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Im ehemals von der innerdeutschen Grenze getrennten Harz treffen noch immer drei Bundesländer aufeinander. Ein im EU-Programm Leader gefördertes Projekt zeigt, wie verschiedene Regionen für eine gemeinsame Sache zusammenkommen können. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Radfahren spielt im Harz bisher höchstens auf ausgewählten Mountainbike-Trails eine Rolle. Dominant sind in dem deutschen Mittelgebirge und seinem Umland der Ski- und Wandertourismus. Wie schafft man in so einer Region Motivation dafür, Radtourismus, Verleih- und Fahrradinfrastruktur zu fördern? Kurz gesagt braucht es einen ganzheitlichen Ansatz, der viele Projektpartner und -träger in einem Ziel gemein macht. „Wir wollten mehr, als ein paar Radwege zu schaffen oder zu beschildern“, beschreibt Mario Wermuth das Projekt Genuss-Bike-Paradies Harz/Braunschweiger Land, das er mitinitiiert hat.
Die Kooperation verbindet insgesamt acht Akteure, die über Regionen, Bundesländer und internationale Grenzen hinweg zusammenwirken und mit einem gemeinsamen Ziel die europäische Leader-Förderung (siehe Kasten auf Seite 68) in Anspruch nahmen. Dabei handelt es sich um drei Leader-Regionen aus Sachsen-Anhalt, drei Leader-Regionen und eine ILE-Region (Integrierte Ländliche Entwicklung) aus Niedersachsen und eine österreichische Leader-Region, das Südburgenland.

Die Grundidee des Genuss-Bike-Paradieses lautet, dass der E-Bike-Tourismus für den Harz und das Braunschweiger Land ein großes ungenutztes Potenzial birgt. Die Touren verbinden kulinarische und kulturelle Highlights mit Ladeinfrastruktur und Gaststätten.

Genuss und Fahrrad kombinieren

Weil das Südburgenland als Partner der gemeinsamen Tourismusmarke E-Bike-Paradies involviert ist, ist die Kooperation transnational. Die Idee, Genuss und Fahrrad miteinander zu kombinieren, wird dort schon länger praktiziert. An einen Austausch-Besuch 2019 erinnert sich Mario Wermuth gut. Unter anderem war die deutsche Delegation auf einem Weingut zu Gast, auf dem der gemeinschaftliche Gedanke spürbar wurde. „Da waren dann auch andere Winzer, die ihren Wein ausgeschenkt haben“, erzählt Wermuth.
Solche Erfahrungen mit dem Aufbau eines „E-Bike-Paradieses“ im Südburgenland sollten auf den Harz übertragen werden. Im Gegenzug ist geplant, die Erfahrungen mit dem Belohnungssystem der Harzer Wandernadel für das E-Bike-Paradies im Südburgenland nutzbar zu machen.
Im Südburgenland tritt der gleichnamige Verein als Projektträger auf. Eine solche Verantwortungsstruktur brauchte es auch in den anderen Regionen. Dafür sind Organisationen unterschiedlicher Art zusammengekommen, etwa der Landkreis Goslar oder die Gemeinde Huy in Sachsen-Anhalt. Für die Leader-Region Harz ist das E-Bike-Verleih-Unternehmen HarzMobil zuständig, das Mario Wermuth gemeinsam mit Alexander Waturandang verantwortet. Sie gaben den ersten Impuls für das regionsübergreifende Vorhaben.
„Mein ursprünglicher Anlass, das Ganze zu machen, war, den Harz als E-Bike-Region bekannt zu machen und alle lokalen Betriebe zusammenzubringen, die am E-Bike-Tourismus interessiert sind“, schildert Wermuth. Eine Erhebung hatte ergeben, dass die durchschnittlichen Tourist*innen durchaus mehrere Übernachtungen in der Region verbringen. Diese Zeit füllen sie mit unterschiedlichen Aktivitäten. Fahrradfahren spielte im Harz gegenüber dem Wandern und Skifahren bisher jedoch eine untergeordnete Rolle, so die Wahrnehmung. Wenn überhaupt, geschehen die Buchungen für Fahrräder spontan und für kurze Dauer. Um neben den anderen Freizeitaktivitäten nicht unterzugehen, müsste man den Harz für E-Bikes aufbereiten, überlegte Alexander Waturandang 2016. Die Idee war sicher nicht völlig selbstlos. Der E-Bike-Verleiher HarzMobil betreibt insgesamt fünf Stationen, Waturandang ist zudem Inhaber des Fahrradladens Bike and Barbecue in Hornburg.

Bike-Paradies bringt lokale Wirtschaft zusammen

Das Genuss-Bike-Paradies umfasst 14 Sterntouren und einen mehrtägigen Rundweg, dessen Etappen zwischen 24 und 65 Kilometern messen. Sie verlaufen auf bereits bestehenden Radwegen und verbinden verschiedene Points, aber auch Service-Punkte und Ladeinfrastruktur. Waturandangs Fahrradgeschäft wurde letztendlich nur über eine Sterntour in das Streckennetz eingefügt. Die Region nördliches Harzvorland, in der Hornburg liegt, ließ sich nicht für das Vorhaben gewinnen.
Fahrradvermieter sind nicht die einzigen Unternehmen, an denen die Routen vorbeiführen. Über die Website www.genuss-bike-paradies.com lassen sich auch Unterkünfte finden. Zudem können Touristinnen über den Reiter Arrangements ganze Leistungspakete buchen. Die Strecken verlaufen entlang diverser Einkehrmöglichkeiten und kultureller Highlights, darunter eine Glasmanufaktur in Derenburg und ein Brauhaus in Quedlinburg. Über die auf Outdoor-active-Karten basierende App können die E-Bikerinnen diese Points of Interest (POI) schnell ausfindig machen und ansteuern.
Als Zielgruppe insbesondere Radfahrende mit elektrischer Unterstützung anzusprechen, mag heute nicht mehr ungewöhnlich erscheinen. Als Wermuth und Waturandang vor rund sechs Jahren anfingen, die Projektidee zu entwickeln, war dieser Ansatz allerdings noch durchaus bemerkenswert. „Da brauchte man etwas Weitblick, um da mitzumachen“, ordnet Waturandang die Anfänge ein. Der offizielle Startschuss des Projekts fiel 2020. Die Formalitäten, die die Leader-Förderung mit sich brachte, bremsten die Geschwindigkeit des Vorhabens. „Wir hätten gerne schon zwei Jahre früher begonnen“, so Wermuth. Ende Juni dieses Jahres ist zumindest die Förderung ausgelaufen und das Entstandene mit einer Abschlussveranstaltung gefeiert worden.

Vereint entgegen dem historischen Trend

Grund zu feiern hatten die Projektpartner auch deshalb, weil die grenzübergreifende Zusammenarbeit für den Harz einen besonderen Wert hat. In der deutschen Raumordnung und Geschichte ist das Mittelgebirge und dessen Vorland etwa durch die ehemalige Grenze zwischen der DDR und der BRD zerrissen worden. Auch heute zeigt beispielhaft der Dreiländerstein südlich von Benneckenstein, dass im Harz die Grenzen zwischen Sachsen-Anhalt, Thüringen und Niedersachsen aufeinandertreffen. Das kann auch Radtourist*innen vor Schwierigkeiten stellen, wenn eine bestimmte Beschilderung beim Überschreiten der Ländergrenze einfach aufhört.
So viele durch den Harz und das Braunschweiger Land verbundene Akteure an einen Tisch zu bringen, brachte dem Vorhaben aber nicht nur Vorteile. Es bedurfte und bedarf einer intensiven Abstimmung, weil die Projektziele der einzelnen Träger sehr individuell sind und erst auf einen Nenner gebracht werden müssen, so ein Learning des Genuss-Bike-Paradieses.
Was zunächst nach viel Koordinationsarbeit klingt, soll am Ende allen Beteiligten einen Skalierungsvorteil bringen, erklärt Waturandang. Nur in einer größeren Gemeinschaft können Projekte wie das im Harz und Braunschweiger Land gut funktionieren. Er zieht den Vergleich zu einem Kneipenviertel. Eine einzelne Kneipe in einer willkürlichen Straße zieht kaum Menschen an. Wenn sich allerdings ein ganzes Viertel entwickelt, in dem es viele Gaststätten gibt, ist die Attraktivität höher. Indem die einzelnen Regionen für das Genuss-Bike-Paradies an einem Strang ziehen, nehmen die Menschen sie von außen als Einheit wahr und sie können besser mit anderen Regionen oder Freizeitaktivitäten konkurrieren.

