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Im ehemals von der innerdeutschen Grenze getrennten Harz treffen noch immer drei Bundesländer aufeinander. Ein im EU-Programm Leader gefördertes Projekt zeigt, wie verschiedene Regionen für eine gemeinsame Sache zusammenkommen können. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Radfahren spielt im Harz bisher höchstens auf ausgewählten Mountainbike-Trails eine Rolle. Dominant sind in dem deutschen Mittelgebirge und seinem Umland der Ski- und Wandertourismus. Wie schafft man in so einer Region Motivation dafür, Radtourismus, Verleih- und Fahrradinfrastruktur zu fördern? Kurz gesagt braucht es einen ganzheitlichen Ansatz, der viele Projektpartner und -träger in einem Ziel gemein macht. „Wir wollten mehr, als ein paar Radwege zu schaffen oder zu beschildern“, beschreibt Mario Wermuth das Projekt Genuss-Bike-Paradies Harz/Braunschweiger Land, das er mitinitiiert hat.
Die Kooperation verbindet insgesamt acht Akteure, die über Regionen, Bundesländer und internationale Grenzen hinweg zusammenwirken und mit einem gemeinsamen Ziel die europäische Leader-Förderung (siehe Kasten auf Seite 68) in Anspruch nahmen. Dabei handelt es sich um drei Leader-Regionen aus Sachsen-Anhalt, drei Leader-Regionen und eine ILE-Region (Integrierte Ländliche Entwicklung) aus Niedersachsen und eine österreichische Leader-Region, das Südburgenland.

Die Grundidee des Genuss-Bike-Paradieses lautet, dass der E-Bike-Tourismus für den Harz und das Braunschweiger Land ein großes ungenutztes Potenzial birgt. Die Touren verbinden kulinarische und kulturelle Highlights mit Ladeinfrastruktur und Gaststätten.

Genuss und Fahrrad kombinieren

Weil das Südburgenland als Partner der gemeinsamen Tourismusmarke E-Bike-Paradies involviert ist, ist die Kooperation transnational. Die Idee, Genuss und Fahrrad miteinander zu kombinieren, wird dort schon länger praktiziert. An einen Austausch-Besuch 2019 erinnert sich Mario Wermuth gut. Unter anderem war die deutsche Delegation auf einem Weingut zu Gast, auf dem der gemeinschaftliche Gedanke spürbar wurde. „Da waren dann auch andere Winzer, die ihren Wein ausgeschenkt haben“, erzählt Wermuth.
Solche Erfahrungen mit dem Aufbau eines „E-Bike-Paradieses“ im Südburgenland sollten auf den Harz übertragen werden. Im Gegenzug ist geplant, die Erfahrungen mit dem Belohnungssystem der Harzer Wandernadel für das E-Bike-Paradies im Südburgenland nutzbar zu machen.
Im Südburgenland tritt der gleichnamige Verein als Projektträger auf. Eine solche Verantwortungsstruktur brauchte es auch in den anderen Regionen. Dafür sind Organisationen unterschiedlicher Art zusammengekommen, etwa der Landkreis Goslar oder die Gemeinde Huy in Sachsen-Anhalt. Für die Leader-Region Harz ist das E-Bike-Verleih-Unternehmen HarzMobil zuständig, das Mario Wermuth gemeinsam mit Alexander Waturandang verantwortet. Sie gaben den ersten Impuls für das regionsübergreifende Vorhaben.
„Mein ursprünglicher Anlass, das Ganze zu machen, war, den Harz als E-Bike-Region bekannt zu machen und alle lokalen Betriebe zusammenzubringen, die am E-Bike-Tourismus interessiert sind“, schildert Wermuth. Eine Erhebung hatte ergeben, dass die durchschnittlichen Tourist*innen durchaus mehrere Übernachtungen in der Region verbringen. Diese Zeit füllen sie mit unterschiedlichen Aktivitäten. Fahrradfahren spielte im Harz gegenüber dem Wandern und Skifahren bisher jedoch eine untergeordnete Rolle, so die Wahrnehmung. Wenn überhaupt, geschehen die Buchungen für Fahrräder spontan und für kurze Dauer. Um neben den anderen Freizeitaktivitäten nicht unterzugehen, müsste man den Harz für E-Bikes aufbereiten, überlegte Alexander Waturandang 2016. Die Idee war sicher nicht völlig selbstlos. Der E-Bike-Verleiher HarzMobil betreibt insgesamt fünf Stationen, Waturandang ist zudem Inhaber des Fahrradladens Bike and Barbecue in Hornburg.

