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E-Scooter leisten einen größeren Beitrag zur Verkehrswende, als ihr Ruf es erahnen lässt. Dennoch ziehen sie viel Kritik auf sich und schüren Konflikte. Um diesen zu begegnen, gibt es diverse Stellschrauben, für Politik, Verwaltung und die Anbieter selbst. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


„Städte machtlos gegen urbane Seuche“ – worum mag es in dem so betitelten Artikel in einer deutschen Tageszeitung gehen? Um einen Pest-ausbruch im Mittelalter? Um einen Abgesang auf den letzten fragwürdigen Modetrend? Falsch, es geht um E-Scooter. Das Beispiel mag extrem sein. Doch in der journalistischen Berichterstattung und der öffentlichen Wahrnehmung zu der jungen Mikromobilitätslösung findet sich viel Kritik. Die elektrisch unterstützten Tretroller dürfen seit mittlerweile vier Jahren deutsche Straßen und Fahrradwege befahren. Die Branche ist also weder alteingesessen noch ganz unerfahren.
Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) haben Ende des vergangenen Jahres einen Praxisleitfaden entwickelt, in dem es um kommunale Steuerungsmöglichkeiten und die Nutzung der E-Scooter geht. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Konflikten.

E-Scooter sollten nach Möglichkeit auf speziellen Abstellflächen stehen. Wer sie auf dem Gehweg parkt, sollte das so platzsparend wie möglich tun.

Problem oder Lösung?

Aber zunächst mal zum Positiven: Fast ein Viertel der Sharing-Scooter-Fahrten ergänzt Fahrten mit dem Öffentlichen Nahverkehr. Elf Prozent ersetzen Fahrten mit dem Auto. Fast 30 Millionen Autofahrten unter zwei Kilometer und noch mal rund 30 Millionen Autofahrten unter fünf Kilometer tätigen die Deutschen jeden Tag. Die reale Auswirkung der Scooter-Fahrten ist also schon jetzt präsent. Das Potenzial ist riesig.
Real ist aber auch das Konfliktpotenzial, das die Scooter im derzeitigen Verkehrssystem bergen. Jeder sechste Zufußgehende gab im Leitfaden von Difu und DLR an, bereits über geparkte E-Tretroller gefallen oder gestolpert zu sein. Geparkte E-Scooter verursachen mitunter mehr Konflikte als solche, die gerade gefahren werden. Besonders groß ist das Problem für blinde und eingeschränkt sehende Menschen. Von den Befragten aus dieser Gruppe gaben 97 Prozent an, schon mal einen Konflikt in Zusammenhang mit einem E-Scooter erlebt zu haben. 68 Prozent bestätigten, bereits mit einem geparkten Fahrzeug zusammengestoßen zu sein oder über ein solches gestürzt zu sein. Gegenüber der Gesamtgruppe der Zufußgehenden war dieser Anteil vier Mal so hoch. Für diese Gruppe ist das Problem so groß, dass der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) versucht, mit Musterklagen durchzusetzen, dass die E-Tretroller nur noch auf ausgewiesenen und abgegrenzten Abstellflächen abgestellt werden. Diese sollen kontrastreich markiert und per Blindenstock ertastbar sein. Ein besonderes Problem sind rücksichtlos abgestellte oder liegende E-Scooter aber nicht nur für blinde und sehbehinderte Menschen. Auch Rollstuhlfahrerinnen, Eltern mit Kinderwagen und älteren Menschen können sie ein Hindernis sein. Interessant ist, dass die Probleme eher mit Sharing-Scootern als -Fahrrädern verbunden werden. „E-Scooter sind immer noch ein Hot-Topic“, sagt Patrick Grundmann. Er ist Pressesprecher bei Tier Mobility. Der Ton sei allerdings negativer geworden, was Grundmann zum Teil berechtigt und zum Teil übertrieben findet. „Ich bekomme jeden Tag kritische Anfragen zum Thema E-Scooter, aber nie zu unseren Fahrrädern.“ Tier Mobility hatte im November 2021 den Sharing-Anbieter Nextbike übernommen. Mit Blick auf das Fahrverhalten gibt es zwischen den Nutzerinnen von E-Tretrollern und Fahrrädern keinen Unterschied, attestiert das Difu in der zuvor erwähnten Veröffentlichung. Auch Fahrräder gibt es in manchen Städten im Free-Floating-, also stationslosen Ausleihsystem.
Bei den E-Scootern geht viel Verdruss von umgefallenen Rollern aus. Patrick Hoenninger von der Stadt Duisburg gibt für diese etwas zu bedenken: „Die besonders störenden liegenden Roller fallen nicht von selbst oder witterungsbedingt um, sondern werden von Menschen bewusst umgestoßen.“
In der Stadt Duisburg sind derzeit drei Anbieter mit insgesamt 2200 Rollern aktiv. Zwei von ihnen reduzieren ihre Flotten im Winter. Seit dem ersten Marktauftritt eines Anbieters vor rund drei Jahren sind rund 100 Beschwerden bei der Stadt eingegangen. Nicht nur geparkte E-Scooter verursachen diese. „Bürgerseitig wird neben dem Abstellen auch das Befahren nicht zulässiger Bereiche kritisiert, vor allem in der City-Fußgängerzone.“

„Wir haben kein Interesse daran, dass ein Scooter im Weg steht, und tun bereits eine Menge, um falschem Parkverhalten vorzubeugen. Die öffentliche Aufmerksamkeit auf dem Thema kann aus unserer Sicht nur helfen. Ich würde mir eine konstruktive Debatte um die Raumnutzung in den Städten wünschen.“

