verdreifachung des Tempos bei den Klimaschutzmaßnahmen und mehr Entschlossenheit bei der Verkehrswende angemahnt: „Anstelle von Einzelmaßnahmen, die in erster Linie umweltfreundlichere Autos auf die Straße bringen sollen, braucht es eine ganzheitliche Strategie für nachhaltige Mobilität.“ Die OECD gibt auch Hinweise, welche Instrumente Deutschland nutzen könnte: „Viele Chancen, wie zum Beispiel ein breiterer Einsatz von Tempolimits, Mautgebühren für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge oder City-Mauten, wurden nicht genutzt; andere, beispielsweise die Anhebung der Parkgebühren, werden nur langsam realisiert.“
Vor diesem Hintergrund, wo Worte und die Demonstrationen der Fridays-for-Future-Bewegung offenbar wenig nützen, kann es nicht verwundern, dass sich radikalere Formen des Widerstands bilden. Alle wissen, dass die Zeit wirkungsvoller Maßnahmen gegen die Klimakrise extrem begrenzt ist. Besonders betroffen von dieser Situation sind jüngere Menschen, die sich zuletzt mit verschiedenen spektakulären Aktionen (in Museen) oder Verkehrsblockaden in die Schlagzeilen gebracht haben. Aktivisten der „Letzten Generation“ sorgen mit ihren Aktionsformen für Aufmerksamkeit.
Besonders die Verkehrsblockaden erregen die Gemüter. Hier scheint ein Nerv getroffen zu sein, der Bürger wie Politik maximal emotionalisiert. Von „Klimaterroristen“ ist die Rede und die „Bild“-Zeitung heizt die Stimmung weiter an. Die politische Debatte verlagert sich in dieser Phase weg von den Defiziten der Klimapolitik der Regierung hin zu einem Streit über die Aktionsformen. Einigen dürfte das durchaus entgegenkommen. Es wird der Vorwurf formuliert, die „Klimakleber“ schadeten dem Klimaschutz mehr, als dass sie nutzten. Prof. Andreas Knie hält dagegen: „Nur durch die Regelübertretung passiert etwas. Ende Gelände, Extinction Rebellion und die Letzte Generation sind solche Regelbrecher und nur durch Regelbrecher wird ein gesellschaftliches Bewusstsein wach.“
Verkehrsblockaden sind übrigens keine Erfindung der „Klima-Kleber“. Es gab auch zuvor schon massive Blockaden in Deutschland und auch anderswo durch protestierende Landwirte. Und letztlich ist jeder Bahnstreik eine Einschränkung der persönlichen Freiheit all derer, die mit der Bahn mobil sein wollen. Doch das scheint im kollektiven Bewusstsein anders abgespeichert zu sein. Es scheint im Rechtsverständnis für viele akzeptabler zu sein, wenn Straßenblockaden wegen materieller Forderungen einzelner Gruppen durchgeführt werden, als wenn es um das Gemeininteresse Klimaschutz geht.

„Die Branche insgesamt muss sich bewusst werden, dass Erfolge insgesamt nur durch politische Lobbyarbeit funktionieren.“

Prof. Andreas Knie

Bahnstreiks sind gesellschaftlich akzeptiert, Blockaden durch Trecker von Landwirten ebenfalls, die Verkehrsblockaden der „Letzten Generation“ aber nicht?