Pandemie hat dem Projekt nicht geschadet

Fast schon ironisch scheint es da, dass die Projektpartner aufgrund der Pandemie nicht in körperlicher Präsenz zusammenarbeiten konnten. Online-Veranstaltungen, in denen das Projekt vorgestellt wurde, erwiesen sich rückblickend eher als Vorteil und stießen auf großes Interesse seitens der lokalen Unternehmen. Rund 120 interessierte Unternehmen wollen bereits mitwirken, viele von ihnen haben eine entsprechende Vereinbarung schon unterzeichnet. Die Betriebe wurden im Hinblick auf die Bedürfnisse von E-Biker*innen qualifiziert.
Viele Akteure zu vereinen, war im Fall Genuss-Bike-Paradies auch vorteilhaft, weil das Projekt damit einen Grundgedanken des Leader-Programms verfolgte und förderfähig war. Im Rahmen des Förderprogramms verantworteten die einzelnen Träger verschiedene Aufgaben, die externe Dienstleister dann umsetzten. HarzMobil übernahm das Social-Media-Management und entwickelte ein Stempelsystem, das dazu anregen soll, das Genuss-Bike-Paradies möglichst vollumfänglich zu bereisen. Andere Akteure planten etwa die Touren oder entwickelten Marketing- und Vertriebskonzepte.
Ein richtiges Resümee zum Projekterfolg lässt sich noch nicht ziehen, auch wenn erste Vorzeichen gut aussehen. „Wir merken auf jeden Fall, dass immer mehr Leute diese Touren abfahren“, verrät Alexander Waturandang. Vor ein paar Wochen sind auch Broschüren und Karten gedruckt und verteilt worden.

„Wir wollten mehr, als ein paar Radwege zu schaffen oder zu beschildern“

Mario Wermuth, HarzMobil
Die Smartphone-Anwendung fungiert als Schaltzentrale des Genuss-Bike-Paradieses. Dazu gehören auch Kartendaten mit Navigation, deren Grundlage das Kartenportal Outdooractive ist.

Es bleibt viel zu tun

An einer Perspektive, was das Genuss-Bike-Paradies langfristig sein und leisten kann, mangelt es den Verantwortlichen nicht. Die Touren sollen erweitert und neue Arrangements entwickelt werden. Das Marketing fokussiert bereits die nächste Saison, dort soll die E-Bike-Region richtig wirksam werden.
Mit Blick auf die Zukunft und die nun ausgelaufene Förderung müssen die Projektpartner außerdem die Organisationsstruktur auf neue Fundamente stellen. Die Hotels, deren Zimmer und Angebote über die neue Website buchbar sind, nutzen diesen Service bisher kostenlos. In Zukunft sollen sie einen Mitgliedsbeitrag zahlen, als Gegenleistung für die prominente Online-Darstellung. Geplant ist weiterhin, einen Verein zu gründen, in dem sich die Mitgliedsbetriebe dann organisieren können und der die bisher vom Harz-Tourismus-Verband verantwortete Website betreiben soll.
Man müsse solche Projekte einfach angehen, anstatt vor den Formalien zurückzuschrecken, rät Wermuth anderen Regionen. Die Chancen übersteigen schließlich den Aufwand.
Die Projektinitiatorinnen benötigen ein gewisses Durchhaltevermögen, müssen hinter der Idee stehen und auch bereit sein, diese auch nach außen zu repräsentieren. Und die Protagonistinnen sollten, wenn möglich, nicht allein agieren. Die Vorteile der Gemeinschaft scheinen also auf allen Handlungsebenen relevant zu sein. 

LEADER-Programm:

Das Akronym LEADER steht ins Deutsche übersetzt für „Verbindung zwischen Aktionen zur Entwicklung der ländlichen Wirtschaft“. Dabei handelt es sich um ein Maßnahmenprogramm der Europäischen Union, das aus dem Landwirtschaftsfonds ELER finanziert und mit Mitteln der Länder, des Bundes und der Kommunen aufgestockt wird. Dass sich, wie im Falle des Genuss-Bike-Paradieses mehrere Akteure zusammentun, ist Teil des Konzepts, seit es 1991 eingeführt wurde. In den derzeit 321 deutschen LEADER-Regionen des bis Ende 2022 laufenden Förderzeitraums erarbeiten lokale Aktionsgruppen vielfältige Entwicklungskonzepte.

Mehr Infos unter:
https://enrd.ec.europa.eu/leader-clld_de


Bilder: Openstreetmap – Schmidt-Buch-Verlag, L. Weber, DVS

Corona hat auch den Radtourismus gedrosselt, doch im Hintergrund läuft ein solider Boom. Wie machen sich Spezialisten für den Fahrradtourismus der Zukunft fit? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Man kann nicht behaupten, dass Radtouristiker in den vergangenen zwei Jahren leichtes Spiel gehabt hätten. Auch wenn der Fahrradmarkt boomte und die Menschen sich unter Pandemiebedingungen wieder auf das Fahrrad besonnen haben, so war das Geschäft mit Gästen auf Rädern doch ebenso problematisch wie der gesamte Tourismus. Bei der Active Travel AG, besser bekannt für ihre Radsport-Reisemarke Huerzeler, ging es seit März 2020 jedenfalls ans Eingemachte. Politische Maßnahmen, Zurückhaltung bei Reisenden, Unsicherheiten der Pandemie – mehr als ein Jahr lang war die Stimmung schlecht, die Erlöslage kritisch, Kurzarbeit und Räderverkauf waren Mittel der Krise. „Doch seit dem Herbst 2021 erleben wir etwas ganz anderes“, sagt CEO Urs Weiss. Auf den besten Herbst der Unternehmensgeschichte folgte ein Frühjahr 2022, bei dem Huerzeler seine komplette Rennradflotte fast dauerhaft vermietet und auch mit seinem Pauschalreisen-Angebot enorme Kundenzahlen erreicht hat. „Was die Nachfrage aus Deutschland anbelangt, haben wir 2022 sogar unser Rekordjahr 2019 übertroffen“, sagt Weiss. „Die sportiven Reisen nach Mallorca sind so beliebt, dass wir Probleme hatten, genug Räder vorzuhalten.“ Dank guter Beziehungen zum Hersteller Cube konnte Huerzeler trotz der schwierigen Marktlage aber 400 zusätzliche Rennräder und 200 E-Bikes organisieren, um den wiedererstarkten Radtourismus kommerziell umzumünzen.
„Der Radtourismus ist relativ gut davongekommen“, bilanziert Christian Tänzler, der beim Allgemeinen Deutschen Fahrrad Club (ADFC) als ehrenamtlicher Vorstand für Tourismus verantwortlich zeichnet und in seinem Hauptberuf als Sprecher bei visitBerlin arbeitet. Jahr für Jahr stellt der ADFC seine Radreiseanalyse vor, und die Zahlen für 2020 und 2021 dokumentierten einen Rückgang gegenüber den Jahren davor. „Man darf allerdings nicht vergessen, dass der Tourismus in der Pandemie bis Juni 21 durch Lockdowns quasi nicht mehr möglich war“, sagt Tänzler.

Sprunghafte Rückkehr zu neuer Normalität

Schaut man mit diesem Gedanken erneut auf die Zahlen, dann ist ein erheblicher Sprung im Jahr 2022 zu erwarten. „Die Pandemie hat zu einem Bewusstseinswandel geführt, das Fahrrad als Fortbewegungsmittel ist wesentlich interessanter geworden“, sagt Tänzler. Immer stärker verbreitet haben sich E-Bikes auch als hochwertige Räder für längere Strecken, was wiederum die Fantasien der Touristiker mit Blick auf zahlungskräftige Kundschaft beschwingt, die auch mal ein paar Kilometer mehr pro Tag zurücklegen und auf ihren Reisen so noch mehr erleben können. Radtourismus, sagt Tänzler, ist auch für die Anbieter rundum attraktiv geworden. Fünf-Sterne-Hotels zeigten sich fahrradfreundlich, Radfahren habe ein positives, umweltfreundliches Image und für immer mehr Menschen gehört das Fahrrad zum Lifestyle. Gute Bedingungen also für langfristiges Wachstum, wenn Kommunen investieren, personelle Ressourcen für die Planung aufbauen und die Infrastruktur für die Radler verbessern.
Ein Aspekt, den ADFC-Tourismusvorstand Christian Tänzler betont, ist der relevante Anteil von Tages- oder Kurz-Trips in der Gesamtzahl der Bewegungen in einer Fahrraddestination. „In der Pandemie hat es einen klaren Trend zu Microadventures gegeben, zu kleinen Ausflüchten ins Umland, bei denen die Menschen positive Impulse für ihre Gesundheit und ihr Seelenheil suchen“, sagt Tänzler. Diese Kundinnen sind für touristische Destinationen von hoher Bedeutung, sie bringen Umsatz beispielsweise für die Gastronomie und sind ein Gradmesser, ob eine Destination attraktiv für Radtouristinnen und -touristen ist und weiteres Potenzial hat.

„Diese konstante Erneuerung und Bereitschaft, Überliefertes abzulösen, ist für eine touristische Destination sehr wichtig“

Tilman Sobek, absolutGPS

Eine gute Tourismusdestination bietet für verschiedene Zielgruppen ein reichhaltiges Anbebot, das über eine abwechslungsreiche Streckenführung hinausreicht. Keine leichte Aufgabe.