Bike-Paradies bringt lokale Wirtschaft zusammen

Das Genuss-Bike-Paradies umfasst 14 Sterntouren und einen mehrtägigen Rundweg, dessen Etappen zwischen 24 und 65 Kilometern messen. Sie verlaufen auf bereits bestehenden Radwegen und verbinden verschiedene Points, aber auch Service-Punkte und Ladeinfrastruktur. Waturandangs Fahrradgeschäft wurde letztendlich nur über eine Sterntour in das Streckennetz eingefügt. Die Region nördliches Harzvorland, in der Hornburg liegt, ließ sich nicht für das Vorhaben gewinnen.
Fahrradvermieter sind nicht die einzigen Unternehmen, an denen die Routen vorbeiführen. Über die Website www.genuss-bike-paradies.com lassen sich auch Unterkünfte finden. Zudem können Touristinnen über den Reiter Arrangements ganze Leistungspakete buchen. Die Strecken verlaufen entlang diverser Einkehrmöglichkeiten und kultureller Highlights, darunter eine Glasmanufaktur in Derenburg und ein Brauhaus in Quedlinburg. Über die auf Outdoor-active-Karten basierende App können die E-Bikerinnen diese Points of Interest (POI) schnell ausfindig machen und ansteuern.
Als Zielgruppe insbesondere Radfahrende mit elektrischer Unterstützung anzusprechen, mag heute nicht mehr ungewöhnlich erscheinen. Als Wermuth und Waturandang vor rund sechs Jahren anfingen, die Projektidee zu entwickeln, war dieser Ansatz allerdings noch durchaus bemerkenswert. „Da brauchte man etwas Weitblick, um da mitzumachen“, ordnet Waturandang die Anfänge ein. Der offizielle Startschuss des Projekts fiel 2020. Die Formalitäten, die die Leader-Förderung mit sich brachte, bremsten die Geschwindigkeit des Vorhabens. „Wir hätten gerne schon zwei Jahre früher begonnen“, so Wermuth. Ende Juni dieses Jahres ist zumindest die Förderung ausgelaufen und das Entstandene mit einer Abschlussveranstaltung gefeiert worden.

Vereint entgegen dem historischen Trend

Grund zu feiern hatten die Projektpartner auch deshalb, weil die grenzübergreifende Zusammenarbeit für den Harz einen besonderen Wert hat. In der deutschen Raumordnung und Geschichte ist das Mittelgebirge und dessen Vorland etwa durch die ehemalige Grenze zwischen der DDR und der BRD zerrissen worden. Auch heute zeigt beispielhaft der Dreiländerstein südlich von Benneckenstein, dass im Harz die Grenzen zwischen Sachsen-Anhalt, Thüringen und Niedersachsen aufeinandertreffen. Das kann auch Radtourist*innen vor Schwierigkeiten stellen, wenn eine bestimmte Beschilderung beim Überschreiten der Ländergrenze einfach aufhört.
So viele durch den Harz und das Braunschweiger Land verbundene Akteure an einen Tisch zu bringen, brachte dem Vorhaben aber nicht nur Vorteile. Es bedurfte und bedarf einer intensiven Abstimmung, weil die Projektziele der einzelnen Träger sehr individuell sind und erst auf einen Nenner gebracht werden müssen, so ein Learning des Genuss-Bike-Paradieses.
Was zunächst nach viel Koordinationsarbeit klingt, soll am Ende allen Beteiligten einen Skalierungsvorteil bringen, erklärt Waturandang. Nur in einer größeren Gemeinschaft können Projekte wie das im Harz und Braunschweiger Land gut funktionieren. Er zieht den Vergleich zu einem Kneipenviertel. Eine einzelne Kneipe in einer willkürlichen Straße zieht kaum Menschen an. Wenn sich allerdings ein ganzes Viertel entwickelt, in dem es viele Gaststätten gibt, ist die Attraktivität höher. Indem die einzelnen Regionen für das Genuss-Bike-Paradies an einem Strang ziehen, nehmen die Menschen sie von außen als Einheit wahr und sie können besser mit anderen Regionen oder Freizeitaktivitäten konkurrieren.