Emotionale Sprengkraft

Die Verkehrsblockaden der „Letzten Generation“ besitzen eine solche emotionale Sprengkraft, dass sie sogar die Grundfeste unserer Demokratie erschüttern. Bundesfinanzminister Christian Lindner erklärte beim FDP-Bundesparteitag im April, Straßenblockaden seien „nichts anderes als physische Gewalt“. Und Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) sagte angesichts der immer häufigeren Gewaltaktionen durch blockierte Autofahrende, Gewalttaten und Selbstjustiz gegen Klimaaktivisten müssten „leider dann eben auch zur Rechenschaft gezogen werden“. Leider. Aha. Rechtsstaat sieht anders aus. In diesem Klima langte zuletzt auch die Polizei ordentlich hin. Videos von unverhältnismäßiger Polizeigewalt mit sogenannten Schmerzgriffen lösten bei vielen Empörung aus. Hier läuft offenkundig etwas aus dem Ruder. Alles deutet auf eine weitere Eskalation des Protests hin, was für unser Gemeinwesen nicht ungefährlich ist.
Angesichts der verfahrenen Situation stellt sich die Frage, wie es mit der Entwicklung hin zu einer gesellschaftlich breit getragenen Mobilitätswende voran gehen kann. „Wir müssen positiv über eine veränderte Zukunft reden“, sagt Kommunikationsexperte Adler. „Der sprachliche und visuelle Rahmen, der um ein Thema gesetzt wird, bestimmt auch die Gefühle, die mit dem Thema verbunden werden.“ So etwas braucht natürlich Zeit, bevor es seine Wirkung entfalten kann. Anders gesagt: Es wäre gut gewesen, wenn wir mit der „neuen Sprache“ und den „neuen Geschichten“ schon vor vielen Jahren begonnen hätten. Michael Adler: „Wir müssen viel mehr sagen, wo die Reise hingeht, in fünf oder zehn Jahren, auf welche Vorteile wir zusteuern.“
Zum Bild einer positiven Fahrradkultur kann auch die Fahrradwirtschaft einiges beitragen. Dazu muss sie sich allerdings stärker in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Branchenverbände, deren Schwerpunkt naturgemäß die politische Lobbyarbeit sein wird. Eine Fahrradkultur setzt sich aus unzähligen kleinen Bausteinen zusammen, die in der Summe dann das Mindset der Menschen prägen. Wenn sich die Unternehmen der Fahrradwirtschaft, Hersteller wie Fachhändler vor Ort, überall auf der lokalen Ebene für eine stärkere Fahrradkultur engagieren, dann leisten sie einen wichtigen Beitrag zum Mobilitätswandel mit all seinen positiven Auswirkungen.


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„Batteriezellen für leichte Verkehrsmittel müssen von unabhängigen Wirtschaftsakteuren entfernt und ausgetauscht werden können.“ Dieser Satz im Entwurf zu einer neuen EU-Verordnung versetzt gegenwärtig die Fahrradbranche in Alarmstimmung. „Aus unserer Sicht widerspricht das dem aktuellen Stand der Sicherheitstechnik“, sagt Tim Salatzki, Leiter Technik und Normung beim Zweirad-Industrie-Verband (ZIV). (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Bereits seit 2020 arbeiten EU-Kommission und -Parlament an einer Novelle der Richtlinie 2006/66/EC, die künftig als Batterieverordnung mit dem Aktenzeichen 2020/0353/COD unter anderem die Wiederverwertbarkeit und den ökologischen Fußabdruck von Energiespeichern in der EU regulieren soll. Eine wesentliche Neuerung ist dabei neben technischen Details die Umwidmung von einer Richtlinie zu einer Verordnung. Während die EU-Mitgliedsstaaten bei einer Richtlinie, im Fachjargon auch Direktive genannt, noch gewisse Freiheiten bei der Umsetzung in nationales Recht besitzen, ist eine Verordnung ab dem Moment ihrer Veröffentlichung in der gesamten EU rechtlich bindend. Nicht nur deshalb schauen gegenwärtig insbesondere die Marktteilnehmer der Fahrradindustrie auf die bislang in einem Entwurf enthaltenen Änderungen, denn neben den Kategorien Industriebatterien (unter die bisher auch E-Bike-Batterien fielen) und Gerätebatterien will die EU-Kommission eine neue zusätzliche Kategorie für E-Bikes und E-Scooter einführen, sogenannte LMT-Batterien (LMT: Light Means of Transport).
Bis Ende letzten Jahres befand sich die Verordnung im sogenannten Trilog von EU-Kommission und -Parlament sowie dem Rat der Europäischen Union. Noch im Juni soll die neue Verordnung von Rat und Parlament nun final bestätigt werden, bereits einen Monat später könnte sie in Kraft treten.
Nach aktuellem Stand enthält die Verordnung für LMT-Batterien unter anderem einen Passus, demzufolge künftig die einzelnen Akkuzellen eines E-Bike-Akkupacks von „unabhängigen Wirtschaftsakteuren“, also somit nicht nur von deren Herstellern, entnehmbar und austauschbar sein müssen. Für Tim Salatzki vom Zweirad-Industrie-Verband wäre diese Änderung der geltenden Rechtslage nicht nur mit den Regelungen der Vereinten Nationen für Gefahrgut unvereinbar, sondern schlicht auch technisch unsinnig: „Die Akkuzellen in einer E-Bike-Batterie sind üblicherweise wassergeschützt eingebaut und fest miteinander verbunden. Damit wird die nötige Standfestigkeit und somit Sicherheit im E-Bike-Betrieb gewährleistet. Diese Verbindungen lassen sich nicht so einfach lösen, ohne den Akkupack zu beschädigen. Darüber hinaus gibt es bei den E-Bike-Batterien praktisch kein Einzelversagen von Akkuzellen, sodass die Austauschbarkeit einzelner Zellen schon deswegen keinen Sinn machen würde“, erklärt der Technikexperte des Branchenverbands. „Das ist eine Lösung für ein Problem, das nicht existiert.“