Sonya Herrmann, Voi Technology

Raum anbieten und sensibilisieren

Das rechtswidrige Fahren in Bereichen, die für den Fußverkehr bestimmt sind, betrifft auch Bürgersteige. Was passieren muss, damit die E-Scooter-Nutzerinnen nicht mehr auf diesen fahren, ist aber vergleichsweise eindeutig. Eine Zählung in der Stadt Portland im US-Bundesstaat Oregon ergab 2019, dass 39 Prozent der Menschen den Bürgersteig nutzten, wenn es keine Radinfrastruktur gab. Existierte ein Radfahrstreifen, fiel der Wert auf 21 Prozent und war dieser sogar geschützt, schrumpfte der Anteil auf 8 Prozent. In Fahrradstraßen nutzte niemand den Fußweg. Die restlichen Nutzerinnen, die trotz guter Radinfrastruktur auf dem Fußweg verbleiben, gilt es durch Sensibilisierung und Information abzuholen. Das weiß auch das Team des Anbieters Voi. Unter ridelikevoila.com bietet das Unternehmen eine Online-Fahrschule an, in der Verkehrsregeln aufgefrischt werden. Außerdem lernen die Nutzerinnen, wie richtiges Abstellen und Fahren funktioniert. Für die Fahrschule hat Voi sich Feedback von der Deutschen Verkehrswacht und der Aktion Mensch eingeholt. Zudem ist sie incentiviert. Das heißt, Nutzerinnen, die eins der fünf Fahrschulkapitel bearbeiten, bekommen Credits im Wert von einem Euro gutgeschrieben. Voi ist auch an der Kampagne „Rollen ohne Risiko“ des deutschen Verkehrssicherheitsrats beteiligt. „Wir haben kein Interesse daran, dass ein Scooter im Weg steht, und tun bereits eine Menge, um falschem Parkverhalten vorzubeugen“, sagt Sonya Herrmann. Sie arbeitet im Public Policy Management beim Sharing-Anbieter Voi Technology.
Auch Medienberichte und Diskussionen helfen dabei, die Menschen für einen guten Umgang mit den Scootern und dem öffentlichen Raum zu sensibilisieren. „Die öffentliche Aufmerksamkeit auf dem Thema kann aus unserer Sicht nur helfen. Ich würde mir eine konstruktive Debatte um die Raumnutzung in den Städten wünschen“, so Herrmann. Öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt die Firma mitunter auch selbst. In britischen Städten, in denen der Anbieter aktiv ist, bietet er zum Beispiel Fahrsicherheitstrainings an. Wenn eine neue Stadt anvisiert wird, sucht das Voi-Team den Austausch mit den Bürgerinnen. Vor allem auch Menschen, die keine Nutzerinnen sind oder sein werden, wollen sie einbinden.

Straßenraum aktiv aufteilen

Eng mit den städtischen Verwaltungen zusammenzuarbeiten, sei sehr wichtig, so Herrmann. „Wir gehen von Anfang an in einen offenen Dialog mit unseren Partnerstädten. Dass auf einmal Scooter über Nacht auftauchen, das gibt es bei uns nicht.“ In Berlin etwa funktioniere die Zusammenarbeit sehr gut. Mit Mitarbeiter*innen von der Berliner Mobilitäts-App Jelbi unternimmt Voi Ortsbegehungen, um Stellplätze zu identifizieren. Solche Kooperationen sind beidseitig vorteilhaft. Die große Datenbasis, mit der die Anbieter arbeiten, kann in Infrastrukturvorschlägen Verwendung finden.
Auch das Difu und das DLR appellieren in ihrem Leitfaden an die Städte. Sie sollen den Straßenraum aktiv gerechter aufteilen. Außerdem gehören die neuen Verkehrsmittel in verkehrspolitische Strategien integriert. Schließlich können sie zu wichtigen Zielen der Stadtentwicklung beitragen. „Das Problem ist, dass für E-Scooter immer noch kein Platz zur Verfügung steht“, bemängelt Patrick Grundmann von Tier. Doch der Austausch ist da und wird immer intensiver. Sogenannte Regional-Manager verwalten die Parkverbotszonen, welche die Städte aussprechen. Diese werden kontinuierlich angepasst. „In den meisten Städten ist es so, dass wir von der Stadt eine Parkfläche zugewiesen bekommen und dann x Tage Zeit haben, die in unserer App zu integrieren“, so Grundmann. Um die Parkflächen herum ist dann die sogenannte No-Parking-Zone. Auch temporäre Anpassungen sind möglich. Während des Karnevals im Rheinland konnten etwa ganze Bezirke ausgesetzt oder Parkverbotszonen erweitert werden.

Für blinde und seheingeschränkte Menschen sind falsch abgestellte E-Scooter ein besonderes Problem. In einer nicht repräsentativen Umfrage gaben 97 Prozent der Befragten in dieser Gruppe an, schon mal einen Konflikt in Zusammenhang mit einem E-Scooter erlebt zu haben.

Uneinheitliche Rechtspraxis

Insgesamt gehen die Städte mit dem jungen Mobilitätsangebot sehr unterschiedlich um. Einen speziellen Weg geht die Stadt Leipzig. Diese lässt E-Scooter-Verleihsysteme nur auf stationsbasierten Abstellzonen an ÖPNV-Haltestellen und Mobilitätsstationen zu. Gegenüber dem Anbieter Tier wurden mehr Parkflächen in Aussicht gestellt, die aber nur sehr langsam umgesetzt wurden. Zusätzlich gab es eine Maximalzahl an Scootern, die auf jeder Abstellfläche stehen durften. „Dadurch ist es eigentlich nie dazu gekommen, dass es sich da wirklich entwickelt, obwohl Leipzig zu den zehn größten Städten Deutschlands zählt“, meint Patrick Grundmann.
Berlin und Düsseldorf setzen auf viele Ständer, andere Verwaltungen tun sich damit schwer. „Manche Städte sagen: ‚Die Scooter dulden wir so gerade noch, aber jetzt noch Abstellmöglichkeiten zu schaffen, das sehen wir nicht‘“, beschreibt Sonya Herrmann die gegensätzliche Herangehensweise. „Diese Haltung ist problematisch, weil die bestehenden Flächenkonflikte damit nicht gelöst werden.“
Im Leitfaden des Difu und des DLR sind verschiedene Strategien verglichen worden. Als die E-Scooter aufkamen, hatten einige Städte mit den Anbietern relativ schnell freiwillige Selbstverpflichtungsvereinbarungen erarbeitet. Andere Kommunen, heißt es in der Veröffentlichung, ließen sich mit der Regulierung mehr Zeit, agieren dafür jetzt umso strenger. Die Selbstverpflichtungsvereinbarungen haben sich nicht bewährt.
Dass die Städte so verschieden mit den E-Scootern umgehen, liegt auch an rechtlichen Ungenauigkeiten. Allgemein stellt sich die Frage, ob die Tretroller als erlaubnisfreier Gemeingebrauch einzuordnen sind oder ob sie als Sondernutzung laufen und damit genehmigungspflichtig sind. Derzeit plane die Mehrzahl der Kommunen, nicht weiter auf freiwillige Selbstverpflichtungen oder Kooperationsvereinbarungen zu setzen, sondern öffentlich-rechtliche Verträge mit Sondernutzung einzuführen. Sind die Scooter als Sondernutzung eingeordnet, können die Städte Gebühren erheben und bestimmte Nutzungsregeln vertraglich festlegen. Die Gebühren sollen die Städte etwa für den Aufwand entschädigen, den sie betreiben, um die Einhaltung der Regeln zu überprüfen.
Bei dieser Praxis zeigen sich starke Unterschiede, vor allem bei der Höhe der Gebühren. In Solingen müssen die Anbieter 10 Euro pro Fahrzeug und Jahr zahlen, in Münster sind es 50. Köln verlangt in den Außenbezirken 85 und in der Innenstadt 130 Euro. Die Stadt möchte damit die Fahrzeuganzahl indirekt begrenzen.
Eine Sonderform ist die Sondernutzungserlaubnis mit Auswahlverfahren. „Das ist ein Trend, den wir sehen und den wir auch begrüßen“, so Sonya Herrmann, die die Kölner Gebührenordnung hingegen eher kritisch betrachtet. Über diese Ausschreibungsverfahren können Städte über die straßenrechtlichen Belange hinaus Einfluss nehmen. Es ist zum Beispiel möglich, die Anzahl der Fahrzeuge oder Anbieter zu begrenzen oder auch ökologische Auswahlkriterien und Sozialstandards zur Bedingung für die Sondernutzung zu machen.
Hinsichtlich des Stellplatzproblems kommen das Difu und das DLR zu einer bemerkenswerten Einschätzung. Lediglich eine der untersuchten Städte habe eine zufriedenstellende Lösung gefunden. In Paris gibt es ein festes System an Abstellflächen in geringen Abständen zueinander. Im Einklang mit dem Praxisleitfaden empfiehlt Patrick Grundmann von Tier, Zweirad-Parkflächen an Kreuzungen zu installieren. „Es würde ja ein Stellplatz an jeder Straßenecke reichen, dann wissen die Leute, dass sie nur bis zur nächsten Ecke fahren müssen und können da ihren Scooter oder ihr Fahrrad abstellen.“ Ein weiterer Vorteil bestünde darin, dass Verkehrsteilnehmerinnen besser über die niedrigen Verkehrsmittel hinwegsehen könnten und einander an Kreuzungen früher wahrnehmen. Als Faustregel empfehlen die Autorinnen des Praxisleitfadens, dass die Stellflächen in zwei bis drei Minuten zu Fuß erreichbar sein sollten.