Pandemie hat dem Projekt nicht geschadet

Fast schon ironisch scheint es da, dass die Projektpartner aufgrund der Pandemie nicht in körperlicher Präsenz zusammenarbeiten konnten. Online-Veranstaltungen, in denen das Projekt vorgestellt wurde, erwiesen sich rückblickend eher als Vorteil und stießen auf großes Interesse seitens der lokalen Unternehmen. Rund 120 interessierte Unternehmen wollen bereits mitwirken, viele von ihnen haben eine entsprechende Vereinbarung schon unterzeichnet. Die Betriebe wurden im Hinblick auf die Bedürfnisse von E-Biker*innen qualifiziert.
Viele Akteure zu vereinen, war im Fall Genuss-Bike-Paradies auch vorteilhaft, weil das Projekt damit einen Grundgedanken des Leader-Programms verfolgte und förderfähig war. Im Rahmen des Förderprogramms verantworteten die einzelnen Träger verschiedene Aufgaben, die externe Dienstleister dann umsetzten. HarzMobil übernahm das Social-Media-Management und entwickelte ein Stempelsystem, das dazu anregen soll, das Genuss-Bike-Paradies möglichst vollumfänglich zu bereisen. Andere Akteure planten etwa die Touren oder entwickelten Marketing- und Vertriebskonzepte.
Ein richtiges Resümee zum Projekterfolg lässt sich noch nicht ziehen, auch wenn erste Vorzeichen gut aussehen. „Wir merken auf jeden Fall, dass immer mehr Leute diese Touren abfahren“, verrät Alexander Waturandang. Vor ein paar Wochen sind auch Broschüren und Karten gedruckt und verteilt worden.

„Wir wollten mehr, als ein paar Radwege zu schaffen oder zu beschildern“

Mario Wermuth, HarzMobil
Die Smartphone-Anwendung fungiert als Schaltzentrale des Genuss-Bike-Paradieses. Dazu gehören auch Kartendaten mit Navigation, deren Grundlage das Kartenportal Outdooractive ist.

Es bleibt viel zu tun

An einer Perspektive, was das Genuss-Bike-Paradies langfristig sein und leisten kann, mangelt es den Verantwortlichen nicht. Die Touren sollen erweitert und neue Arrangements entwickelt werden. Das Marketing fokussiert bereits die nächste Saison, dort soll die E-Bike-Region richtig wirksam werden.
Mit Blick auf die Zukunft und die nun ausgelaufene Förderung müssen die Projektpartner außerdem die Organisationsstruktur auf neue Fundamente stellen. Die Hotels, deren Zimmer und Angebote über die neue Website buchbar sind, nutzen diesen Service bisher kostenlos. In Zukunft sollen sie einen Mitgliedsbeitrag zahlen, als Gegenleistung für die prominente Online-Darstellung. Geplant ist weiterhin, einen Verein zu gründen, in dem sich die Mitgliedsbetriebe dann organisieren können und der die bisher vom Harz-Tourismus-Verband verantwortete Website betreiben soll.
Man müsse solche Projekte einfach angehen, anstatt vor den Formalien zurückzuschrecken, rät Wermuth anderen Regionen. Die Chancen übersteigen schließlich den Aufwand.
Die Projektinitiatorinnen benötigen ein gewisses Durchhaltevermögen, müssen hinter der Idee stehen und auch bereit sein, diese auch nach außen zu repräsentieren. Und die Protagonistinnen sollten, wenn möglich, nicht allein agieren. Die Vorteile der Gemeinschaft scheinen also auf allen Handlungsebenen relevant zu sein. 