„Das ist eine Lösung für ein Problem, das nicht existiert.“

Tim Salatzki, Zweirad-Industrie-Verband

Sammelquote bildet den Markt nicht ab

Ein weiterer Punkt, der in der Fahrradindustrie für einiges Kopfzerbrechen sorgt, sind die neu formulierten Anforderungen an die Sammelquote von E-Bike-Batterien an deren Lebensende, um diese dem Recycling zuzuführen. „Was das einheitliche Rücknahmesystem für Batterien angeht, da waren wir als Fahrradbranche bisher schon führend. Aber die neue, von der EU geplante Berechnungsmethode für die Sammelquote kann schlicht nicht funktionieren“, sagt ZIV-Mann Salatzki. Auch wenn noch nicht alle Details im Entwurf der Verordnung ausgestaltet seien, wäre absehbar, dass die EU in einer ersten Stufe erreichen will, dass eine Quote von 51% der durchschnittlich in den letzten drei Jahren in Verkehr gebrachten E-Bike-Batterien verbindlich wieder dem Recycling zugeführt werden müssen. Ab 2029 soll die Quote dann auf 61 % steigen. „Eine E-Bike-Batterie hat typischerweise eine Lebensdauer von sieben bis zehn Jahren, bei guter Pflege auch deutlich länger“, erklärt Salatzki. Eingedenk der starken Zuwächse im Absatz der letzten Jahre sei die von der EU geforderte Quote rein rechnerisch nicht umsetzbar, denn die allermeisten der im Markt befindlichen Batterien werden erst in der kommenden Dekade für das Recycling zur Verfügung stehen.
Einige weitere Inhalte der neuen Verordnung sind aus Sicht der Fahrradindustrie zwar mitunter anspruchsvoll in der Umsetzung, aber technisch machbar und aus Gründen der Nachhaltigkeit auch sinnvoll. So sollen beispielsweise künftig Quoten festgelegt werden, wie viel recyceltes Material, also zum Beispiel wiedergewonnenes Nickel oder Lithium, in neuen Zellen enthalten sein muss. Auch die CO2-Bilanz einer E-Bike-Batterie soll für die Verbraucherinnen künftig transparenter dargestellt werden. Denkbar sei eine verbindliche entsprechende Kennzeichnung mit einem QR-Code, hinter dem sich dann weitergehende Verbraucherinformationen zu den Eigenschaften und Inhaltsstoffen der jeweiligen Batterie verbergen. Die genaue Ausgestaltung der entsprechenden Regelungen sollen der Verordnung in den kommenden 12 bis 18 Monaten noch nachgeschoben werden. Ein weiterer Punkt, der im Fahrradsegment bisher zwar schon marktüblich ist, aber noch nicht verbindlich geregelt wurde, ist eine Ersatzteilverfügbarkeit für E-Bike-Batterien von mindestens fünf Jahren nach dem Inverkehrbringen der letzten Einheit eines Bautyps. Unterdessen laufen hinter den Kulissen nicht nur beim ZIV einige Anstrengungen, um die (bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch) offenbar unlösbaren Bestandteile der neuen Verordnung an die Realitäten von Technik und Markt anzupassen. Bei der jüngsten Mitgliederversammlung des ZIV am 21. April in Berlin sagte jedenfalls auch die Radverkehrsbeauftragte im Bundesministerium für Digitales und Verkehr Karola Lambeck den anwesenden Branchenvertreterinnen ihre Unterstützung zu, die aus ihrer Sicht nicht umsetzbaren Punkte der neuen Verordnung noch zu ändern.

