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Radtourismus neu denken

Nicht erst seit Corona steht der Tourismus vor Umbrüchen und der Radtourismus in neuen, vielfältigen Facetten mehr und mehr im Fokus. Für Planer und Entscheider gibt es vielfältige Chancen und Herausforderungen und vielfach unterschätzte Wirkungen in den Alltag und die Regionsentwicklung hinein. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Nachhaltigkeit, Klimawandel, Resilienz und Resonanz gehören als Themen im Tourismus nicht erst seit Fridays for Future und Corona zu den Hauptschlagworten, wenn es um die Gestaltung von aktuellen und künftigen Angeboten geht. Zurzeit beschleunigt aber nicht nur die Pandemie absehbare Umbrüche. Gerade das Thema Radtourismus boomt im Kleinen wie im Großen durch neue technische Möglichkeiten und neue Produkte ebenso wie durch veränderte Bedürfnisse und bislang unterschätzte Kundengruppen. Gleichzeitig stehen Regionen mit dem Zuwachs und den schnellen Veränderungen vor vielfältigen Herausforderungen. „Viele beliebte Rad- und Wanderwege verzeichneten im April und Mai fünf- bis zehnmal so viele Besucher“, stellt Fahrrad-Destinationsentwickler Tilman Sobek fest.

Konflikte oft hausgemacht

„Nicht nur der Radtourismus boomt, auch allgemein der Aktivtourismus“, betont Tilman Sobek, der als Geschäftsführer des Unternehmens absolutGPS und Macher des Mountainbike Tourismusforums Deutschland die Entwicklungen im Blick hat. Dabei sieht er mancherorts Probleme durch Überfüllung und Konflikte. Die seien aber vielfach durch Versäumnisse in der Vergangenheit eher hausgemacht. „Gerade im dicht besiedelten Deutschland haben wir begrenzt Raum. Deshalb müssen wir uns besonders gut Gedanken darüber machen, wie wir mit den unterschiedlichen Ansprüchen umgehen. Das betrifft zum Beispiel den Naturschutz, die Jagd, den Tourismus und die vielfältige Freizeitnutzung, vom Wanderer über den Geocacher und Trailrunner bis hin zum Mountainbiker.“ Dazu käme es darauf an, mit gezielter Planung Maßnahmen zu entwickeln, die sowohl räumlich als auch in Bezug auf die Kundengruppen in die Breite gingen. „Es ist möglich, die Potenziale nach drei bis fünf Jahren zu heben“, erläutert Tilman Sobek. Dafür seien aber auch ein Denken in größeren Zusammenhängen, ein langfristiges Konzept und eine entsprechende finanzielle Ausstattung wichtig. Seiner Erfahrung nach würde häufig mit viel Geld Konzepte entwickelt, dann fehlten aber die Mittel zur Implementierung und Vertiefung.

„Den größten Boom sehen wir in den Mittelgebirgen. Hier ändert sich die Situation mit dem E-Bike als neuem Standard fundamental.“

Tilman Sobek, absolutGPS

Gezielte Regionalentwicklung zahlt sich aus

Probleme durch versäumte Entwicklungen oder zu wenige Angebote und schlecht durchdachte Verbote sieht auch Darco Cazin, Gründer des Schweizer Beratungsunternehmens „Allegra Tourismus & Trails“, einem der Pioniere und Vordenker bei der Entwicklung von Mountainbike-Destinationen. „Wir sehen, dass diejenigen, die ihre Hausaufgaben gemacht haben, von der aktuellen Situation profitieren und die Früchte ernten. Andere, die nichts oder nur wenig gemacht haben, fallen dagegen gerade auf die Nase.“ Konkret gehe es dabei um vielfältige Aufgaben. Dazu gehören Nahbereichsangebote, die beispielsweise aus Metropolregionen einfach mit dem Rad oder dem öffentlichen Verkehr erreichbar sind, der Ausbau der Infrastruktur und das Einrichten von Bewegungs- und Naturangeboten für Familien und Kinder. Davon profitiert nicht nur der Tourismus, sondern auch die Region, die an Attraktivität gewinnt, und die Bevölkerung vor Ort. Gerade in sonst kaum beachteten ländlichen Mittelgebirgsregionen lasse sich hier mit wenig Aufwand viel bewegen. Negativbeispiele seien auf der anderen Seite Regionen, die eine schlechte Infrastruktur aufweisen oder wo man mit Verboten arbeitet.