E-Tretroller in Städten – Nutzung, Konflikte und kommunale Handlungsmöglichkeiten

Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) untersuchten für diesen Praxisleitfaden, wie E-Scooter bisher typischerweise genutzt werden und welche Konflikte im Zusammenhang mit ihnen auftreten. Der Leitfaden wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr erarbeitet und mit Mitteln des Nationalen Radverkehrsplans gefördert. Die Autor*innen erläutert, wie Verwaltungen das Thema steuern und Gestaltungsspielräume nutzen können.
Die Veröffentlichung steht unter folgendem Link zum Download bereit: www.difu.de/17572

Technischer Spielraum

Als weitere Stellschraube, um Konflikten vorzubeugen, wirkt die Technik der Roller. Über die GPS-Ortung lassen sich bereits weitgehend präzise Parkverbotszonen einrichten. „Von der Alarmanlage bis zum Geofencing haben wir verschiedene technische Lösungen, die verhindern, dass Scooter zur Barriere werden“, meint Sonya Herrmann. Auch hier wiederum gibt es regulatorischen Spielraum. In Großbritannien und der Schweiz sei Geofencing normal. Durch diese Technik kann zum Beispiel das Tempo gedrosselt werden, wenn Nutzerin-nen widerrechtlich in eine Fußgängerzone hineinfahren. In Deutschland wird das als Eingriff in die Autonomie der Fahrerinnen gewertet. Es bräuchte also eine Entscheidung auf Bundesebene.
Zukünftige Roller- und App-Generationen dürften immer besser darin werden, potenzielle Konfliktsituationen zu vermeiden. Wer einen E-Scooter parkt, muss schon jetzt meist ein Foto oder Video der Umgebung mit dem Smartphone aufnehmen. Noch in diesem Jahr möchte Tier eine Innovation vorstellen. Derzeit testet der Anbieter Sensoren in den Scootern, die zeigen sollen, ob diese liegen oder stehen.
Auch wenn derartige Lösungen noch nicht das Problem lösen, so zeigen sie dennoch, dass es erkannt wurde. In einem Punkt scheinen sich die Anbieter von Sharing-Scootern aber einig zu sein. E-Scooter als Sündenbock für das Problem der Flächenkonkurrenz zu opfern, das funktioniere nicht. Diese Debatte, so nimmt Grundmann es wahr, erhält immer mehr Aufwind. Die Debatte um die Platzproblematik im öffentlichen Raum hat zugenommen und wird dadurch ganz anders geführt als 2019, als wir gestartet sind.“ Faktisch betrachtet passen auf einen Kfz-Parkplatz mindestens zwölf E-Scooter. Für diese Form der Mikromobilität keinen Platz schaffen zu können, dürfte also kaum ein haltbares Argument sein. „In Deutschland wird oft mit zweierlei Maß gemessen: Der Scooter schafft ein Platzproblem, während die unzähligen Autos in der Innenstadt übersehen werden.“ E-Scooter und die damit verbundenen Konflikte müssten als Teil einer größeren Debatte betrachtet werden. Sie als urbane Seuche zu verunglimpfen, hilft nicht.


Bilder: stock.adobe.com – fottoo, Tier Mobility, Voi Technology, DIfU – DLR

Wie entwickelt sich der Markt für Fahrräder, E-Bikes und Mikromobilität? In Publikumsmedien ist von einem regelrechten Run auf Fahrradläden die Rede. Ein genauerer Blick auf die Zahlen bringt neue Einsichten und einige Überraschungen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Während in der Pandemiezeit die Nutzung von ÖPNV und Bahn eingebrochen ist, verzeichnet die Fahrradindustrie einen regelrechten Run auf die Produkte. Nicht nur in Deutschland und Europa, auch weltweit zog der Markt sprunghaft an. Die nicht absehbare rapide Nachfragesteigerung und viele weitere Faktoren, wie aktuell die weltweite Knappheit an Frachtkapazitäten und Containern stellt die Branche jedoch vor enorme Herausforderungen. „Shutdowns, gestörten Lieferketten, Ladenschließungen, Hygieneauflagen und eine beispiellose Nachfrage bestimmten das Marktgeschehen“, so heißt es vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) der im April die Zahlen für 2020 vorlegte. Dazu wird in Expertengesprächen auch immer wieder die Frage diskutiert, ob und wie lange der Trend anhält und wann ein Abflauen der Nachfrage einsetzen könnte. Für die von kleinen und mittelständischen Unternehmen geprägte Industrie, die ohnehin mit saisonalen Produkten, schnellen Modellwechseln und fortwährender Personalknappheit zu kämpfen hat und sich hohe Lagerbestände beziehungsweise ein Produzieren auf Halde nicht leisten kann, ist das trotz der momentanen Freude am wirtschaftlichen Erfolg langfristig ein Problem.