Auszüge aus dem Entwurf

der neuen EU-Batterieverordnung:

„Batterien, die für die Traktion in leichten Verkehrsmitteln wie E-Bikes und E-Scooter verwendet werden, (…) haben aufgrund ihres zunehmenden Einsatzes in der nachhaltigen urbanen Mobilität einen erheblichen Marktanteil. Es ist daher angemessen, diese Batterien (…) als neue Kategorie von Batterien einzustufen, nämlich als Batterien für leichte Verkehrsmittel.“

„Bis zum 1. Januar 2024 müssen in Geräte eingebaute Gerätebatterien und Batterien für leichte Verkehrsmittel so konstruiert sein, dass sie mit einfachem und allgemein verfügbarem Werkzeug leicht und sicher entfernt und ausgetauscht werden können, ohne das Gerät oder die Batterien zu beschädigen. Gerätebatterien müssen vom Endnutzer entfernt und ausgetauscht werden können, und Batterien für leichte Verkehrsmittel müssen während der Lebensdauer des Geräts, spätestens aber am Ende der Lebensdauer des Geräts vom Endnutzer oder unabhängigen Wirtschaftsakteuren entfernt und ausgetauscht werden können, wenn die Lebensdauer der Batterien kürzer ist als die des Geräts. Batteriezellen für leichte Verkehrsmittel müssen von unabhängigen Wirtschaftsakteuren entfernt und ausgetauscht werden können.“

„Gerätebatterien und Batterien für leichte Verkehrsmittel müssen mindestens zehn Jahre lang nach dem Inverkehrbringen der letzten Einheit des Modells zu einem angemessenen und nichtdiskriminierenden Preis für unabhängige Wirtschaftsakteure und Endnutzer als Ersatzteile für die von ihnen betriebenen Ausrüstungen erhältlich sein.“ Anm. der Redaktion: Laut ZIV wurde diese Frist auf fünf Jahre geändert.

„Die Hersteller bzw. die in ihrem Namen handelnden Organisationen (…) müssen mindestens die folgenden Sammelziele für Batterien für leichte Verkehrsmittel erreichen und jährlich erfüllen, die als Prozentsatz der Mengen an Batterien für leichte Verkehrsmittel errechnet werden, die von dem betreffenden Hersteller oder kollektiv von den durch eine Organisation zur Herstellerverantwortung vertretenen Herstellern erstmals in einem Mitgliedstaat auf dem Markt bereitgestellt wurden: 75 % bis 31. Dezember 2025; 85 % bis 31. Dezember 2030.“ Anm. der Redaktion: Laut ZIV wurden diese Quoten zwischenzeitlich auf 51 % bis 2028 bzw. 61 % bis 2031 angepasst.

Quelle: https://eur-lex.europa.eu/procedure/EN/2020_353


Bild: Bosch E-Bike Systems

Die Vision der autogerechten Stadt drückt dem aktuellen Verkehrsrecht immer noch ihren Stempel auf. Verkehrsexperten und kommunale Entscheider fordern schon lange eine Reform von Straßenverkehrsgesetz (StVG) und Straßenverkehrsordnung (StVO), um die darin enthaltenen Blockaden für einen nachhaltigeren Verkehr zu lösen. Der Experte für Umweltrecht Prof. Dr. Stefan Klinski hat nun einen kleinen Eingriff mit großer Wirkung ins Spiel gebracht. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Seit Jahren blockiert das Verkehrsrecht nach gängiger Meinung den Umbau von Straßen für mehr Klimaschutz und nachhaltigeren Verkehr. Bürgermeisterinnen, Verbandsvertreterinnen und anderen Verkehrsexpert*innen warten deshalb schon länger auf einen Reformvorschlag zum Straßenverkehrsgesetz (StVG) und zur Straßenverkehrsordnung (StVO). Vor Kurzem hat nun Prof. Dr. Stefan Klinski als einer der führenden Rechtsexperten auf dem Gebiet einen Regulierungsvorschlag veröffentlicht, der mit vergleichsweise wenigen Worten beschreibt, was sich in StVG und StVO ändern sollte, damit Länder und Kommunen zügig die Rahmenbedingungen für einen nachhaltigen Verkehr schaffen können. Der entscheidende Hebel ist dabei aus Sicht von Prof. Dr. Klinski, den Aspekt der „Prävention“ im StVG zu verankern. „Das wäre ein Richtungswechsel in der Verkehrspolitik“, sagt der Experte für Umweltrecht. Prävention, also die vorsorgende Verkehrsplanung bedeutet, dass Planer frühzeitig Maßnahmen ergreifen können, um mögliche Gefahren abzuwenden, die der Autoverkehr verursacht. Das betrifft Unfälle, aber auch Schäden, die Autos durch ihren Platzverbrauch, Lärm oder Emissionen verursachen, sowie mögliche Folgeschäden fürs Klima, die Umwelt oder die Gesundheit. Hinzu kommt, dass die Verkehrsbehörden damit auch die Weichen für den nichtmotorisierten Verkehr stellen können. Etwa indem sie Busspuren einrichten oder bedarfsgerechte Radnetze entwerfen. Auch städtebauliche Belange gehören laut Klinski zu einer vorsorgenden Verkehrsplanung, wie die Umwandlung von Stellflächen in Grünanlagen, um einzelne Standorte besser an die Folgen des Klimawandels anzupassen.
All das sei bislang nicht möglich, weil der fließende Verkehr immer Vorrang hat. „Das Verkehrsrecht von heute entspringt den Visionen der autogerechten Stadt der 1950er- Jahre“, sagt Klinski. „Es ist konsequent darauf ausgerichtet, auf den Straßen möglichst viel Autoverkehr zu ermöglichen“. Diese Philosophie der Verkehrsplanung wurde bereits in den 1980er-Jahren kritisiert. In dieser Zeit setzten erste Initiativen Spielstraßen und verkehrsberuhigte Zonen durch. Ende der 1990er-Jahre wurde die Entwicklung eines beruhigteren Verkehrs immer wichtiger. „Im Jahr 2011 hat der Verordnungsgeber dann den existierenden Paragrafen 45 Absatz 9 StVO verschärft“, sagt Klinski. Seitdem darf der fließende Autoverkehr nur beschränkt werden, wenn eine ganz besondere Gefahrenlage vorliegt, die zudem belegt werden muss.