LEADER-Programm:

Das Akronym LEADER steht ins Deutsche übersetzt für „Verbindung zwischen Aktionen zur Entwicklung der ländlichen Wirtschaft“. Dabei handelt es sich um ein Maßnahmenprogramm der Europäischen Union, das aus dem Landwirtschaftsfonds ELER finanziert und mit Mitteln der Länder, des Bundes und der Kommunen aufgestockt wird. Dass sich, wie im Falle des Genuss-Bike-Paradieses mehrere Akteure zusammentun, ist Teil des Konzepts, seit es 1991 eingeführt wurde. In den derzeit 321 deutschen LEADER-Regionen des bis Ende 2022 laufenden Förderzeitraums erarbeiten lokale Aktionsgruppen vielfältige Entwicklungskonzepte.

Mehr Infos unter:
https://enrd.ec.europa.eu/leader-clld_de


Bilder: Openstreetmap – Schmidt-Buch-Verlag, L. Weber, DVS

Corona hat auch den Radtourismus gedrosselt, doch im Hintergrund läuft ein solider Boom. Wie machen sich Spezialisten für den Fahrradtourismus der Zukunft fit? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Man kann nicht behaupten, dass Radtouristiker in den vergangenen zwei Jahren leichtes Spiel gehabt hätten. Auch wenn der Fahrradmarkt boomte und die Menschen sich unter Pandemiebedingungen wieder auf das Fahrrad besonnen haben, so war das Geschäft mit Gästen auf Rädern doch ebenso problematisch wie der gesamte Tourismus. Bei der Active Travel AG, besser bekannt für ihre Radsport-Reisemarke Huerzeler, ging es seit März 2020 jedenfalls ans Eingemachte. Politische Maßnahmen, Zurückhaltung bei Reisenden, Unsicherheiten der Pandemie – mehr als ein Jahr lang war die Stimmung schlecht, die Erlöslage kritisch, Kurzarbeit und Räderverkauf waren Mittel der Krise. „Doch seit dem Herbst 2021 erleben wir etwas ganz anderes“, sagt CEO Urs Weiss. Auf den besten Herbst der Unternehmensgeschichte folgte ein Frühjahr 2022, bei dem Huerzeler seine komplette Rennradflotte fast dauerhaft vermietet und auch mit seinem Pauschalreisen-Angebot enorme Kundenzahlen erreicht hat. „Was die Nachfrage aus Deutschland anbelangt, haben wir 2022 sogar unser Rekordjahr 2019 übertroffen“, sagt Weiss. „Die sportiven Reisen nach Mallorca sind so beliebt, dass wir Probleme hatten, genug Räder vorzuhalten.“ Dank guter Beziehungen zum Hersteller Cube konnte Huerzeler trotz der schwierigen Marktlage aber 400 zusätzliche Rennräder und 200 E-Bikes organisieren, um den wiedererstarkten Radtourismus kommerziell umzumünzen.
„Der Radtourismus ist relativ gut davongekommen“, bilanziert Christian Tänzler, der beim Allgemeinen Deutschen Fahrrad Club (ADFC) als ehrenamtlicher Vorstand für Tourismus verantwortlich zeichnet und in seinem Hauptberuf als Sprecher bei visitBerlin arbeitet. Jahr für Jahr stellt der ADFC seine Radreiseanalyse vor, und die Zahlen für 2020 und 2021 dokumentierten einen Rückgang gegenüber den Jahren davor. „Man darf allerdings nicht vergessen, dass der Tourismus in der Pandemie bis Juni 21 durch Lockdowns quasi nicht mehr möglich war“, sagt Tänzler.