Für Tilman Sobek, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens absolutGPS aus Leipzig, ist der Blick auf diese oft unterschätzte Zielgruppe nicht neu. In manchen Regionen mache der Anteil der Tagesausflügler mehr als die Hälfte der Kundschaft aus, aber auch in ausgeprägten Radtourismusgebieten mit starkem Fernverkehr seien es meist 15 bis 30 Prozent. Auch die ADFC-Daten zeigen, dass immerhin 14,2 Prozent der Radreisenden nur drei Nächte oder weniger reisen. Für eine touristische Destination sei dieses Publikum allerdings nicht nur Beifang: „Wie überzeugen Sie die Gäste aus der Nähe, dass sie neugierig auf eine meist vertraute Region werden oder noch einmal hinfahren?“, formuliert es Sobek.
Für Akteure im Radtourismus ergibt sich daraus ein Zwang zur Innovation, sagt Sobek. „Sie brauchen konstant neue Anstriche, das ist wie bei den erfolgreichen Betriebssystemen von Apple oder Google.“ Damit eine Destination attraktiv in der Wahrnehmung bleibt, müssten die Verantwortlichen trotz aller Eingebundenheit ins Tagesgeschäft bereit sein, jedes Jahr etwa 10 bis 20 Prozent ihres Angebots zu überarbeiten. Das kann das Foto- oder Videomaterial sein, die Präsenz in sozialen Medien oder eben auch die Arbeit am Kern der touristischen Streckenangebote. „Diese konstante Erneuerung und Bereitschaft, Überliefertes abzulösen, ist für eine touristische Destination sehr wichtig“, beobachtet Sobek.

Konstante Weiterentwicklung gehört zwingend dazu

Diese Notwendigkeit zur dauerhaften Evolution kennt Petra Wegener nur zu gut. Wegener ist Geschäftsführerin des Weserbergland Tourismus e. V. in Hameln und verantwortlich für die beliebteste Radroute Deutschlands, den Weser-Radweg. Er rangiert in der ADFC-Radreiseanalyse mit 13,9 Prozent der Reisenden noch vor Elberadweg und Main-Radweg als meistbefahrener Radfernweg des Landes.
Allerdings war es ein gehöriger Niedergang, der dem heutigen Triumph vorausging. Schon früh gab es zwar für damalige Verhältnisse ordentliche Wege entlang der Weser, schon in den Achtzigern war damit zunächst zwischen Höxter und Holzminden und später dann bis zur Nordsee eine Radroute erschaffen. „Man hielt das allerdings für einen Selbstläufer und investierte nichts mehr in die Infrastruktur und das Angebot“, erinnert sich Wegener. Erst 2008/9 gingen die Touristiker mit externer Beratung die Renovierung des Angebots an. „Es hat insgesamt etwa zehn Jahre gedauert, bis wir das heutige attraktive Angebot erfahrbar gemacht haben“, sagt Wegener und macht keinen Hehl daraus, dass diese Zeit für sie als Touristikerin sehr mühevoll war. Schließlich muss sich ihr Verein für den Weser-Radweg mit 16 Landkreisen und den darin liegenden Kommunen arrangieren, um das Produkt als Ganzes nach vorne zu bringen. Heute ist ihr Verein für die Gestaltung und das Marketing des Weser-Radwegs zentral zuständig, finanziert von nur vier Landkreisen und den angeschlossenen Städten und Gemeinden, aber zum Wohle der gesamten Strecke zwischen Mittelgebirge und Küste aktiv. „Wir müssen die Menschen immer wieder dazu bringen, dass sie das Gesamtbild der touristischen Route sehen“, sagt Wegener. Früher habe jeder nur an seinem Teilstück gearbeitet. Doch so habe kein orchestriertes, für Gäste attraktives Gesamtpaket entstehen können. Inzwischen hat man, auch dank Millionenförderungen aus EU-Mitteln, die Infrastruktur auf der gesamten Strecke verbessert und die Qualität des touristischen Angebots in einer eta­blierten Reiseregion mit Blick auf die Radfahrenden deutlich angehoben. Wegener hat hierfür mit dem ADFC zusammengearbeitet und die Strecke von den Experten des Verbands prüfen lassen. Anfangs war die Qualität sowohl der Wege als auch der touristischen Angebote zu gering, um in die Zertifizierung zu gehen – inzwischen verweist Wegener mit Stolz auf die vier Sterne für die ADFC-Qualitätsradroute.
Spricht man mit Wegener, dann wird schnell klar: Der Weser-Radweg ist nicht nur eine Route, an der Hotels und Biergärten stehen. Er ist ein touristisches Paket, das als solches erkennbar wird. Der Weser-Radweg bietet ein Erlebnis, nämlich die Tour von den Höhenzügen bis ans Meer, und zudem eine pittoreske Kulisse mit Schlössern, Burgen und weiteren Sehenswürdigkeiten in enger Taktung. „Wir wissen um diesen Kern und steigen deswegen nicht auf jeden kurzfristigen Trend ein“, sagt Wegener. Was allerdings keine Abwehrhaltung gegen Neuerungen bedeutet, im Gegenteil: Mit E-Bike-Tourismus hat man sich in Hameln schon früh beschäftigt, inzwischen ist eine klare Verjüngung der Zielgruppen auf dem Radweg zu sehen. „Corona hat das Verhalten der Menschen sehr verändert“, sagt Wegener, und so muss sich ihr Verein nun auf Marketing in neuen Kanälen einstellen: Onlinemarketing ist für sie sehr wichtig, Instagram ein zunehmend bedeutsamer Kanal, der Radweg hat sogar eine eigene App. „Im Zuge dieser Weiterentwicklung geht es auch stärker darum, die Nachhaltigkeit des Reiseangebots zum Thema zu machen und auch in unserer touristischen Arbeit den Klimawandel in den Blick zu nehmen“, sagt Wegener.

Die aktuelle ADFC-Radreiseanalyse zeigt die derzeit beliebtesten Fernradwege von Radreisenden.

Perspektivwechsel und mehr Investitionen gefragt

Geht es nach Tanja Brunnhuber, dann gibt es beim Radtourismus gerade in Deutschland noch viel zu tun. „Es hakt bei der Investitionsbereitschaft der kommunalen Politik, es hakt aber oft auch noch beim Thema fahrradfreundliche Betriebe“, sagt die Gründerin des Beratungsunternehmens Destination to Market. Ihr Kernargument: Wer mit Radreisenden Erfolg haben wolle, müsse die Perspektive wechseln. „Häufig denken die Touristiker noch angebotsorientiert, nicht nachfrageorientiert“, sagt Brunnhuber. Der Perspektivenwechsel bedeute, nicht Übernachtungsmöglichkeiten und Gaststätten zusammenzusammeln, sondern aus Sicht von Radurlaubern auf eine Region zu schauen, eben „nutzerorientiert denken“, wie es heutzutage heißt. Und das funktioniert aus ihrer Sicht nur, wenn der Radtourismus als Inszenierung funktioniert, wenn die empfohlene Kirche geöffnet, gute Abstellmöglichkeiten vorhanden und die Beschilderung radfahrfreundlich ausfalle. „Ganz weit vorne sind hier österreichische Gebiete, etwa Kärnten, wo Radtouristinnen und -touristen Pakete in rundum guter Qualität vorfinden.“ Es gehe darum, sagt Brunnhuber, dass die Inszenierung auch zur Region passe. Sie hat gerade mitgewirkt an einem Konzept, das jetzt in der Zugspitz-Region/Tourismusregion Pfaffenwinkel umgesetzt wird. „Wenn Sie ein touristisches Produkt entwerfen und im Rahmen eines Beteiligungsprozesses bis zu 50 Kommunen, den Naturschutz sowie unzählige private Eigentümer berücksichtigen müssen, bedeutet das auch Einschränkungen für die Möglichkeiten“, sagt Brunnhuber. So richten sich die Touristiker künftig verstärkt an Tourenfahrer, Rennradlerinnen und explizit auch an Gravelbiker. „Nach unseren Analysen sind gerade Gravelbiker für den Tourismus eine lukrative Zielgruppe, die touristischen Umsatz versprechen und zugleich nicht allzu hohe Anforderungen an die Infrastruktur mit sich bringen“, erklärt Brunnhuber.
Dass es nötig wird, mehr Mühe in die Produktentwicklung und die radtouristischen Pakete zu stecken, unterschreibt auch Berater Sobek von absolutGPS. Etwa 200 Destinationen gebe es heute in Deutschland, die um Radtouristinnen und -touristen werben, die Zahl habe sich in relativ kurzer Zeit verdoppelt, „da sehe ich schon einen Boom.“ In diesem Markt reiche es nicht, einfach als weiterer Anbieter für Radtourismus aufzutreten, sondern es gehe um das zielgenaue Schaffen von Touren, die zur Region passen. Sobek hält das Ruhrgebiet für ein sehr gutes Beispiel. Dort habe man sich erst später auf Velotouristen konzentriert, dann aber thematisch passende Erlebnisse geschaffen. „Und es gibt fünf Mitarbeitende, die sich um das Thema kümmern und die touristischen Produkte weiterentwickeln.“ Doch bei aller Konzentration auf qualitätsorientierte Reisende sieht Sobek im Fahrradmarkt noch ein weiteres Thema: Nicht in allen 16 Bundesländern werde es funktionieren, wenn sich die Tourismusvermarktung künftig nur auf die hochpreisigen Segmente konzentriert. Auch für preissensiblere Kundschaft müsse man weiter Angebote schaffen, denn ansonsten würden diese Zielgruppen in günstigere Nachbarregionen fahren und damit potenziellen Umsatz mitnehmen.
Klar festzustellen ist, dass die Kommunikation und das Marketing für die Radtouristiker zu immer komplexeren Aufgaben werden. Es reicht nicht, Schilder aufzustellen, Karten und Broschüren zu drucken und Tageszeitungen anzusprechen. Es geht darum, verschiedene Zielgruppen an unterschiedlichen digitalen Orten zu erreichen und dann an die eigene Destination zu binden. Dafür sind auch die Präsenzen der Urlaubsgebiete auf digitalen Navigationsangeboten immer wichtiger, beispielsweise im Angebot von Komoot. Laut ADFC-Radreiseanalyse ist dies die meistgenutzte App der Radreisenden in Deutschland. Mehrere Hundert Tourismusanbieter sind laut Komoot bereits auf der Plattform und werben dort für ihre Destinationen. Als Anbieter braucht man für ein Profil auf Komoot nichts zu bezahlen, kann aber die Reichweite über bezahlte Werbung steigern. „Erster zahlender Kunde waren übrigens die Bikehotels Südtirol, die 2016 für den Bike-Frühling in ihrer Region warben und heute 20.000 Follower auf Komoot haben“, berichtet Jördis Hille, Senior B2B Communications Manager bei Komoot. Das Unternehmen bietet Schulungen an, damit die Touristiker lernen, in dieser digitalen Welt ihre Destinationen zielgenau zu präsentieren.