Schneller zu mehr Busspuren, zusammenhängenden Radnetzen und mehr Grün in der Stadt. Eine vorsorgende Verkehrsplanung macht das möglich.

§ 6 Absatz 1 StVG

(1) Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur wird ermächtigt, soweit es zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen erforderlich ist, Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates über Folgendes zu erlassen:

(4) Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 2, 5 und 8 oder Absatz 2, jeweils auch in Verbindung mit Absatz 3, können auch erlassen werden

1. zur Abwehr von Gefahren, die vom Verkehr auf öffentlichen Straßen ausgehen,

2. zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen, die von Fahrzeugen ausgehen, oder

3. zum Schutz der Verbraucher.

Vorrangstellung des Autos beenden

In Kombination mit besagtem Paragrafen der Straßenverkehrsordnung wird das Straßenverkehrsgesetz vielerorts zum Knebel für die Verkehrsplanung. „Das Straßenverkehrsrecht zielt momentan allein auf die Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs“, sagt Klinski (siehe Kasten § 6 Absatz 1 StVG, einleitende Formel). Wollen die Planer an Hauptstraßen beispielsweise lokal begrenzt Tempo 30 anordnen, um die Sicherheit von Radfahrenden, Fußgängerinnen oder Kindern zu erhöhen, scheitern sie an der Rechtslage. „Es ist momentan nicht möglich, in den Verkehrsfluss einzugreifen, wenn mit besonderen Gefahren zu rechnen ist, sondern nur, wenn die Gefahrenlage bereits besteht“, sagt der Rechtsexperte. Es müssen also schwere Unfälle stattgefunden haben, um nachträglich regelnd eingreifen zu können. „Die Flüssigkeit des Verkehrs wird damit im Einzelfall über die Sicherheit und über die Sicherheitsvorsorge gestellt“, so Klinski. Um diese Verkehrspolitik pro Auto aufzubrechen, schlägt er vor, den § 6 StVG anzupassen. Normalerweise regelt ein Gesetz die wesentlichen Grundzüge eines Rechtsbereichs. Anders § 6 StVG: Dort werde nicht festgelegt, was den Straßenverkehr ausmachen soll, sondern er enthalte eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Verordnungsermächtigungen, die sich auf Fahrerlaubnis, Fahrzeugtechnik und das Verkehrsgeschehen beziehen. Obwohl erst im Jahr 2021 angepasst, ist der Paragraf sehr unübersichtlich. Seitdem regelt der erste Absatz ausschließlich das Interesse von Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs. Interessant ist für den Rechtsexperten § 6 Absatz 4 StVG: Dort geht es erstmals auch um die Auswirkungen des Verkehrs auf andere Belange. „Allerdings in sehr schwach ausgeprägter Form“, sagt Klinski. An dieser Stelle will der Rechtsexperte den Hebel ansetzen. Werde hier der Aspekt der Vorsorge systematisch ergänzt, entfalte er schnell eine weitreichende Wirkung. Beispielsweise könnten die Kommunen an Hauptstraßen Tempo 30 anordnen, wenn die Geschwindigkeit zu mehr Lärm, Abgasen oder Unfällen führt. „Der Alexanderplatz in Berlin ist einer der Unfallschwerpunkte der Hauptstadt“, sagt Prof. Klinski. Tempo 30 würde die gesamte Verkehrssituation dort entspannen. Aber momentan ist es laut StVO nicht möglich, an Hauptstraßen im Kreuzungsbereich Tempo 30 anzuordnen. Den Ver-kehrsplanerinnen sind die Hände gebunden. Ebenso bei Busspuren: „Momentan dürfen sie nur angeordnet werden, wenn mindestens 18 Busse pro Stunde eine Stelle passieren“, sagt er. Mit einer vorsorgenden Verkehrsplanung könnte der Busverkehr vor einem Bahnhof oder einem Einkaufszentrum priorisiert und der Autoverkehr ausgesperrt werden.