Sprunghafte Rückkehr zu neuer Normalität

Schaut man mit diesem Gedanken erneut auf die Zahlen, dann ist ein erheblicher Sprung im Jahr 2022 zu erwarten. „Die Pandemie hat zu einem Bewusstseinswandel geführt, das Fahrrad als Fortbewegungsmittel ist wesentlich interessanter geworden“, sagt Tänzler. Immer stärker verbreitet haben sich E-Bikes auch als hochwertige Räder für längere Strecken, was wiederum die Fantasien der Touristiker mit Blick auf zahlungskräftige Kundschaft beschwingt, die auch mal ein paar Kilometer mehr pro Tag zurücklegen und auf ihren Reisen so noch mehr erleben können. Radtourismus, sagt Tänzler, ist auch für die Anbieter rundum attraktiv geworden. Fünf-Sterne-Hotels zeigten sich fahrradfreundlich, Radfahren habe ein positives, umweltfreundliches Image und für immer mehr Menschen gehört das Fahrrad zum Lifestyle. Gute Bedingungen also für langfristiges Wachstum, wenn Kommunen investieren, personelle Ressourcen für die Planung aufbauen und die Infrastruktur für die Radler verbessern.
Ein Aspekt, den ADFC-Tourismusvorstand Christian Tänzler betont, ist der relevante Anteil von Tages- oder Kurz-Trips in der Gesamtzahl der Bewegungen in einer Fahrraddestination. „In der Pandemie hat es einen klaren Trend zu Microadventures gegeben, zu kleinen Ausflüchten ins Umland, bei denen die Menschen positive Impulse für ihre Gesundheit und ihr Seelenheil suchen“, sagt Tänzler. Diese Kundinnen sind für touristische Destinationen von hoher Bedeutung, sie bringen Umsatz beispielsweise für die Gastronomie und sind ein Gradmesser, ob eine Destination attraktiv für Radtouristinnen und -touristen ist und weiteres Potenzial hat.

„Diese konstante Erneuerung und Bereitschaft, Überliefertes abzulösen, ist für eine touristische Destination sehr wichtig“

Tilman Sobek, absolutGPS

Eine gute Tourismusdestination bietet für verschiedene Zielgruppen ein reichhaltiges Anbebot, das über eine abwechslungsreiche Streckenführung hinausreicht. Keine leichte Aufgabe.


Für Tilman Sobek, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens absolutGPS aus Leipzig, ist der Blick auf diese oft unterschätzte Zielgruppe nicht neu. In manchen Regionen mache der Anteil der Tagesausflügler mehr als die Hälfte der Kundschaft aus, aber auch in ausgeprägten Radtourismusgebieten mit starkem Fernverkehr seien es meist 15 bis 30 Prozent. Auch die ADFC-Daten zeigen, dass immerhin 14,2 Prozent der Radreisenden nur drei Nächte oder weniger reisen. Für eine touristische Destination sei dieses Publikum allerdings nicht nur Beifang: „Wie überzeugen Sie die Gäste aus der Nähe, dass sie neugierig auf eine meist vertraute Region werden oder noch einmal hinfahren?“, formuliert es Sobek.
Für Akteure im Radtourismus ergibt sich daraus ein Zwang zur Innovation, sagt Sobek. „Sie brauchen konstant neue Anstriche, das ist wie bei den erfolgreichen Betriebssystemen von Apple oder Google.“ Damit eine Destination attraktiv in der Wahrnehmung bleibt, müssten die Verantwortlichen trotz aller Eingebundenheit ins Tagesgeschäft bereit sein, jedes Jahr etwa 10 bis 20 Prozent ihres Angebots zu überarbeiten. Das kann das Foto- oder Videomaterial sein, die Präsenz in sozialen Medien oder eben auch die Arbeit am Kern der touristischen Streckenangebote. „Diese konstante Erneuerung und Bereitschaft, Überliefertes abzulösen, ist für eine touristische Destination sehr wichtig“, beobachtet Sobek.