„Häufig denken die Touristiker noch angebotsorientiert, nicht nachfrageorientiert.“

Tanja Brunnhuber, Destination to Market

Jüngere Radreisende mit höheren Ansprüchen

Erheblich ins Erscheinungsbild investiert hat man auch bei Mallorca-Radreise-Spezialist Huerzeler. Der Anbieter hat nun eine eigene App, macht Storytelling statt nüchterner Kataloge und hat ein Buchungsportal aufgezogen, in dem Rad, Hotel und Flug auf einmal gebucht werden können. Man hat also die Grundlagen für weiteres Wachstum gelegt, sagt CEO Urs Weiss. Dabei haben seine Leute in den vergangenen Monaten einen interessanten Trend bemerkt: Die Touristinnen und Touristen, die zum Rennradfahren beim Traditionsunternehmen kommen, sind inzwischen häufig deutlich jünger. „Unsere Stammgäste der Altersgruppe 50+ kommen nach wie vor, aber ganz neu sind Leute im Alter von 30 oder 40 Jahren“, berichtet Weiss. Die Kunden und Kundinnen sind auch anspruchsvoller. Sie ordern eher die teuersten Räder, sie zahlen mehr. Für den Touristiker ist das an sich eine gute Nachricht, allerdings wird das bei den Hotels künftig zu anderen Kalkulationen führen. Denn traditionell schliefen die Radsporttouristen zu zweit in einem Zimmer, inzwischen geht der Trend zur Einzelbelegung. In der nachwachsenden Zielgruppe scheint die Preisempfindlichkeit sehr viel geringer zu sein. „Dafür achten sie wesentlich mehr aufs Erscheinungsbild“, sagt CEO Urs Weiss. Er kündigt deshalb schon mal an, für diese Zielgruppe modernere Accessoires anzubieten.


Bilder: foto@bopicture.de, Tanja Brunnhuber, Weserbergland Tourismus e.V., ADFC Radreiseanalyse 2022

Die diesjährige Radreiseanalyse des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) zeigt, dass die Deutschen nach dem fahrradtouristisch schwachen Jahr 2020 wieder mehr unterwegs waren. In mancher Hinsicht wurde sogar das Vor-Corona-Niveau überboten. Aber auch die kleinen Details liefern aufschlussreiche Erkenntnisse. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Knapp 42 Millionen Bürger*innen unternahmen 2021 mindestens einen Tagesausflug mit dem Rad. Im Vergleich mit dem Vorjahr sind das elf Millionen Personen mehr. Auch das Jahr 2019 wurde im Hinblick auf Tagesausflüge damit deutlich übertroffen. Ein anderes Ergebnis zeigt sich bei den Radreisen, für die der ADFC definiert hat, dass sie mindestens drei Übernachtungen umfassen und das Fahrradfahren eines der Hauptmotive ist. Hierunter fallen Urlaube von rund vier Millionen Deutschen, etwa anderthalb Millionen weniger als vor der Pandemie, aber immerhin knapp eine halbe Million mehr als im Jahr 2020.
Die Daten erhob der ADFC von November 2021 bis Januar 2022 mit Online-Befragungen. Insgesamt wurden über 10.000 auswertbare Fragebögen ausgefüllt. Zwei geschlossene Umfragen ergaben bundesweit repräsentative Datensätze, die zeigen, wie die Deutschen ihre Fahrräder nutzen und wie groß der Anteil jener ist, die Radreisen oder Tagesausflüge damit machen. Letztere Gruppe untersuchte der ADFC in einer offenen Umfrage detaillierter.
Die Ergebnisse zeigen einige Entwicklungen unter den Radreisenden auf. Diese zogen im letzten Jahr den Spätsommer als Reisezeitraum vor. Die Reisenden waren im Durchschnitt 53 Jahre alt und damit zwei Jahre jünger als im Vorjahr. Rund drei Viertel waren zwischen 25 und 64 Jahren alt. In den zwei Altersgruppen in diesem Bereich gab es Zuwächse, während vor allem die Über-65-Jährigen deutlich weniger als Radreisende gezählt wurden. Der Anteil der ältesten Gruppe ging um 16 Prozent zurück. Auch die 18- bis 24-Jährigen bildeten statt sechs Prozent im Jahr 2021 nur noch 2,6 Prozent der Gesamtgruppe der Radreisenden. An anderer Stelle gab es kaum Veränderung. Rund drei Fünftel der Radreisenden waren 2021 männlich.

Guten Freunden empfiehlt man eine Radtour

Wer eine Fahrradreise unternimmt, muss erst mal wissen, wohin es gehen soll. Dabei vertrauen die Deutschen mit einem Anteil von 38 Prozent vor allem Empfehlungen von Freund*innen. Auch durch Medienberichte in Magazinen und Zeitschriften und die Websites der Tourismusregionen selbst lassen sich mehr als ein Fünftel der Radreisenden Laune machen. Tourenportale wie Komoot und Outdooractive spielen an vierter Stelle für 18 Prozent der Reisenden eine Rolle.
Der Trend, welche Informationsquellen die Reisenden heranziehen, geht in Richtung digitaler Quellen. Der Verkauf gedruckter Radkarten ging, verglichen mit dem Vorjahr, minimal zurück. Reiseführer spielen im Vorfeld der Reise eine gleichbleibende Rolle, auf der Reise selbst verließen sich aber sechs Prozent weniger, nämlich knapp 27 Prozent auf sie. Stattdessen recherchieren im Vorfeld der Reise mit 82 Prozent noch mal sechs Prozent mehr Menschen im Internet. Auf der Reise selbst nutzen elf Prozent mehr, rund 58 Prozent, die Internetrecherche. Auch Apps auf dem Smartphone, dem Tablet oder der Smartwatch haben als Informationsquelle deutlich zugelegt.
Für die Wahl der tatsächlichen Route ist für Tagesausflügler besonders wichtig, dass diese gut befahrbar ist und Verkehrssicherheit, zum Beispiel durch separate, verkehrsarme Radwege, besteht. Erst in zweiter Instanz spielen Attraktionen entlang der Strecke eine Rolle. Für mehrtägige Radreisen sind die Sehenswürdigkeiten der wichtigste Ansatzpunkt, wenn geplant wird.

42 %

der Radreisenden nutzten 2021 Fahrräder
mit elektrischer Unterstützung.
Damit stieg die Quote verglichen
mit dem Vorjahr um ganze zehn Prozent.
Ein gut befahrbarer Weg, der zudem von anderen Verkehrsmitteln separiert und verkehrsarm ist. Das waren 2021 die Hauptauswahlkriterien, mit denen Tagesausflügler ihre genauen Routen planten. Erst danach wurden die Attraktionen an der Strecke genannt.