Medial wird von Mountainbikern gern ein auf „harte Action“ zugespitztes Bild gezeichnet. „Tatsächlich ist es sehr viel unspektakulärer“, weiß MTB-Pionier Darco Cazin.

Bewegung und Natur hochattraktiv

Komplexer, als man vielfach denkt, ist heute auch die Definition des Radtourismus an sich. Hier lohnt die tiefere Beschäftigung mit den vielfältigen Nutzergruppen und den divergierenden Ansprüchen. „Das Bild der Radtouristen hat sich gewaltig verändert“, schreibt der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club ADFC zu den Ergebnissen seiner aktuellen Radreiseanalyse. Heute zählen dazu nicht nur Männer oder Paare im mittleren Alter mit Trekkingrädern und Packtaschen auf beliebten Flussradwegen, sondern laut ADFC beispielsweise auch Wellness-Reisen kombiniert mit Fahrrad-ausflügen, spontane Radkurztrips mit Städtebesuch, Sterntouren mit einer festen Unterkunft oder die aktive Auszeit in der Nähe des Wohnortes. Neben dem Tagesausflug gehört zu Letzterem auch die spontane Feierabendrunde mit dem Mountainbike, Rennrad oder Gravelbike. Was die Menschen bei aller Unterschiedlichkeit verbindet, ist nach den Erfahrungen von Darco Cazin vor allem der Wunsch nach aktiver Erholung in der Natur. „Das Bedürfnis rauszukommen wächst. Die Menschen wollen ausbrechen aus ihrem Alltag und ihrer Umgebung und in Resonanz mit der Natur und echten Menschen treten.“ Das decke das Fahrrad und auch der Mountainbike-Trail sehr gut ab, deshalb auch der Boom. Dabei ginge es den Menschen darum, „abzuschalten und im Hier und Jetzt im Flow zu sein.“ Das funktioniere durch externe Impulse wie Bewegung und eben Trails viel einfacher als beispielsweise durch Yoga oder Meditation. Mit Blick auf die Situation vor Ort komme es darauf an, die Bedürfnisse der Menschen ernst zu nehmen und entsprechende Angebote zu schaffen.

56 %

der deutschen Inlandsurlauber suchen
vor allem den Aufenthalt in der Natur.
Führend: kulturelle Angebote und
historischen Sehenswürdigkeiten (58 %).

Quelle: GfK Destination Monitor Deutschland 2019

Angebote statt Verbote

Allgemeiner Konsens unter Radtourismus-Experten ist, dass sich potenzielle oder tatsächliche Konfliktsituationen besser mit Angeboten statt Verboten lösen lassen. So macht die gesetzliche Vorgabe in Baden-Württemberg, die das Radfahren auf Waldwegen unter zwei Meter Breite verbietet, auch für Darco Cazin „überhaupt keinen Sinn“. Einwohner würden beispielsweise in Stuttgart grundlos „kriminalisiert und bestraft“, denn die Motivation, mit dem Rad in der Natur unterwegs zu sein und auf einem Trail zu fahren, sei ja keineswegs der Verbotsverstoß und es gebe wenig Alternativen. Ordnung schaffe man dagegen viel besser mit einer guten Planung und Angeboten, die Nutzer lenken, und einer sorgfältigen Abwägung mit allen Beteiligten, in welchem Verhältnis angenommene oder tatsächliche Konflikte oder Schäden zum Nutzen stehen.