Konstante Weiterentwicklung gehört zwingend dazu

Diese Notwendigkeit zur dauerhaften Evolution kennt Petra Wegener nur zu gut. Wegener ist Geschäftsführerin des Weserbergland Tourismus e. V. in Hameln und verantwortlich für die beliebteste Radroute Deutschlands, den Weser-Radweg. Er rangiert in der ADFC-Radreiseanalyse mit 13,9 Prozent der Reisenden noch vor Elberadweg und Main-Radweg als meistbefahrener Radfernweg des Landes.
Allerdings war es ein gehöriger Niedergang, der dem heutigen Triumph vorausging. Schon früh gab es zwar für damalige Verhältnisse ordentliche Wege entlang der Weser, schon in den Achtzigern war damit zunächst zwischen Höxter und Holzminden und später dann bis zur Nordsee eine Radroute erschaffen. „Man hielt das allerdings für einen Selbstläufer und investierte nichts mehr in die Infrastruktur und das Angebot“, erinnert sich Wegener. Erst 2008/9 gingen die Touristiker mit externer Beratung die Renovierung des Angebots an. „Es hat insgesamt etwa zehn Jahre gedauert, bis wir das heutige attraktive Angebot erfahrbar gemacht haben“, sagt Wegener und macht keinen Hehl daraus, dass diese Zeit für sie als Touristikerin sehr mühevoll war. Schließlich muss sich ihr Verein für den Weser-Radweg mit 16 Landkreisen und den darin liegenden Kommunen arrangieren, um das Produkt als Ganzes nach vorne zu bringen. Heute ist ihr Verein für die Gestaltung und das Marketing des Weser-Radwegs zentral zuständig, finanziert von nur vier Landkreisen und den angeschlossenen Städten und Gemeinden, aber zum Wohle der gesamten Strecke zwischen Mittelgebirge und Küste aktiv. „Wir müssen die Menschen immer wieder dazu bringen, dass sie das Gesamtbild der touristischen Route sehen“, sagt Wegener. Früher habe jeder nur an seinem Teilstück gearbeitet. Doch so habe kein orchestriertes, für Gäste attraktives Gesamtpaket entstehen können. Inzwischen hat man, auch dank Millionenförderungen aus EU-Mitteln, die Infrastruktur auf der gesamten Strecke verbessert und die Qualität des touristischen Angebots in einer eta­blierten Reiseregion mit Blick auf die Radfahrenden deutlich angehoben. Wegener hat hierfür mit dem ADFC zusammengearbeitet und die Strecke von den Experten des Verbands prüfen lassen. Anfangs war die Qualität sowohl der Wege als auch der touristischen Angebote zu gering, um in die Zertifizierung zu gehen – inzwischen verweist Wegener mit Stolz auf die vier Sterne für die ADFC-Qualitätsradroute.
Spricht man mit Wegener, dann wird schnell klar: Der Weser-Radweg ist nicht nur eine Route, an der Hotels und Biergärten stehen. Er ist ein touristisches Paket, das als solches erkennbar wird. Der Weser-Radweg bietet ein Erlebnis, nämlich die Tour von den Höhenzügen bis ans Meer, und zudem eine pittoreske Kulisse mit Schlössern, Burgen und weiteren Sehenswürdigkeiten in enger Taktung. „Wir wissen um diesen Kern und steigen deswegen nicht auf jeden kurzfristigen Trend ein“, sagt Wegener. Was allerdings keine Abwehrhaltung gegen Neuerungen bedeutet, im Gegenteil: Mit E-Bike-Tourismus hat man sich in Hameln schon früh beschäftigt, inzwischen ist eine klare Verjüngung der Zielgruppen auf dem Radweg zu sehen. „Corona hat das Verhalten der Menschen sehr verändert“, sagt Wegener, und so muss sich ihr Verein nun auf Marketing in neuen Kanälen einstellen: Onlinemarketing ist für sie sehr wichtig, Instagram ein zunehmend bedeutsamer Kanal, der Radweg hat sogar eine eigene App. „Im Zuge dieser Weiterentwicklung geht es auch stärker darum, die Nachhaltigkeit des Reiseangebots zum Thema zu machen und auch in unserer touristischen Arbeit den Klimawandel in den Blick zu nehmen“, sagt Wegener.