Niedersachsen bestätigt die Regel

Und wofür entscheiden sie sich? Niedersachsen konnte Bayern als meistbereistes Bundesland im Jahr 2021 den Rang ablaufen. Hier machten fast 30 Prozent der Radreisenden Urlaub. Damit ist Niedersachsen das einzige Bundesland, das 2021 von einem größeren Teil der Radfahrerinnen besucht wurde. Bei allen anderen Bundesländern gingen die Anteile relativ zum Vorjahr zurück. Nach Bayern fuhren rund 25 Prozent, was im Vergleich zu 2020 eine Differenz von neun Prozent ergibt, und Nordrhein-Westfalen wurde von etwa 21 Prozent der Radreisenden, also etwa fünf Prozent weniger besucht. Auch die am öftesten angefahrene Region des Reisejahres lag in Niedersachsen. 8,5 Prozent derjenigen, die mit dem Rad unterwegs waren, fuhren in die Region Osnabrücker Land/Emsland/Grafschaft Bentheim. Die beliebtesten Radrouten waren wie 2020 der Weser- und Elberadweg, wobei die Weser-Strecke in diesem Jahr am öftesten gefahren wurde. Auch die Radwege am Main und an den Ostseeküsten waren Publikumsmagneten. Mit den befahrenen Radfernwegen waren die Radlerinnen weitgehend zufrieden. Die zehn meistbefahrenen Routen wurde mit Ausnahme des Ostseeküstenradwegs (Note 1,9) mit Noten zwischen 1,5 und 1,7 bewertet.
Außerhalb Deutschlands locken Österreich und Italien mit 36 und 33 Prozent die meisten deutschen Radfahrer*innen auf ihre Straßen und Wege. Mit deutlich geringeren Anteilen von etwa 14 und 11 Prozent folgen Frankreich und die Niederlande im Vergleich zur letztjährigen ADFC-Analyse diesmal in umgekehrter Rangfolge.
Die wenigsten Radreisenden fuhren einfach an ihrem Wohnort mit dem Fahrrad los. Der Normalfall war im letzten Jahr die Anreise mit einem anderen Verkehrsmittel. Rund 41 Prozent unternahmen die An- und Abreise mit dem Pkw. Etwa 35 Prozent kamen mit der Bahn an und ungefähr 33 Prozent nutzten die Bahn auch für die Heimreise. 42 Prozent derer, die öffentliche Verkehrsmittel genutzt hatten, empfanden die Anreise nicht als problemlos. Fast zwei Drittel dieser Menschen bemängelten, dass Kapazitäten zum Fahrradtransport fehlen. Die Hälfte kritisierte fahrradunfreundliche Bahnhöfe und für 45 Prozent waren unkomfortable Fahrradstellplätze ein Störfaktor in ihrem Reiseerlebnis.

30 Prozent der Radreisenden machten 2021 Touren in Niedersachsen. Die beliebtesten Routen an Weser und Elbe dürften dazu beigetragen haben.

Neue Räder auf dem Radweg

Als Hauptverkehrsmittel der Radreise dürften viele im letzten Jahr mit einem anderen Rad unterwegs gewesen sein als im Jahr zuvor. Laut der ADFC-Umfrage haben sich 24 Prozent der Befragten, fast doppelt so viele wie im Vorjahr, 2021 ein neues Fahrrad zugelegt. In Anbetracht dessen, dass der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) von 4,7 Millionen verkauften Fahrrädern und E-Bikes im letzten Jahr ausgeht, dürfte sich der hohe Anteil lediglich durch viele Gebrauchtkäufe erklären lassen. Knapp die Hälfte der laut ADFC neuen Räder haben einen Elektroantrieb, wodurch sich die hohe Pedelec-Quote unter den Radreisenden erklären lässt. Diese lag mit 42 Prozent ganze zehn Prozent über dem 2020er-Wert. Die Motivation dafür, sich elektrische Unterstützung zu nehmen, kommt vor allem daher, dass die Pedelecs weitere Strecken ermöglichen, wie fast 73 Prozent der Befragten angaben. Gut die Hälfte der Menschen nutzt Elektrofahrräder, um auch anspruchsvollere und hügeligere Regionen besuchen zu können. An dritter Stelle nannten die Teilnehmerinnen der Studie, dass die motorisierten Fahr-räder Leistungsunterschiede aus-gleichen und so einen gemeinsamen Urlaub mit Partnerinnen oder Freund*innen ermöglichen.
Auch bei den Fahrradtypen, mit denen die Reisenden unterwegs sind, hat sich einiges verändert. Als neue Kategorie hat der Verband Gravel- und Cargobikes mit in die Befragung aufgenommen. Während die Lastenräder mit 0,3 Prozent bei einem geringen Anteil blieben, kommen Gravelbikes bereits auf fast fünf Prozent. Mit 17 Prozent nutzten sechs Prozent mehr Menschen Stadträder für ihre Reisen. Abgenommen hat der Anteil der Trekkingräder, die aber immer noch von der größten Gruppe genutzt werden. Der Prozentsatz schrumpfte von 64 auf knapp 58 Prozent.
Wie sich das Verhalten der Radreisenden in diesem Jahr entwickelt, bleibt abzuwarten. Abreißen dürfte das Interesse aber eher nicht. Mit knapp 70 Prozent hat ein ähnlich großer Anteil wie 2020 sich vorgenommen, auch in diesem Jahr wieder eine Radreise zu unternehmen.


Bilder: Stefan Kuhn Photography, Radreise – ADFC, ADFC Radreiseanalyse 2022

Mit der technischen Revolution beim Fahrrad und E-Bike und Veränderungen im Tourismus rückt die Frage nach den eigentlichen Bedürfnissen der Menschen und neuen Zielgruppen in den Vordergrund. Design-Thinking-Ansätze und der Blick aus weiblicher Perspektiven zeigen enorme, bislang noch vielfach ungenutzte Potenziale. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Nicht jeder beschäftigt sich im Tourismus gleichermaßen intensiv mit dem Thema Fahrrad und ist mit den rasanten Veränderungen vertraut. Aus fachlicher Sicht fällt das am ehesten auf, wenn in Pressemitteilungen und auf Websites allzu schablonenhafte Bilder benutzt, E-Bikes pauschal dem Thema Genussradfahren zugeordnet werden oder im Sprachgebrauch immer mal wieder vom Urlaub auf dem „Drahtesel“ die Rede ist.

Revolution durchs E-Bike

„E-Mobilität bietet neue Möglichkeiten und vollkommen neue Erlebnisse: lautlose, selbstfahrende Autos. Bikes, mit denen man mühelos Berge erklimmen kann. Es ist die Faszination einer neuen Technologie, die unsere bekannte Welt auf den Kopf stellt“, schreibt Robin Schmitt, Chefredakteur des Magazins E-Mountainbike und mit 30 Jahren Vertreter einer neuen Generation. Zusammen mit seinem Bruder Max-Phillip hat er zu Beginn der E-Bike-Revolution ein urbanes Lifestyle- und E-Bike-Magazin gegründet. Heute hat sich das von der Oma gestiftete Kapital für das Verlags-Startup ausgezahlt und Vater Manfred begleitet seine Söhne nicht nur bei ihren Touren, sondern auch im Geschäft. Die Mehrgenerationen-Geschichte ist ein Beispiel dafür, wie sehr das E-Bike Menschen und Familien zusammenbringen und auch das Wertegerüst mit neuen Koordinaten versehen kann. „Sind Statussymbole überhaupt noch zeitgemäß?“, fragt Robin Schmitt und setzt Freiheit, Entdeckergeist und die neue Möglichkeit, mehr Qualitätszeit mit Menschen zu verbringen, dagegen. „Stell dir vor, du könntest frei entscheiden, mit wem du wohin und wie intensiv fahren möchtest – ungeachtet der körperlichen Fitness und des Alters. Auf einmal musst du nicht mehr mit gleichstarken Schicksalsgefährten fahren, sondern kannst mit deinen Allerliebsten den Gipfel stürmen.“ Das, was er zusammen mit Vater, Bruder, Partnerin, Freunden, Hund und weiteren Weggefährten erlebt, können auch viele andere nachvollziehen. Für sie erschließen sich dank neuer Produkte und Angebote völlig neue Möglichkeiten.