Unterschätzt: vielfältige Wechselwirkungen

In Gesprächen betonen Fachleute wie Norman Bielig, Gründer und Geschäftsführer der Kommunikationsagentur desire lines, immer wieder auch unterschätzte Wechselwirkungen zwischen Tourismus und Alltag sowie Stadt und Land. „Die touristische Infrastruktur wird natürlich gerne auch von der Bevölkerung vor Ort in der Freizeit oder im Alltag genutzt“, betont Norman Bielig. Beispiele sind neben Radrouten und Trails gut zu fahrende Radverbindungen innerhalb der Stadt. „Es geht nicht nur um die touristische, sondern auch um die regionale Entwicklung“, erläutert Norman Bielig, der bei komplexen Entwicklungsprojekten wie in Bayern, Österreich oder Ostbelgien gerne partnerschaftlich mit Tilman Sobek von absolutGPS zusammenarbeitet. Profitieren könnten Regionen so zum Beispiel von besseren ÖPNV-Angeboten, mehr Gaststätten, Einkaufsmöglichkeiten, Schwimmbädern etc. Verbessert wird damit vielfach nicht nur die Lebenssituation vor Ort, sondern auch die Attraktivität für jüngere Menschen, Familien oder neue Mitbürger. Mountainbike-Projekte zahlen damit auch auf die allgemeine Daseinsfürsorge ein. Wichtig ist hier nach Norman Bielig auch die Begegnung von Städtern mit der ländlichen Bevölkerung, generell ein besseres Verständnis von Naturräumen und ein positiv verändertes Freizeitverhalten der Bevölkerung vor Ort, die beispielsweise aktive Bewegung mit dem Fahrrad oder Mountainbike neu für sich entdeckt.

E-Bikes und E-MTBs boomen

1.360.000 E-Bikes sind im Jahr 2019 nach den Zahlen des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV) verkauft worden. Das entspricht einem Zuwachs von 39 Prozent zum Vorjahr und einem Anteil am gesamten Fahrradmarkt von inzwischen 31,5 Prozent. Den größten Anteil am E-Bike-Markt haben weiterhin E-Trekkingbikes mit 36 Prozent. Eine ungeahnte und in der breiten Öffentlichkeit bislang wenig beachtete Dynamik zeigt sich bei E-Mountainbikes: In nur vier Jahren hat sich der E-MTB-Anteil am E-Bike-Markt von acht Prozent im Jahr 2015 auf 26,5 Prozent in 2019 gesteigert. Die Verkaufszahlen bei E-Mountainbikes haben mit 360.400 Stück die in Fachforen „Biobikes“ genannten motorlosen Varianten mit nur 215.500 nicht nur erstmals überflügelt, sondern das Verhältnis umgedreht.

E-Revolution fängt gerade erst an

Ebenfalls unterschätzt wird oft auch der Einfluss von neuen Technologien und Produkten aus der Fahrradbranche, allen voran die Motorunterstützung, die in verschiedenen Formen inzwischen sämtliche Fahrradgattungen erreicht hat: vom City-, Trekking- und Lastenrad über das Mountainbike, bis hin zum Rennrad, Gravelbike und Mountainbike für Kinder. Claus Fleischer, General Manager von Bosch eBike Systems, dem Marktführer in Deutschland bei E-Bike-Motoren, schätzt den langfristigen E-Bike-Marktanteil auf „mindestens 65 Prozent des gesamten Fahrradmarktes“. Möglich machen diese Veränderungen unter anderem neue „Hybrid-Bikes“ mit kleinen, leichten Akkus und Motoren. Destinationsentwickler Tilman Sobek geht mit Blick auf den Fahrradtourismus sogar davon aus, dass E-Bikes bereits „bis zum Jahr 2025 der neue Standard“ seien. Damit ergeben sich künftig völlig neue Möglichkeiten in Bezug auf die Regionen, vor allem in Mittelgebirgen, und neue, attraktive Hotspots, wie erhöht gelegene Sehenswürdigkeiten, Aussichtspunkte oder Gaststätten. Ebenfalls neu in den Fokus rücken mit der weiteren Verbreitung der Motorunterstützung bislang vielerorts vernachlässigte Kundengruppen sowie generationenübergreifende Angebote und ein attraktives Gruppenerlebnis.

„Den größten Boom sehen wir in den Mittelgebirgen. Hier ändert sich die Situation mit dem E-Bike als neuem Standard fundamental.“