Die aktuelle ADFC-Radreiseanalyse zeigt die derzeit beliebtesten Fernradwege von Radreisenden.

Perspektivwechsel und mehr Investitionen gefragt

Geht es nach Tanja Brunnhuber, dann gibt es beim Radtourismus gerade in Deutschland noch viel zu tun. „Es hakt bei der Investitionsbereitschaft der kommunalen Politik, es hakt aber oft auch noch beim Thema fahrradfreundliche Betriebe“, sagt die Gründerin des Beratungsunternehmens Destination to Market. Ihr Kernargument: Wer mit Radreisenden Erfolg haben wolle, müsse die Perspektive wechseln. „Häufig denken die Touristiker noch angebotsorientiert, nicht nachfrageorientiert“, sagt Brunnhuber. Der Perspektivenwechsel bedeute, nicht Übernachtungsmöglichkeiten und Gaststätten zusammenzusammeln, sondern aus Sicht von Radurlaubern auf eine Region zu schauen, eben „nutzerorientiert denken“, wie es heutzutage heißt. Und das funktioniert aus ihrer Sicht nur, wenn der Radtourismus als Inszenierung funktioniert, wenn die empfohlene Kirche geöffnet, gute Abstellmöglichkeiten vorhanden und die Beschilderung radfahrfreundlich ausfalle. „Ganz weit vorne sind hier österreichische Gebiete, etwa Kärnten, wo Radtouristinnen und -touristen Pakete in rundum guter Qualität vorfinden.“ Es gehe darum, sagt Brunnhuber, dass die Inszenierung auch zur Region passe. Sie hat gerade mitgewirkt an einem Konzept, das jetzt in der Zugspitz-Region/Tourismusregion Pfaffenwinkel umgesetzt wird. „Wenn Sie ein touristisches Produkt entwerfen und im Rahmen eines Beteiligungsprozesses bis zu 50 Kommunen, den Naturschutz sowie unzählige private Eigentümer berücksichtigen müssen, bedeutet das auch Einschränkungen für die Möglichkeiten“, sagt Brunnhuber. So richten sich die Touristiker künftig verstärkt an Tourenfahrer, Rennradlerinnen und explizit auch an Gravelbiker. „Nach unseren Analysen sind gerade Gravelbiker für den Tourismus eine lukrative Zielgruppe, die touristischen Umsatz versprechen und zugleich nicht allzu hohe Anforderungen an die Infrastruktur mit sich bringen“, erklärt Brunnhuber.
Dass es nötig wird, mehr Mühe in die Produktentwicklung und die radtouristischen Pakete zu stecken, unterschreibt auch Berater Sobek von absolutGPS. Etwa 200 Destinationen gebe es heute in Deutschland, die um Radtouristinnen und -touristen werben, die Zahl habe sich in relativ kurzer Zeit verdoppelt, „da sehe ich schon einen Boom.“ In diesem Markt reiche es nicht, einfach als weiterer Anbieter für Radtourismus aufzutreten, sondern es gehe um das zielgenaue Schaffen von Touren, die zur Region passen. Sobek hält das Ruhrgebiet für ein sehr gutes Beispiel. Dort habe man sich erst später auf Velotouristen konzentriert, dann aber thematisch passende Erlebnisse geschaffen. „Und es gibt fünf Mitarbeitende, die sich um das Thema kümmern und die touristischen Produkte weiterentwickeln.“ Doch bei aller Konzentration auf qualitätsorientierte Reisende sieht Sobek im Fahrradmarkt noch ein weiteres Thema: Nicht in allen 16 Bundesländern werde es funktionieren, wenn sich die Tourismusvermarktung künftig nur auf die hochpreisigen Segmente konzentriert. Auch für preissensiblere Kundschaft müsse man weiter Angebote schaffen, denn ansonsten würden diese Zielgruppen in günstigere Nachbarregionen fahren und damit potenziellen Umsatz mitnehmen.
Klar festzustellen ist, dass die Kommunikation und das Marketing für die Radtouristiker zu immer komplexeren Aufgaben werden. Es reicht nicht, Schilder aufzustellen, Karten und Broschüren zu drucken und Tageszeitungen anzusprechen. Es geht darum, verschiedene Zielgruppen an unterschiedlichen digitalen Orten zu erreichen und dann an die eigene Destination zu binden. Dafür sind auch die Präsenzen der Urlaubsgebiete auf digitalen Navigationsangeboten immer wichtiger, beispielsweise im Angebot von Komoot. Laut ADFC-Radreiseanalyse ist dies die meistgenutzte App der Radreisenden in Deutschland. Mehrere Hundert Tourismusanbieter sind laut Komoot bereits auf der Plattform und werben dort für ihre Destinationen. Als Anbieter braucht man für ein Profil auf Komoot nichts zu bezahlen, kann aber die Reichweite über bezahlte Werbung steigern. „Erster zahlender Kunde waren übrigens die Bikehotels Südtirol, die 2016 für den Bike-Frühling in ihrer Region warben und heute 20.000 Follower auf Komoot haben“, berichtet Jördis Hille, Senior B2B Communications Manager bei Komoot. Das Unternehmen bietet Schulungen an, damit die Touristiker lernen, in dieser digitalen Welt ihre Destinationen zielgenau zu präsentieren.