„E-Mountainbiken bringt Generationen zusammen, eröffnet neue Perspektiven und kann vor allem eins: glücklich machen!“

Robin Schmitt, E-Mountainbike Magazin

Fundamental verändert: Bedürfnisse und Zielgruppen

E-Mountainbikes geben nach Robin Schmitt die Möglichkeit und die Kraft, sich dem stressigen Alltag für kurze Zeit zu entziehen. „Sie führen uns raus in die Natur, fördern unseren Spieltrieb und Entdeckergeist und ermöglichen zusammen mit anderen echte Glücksmomente.“ Mit den tieferen menschlichen Bedürfnissen und neuen Konzepten für die Bike-, Outdoor- und Tourismusbranche beschäftigt sich Anna Weiß in der Beratung. Der Design-Thinking-Ansatz, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt, ist für die Mitgründerin eines Special-Interest-Verlags, Co-Founderin des Frauen-Netzwerks Bloomers Outdoors und Gründerin des European Womenʹs Outdoor Summit Basishandwerk. Aus der Beschäftigung mit dem Schwerpunktthema Frauen wuchs die nähere Analyse der spezifischen Bedürfnisse und den sich verändernden Zielgruppen. „Zahlen sind immer wichtig für Entscheidungen. Genauso wichtig sind aber auch Beobachtungen der Gesellschaft. Was passiert hier gerade und wo geht es hin?“ Wichtig sind für sie mit Blick auf den Einzelnen vor allem die unterschiedlichen und gleichzeitigen Rollen, die sich zudem stetig veränderten. Zum Beispiel in der Familie, als Partner oder Elternteil, durch den Beruf und auch die jeweilige Lebenssituation, etwa wenn die Kinder selbstständig werden, oder als Single.

Beobachtung und Evaluation

Auf diesen Erkenntnissen aufbauend könne man dann spezifische Angebote und Produkte entwickeln und in der Kommunikation vor allem über Social Media gezielt platzieren und für eine qualitative Verbreitung sorgen. Die meisten Regionen hätten bislang noch gar nicht auf dem Schirm, welche unterschiedlichen Nutzergruppen es eigentlich gibt. Beispiele für neue Nischen und die gezielte Kundenansprache fänden sich aktuell beispielsweise bei Trekking-Zeltplätzen im Wald, die vor allem von Vätern mit ihren Söhnen schier überrannt würden, oder auch Jungesellen- und Junggesellinnen-Abschiede, bei denen es nicht um Party ginge, sondern um das gemeinsame Erlebnis in der Natur. „Was nicht passiert, ist der Transfer“, meint Anna Weiß. „Wichtig ist es nicht nur, Daten zu sammeln und zu evaluieren, sondern immer auch zu überlegen, welche Angebote und Pakete kann ich entwickeln.“

Schnelle Veränderungen und starke Differenzierung

Nach den Erfahrungen von Anna Weiß sind die Regionen auf die rasanten Veränderungen im Radtourismus sehr unterschiedlich eingestellt. „Meist geht der Blick auf die Zahlen. Aber die sagen nichts über Bedürfnisse aus und sind immer ein Blick in die Vergangenheit und nie in die Zukunft.“ Entscheidend sei auch die Aufgeschlossenheit der Verantwortlichen, sich intensiver mit den Themen zu befassen. Hier hapere es oft. So würden E-Bikes zwar überall in den Blick genommen, allerdings nach wie vor meist in Verbindung mit Trekkingbikes, Genusstouren und der Zielgruppe Ü50. Die Realität sieht allerdings ganz anders aus. Auch die über 50-Jährigen werden laut Anna Weiß vielfach gänzlich falsch eingeschätzt. „Gerade in dieser Generation finden wir oft die Zähen und Sportlichen. Dazu kommt, dass diese Gruppe mit Blick auf die Ressourcen Zeit und Geld von allen die potenteste ist.“ Sie seien auch nicht ständig mit einem Partner oder einer Partnerin unterwegs, sondern würden sich oft gerne Gruppen anschließen. Die wachsende Gruppe der Singles sei beispielsweise sehr offen für Kurse oder geführte Touren, wo sie mit anderen mit einem ähnlichen Mindset in der Gruppe zusammenkämen. Auch das Alter spiele dabei eine eher untergeordnete Rolle: „Ein 50-Jähriger kann hier einer Mitte 20-Jährigen sehr ähnlich sein.“

Passive Frauen? Alte Bilder bestehen fort

Statt einer differenzierten Betrachtung begegnen Anna Weiß oft längst überholte Schablonen – vor allem in Bezug auf Frauen: „Das Bild der Frau im Radtourismus ist vielfach haarsträubend“, so die bestens vernetzte Expertin. Oft würden sie in Analysen „ganz am Schluss, nach der Ausdifferenzierung der Zielgruppen pauschal als homogene Nutzergruppe in einen Topf geworfen. Dabei seien die Aktivitäten von Frauen extrem vielfältig und Frauen für den Tourismus insgesamt hochattraktiv. Studien zufolge seien Frauen neben Senioren die Haupttreiber der Entwicklung, dass immer mehr Sport gemacht wird. „Sie finden sich überall und sind übrigens die am schnellsten wachsende Gruppe in den Alpenvereinen im DACH-Raum.“

„In den Städten und Kommunen sollten überall Pumptracks und kleinere Dirtparks entstehen, um die Jugendlichen nach draußen und zum Sport zu ziehen.“

Janet Weick, mythos-ebike.de

„Mythos E-Bike“

Kaum eine Frau hat sich in den letzten Jahren so intensiv mit dem Thema E-Mountainbike in der Praxis beschäftigt wie Janet Weick aus Backnang bei Stuttgart mit ihrem Blog „Mythos E-Bike“. Ein Hauptauslöser für den Blog war für die junge, sportlich durchtrainierte und Mountainbike-begeisterte Mutter eine ihrer ersten E-MTB Ausfahrten Ende 2016. „Mir wurde hinterhergerufen weshalb ich jetzt mit dem E-Bike bescheißen würde, ich sei doch noch nicht alt und fett.“ In ihrem vielfach prämierten Blog setzt sich die berufstätige Mutter, die in ihrer Freizeit zusammen mit ihrem Mann und dem inzwischen ebenfalls Mountainbike- und naturbegeisterten Sohn Nino in unterschiedlichsten Destinationen unterwegs ist, kritisch mit Vorurteilen auseinander. Neben dem Ziel, die Akzeptanz zu erhöhen, ging es ihr aber auch immer um den Selbsttest: Wie kann man auf dem Bike als Familie mit einem kleinen Kind in der Natur unterwegs sein? Wie mit einem älteren? Wie lernen Kinder begeistert und spielerisch, mit dem Sportgerät umzugehen? Welche Destinationen sind nicht nur Mountainbike-freundlich, sondern bieten auch Angebote und die nötige Infrastruktur für Familien und Kinder? „Die Vorurteile haben sich seit dem Beginn meines Blogs Ende 2016 Gott sei Dank immer mehr gewandelt“, sagt Janet Weick. Es gäbe aber weiterhin einen riesigen Informationsbedarf und große Potenziale. „In meinem Umfeld, auf unseren Touren und über meinen Blog werde ich immer wieder auf das Thema Biken mit Kindern angesprochen. Und das Interesse wächst.“

Mehr Gemeinsamkeit, mehr Naturverbindung

Die Motorunterstützung hat auch ihr und ihrer Familie ganz neue Perspektiven eröffnet: „Gerade für mich als Frau kann das E-Bike super die Leistungsunterschiede ausgleichen, die von Natur aus gegeben sind, sodass ich gesünder trainieren kann und oben am Berg eben nicht mit knallrotem Kopf fast vom Bike falle, nur weil ich versuche, mit einer starken Männergruppe mitzuhalten.“ Ideal ist das E-Bike auch als Zugmaschine für Kinder im Anhänger, mit sogenannten Nachläufern oder auch für die Kinder selbst. Die Industrie bietet inzwischen nicht nur hochwertige und besonders leichte Mountainbikes für Kinder, sondern rüstet sie auch mit leichten Motoren und Akkus aus. Damit werden die Potenziale auf ein neues Level gehoben. Als Motiv steht für Janet Weick und ihre Familie neben der sportlichen Aktivität vor allem die Verbundenheit mit der Natur im Vordergrund. „Wir schärfen mit unserem Sohn Nino unterwegs den Blick für Pflanzen am Wegrand, Tiere, die Schönheit der Natur und erinnern ihn an die Vergänglichkeit der Gletscher, wenn wir bei Touren daran vorbeiradeln. Und ich nehme sehr positiv wahr, dass das den meisten Bike-Familien genauso geht.“

Politik und Verwaltung gefordert

Für die Zukunft wünscht sich Janet Weick die schnelle Abschaffung des Mountainbike-Verbots auf Wegen unter zwei Metern in ihrer Heimat Baden-Württemberg, die sie immer wieder mit der Familie zu längeren Fahrten mit dem Auto in andere Regionen zwingt, die Integration von Mountainbiken in den Schulsport und vor allem mehr Angebote vor Ort für Kinder. „In den Städten und Kommunen sollten zur Schulung von Koordination, Balance und Beweglichkeit überall Pumptracks und kleinere Dirtparks entstehen, um die Jugendlichen nach draußen zu ziehen und den Fokus auf den Sport zu lenken – weg von der Spielekonsole und dem Smart-phone.“