17 %

Echter Fahrradboom nach
langer Stagnation.
Rund 17 % Zuwachs in 2020.

Um 180 Grad gedreht: Bei Cargo- und Mountainbikes dominieren heute klar motorunterstützte Modelle. Zudem befeuert der Motor das Wachstum.

Markt in Deutschland

2020 wurden in Deutschland mehr als 5 Millionen Fahrräder verkauft. Davon waren 1,95 Millionen, also mehr als ein Drittel (38,7 Prozent) mit einem Motor bestückt. Damit wurden im letzten Jahr 43,4 Prozent mehr E-Bikes verkauft als 2019. Im Vergleich zum Jahr 2018 haben sich die E-Bike-Absatzzahlen damit verdoppelt. Positiv im Hinblick auf die Aspekte Sicherheit und Nachhaltigkeit ist, dass Fahrräder und E-Bikes laut ZIV hierzulande in immer höherer Güte und Ausstattung gekauft werden. Auffällig bei der Betrachtung ist vor allem, dass nach langer Stagnation bei den Gesamtstückzahlen, die den vielfach beschworenen Fahrradboom de facto konterkarierten, der Gesamtabsatz mit einem Plus von 16,9 Prozent auf 5,04 Millionen Einheiten deutlich zulegte. In der Relation ist das ein sehr gutes Ergebnis, allerdings immer noch nicht überragend, denn im Jahr 2000 lag die Zahl mit 5,12 Millionen verkauften Einheiten bereits knapp darüber. Nicht vom Wachstumstrend profitieren konnten Fahrräder ohne Motorunterstützung in den Bereichen Mountainbike (MTB), Holland-, Touren- und Lastenrad. Ebenfalls unverändert zum Vorjahr zeigte sich auch der Absatz von Kinderrädern.

Genauer Blick auf Pedelecs lohnt

Vor allem die Zahlen im Mountainbike-Sektor und bei Lastenrädern zeigen klar, dass es sich lohnt, beim Thema E-Bike/Pedelecs genau hinzuschauen und eine neue Perspektive einzunehmen. Pedelecs, so die bis vor wenigen Jahren weitverbreitete Meinung, sind vor allem etwas für Ältere oder weniger sportliche Menschen. Die dazugehörigen Bilder aus den Anfangszeiten haben sicher alle noch im Kopf. Aber mit der Realität der Verkaufszahlen und den Nutzergruppen haben sie längst nichts mehr zu tun. So hat sich das Verhältnis im Mountainbike-Sektor zwischen E-Bikern und „normalen“ MTBlern längst um 180 Grad gedreht. Erstmals stellten im Jahr 2019 E-MTBs das Gros der verkauften Mountainbikes mit 360.400 während die sogenannten Biobikes nur auf 215.500 kamen (Gesamt: 575.900). Im vergangenen Jahr hat dieser Trend den Markt hierzulande noch einmal drastisch verändert und die Gattung Mountainbike zudem insgesamt deutlich populärer gemacht: Allein 585.000 E-MTBs wurden 2020 verkauft. Das ist mehr als der Gesamtmarkt 2019. Dazu kommen nochmals 151.200 Bio-MTBs, was in Summe eine Stückzahl von 736.200, also ein Plus von mehr als 25 Prozent macht. Eine ganz ähnliche Entwicklung zeigt sich bei Lastenrädern: Über 100.000 Cargobikes wurden 2020 verkauft, davon rund drei Viertel (78.000) mit Motorunterstützung. Zum Vergleich: 2019 betrug die Gesamtsumme der verkauften Lastenräder 76.000. Also auch hier nicht nur ein Boom bei den motorunterstützten Bikes, sondern auch insgesamt eine Steigerung um satte 25 Prozent. Die Motorunterstützung sorgt also für neue Attraktivität und neue Optionen in der Nutzung und wird, analog zu Produktinnovationen in anderen Bereichen, in den verschiedensten Ausprägungen vielfach zum neuen Standard. Insofern macht es fachlich künftig wohl wenig Sinn, wie früher, generalisierend von Pedelec-Fahrer*innen zu sprechen und sie damit als eine mehr oder minder homogene Gruppe mit besonderen Eigenschaften und Risiken zu beschreiben.

„Ein E-Trotti hat 0,7 PS und wiegt 0,015 Tonnen – der ideale Protagonist der Smart City der Zukunft.“

Professor Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsforscher und Leiter des Züricher ZHAW-Studiengangs Verkehrssysteme

S-Pedelec-Absatz bleibt weit hinter den Möglichkeiten

Deutlich hinter den eigentlichen Möglichkeiten zurück blieben in Deutschland die Absatzzahlen bei schnellen E-Bike 45/S-Pedelecs. Obwohl sie für Langstreckenpendler eine ideale umweltfreundliche und gesunde Autoalternative sind, werden sie im Gegensatz zu unseren Nachbarn in Belgien, den Niederlanden und der Schweiz bislang weiter ausgegrenzt. Bei den Verkaufszahlen spielen sie hierzulande nach wie vor nur eine verschwindend kleine Rolle. 9.800 Stück verzeichnete der ZIV für 2020 und damit eine Steigerung von immerhin 35 Prozent zu 2019 (6.800 Stk.). Branchenkenner schätzen die Zahl allerdings als zu hoch gegriffen ein. Die Bundesregierung denkt laut Nationalem Radverkehrsplan 3.0 zwar offiziell darüber nach, ob S-Pedelecs außerorts nicht auch auf Radwegen fahren dürfen und damit rechtlich nicht auf die für sie hochgefährliche Bundesstraße gezwungen werden, im Live-Interview ließ Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer allerdings durchblicken, dass er von einer gemeinsamen Wegbenutzung nichts halte. Die Unterschiede bei den Geschwindigkeiten seien einfach zu groß. Kann man das so stehen lassen? Wohl kaum. Eine Ad-hoc-Umfrage in einem S-Pedelec-Forum ergibt, dass die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit bei den meisten Nutzern zwischen 30 und 35 km/h liegt. Der Motor unterstützt bei einem Pedelec bis 25 km/h – plus zugelassener Toleranz kommt man auf 27 km/h. Macht einen Nettounterschied von 3 bis 8 km/h. Nutzer haben der Umfrage zufolge keine gefährlichen Situationen auf Radwegen, berichten aber von massiven Problemen auf Landstraßen mit Autos und Lkw mit 70 bis 100 km/h, wo sie ja eigentlich fahren sollten. Zur Relation: Mercedes-AMG arbeitet gerade an einem sogenannten Hypercar mit Straßenzulassung und kombiniert dafür einen V6-Motor mit einem Elektroantrieb. 1.000 PS, 350 km/h Spitzengeschwindigkeit, Beschleunigung von 0 auf 200 in 6 Sekunden. Auf der Autobahn ebenso legal wie in der Tempo-30-Zone oder in der Spielstraße.