Tilman Sobek, absolutGPS

Strategische Planung wichtig

Angesichts der vielfältigen Chancen, aber auch Herausforderungen lohnt es sich wohl, die Entwicklungen genau zu beobachten und künftige Veränderungen zu antizipieren und gezielt zu steuern. Für Planer und Entscheider kommt es nach Meinung der Experten wohl vor allem auch darauf an, in sachlichen Diskussionen mit möglichst allen Beteiligten vor Ort herauszufinden, wo man steht, wo man hinwill, was zum Ort oder der Region passt, worauf man aufbauen kann und wo oder bei wem Bedenken liegen. „Wichtig ist, von Anfang an alle Interessengruppen und Ansprechpartner mit einzubeziehen und einen runden Tisch zu bilden“, sagt Darco Cazin, der in der Schweizer Region Graubünden zusammen mit den Beteiligten vor Ort ein bestens funktionierendes und hochgelobtes Mountainbike-Eldorado geschaffen hat. „So ein runder Tisch umfasst auch mal 80 Personen – wobei die Menschen wirklich gerne zu uns kommen.“ Der zweite Schritt sei, Meinungen und Vorurteile zu versachlichen und Projekte anzufangen. Die schlechteste Alternative ist für ihn dagegen, sowohl die Chancen als auch den bestehenden und weiterhin wachsenden Druck aus der Bevölkerung zu ignorieren und keine Angebote zu entwickeln.

Neuer Qualitätstourismus?

Fragen an Stefan Gössling, Professor für nachhaltigen Tourismus und Mobilität an der schwedischen Linnaeus-Universität

Wie sehen Sie neue Destinationsmodelle?
Wir versuchen seit ein paar Jahren, ein Modell vorzuschlagen und zu entwickeln, das man als „resiliente, klima-sichere, hochwertige Destinationen“ zusammenfassen könnte. Im Prinzip geht es darum, gedanklich wegzukommen vom Denken in immer mehr Wachstum und Flügen für 20 Euro.

Was kann man sich darunter vorstellen?
Zum Thema Resilienz: Dieser Tourismus muss Schocks widerstehen können, wie zum Beispiel Wirtschaftskrisen. Das geht, indem Destinationen zum Beispiel einen hohen Teil an Inlandstouristen und einen sehr loyalen Kundenstamm aufbauen. Wir müssen Tourismus in vielerlei Hinsicht anders und neu denken.

Wo gibt es für Destinationen Hebel, um mehr Geld zu verdienen?
Wir müssen uns fragen, wo haben wir Verluste, wo können wir Einnahmen erhöhen und wo können wir den Tourismus stabiler machen. Da gibt es jede Menge Möglichkeiten. Wir können zum Beispiel zusätzliche, attraktive Angebote machen, um Touristen länger am Ort zu halten. Dabei ist das nicht nur eine Frage, wie viel die Touristen ausgeben in einer Destination, sondern auch, wie viel abfließt. Wer zum Beispiel bei Booking eine Reise bucht oder AirBnB, der macht das genaue Gegenteil, da fließen enorme Beträge direkt an die Plattformbetreiber im Ausland ab. Wir können auch stärker sparen – es wird viel verschwendet – bei der Energie, bei Lebensmitteln …

Professor Stefan Gössling

beschäftigt sich seit Jahren in der Forschung, in Fachbüchern und auf Kongressen mit dem Thema Nachhaltigkeit im Tourismus und in der Mobilität. Mehr von ihm auch in der letzten VELOPLAN-Ausgabe 2/20, Schwerpunkt Gesundheit, und auf Youtube.

stefangossling.de

Was sollten Regionen tun?

Fragen an Norman Bielig, Geschäftsführer desire lines

Medien sprechen von Konflikten und Überfüllung. Was läuft falsch?
Viele Regionen haben sich in der Vergangenheit auf Leuchtturmprojekte konzentriert. Auf die fokussieren sich nun auch die Menschen. Wir haben sehr viel Verkehr auf bestimmten Routen, aber eben keine Verteilung in der Breite, deshalb müssen die Regionen dringend an einer Diversifizierung arbeiten.

Was ist mit mehr Diversifizierung gemeint?
Wir brauchen mehr Angebote und Wegenetze für unterschiedliche Zielgruppen. Waldtouren, Trailcenter nach schottischem Vorbild, Bikeparks mit vielfältigen Strecken und auch Angebote für Familien und Kinder. Seit zwei bis drei Jahren wird in den Regionen auch das E-Bike mitgedacht. Das ist also noch ein sehr junges Feld, das insbesondere aufgrund seiner Vielfältigkeit herausfordert.