Der Professor weiß, für Laien klingt die Platzierung der Änderungen in § 6 Absatz 4 StVG unspektakulär. Dort werden nur die sogenannten „Nebenzwecke“ der StVO behandelt. Aber deshalb werden sie nicht unbedeutender. Im Gegenteil. Dort platziert seien sie deutlich wirkungsvoller, als in die Allgemeinklausel des § 6 zu schreiben „sämtliche Absätze dienen auch dem Klimaschutz“. Davor warnt er. „Das klingt zwar gut, hat aber keine unmittelbare Wirkung“, sagt Klinski. Das Verkehrsministerium könnte auf die Antriebswende verweisen und sämtliche weiteren Änderungen ablehnen.
Klinskis Vorschlag dagegen wirke sofort. „Die Regelung kann bereits auf die bestehende StVO ergänzend angewandt werden“, sagt er. § 45 Absatz 9 StVO, der bislang alle vorsorgenden Maßnahmen blockiert, würde mit einer neuen Formulierung im § 6 Absatz 4 StVG wirkungslos. Die Straßenbehörden könnten eine Mobilitätswende beschleunigen, die aktive Mobilität, den Umweltverbund und klimagerechte Straßen fördert.

§ 6 Absatz 4 StVG

Änderungsvorschlag vom Prof. Dr. Stefan Klinski

Rechtsverordnungen nach Absatz1 Satz 1, durch die oder auf deren Grundlage durch Anordnungen der zuständigen Straßenverkehrsbehörde bestimmt wird, wie öffentliche Straßen benutzt werden können, dienen auch

1. zur Minderung von nachteiligen Auswirkungen durch die Benutzung von Fahrzeugen im Straßenverkehr auf die Umwelt einschließlich des Klimas sowie auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Menschen, insbesondere im räumlichen Umfeld der Straßen,

2. zur Schaffung günstiger Bedingungen im Straßenverkehr für einen künftig zunehmenden nichtmotorisierten Verkehr, insbesondere für die Nutzung von Fahrrädern sowie für die Mobilität zu Fuß und für Menschen mit Beweglichkeitseinschränkungen,

3. zur Sicherstellung eines flüssigen, erforderlichenfalls vorrangigen Verkehrs mit öffentlichen Verkehrsmitteln,

4. zur zeitlich und räumlich differenzierenden Ordnung des Verkehrs in Rücksichtnahme auf Bedürfnisse der Nacht-, Feiertags- und Sonntagsruhe, auf Ferienzeiten und auf kulturelle, sportliche, religiöse oder sonstige nicht verkehr-liche Anlässe sowie

5. zur Berücksichtigung städtebaulicher Belange auf Initiative der Gemeinde, auch bezogen auf einzelne der in Nummer 1 bis 5 angesprochenen Zwecke und Maßnahmen, und können durch die zuständigen Straßenverkehrsbehörden ohne weitere Voraussetzungen für Anordnungen auf Grundlage der Rechtsverordnungen angewendet werden, soweit dies im Einzelfall zu einem dieser Zwecke erforderlich ist und Belange der Sicherheit des Verkehrs oder zwingende sonstige öffentliche oder private Belange nicht entgegenstehen. Für Anordnungen im Sinne von Satz 2 ist in den Rechtsverordnungen vorzusehen, dass Gemeinden Anträge auf solche Maßnahmen stellen können und diese pflichtgemäß zu
bescheiden sind.

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