Radlogistik Verband legt erstmals Zahlen vor

Der Radlogistik Verband Deutschland (RLVD) hat in diesem Jahr zum ersten Mal die Situation der Branche systematisch erfasst. Demnach erwirtschafteten ca. 100 kleine und mittelständische Unternehmen mit 2.600 Beschäftigten 2020 rund 76 Millionen Euro Umsatz. Positiv: Bei mehr als 1,6 Millionen Kilometer zurückgelegter Wege per Lastenrad in 2020 sei kein Unfall mit schweren Folgen an Menschen entstanden. Die Branche steckt aktuell noch in den Kinderschuhen, aber die Aussichten sind laut RLVD sehr gut. „Damit wir jedoch das Potenzial für saubere Städte besser ausschöpfen können, braucht es mehr Anstrengungen der Politik, Lastenräder und Logistik per Lastenrad zu fördern“, betont RLVD-Vorstand Martin Schmidt. Der Verband spricht sich unter anderem für einen zügigen Ausbau der Radinfrastruktur, mehr Aktivitäten von Kommunen zur Planung urbaner Logistik und eine Förderpolitik in ähnlicher Höhe wie bei E-Pkw aus.

Revolution in Frankreich: E-Tretroller (franz. „Trottinettes Électriques“) werden gern geliehen und gekauft und überholen bei den Absatzzahlen sogar E-Bikes.

Boom in Frankreich: E-Tretroller überholen E-Bike-Verkäufe

Wer sich aktuelle Bilder aus den Städten Frankreichs anschaut, ist verblüfft. Neben Fahrrädern und E-Bikes mischt sich inzwischen eine große Zahl von E-Tretrollern („Trottinettes Électriques“) in den Verkehr. Das Wachstum kommt dabei längst nicht mehr nur durch die Verleihflotten. Immer mehr Menschen entdecken nach der Probierphase E-Scooter als ständige Begleiter für sich. Eine Untersuchung des französischen Fachverbands für Mikromobilität FP2M zeigt die weite Verbreitung und rasant steigende Absatzzahlen. Demnach gibt es nach nur wenigen Jahren bereits mehr als zwei Millionen Nutzer in Frankreich. Der E-Scooter sei das zweite Jahr in Folge das bevorzugte Mittel für elektrische urbane Mobilität, noch vor E-Bikes, so die Studie. 640.000 Einheiten wurden im Jahr 2020 verkauft. Verglichen mit 478.000 Stück im Jahr 2019 entspricht das einer Steigerung von 34 Prozent. Der Umsatz wuchs im gleichen Zeitraum um 8,3 Prozent und erreichte 206,6 Millionen Euro. Das zeigt klar, dass die Durchschnittspreise gesunken sind. Gute Scooter liegen heute zwischen 350 und 800 Euro und sind damit deutlich günstiger als E-Bikes. Zum Markterfolg tragen die niedrigen Anschaffungs- und Unterhaltskosten wohl ebenso bei wie der hohe praktische Nutzen auf der Kurzstrecke, als flexibler Zubringer zu Bus, Bahn oder dem nächsten Carsharing-Auto und nicht zuletzt das gute Image. „Schnittig und emotional“, so charakterisiert Professor Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsforscher und Leiter des Züricher ZHAW-Studiengangs Verkehrssysteme die hier unter dem Namen „E-Trottis“ bekannten Scooter. „Sie beschleunigen rasant, sind einfach zugänglich und mit dem Elektroantrieb schön bequem“. Die „manchmal nicht ganz regelkonforme Verwendung“ verweise auf eine Art „Robin-Hood-Gefühl“, das die Scooter vielfach vermittelten. Thomas Sauter-Servaes empfiehlt Kommunen und insbesondere Anbietern im öffentlichen Verkehr, die Mikromobilität zu umarmen. Ideal seien Verbundtickets zur nahtlosen Nutzung von Sharing-Angeboten und verkehrspolitische Weichenstellungen, die den nötigen Platz schaffen. „Ein E-Trotti hat 0,7 PS und wiegt 0,015 Tonnen – der ideale Protagonist der Smart City der Zukunft.“


Bilder: Eurobike, Haibike – pd-f, Segway Ninebot, stock.adobe.com – HJBC

Mikromobilität heißt in der öffentlichen Wahrnehmung oft: Fun-Fahrzeuge für feuchtfröhliche Großstadt-Touristen. Aber ist das wirklich so? Zumindest die Branche sieht ihren Kernmarkt anders und erholt sich gerade vom Corona-Schock. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Manchmal kommt es anders, als man denkt. Mitte Juli dieses Jahres wurde die Produktion des Pioniers der Mikromobilität Segway PT eingestellt. Was vor rund 20 Jahren als Revolution mit Absatzerwartungen von Hunderttausenden Personal Transportern pro Jahr ausgerufen wurde, endete in einem Flop. Auf weltweit nur 140.000 Einheiten kam man während der kompletten Produktionszeit. Viele Segways werden zum Beispiel weiter für touristische Führungen genutzt. Mit zum Ende beigetragen hat aber wohl auch der Boom der E-Tretroller im Verleih. Wobei gerade hier die Erwartungen hochgesteckt waren. Sind E-Scooter in deutschen Städten also vor allem etwas für Touristen?

Image vom Touri-Roller

Diese Einschätzung drängte sich im ersten Jahr auf, als die motorisierten Tretroller 2019 in den deutschen Kommunen Einzug hielten. Medial wurde intensiv über die touristische Nutzung des neuen Angebots berichtet. Steckt in dieser Form der Mikromobilität neben dem zusätzlichen Verkehrsmittel für lokale Pendler also auch eine Chance, um Stadttouristen an ihrem Zielort eine clevere Mobilität zu bieten? E-Tretroller als jederzeit verfügbares und flexibles Fahrzeug mit Frischluftgarantie zum Cruisen durch die Stadt, aber auch als Alternative zur Fahrt mit dem Taxi oder der Bahn? Das hätte man zumindest meinen können, als etwa 2019 das Beratungsunternehmen 6T in drei französischen Großstädten die Nutzer der neuen Angebote interviewte. 42 Prozent der Befragten nutzten die Scooter der Umfrage zufolge als Touristen. „E-Scooter haben sich mehr als Verkehrsmittel für Touristen im urbanen Raum herauskristallisiert“, sagte auch der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) Niedersachsen, Rüdiger Henze, in der Braunschweiger Zeitung.