Top-Empfehlungen für E-Mountainbike-Familien

von Janet Weick, mythos-ebike.de

Arosa Lenzerheide
Kanton Graubünden, Schweiz

Engadin
Kanton Graubünden, Schweiz

Saalbach-Hinterglemm
Salzbuger Land, Österreich

Sölden
Tirol, Österreich


Bilder: Andreas Meyer, Janet Weick – privat

Mecklenburg-Vorpommern war jahrelang eine der führenden Radreisedestinationen Deutschlands. Allerdings haben das Land und die Kommunen die Pflege der Radfernwege vernachlässigt. Sie müssen saniert werden. Das ist kostspielig, birgt aber große Chancen für die Tourismusförderung und den Alltagsradverkehr. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Die Ostseeküste ist eigentlich eine Traumdestination, und das nicht nur in Zeiten von Corona. Wer im Sommer von Travemünde Richtung Rügen radelt, behält die Badehose auf dem Rad am besten gleich an. Auf diesem Teil des Ostseeküsten-Radwegs ist das Meer meist in Sichtweite. Besonders stilvoll baden können Radfahrer auf diesem Streckenabschnitt des Ostseeküsten-Radwegs vor der Kulisse des ältesten Seebads der Region in Kühlungsborn. Nostalgiker nennen das Ensemble aus klassizistischen Villen und dem imposanten Grand Hotel „die weiße Stadt“. Weniger mondän, dafür bizarr und spooky ist wenige Kilometer weiter der Gespensterwald bei Nienhagen. Dort hat der starke Seewind das Geäst der Eichen, Eschen und Buchen so verformt, dass sie ohne Laub an greifende Klauen von Geisterwesen erinnern.

Ostsee beliebt bei Radausflüglern

Laut ADFC-Radreiseanalyse 2020 finden die meisten Radausflüge im Urlaub an der Ostsee statt. Im Ranking der beliebtesten Radrouten in Deutschland findet sich auch der Ostseeküsten-Radweg regelmäßig unter den Top 10. Allerdings gibt es noch deutlich Luft nach oben: In der aktuellen ADFC-Befragung zeigt sich die Route nur als halb so beliebt wie der Spitzenreiter Weser-Radweg, der vom Kreis Göttingen bis nach Cuxhaven führt.

Marode Radinfrastruktur bremst die Begeisterung

Landschaftlich schöner und abwechslungsreicher kann man wohl kaum an einer deutschen Küste entlang radeln. Allerdings geht es deutlich komfortabler. Das einstige Aushängeschild Mecklenburg-Vorpommerns ist mit vielen anderen Radrouten in der Region in Verruf geraten. Land, Kreise und Kommunen haben die Radwanderwege lange Zeit sich selbst überlassen. Das rächt sich heute: Eine Vielzahl der Streckenabschnitte ist verrottet, Asphalt durch Wurzeln aufgebrochen, zu Sand- und Schlammpisten mutiert und in Küstennähe teilweise sogar komplett weggebrochen. Verkehrsexperten und Radtouristen geben der Region deshalb seit ein paar Jahren schlechte Noten.

Region droht langfristiger Imageverlust

Diesen Imageverlust kann sich die Radreisedestination eigentlich nicht leisten. Der Tourismus bringt jedes Jahr ebenso viel Geld ins Land wie die Landesregierung in zwölf Monaten ausgibt. Jeder dritte Urlauber reist zum Radfahren an und schlechte Bewertungen schrecken Gäste schnell ab. Der Tourismusverband Rügen hat bereits eine Vielzahl verärgerte Rückmeldungen von Urlaubern erhalten. „Wir sind froh, gesund und ohne Unfall nach Hause gekommen zu sein, obwohl wir uns jeden Tag mindestens einmal in Lebensgefahr gefühlt haben“, schrieb eine Familie. Andere erklärten: „So eine schlechte Infrastruktur für Radfahrer haben wir noch nicht erlebt. Wenn Sie keine Lust auf Radtouristen haben, schreiben Sie es doch in Ihre Prospekte.“ Reinhard Wulfhorst, Referatsleiter für Verkehrspolitik der Landesregierung in Schwerin, findet ähnliche Beschwerden immer wieder in seiner Post. „Das sind keine Wutbürger, sondern verärgerte Urlauber, die ihre Erlebnisse schildern“, sagt er. Er ist selbst häufig mit dem Rad in Mecklenburg-Vorpommern unterwegs und weiß: „Es gibt lange Strecken, die sind vorzüglich, aber es gibt auch Strecken, für die man sich einfach schämen muss.“ Eine Einschätzung, der erfahrene Radler kaum widersprechen werden.

Radfernwege sind nur so gut wie die schlechtesten Streckenabschnitte: An Betonplatten und Sperrungen erinnern sich Reiseradler, berichten anderen und geben der Region schlechte Noten.

Gutachten zeigen immensen Sanierungsbedarf

Die Landesregierung hat inzwischen auf die Kritik reagiert. Im letzten Jahr beauftragte sie ein Planungsbüro, um die Qualität des 2500 Kilometer langen Radfernwegenetzes zu bewerten. Die Experten konnten nicht das komplette Netz abfahren. Stattdessen haben sie jeden Meter des 78 Kilometer langen Radfernweges auf Usedom untersucht. Die Insel wurde ausgewählt, weil ihre Topografie und die Wegeführung exemplarisch sind für Mecklenburg-Vorpommern. Das Gutachten bestätigte die Kritik der Radfahrer. Der Sanierungsbedarf ist riesig. Nur etwas mehr als die Hälfte der Wege sind in gutem Zustand oder benötigen nur kleinere Reparaturen. 28 Prozent dagegen brauchen eine neue Asphaltschicht und 19 Prozent der Wege müssen komplett saniert werden. Auf Usedom zeigte sich außerdem: Der Handlungsdruck ist bei den kommunalen Straßen am größten. Zwar wissen Auftraggeber und Radexperten, dass die Ergebnisse der Bestandsaufnahme nicht eins zu eins übertragbar sind, aber sie zeigen dennoch: Der Sanierungsbedarf ist immens. Um die Schäden im ganzen Bundesland auf den Fahrbahnen, Radwegen sowie Wald- und Forstwegen zu beseitigen, müssten laut Gutachter etwa 348 Millionen Euro investiert werden.

AGFK MV wird zum landesweiten Verein

Im Herbst geht es los. Dann wird die seit 2017 bestehende Arbeitsgemeinschaft für fahrrad- und fußgängerfreundliche Kommunen Mecklenburg-Vorpommern (AGFK MV) zu einem eingetragenen Verein. Aktuell ist sie ein Projekt der Hansestadt Rostock und wird finanziert vom Ministerium für Energie, Infrastruktur und Digitalisierung sowie über kommunale Mitgliedsbeiträge. Ab Oktober gehören neben Rostock auch Stralsund, die Landeshauptstadt Schwerin, Greifswald, Wismar, Neustrelitz und Anklam sowie die Gemeinde Heringsdorf zur AGFK MV. Sie alle wollen mehr für Verkehrsteilnehmer tun, die nicht motorisiert unterwegs sind. Das BMVI fördert über das Sonderprogramm „Stadt und Land“ in Kürze erstmals die Planung und den Bau von qualitativ hochwertigen Radverkehrsanlagen mit Fördergeldern in Millionenhöhe. Die AGFK MV soll ihre Mitglieder unter anderem dabei unterstützen, diese Mittel zu beantragen und bei der Umsetzung der Projekte helfen. Rückenwind bekommt die neue AGFK auch durch den Städte- und Gemeindetag M-V, der die Entwicklung seit dem Projektstart unterstützt und die Mitgliedschaft per Vorstandsbeschluss empfiehlt.

Nachholbedarf bei Strategie und Zuständigkeit

Der Handlungsdruck für die Politik ist also groß. Allerdings stehen die Entscheider vor der Frage: Wer ist verantwortlich und wer soll das bezahlen? Für viele Radfernwege in Mecklenburg-Vorpommern gibt es keinen zentralen Routenbetreiber. Der ADFC rät dazu seit Jahren, und im Ruhrgebiet ist das Prinzip zum Beispiel seit Jahren bewährt. „Dort teilen sich die Ruhr-Tourismus GmbH und der Regionalverband Ruhr (RVR) die Aufgabe“, sagt Louise Böhler, Tourismus-Expertin beim ADFC. Während der RVR die Strecke regelmäßig kontrolliert und Schäden ausbessert, kümmert sich der Tourismusverband um Produktentwicklung und Marketing. „Sie unternehmen regelmäßig mit den Hoteliers, den Fahrradverleihern und den Anrainern Ausfahrten, um für das Produkt ͵Radreiserouteʹ vor ihrer Haustür zu werben“, sagt Louise Böhler. Das ist clever. Denn so erfahren alle am Projekt Beteiligten buchstäblich das touristische Angebot. „Sie erkennen, warum sich die Investition lohnt“, sagt sie. Im Nordosten der Republik ist das anders. Weil eine zen-trale Anlaufstelle fehlt, ist mal das Land, eine Kommune oder eine Gemeinde für ein Stück Radfernweg zuständig. Sie müssen die Wege warten und Schäden beheben. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis fehlt kleineren Kommunen oftmals das Geld, um Schlaglöcher oder Wurzelaufbrüche auf ihrem Streckenabschnitt auszubessern. Manchmal investiert die Politik vor Ort auch lieber in den überfälligen Ausbau der Kita als in die Radroute – insbesondere wenn die Gemeinde nicht vom Tourismus profitiert.