Was würdet ihr euch mehr wünschen?
Vor allem die stärkere Zusammenarbeit von Verbänden, Vereinen, Kommunen, Politik und Tourismus. Denn Fahrrad- und Mountainbike-Tourismus sind unserer Erfahrung nach immer auch ein Motor der Regional- und Standortentwicklung.

Was sollten Regionen in der aktuellen Situation tun?
Genau jetzt müssen nachhaltige Stakeholder-Prozesse angestoßen, muss in den Dialog getreten und an Konzepten gearbeitet werden. Jetzt ist die Zeit, um Radtourismus größer zu denken: im Zusammenhang mit Jugendbildung, Umweltbildung, Alltagsverkehr, Gesundheit, Regionalentwicklung und vielem mehr.

Norman Bielig

hat mit der Gründung der Kommunikationsagentur desire lines den Rahmen geschaffen, um Contentproduktion, Kampagnen und touristischen Produktentwicklung zu vereinen. Für den Deutschen Alpenverein bildet er Mountainbike-Trainer und -Trainerinnen aus und engagiert sich als Mitglied des Vorstandes beim Mountainbike Tourismusforum Deutschland.

desire-lines.de

Was gibt es bei der Planung zu beachten?

Fragen an Tilman Sobek, Geschäftsführer absolutGPS

Wo gibt es neue Chancen für den Radtourismus?
Auch wenn einige Angebote schon recht reif sind, insgesamt stehen wir bei vielem erst relativ am Anfang. Wir können so tolle Erlebniswelten schaffen! Hier ist bei den Angeboten und der Kommunikation noch viel mehr möglich.

Was zeichnet Planer im Radtourismus aus?
Die psychologischen Komponenten im Blick zu haben. Es geht um Bewegung in der Natur, aber auch um Sinn und Werte. Wenn etwas wirklich vorangebracht wird, dann ist es oft so, dass die Verantwortlichen selbst vom Fahrrad oder Mountainbike kommen und dafür brennen.

Was ist für die Planung wichtig?
Vor Ort: Informieren, Transparenz und Vertrauen herstellen, vernetzen. Man sollte sich nichts vormachen, manche Projekte, besonders beim Mountainbiken, führen anfangs zu Vorurteilen und Widerständen. Für den Gast und die Region: möglichst intensiv an bestehende Konzepte anknüpfen und die eigene Identität weiterentwickeln. Man sollte sich gezielt fragen, was will ich als Ort oder Region oder was will ich auch ganz bewusst nicht.

Ist Mountainbiken das neue Skifahren?
Das ist eine aktuelle Fokussierung aus den Alpen. Moderne Mountainbikes sind heute hochmoderne Geräte, die bestmöglich unterstützen, weit tragen und von fast jedem schnell beherrscht werden. Die Motorunterstützung ermöglicht dabei neue Streckenprofile und erschließt gerade für Mittelgebirgsregionen enorme Chancen.

Tilman Sobek

liegt als Destinationsentwickler die Synthese von Outdoor-Kompetenz und Tourismusmanagement am Herzen. Dafür setzt er sich als Geschäftsführer von absolutGPS und Kopf des Mountainbike Tourismusforums Deutschland e. V. bei der strategischen Arbeit mit Destinationen in Europa ein. Sein Firmenmotto: „Erlebnisse, die bleiben: für den Gast unvergesslich, nachhaltig für die Region.“

absolut-gps.com

Das Mountainbike Tourismusforum Deutschland e. V. versteht sich als Denkfabrik und fungiert als Raum für Vernetzung und Dialog. Seit 2015 ist der jährlich ausgerichtete deutsche MTB-Tourismuskongress eine zentrale Plattform zum Austausch. Wichtige Tools sind der „Mountainbike-Monitor“, die nach eigenen Angaben weltweit umfassendste Untersuchung von Mountainbike-Gästen sowie Forschungsergebnisse, z. B. zu den Auswirkungen auf Boden, Flora und Fauna. Dazu kooperiert der Verein international mit Hochschulen.

mountainbike-tourismusforum.de

Wo liegen die großen Chancen?

Fragen an Darco Cazin, Gründer Allegra Tourismus & Trails

Wo seht ihr Potenziale im Fahrradtourismus?
Das Schöne am Radtourismus ist es, dass es sehr viel Raum gibt, um etwas zu entwickeln, angefangen von null Höhenmetern an der Küste bis rauf auf 3.000 Höhenmeter an den Gletschern. Heute wissen wir auch, dass man nicht in großen Dimensionen denken muss. Viele kleine Regionen sind sehr erfolgreich, weil sie gut durchdacht und geplant sind.