5.000 E-Roller der Bosch-Tochter Coup hat das Berliner Startup Tier Mobility Anfang des Jahres samt Ladeinfrastruktur erworben. Die neuen 45-km/h-Roller ergänzen das bestehende Angebot in mehreren großen Städten.

Anbieter sehen Schwerpunkt nicht im Tourismus

War es richtig, das Image vom Touri-Roller zu bedienen? Bei den Anbietern selbst ist man alles andere als erpicht darauf, mit Tourismus identifiziert zu werden. Das Berliner Unternehmen Tier zumindest will das Thema nicht in den Blick nehmen. „Tourismus spielt bei der Planung für unsere Expansion in Städten keine Rolle“, schreibt der PR-Manager des Unternehmens, es gehe um die „nachhaltige Verbesserung der Mobilität für Bewohnerinnen und Bewohner der Städte, damit diese sich ohne eigenes Auto abgas- und emissionsfrei bewegen können“. Dazu passt, dass das Unternehmen Ende letzten Jahres den E-Roller-Sharing-Dienst Coup, eine Bosch-Tochter, übernommen hat und die 45 km/h schnellen E-Mopeds ergänzend in immer mehr Städten mit anbietet. Der E-Tretroller-Verleiher Lime gibt den Anteil der Nutzer in Deutschland, die aus der gleichen Stadt kommen oder dort arbeiten, mit 84 Prozent an. Auch hier lässt sich also kaum behaupten, dass es sich vor allem um ein Gefährt für Touristen handelt. Die Zahlen, die sich auf 2019 beziehen, sind selbst in Madrid kaum anders: Dort sind 80 Prozent der Lime-Nutzer aus der Stadt oder beruflich dort angesiedelt. Bei Lime immerhin heißt es, dass Touristen und Geschäftsreisende für das E-Scooter-Geschäft generell eine Rolle spielen, obwohl der Großteil der Nutzer an allen deutschen und internationalen Lime-Standorten einheimisch sei. Man verweist auf große Unterschiede: „Städte wie Berlin, Madrid oder Málaga verzeichnen einen Anteil von 20 bis 25 Prozent touristischer Nutzung, in anderen Städten wie Hannover, Dortmund oder Wiesbaden liegt der Anteil bei unter zehn Prozent“, sagt Lime-Geschäftsführer Jashar Seyfi. Gern möchte man die touristische Seite ausbauen. „Ja, es gibt erste Gespräche und wir arbeiten schon mit einigen Städten, Hotels und Hotelketten sowie Organisationen wie der Messe Hamburg zusammen“, sagt Seyfi. Dennoch stehe das Unternehmen erst am Anfang. Man habe sich vorgenommen, mit Blick auf 2021 mit weiteren Städten und touristischen Partnern ins Gespräch zu kommen.

Branche in der Krise?

Geht es um die allgemeine Wahrnehmung, dann steht es nicht gut um die Gefährte. E-Scooter gelten – gerade in Verbindung mit Partygängern und urbanem Tourismus – vielfach als Plage. Junge Menschen auf der Straße, unter Alkoholeinfluss, ohne Blick für den Verkehr der Stadt, das sind die Vorurteile, die sich mitunter in der Praxis bestätigen. Die Presse für die neue Variante der E-Mobilität war im ersten Jahr alles andere als gut, und im Corona-Jahr 2020 diskutieren viele weiterhin über die Gefährte als Stolperfallen oder Technikleichen am Wegesrand. Corona hat die Branche hart getroffen, zwischenzeitlich war das Geschäft eingebrochen. Die Betreiber hatten mit Nachfrageproblemen ebenso zu kämpfen wie mit Imageproblemen. Sie wollen sich mit Macht als Teil der nachhaltigen urbanen Mikromobilität etablieren. Und tatsächlich: Wenn man sich den Mobilitätsmix in Großstädten anschaut, merkt man, dass sich einiges verändert hat. E-Tretroller sind inzwischen ebenso wenig aus dem Stadtverkehr wegzudenken wie die kaum hörbaren E-Roller.

„In Großstädten verzeichnen wir 20 bis 25 % touristische Nutzung, in anderen Städten liegt der Anteil bei unter 10 % .“

Jashar Seyfi, Geschäftsführer Lime

Neue Mobilitätsformen per Fahrrad, E-Tretroller oder Segway könnten sich zu einem wichtigen Standbein im Städtetourismus entwickeln. Offenheit und Unterstützung wünscht sich auch Lime- Geschäftsführer Jashar Seyfi.

Köln-Tourismus: „Keine Erweiterung des Mobilitätsangebots“

Ob Bestrebungen, im Tourismus zu wachsen, so einfach sein werden, ist die Frage. Für diesen Artikel blieben Anfragen bei Hamburg Tourismus unbeantwortet – auch wenn die Tourismusgesellschaft der Hansestadt die Scooter auf ihrem Internetportal als Angebot aufführt. Bei Köln-Tourismus redet der neue Geschäftsführer Jürgen Amann nicht lange drumherum. Klar sei der Spaß bei der touristischen Mobilität nicht zu vernachlässigen: „Aktuell sehen wir aber nicht, dass E-Scooter langfristig und nachhaltig das Sharing-Konzept erweitern können.“ Amann sieht in den Scootern denn auch „keine Erweiterung des städtischen Mobilitätsangebots im touristischen Kontext. Hier sind andere Sharing-Angebote und der ÖPNV nachhaltiger zu beurteilen.“

Neuer Markt mit Informationen und Regelung

Bei Lime hätte man es gern anders: „Natürlich wünschen wir uns, dass Städte unseren E-Scooter-Service als Teil des städtischen Mobilitätsangebots für Touristen bekannt machen“, sagt Geschäftsführer Jashar Seyfi. Aber auch hier, sagt Seyfi, stehe man noch ganz am Anfang. Jedenfalls wird er auch eine Menge Vorurteile ausräumen müssen, wenn die E-Scooter-Nutzung im Fremdenverkehr zum aktiv beworbenen Bestandteil werden soll. Es bestehe „definitiv Aufklärungsbedarf, wenn Touristen hierzulande E-Scooter nutzen, denn die geltenden Regeln und Vorschriften unterscheiden sich stark von Land zu Land und auch teilweise innerhalb von Deutschland.“ Für die Mikromobilität im Tourismus sind die Wege also noch weit. Trotzdem, oder gerade deswegen, empfehlen Experten, sich viel stärker als bislang mit dem Thema zu befassen. Die Hersteller haben sich gerade auf Leitlinien für eine neue Generation nachhaltiger Fahrzeuge geeinigt, die Fahrzeuge sprechen neue, bislang autoaffine Nutzergruppen vor allem in der Gruppe an und auch Stadtführer setzen verstärkt auf Fahrräder und Mikromobile. Neue Formen aktiver Mobilität könnten sich so zu einem Standbein für den Städtetourismus entwickeln. Gerade in der aktuellen Krise sicher kein schlechter Gedanke für Touristiker, Planer und kommunale Entscheider.