„Häufig denken die Touristiker noch angebotsorientiert, nicht nachfrageorientiert.“

Tanja Brunnhuber, Destination to Market

Jüngere Radreisende mit höheren Ansprüchen

Erheblich ins Erscheinungsbild investiert hat man auch bei Mallorca-Radreise-Spezialist Huerzeler. Der Anbieter hat nun eine eigene App, macht Storytelling statt nüchterner Kataloge und hat ein Buchungsportal aufgezogen, in dem Rad, Hotel und Flug auf einmal gebucht werden können. Man hat also die Grundlagen für weiteres Wachstum gelegt, sagt CEO Urs Weiss. Dabei haben seine Leute in den vergangenen Monaten einen interessanten Trend bemerkt: Die Touristinnen und Touristen, die zum Rennradfahren beim Traditionsunternehmen kommen, sind inzwischen häufig deutlich jünger. „Unsere Stammgäste der Altersgruppe 50+ kommen nach wie vor, aber ganz neu sind Leute im Alter von 30 oder 40 Jahren“, berichtet Weiss. Die Kunden und Kundinnen sind auch anspruchsvoller. Sie ordern eher die teuersten Räder, sie zahlen mehr. Für den Touristiker ist das an sich eine gute Nachricht, allerdings wird das bei den Hotels künftig zu anderen Kalkulationen führen. Denn traditionell schliefen die Radsporttouristen zu zweit in einem Zimmer, inzwischen geht der Trend zur Einzelbelegung. In der nachwachsenden Zielgruppe scheint die Preisempfindlichkeit sehr viel geringer zu sein. „Dafür achten sie wesentlich mehr aufs Erscheinungsbild“, sagt CEO Urs Weiss. Er kündigt deshalb schon mal an, für diese Zielgruppe modernere Accessoires anzubieten.


Bilder: foto@bopicture.de, Tanja Brunnhuber, Weserbergland Tourismus e.V., ADFC Radreiseanalyse 2022