Gibt es einen neuen Schub fürs Rad?
Wir sehen aktuell den Aufstieg des Fahrrads vor allem in den Städten – auch als Statussymbol. Gleichzeitig wird das Radfahren im Urlaub immer wichtiger für Gäste, die keine Fahrradtouristen im eigentlichen Sinne sind. Das verlangt nach neuen Angeboten und Langsam-Verkehrsplänen. Wenn man das angeht, eröffnet sich eine Riesenchance für den ländlich peripheren Raum, um sich stark als alternativer Lebensraum zu positionieren.

Wie schaut es im Umfeld der Städte aus?
Tourismus in den Städten hat eine große Chance in den Naherholungsgebieten. Die in Wert zu setzen gegenüber den Einwohnern und den Touristen kann stark an Bedeutung gewinnen. Wir sehen ein großes Wachstum vor allem bei Mountainbikes. Wenn man die Zahl der neuen Mountainbiker mit den Ausübungstagen multipliziert, dann kommen wir in der Schweiz aktuell auf einen Zuwachs von einer Viertelmillion Ausübungstagen. In Deutschland kann man das mal zehn oder zwölf nehmen.

Wie ordnet man den neuen Zustrom?
Das ist eine große Herausforderung, der man sich stellen muss. Aber nicht mit Verboten, sondern mit Angeboten und einer guten Steuerung. Meiner Erfahrung nach kann man 80 bis 90 Prozent der Nutzer sehr gut durch solche Maßnahmen lenken.

Mit welchen Vorurteilen werdet ihr immer wieder konfrontiert?
Tatsächlich geht es in unserer Arbeit immer wieder darum, von Meinungen zu objektiven Fakten zu kommen. Beispielsweise, wenn es um gefühlte Mengen von Wanderern und Mountainbikern oder potenzielle Beeinträchtigungen der Natur geht. Dazu kommt, dass insbesondere von Mountainbikern medial ein falsches Bild vermittelt wird. Tatsächlich ist das Mountainbiken sehr viel unspektakulärer. Es geht nicht um harte Action, sondern um das Naturerlebnis. Dafür braucht es auch keine Berggipfel, es genügt auch der Wald, ein See oder ein Fluss.

Wie können kleine, erfolgreiche Mountainbike-Projekte aussehen?
Schon in einem sehr limitierten Stück Wald kann man viel Erlebnis entwickeln für den Nutzer. Zum Beispiel kleine Flächen für Trails einrichten und spielerische Elemente mit einem hohen Aufforderungspotenzial bauen, wie Pumptracks oder auch Mountainbike-Spielplätze für Anfänger und Familien, eventuell kombiniert mit Transportbändern, sogenannten Zauberteppichen, dazu Grillplätze für Familien und vieles mehr. Ich finde jede Stadt, jede Region und auch jede kleine Kommune sollte solche Bewegungsräume in der Natur schaffen, wo man lernen und sich ausprobieren kann. Das ist machbar und gerade für junge Menschen wäre das sehr wichtig. Das Mountainbike könnte hier künftig Teil einer neuen Kultur werden.

Darco Cazin

gehört als Gründer des Schweizer Unternehmens Allegra Tourismus & Trails zu den Visionären der Szene und entwickelt seit vielen Jahren Mountainbike-Regionen im In- und Ausland. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist der Schweizer Kanton Graubünden mit namhaften Destinationen wie Andermatt oder St. Moritz. Die Region setzt im internationalen Vergleich Maßstäbe und entwickelt sich rasant weiter fort. Empfehlung: Allegra-Blog und Youtube-Channel. Hier erläutert Darco Cazin unter anderem „die Basics erfolgreicher Mountainbike Destinationen“.

allegra-tourismus.com



Bilder: stock.adobe.com – Uwe, Saalfelden-Leogang – Klemens König, stock.adobe.com – ARochau, Saalbach-Bike – Stefan Voitl, stock.adobe.com – ARochau, Norman Bielig, Tilman Sobek, Allegra – Peter Linden