Bilder: stock.adobe.com – Peeradontax, stock.adobe.com – Peeradontax, Lime, Pressestelle der Stadt Hamm

Nach der Winterpause startet in Deutschland die zweite E-Scooter-Saison. Zeit, den Stand der Dinge zu prüfen. Wie sieht es mit der Nutzung aus, wie mit der Technik und wo geht es künftig hin? Erster Eindruck: Mit neuen Ideen, Gestaltungswillen und Hightech-Einsatz lassen sich viele Probleme lösen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Bewegen sich Menschen nur noch auf elektrischen Rollern durch die Stadt? Beim Start der E-Scooter befürchteten viele, dass sie vor allem Fußwege und öffentliche Verkehrsmittel ersetzen würden. Danach sieht es allerdings nicht aus. Die Agora Verkehrswende hatte schon im Herbst 2019 Zahlen aus den USA und Frankreich veröffentlicht, die das nicht bestätigten.

Studie aus Paris: keine Verdrängung durch E-Scooter

Eine aktuellere Studie aus Paris für den Anbieter Dott zeigt ähnliche Ergebnisse: Demnach gaben 37 Prozent der Befragten an, dass sie zu Fuß gegangen wären, wenn kein Roller zur Verfügung gestanden hätte. Allerdings sagten nur sechs Prozent der Befragten, dass sie weniger zu Fuß gingen, seit es E-Scooter gibt. Beim ÖPNV sind die Zahlen ähnlich: 18 Prozent der E-Scooter-Fahrten fanden in Kombination mit dem ÖPNV statt, wobei in fast der Hälfte der Fälle der Roller nur für eine Strecke, also den Hin- oder Rückweg genutzt wurde. Bevorzugt wurden die E-Scooter für kurze Strecken unter drei Kilometern mit einer durchschnittlichen Dauer von 13 Minuten eingesetzt; fast zwei Drittel der Fahrten dauerten weniger als eine Viertelstunde. Dabei wurden sie für notwendige Fahrten nach Hause oder zum Studium/der Arbeitsstelle genutzt, häufig aber auch in der Freizeit. Der Roller scheint sich aktuell zudem zu einer beliebten Form der gemeinschaftlichen Mobilität zu entwickeln. So wurden rund ein Fünftel der Fahrten von mehreren Personen unternommen. Viele Fahrten fanden zwischen 17 und 21 Uhr und noch spät in der Nacht statt, wenn keine Bahnen oder Busse mehr fuhren.

Stuttgart: Zusatzverkehr mit Entlastungspotenzial

Die Pariser Studie deckt sich mit Erfahrungen aus Stuttgart. Ralf Maier-Geißler ist Leiter des Referats „Strategische Planung und nachhaltige Mobilität“ in Stuttgart. Er bekommt die Analysen der Anbieter und kann von seinem Büro in der Innenstadt aus die Entwicklung auch direkt beobachten. Den Daten zufolge ist der Großteil der Nutzer unter 30 Jahre alt. Die Strecken, die mit E-Scootern zurückgelegt werden, sind hier kürzer als in Paris. Im Schnitt 1,2 Kilometer beziehungsweise acht Minuten. Kein Vergleich auch zum RegioRad, dem Leihradangebot der Stadt. „Dort sind wir beim fast Zwanzigfachen“, so Maier-Geißler. Anhand der Auswertung der Bewegungsdaten, die die Stadt von den Anbietern bekommt, prüft er die These, ob damit die sogenannte Anschlussmobilität gefördert wird. Im Moment sieht es in Stuttgart aber eher so aus, als ob es sich um zusätzliche Fahrten handelt, die nicht den Autoverkehr, sondern eher den Fußweg oder eine ÖPNV-Strecke ersetzen. Letzteres findet Maier-Geißer nicht schlimm, wenn sie in den Stoßzeiten stattfinden und damit den ÖPNV entlasten.

Potenzial zur Ergänzung des Umweltverbunds

Trotz des rasanten Wachstums macht die Mikromobilität bislang in der Summe nur einen sehr kleinen Teil der städtischen Mobilität aus. So erreichten die E-Scooter in Paris einen Anteil am Gesamtverkehr von 0,8 bis 2,2 Prozent. In der Reihenfolge der Gründe, den Roller zu nehmen, steht dabei an erster Stelle die Geschwindigkeit, gefolgt von der Bequemlichkeit und der Möglichkeit, von Tür zu Tür zu kommen. Die Agora sieht in ihrer Studie die Verknüpfung mit dem ÖPNV als große Chance für den Umstieg vom Auto, dazu müsse aber der gesamte Umweltbund attraktiver gemacht werden. E-Scooter-Anbieter, Kommunen und ÖPNV müssten vor allem an drei Punkten anpacken: Bei der Tarifgestaltung, der Verfügbarkeit und der digitalen Integration. Tatsächlich gibt es in hier inzwischen Bewegung: Lime und Circ haben bereits Sparpakete eingeführt: Bei Lime gibt es einen Wochenpass, der für knapp sieben Euro die Kosten für das Entsperren enthält, bei Circ gibt es eine ganze Reihe von Optionen, vom Einstundenpass für 3,99 Euro, über den Wochenpass bis zum Monatsplan mit 30 Tagen Gratisentsperrungen und 120 Minuten Guthaben. Daneben arbeiten die Anbieter mit Algorithmen und Kommunen mit Abstellplätzen in ÖPNV-Nähe daran, sicherzustellen, dass ausreichend E-Scooter für Anschlussfahrten vorhanden sind. Und Vorreiterstädte integrieren E-Scooter-Angebote inzwischen in ihre digitalen Navigations- und Buchungssysteme. Am weitesten ist dabei die Stadt Berlin mit der BVG-App Jelbi. Sie ermöglicht es, Fahrten mit verschiedenen Mobilitätsformen über eine Oberfläche zu planen und zu bezahlen.

Klare Ansagen auf dem Display bei Lime

Zweite Wachstumsphase bei E-Scooter-Anbietern

In der ersten Wachstumsphase ging es den Anbietern zufolge hauptsächlich darum, sichtbar zu sein und Marktanteile zu gewinnen. Das erfolgte häufig auf Kosten der Nachhaltigkeit. Dieses Jahr geht es nach den Aussagen vieler Anbieter darum, wirtschaftlich zu arbeiten – und das fängt bei den Rollern an. So gehören die aktuellen E-Scooter in Stuttgart seit dem Start im Januar 2019 schon zur dritten Generation. Die Modelle von Tier und Cirq kommen jetzt zum Beispiel mit einem Wechselakku, sodass zum Laden nicht mehr die kompletten Scooter eingesammelt werden müssen. Die neuen Modelle sollen im harten Verleihbetrieb außerdem wesentlich länger halten. Bis zu 18 Monate Laufzeit gegenüber drei bis vier Monaten bei der ersten Generation verspricht beispielsweise Tier.

Lösbares Problem: Abstellflächen

Größere Probleme gibt es bislang noch beim Abstellen. Aber auch hier sind Lösungen in Sicht: In Berlin hat der Senat für die Bezirke die Möglichkeit geschaffen, Kfz-Stellflächen in Parkzonen für Tretroller und Fahrräder umzuwandeln. Hunderte Parkplätze sollen so Platz für die bis zu 16.000 E-Scooter in der Stadt schaffen. Außerdem sollen in Fünf-Meter-Bereichen von Kreuzungen, an denen Autos nicht parken dürfen, Abstellplätze für Fahrräder und Scooter entstehen. Auch in Köln richtet man demnächst gesonderte Abstellflächen ein. Christian Leitow, Mitarbeiter im Team des Kölner Fahrradbeauftragten, vertraut dabei auf die „Macht der Linien“ und eine „Incentivierung“, sprich Belohnung, oder Bestrafung durch die Scooter-Anbieter. In Paris funktioniert das bereits beim Unternehmen Bird. Der Anbieter hat legale Abstellplätze in der App markiert und überprüft, ob die Nutzer ihre Roller auch dort abstellen. Tun sie es, werden sie anfangs noch belohnt. Tun sie es nicht, werden sie später bestraft. Für die Anbieter selbst hat das in Bezug auf die Verfügbarkeit Nachteile, andererseits aber wiederum Vorteile beim Servicen der Flotte.

Hightech-Einsatz hilft Anbietern und Kommunen

Wenn es Probleme gibt, setzen Start-ups auf Technik – und sie sind dabei sehr kreativ. So kann der kalifornische Anbieter Lime inzwischen erkennen, ob sein E-Scooter auf dem Bürgersteig gefahren wird. Dazu filtern die Entwickler aus den Daten der Beschleunigungssensoren Vibrationen heraus und ordnen diese dem jeweiligen Untergrund zu. Eigenen Aussagen zufolge erkennt man in San José Gehwegfahrer mit 95-prozentiger Sicherheit. In der App folgt dann prompt eine Mahnung. Da mit E-Scootern häufig dann auf Gehwegen gefahren wird, wenn es keine Radwege gibt, sind diese Daten aber auch für Städte interessant. So können sie erkennen, wo Bedarf für eine bessere Infrastruktur besteht. Das ITF schlägt vor, ähnliche Techniken zu nutzen, um etwa schlechte Straßenbeläge zu dokumentieren oder aus Beinahe-Unfällen (erkennbar zum Beispiel durch Bremsen und Schlingern), gefährliche Straßenabschnitte zu ermitteln. Das Tracking der Fahrten bietet auch für Polizei und Kommunen Ansatzpunkte, um die Sicherheit zu verbessern. So berichtet Ralf Maier-Geißer, dass die Stadt Stuttgart aus den Daten der Anbieter ablesen kann, an welchen Stellen besonders häufig die gesperrte Fußgängerzone gequert wird. Dort könne dann ganz gezielt kon­trolliert werden.

Weniger Unfälle als angenommen

Auch das Thema Sicherheit ging immer wieder durch die Medien: unvorsichtige junge Menschen, die, alkoholisiert oder zu zweit, auf dem Bürgersteig führen und sich bei Stürzen schwer verletzten. Ist das wirklich so? Anfang des Jahres überraschte der Versicherer DEVK, indem er die Preise für die Versicherung privater E-Scooter für Fahrer ab 18 Jahren um bis zu 42 Prozent senkte. Die Begründung: Sie seien weniger in Unfälle verwickelt als erwartet. Nur die Jüngeren zahlen weiterhin den vollen Betrag. Auch bei Leihrollern scheint die Situation nicht so dramatisch zu sein, wie ursprünglich angenommen. Im Fe­bruar veröffentlichte das International Transport Forum (ITF) eine Studie zur Sicherheit der Mikromobilität. Zusammenfassend heißt es hier:

  • Die Gefahr eines tödlichen Unfalls oder einer schweren Verletzung ist auf einem Leih-E-Scooter nicht größer als auf einem Fahrrad.
  • In 80 Prozent der tödlichen Unfälle sind motorisierte Fahrzeuge beteiligt.
  • Der Verkehr wird für alle sicherer, wenn E-Scooter oder Fahrräder die Fahrten von Autos und Motorrädern ersetzen.

Wie sicher oder gefährlich das Fahren mit E-Scootern in Deutschland tatsächlich ist, wird sich künftig gut prüfen lassen. Denn das Statistische Bundesamt nimmt die Zahlen als eigenen Eintrag mit in die Unfallstatistik auf.

Mehr Sicherheit ist machbar

Um die Sicherheit zu erhöhen und schwere Unfälle zu verhindern, gibt das International Transport Forum eine Reihe von Empfehlungen. Die reichen von geschützten Wegen über Tempo 30 bis hin zu Design-Verbesserungen bei den Scootern – unter anderem mit größeren Rädern und veränderten Geometrien, um die Fahreigenschaften auf schlechten Straßen und Radwegen zu verbessern. Außerdem sollten Blinker vorgeschrieben werden, denn im Gegensatz zum Fahrrad ist es auf dem Roller schwierig, beim Abbiegen Handzeichen zu geben. Das schlägt auch der Verkehrsgerichtstag vor, dessen Empfehlungen in der Vergangenheit schon häufiger von der Politik aufgegriffen wurden. Er empfiehlt außerdem mehr Aufklärung über die Verkehrsregeln durch die Anbieter und setzt sich ein für eine „Prüfbescheinigung zum Führen eines Elektrokleinstfahrzeuges“. Ob die wirklich notwendig ist? Christian Leitow vom Team des Fahrradbeauftragten in Köln berichtet, dass es immer noch Beschwerden über das Fahrverhalten mancher Nutzer gäbe, diese aber deutlich abgenommen hätten. Erstens, weil im Winter defensiver gefahren werdem, und zweitens, weil die Ausprobierphase des Sommers wohl vorbei sei und sich zudem ein gewisser Lerneffekt eingestellt habe.


Bilder: Mack Male, Creative Commons, Lime, René Mentschke, Creative Commons