Mangelware: Finanzmittel und Gesamtkonzept

Das schadet allerdings dem gesamten Land. Denn am Tourismus kommt zwischen Wismar und Usedom kaum jemand vorbei. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es rund 450.000 Betten für Urlauber. Die Ferienbranche ist hier ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. „7,75 Milliarden Euro haben der Tourismus und das Gastgewerbe 2014 ins Land gebracht. Das entsprach dem Landeshaushalt des Jahres“, sagt Referatsleiter Reinhard Wulfhorst. Das entspricht rund zwölf Prozent der Bruttowertschöpfung des Landes. Jeder sechste Arbeitsplatz hängt hier am Tourismus. Untersuchungen zeigen zudem: Mehr als 30 Prozent der Touristen kommen zum Radfahren an die Ostseeküste. Das weiß auch die Landesregierung. Trotzdem gibt es bislang noch keinen konkreten Plan, wie und wann die Reiserouten saniert werden sollen. Für kleine Sofortmaßnahmen hat sie 2019 ein Erhaltungsprogramm gestartet. Mit vier Millionen Euro sollen die Kreise und Gemeinden nun im Zeitraum von zwei Jahren kleine Mängel auf den Wegen ausbessern. „Das ist etwa ein Hundertstel des eigentlichen Bedarfs“, schätzt der Landesvorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs ADFC, Horst Krumpen. Allein für die Sanierung des Ostseeküsten-Radwegs, dem Aushängeschild der Region, seien 20 Millionen Euro notwendig. Horst Krumpen vermisst den politischen Willen und ein angemessenes Budget, um den Radverkehr für Radtouristen und Alltagsfahrer auszubauen.

Radentscheid: Auch in Rostock wurden Unterschriften für eine bessere Radinfrastruktur gesammelt. Marie Heidenreich (Mitte) setzt sich darüber hinaus für einen Radentscheid auf Landesebene ein.

Besserer Radverkehr für alle als Ziel

Wie es besser funktionieren könnte, hat der ADFC Landesverband zusammen mit dem Tourismusverband und der Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Kommunen (AGFK) Mecklenburg-Vorpommern bereits 2018 in einem Sieben-Punkte-Programm aufgezeigt: Das Herzstück des Programms ist der Aufbau eines lückenlosen Radwegenetzes bis 2030 für Alltags- und Freizeitfahrer. Der ADFC und die AGFK unterscheiden dabei nicht mehr zwischen Wegen für Touristen, Pendler oder Freizeitfahrern. „Die Radwege werden von verschiedenen Gruppen genutzt“, sagt Tim Birkholz, Projektkoordinator der AGFK in Mecklenburg-Vorpommern. Die Forderung nach einem landesweiten Netz für Radfahrer ist nicht neu. Bereits 2011 und 2016 haben die gewählten Volksvertreter in ihren Koalitionsvereinbarungen die Planung und den Bau des Netzes festgeschrieben. Passiert ist seitdem wenig. ADFC-Mann Horst Krumpen ist das Warten leid. „Für Autofahrer ist es selbstverständlich, von Wismar nach Schwerin auf einer gut ausgebauten und zusammenhängenden Straße zu fahren“, sagt er. Für Radfahrer endet der Weg auf der 30 Kilometer langen Strecke immer mal wieder vor einem Acker und werde erst 500 Meter später weitergeführt.

„Über 50 Prozent der Erwerbstätigen haben einen Arbeitsweg, der unter zehn Kilometer liegt.“

Tim Birkholz, Projektkoordinator der AGFK in Mecklenburg-Vorpommern

Hohe Potenziale auch für Alltagsradverkehr

Damit Radfahrer und auch Fußgänger bald sicher von A nach B kommen, sieht das Sieben-Punkte-Papier vor, auf Landesebene ein eigenes Referat für den Rad- und Fußverkehr zu schaffen. Auf diesem Weg soll die Mobilität für beide Zielgruppen attraktiver werden und ihr Anteil am Gesamtverkehr steigen. Das Potenzial, den Anteil der Radfahrer im Alltagsverkehr zu stärken, ist hoch in dem Bundesland. Laut der bundesweiten Studie „Mobilität in Deutschland (MID)“ von 2017 liegt ihr Anteil dort heute bereits bei 14 Prozent. Das sind vier Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt. Experten sehen gerade unter den Pendlern noch viele Autofahrer, die für kurze Strecken aufs Rad umsteigen könnten. Im Jahr 2016 war der Arbeitsweg bei 44 Prozent der Erwerbstätigen hier zwar länger als zehn Kilometer. „Im Umkehrschluss heißt das, dass über 50 Prozent einen Arbeitsweg haben, der unter zehn Kilometer liegt“, betont Tim Birkholz. Auf dieser Distanz sind das Fahrrad und das E-Bike beliebt bei Berufstätigen, was unter anderem der 2012 vom Bund geförderte „Schweriner Versuch“ zeigte. Hier testeten acht Personen zwei Wochen lang im Berufsverkehr verschiedene Fahrzeuge. Dazu fuhren sie morgens und nachmittags zur Hauptverkehrszeit aus der Vorortsiedlung Friedrichsthal zum Rathaus Schwerin in der Altstadt. Sie legten die 6,5 bis 8 km lange Strecke abwechselnd mit dem Pkw (Benzin und elektrisch), per Motorroller (Benzin und elektrisch), Fahrrad, E-Bike oder dem ÖPNV zurück. Die Forscher untersuchten die Parameter Zeit, Kosten, Energieverbrauch, CO2-Ausstoß, Stress und körperliche Bewegung. Die Ergebnisse zeigten: Das Fahrrad und das E-Bike landeten in sämtlichen Kategorien auf den ersten beiden Plätzen. „Nach meinem Eindruck sind viele Menschen bereits weiter als die Politik“, betont dazu Reinhard Wulfhorst. Aber damit sie das Auto tatsächlich stehen ließen und aufs Rad mit oder ohne Motor umstiegen, müssten die Rahmenbedingungen stimmen. Dazu gehöre neben einem sicheren und zusammenhängenden Radwegenetz auch eine bessere Integration des Radverkehrs in das vorhandene Mobilitätsangebot.

Radgesetz nach NRW-Vorbild?

„Die Menschen brauchen eine gute Anbindung ans Schienennetz und überdachte Abstellanlagen mit Ladestationen für E-Bikes“, sagt Marie Heidenreich, Mitglied der Grünen in Rostock und Initiatorin des dortigen Rad-entscheids. Sie weiß: Beides ist Mangelware, selbst in der Landeshauptstadt Schwerin. Um das zu ändern, setzt sie sich nach dem gewonnenen Radentscheid in Rostock nun für ein Radgesetz auf Landesebene ein. Ihr Vorbild ist Nordrhein-Westfalen. NRW wird das erste Flächenland sein, das ein Radgesetz bekommt. Rund 207.000 Unterschriften haben die Aktivisten vom Radentscheid im vergangenen Jahr der Landesregierung in NRW vorgelegt, 66.000 waren für eine Anhörung nötig. An der großen Zustimmung für den Ausbau der Radinfrastruktur in der Bevölkerung kamen die Politiker nicht vorbei. Diese politische Richtungsentscheidung will Maria Heidenreich nun auch in Mecklenburg-Vorpommern umsetzen. „Ohne rechtliche Vorgaben bleibt es jedem Landkreis und jeder Kommune selbst überlassen, ob und wie sie den Radverkehr stärkt“, sagt sie. Das führt immer wieder dazu, dass Radwege an der Landesgrenze abrupt enden. Außerdem fehlten kleinen Gemeinden nicht nur das Geld, sondern auch die Planer, um die notwendige Infrastruktur zu umzusetzen. Sie fordert deshalb eine überregionale Radverkehrsplanung aus einer Hand sowie verbindliche Ziele und klar definierte Standards für Routen. „Dazu gehört unter anderem auch, dass die Pendler die Strecken im Winter oder bei Dunkelheit nutzen können“, sagt sie.

Ziel: Region zieht an einem Strang

Wie es mit dem Radverkehr in Mecklenburg-Vorpommern weitergeht, werden die kommenden Monate zeigen. Die Landesregierung hat Werkstattgespräche organisiert, um mit allen Beteiligten einen Plan zu erarbeiten. Tilman Bracher, Verkehrsforscher und Leiter des Forschungsbereichs Mobilität beim Deutschen Institut für Urbanistik wird die Gespräche moderieren. In einem sind sich alle Beteiligten jedenfalls einig: Die Bedingungen für alle Radfahrer müssen besser werden. Gute Argumente für einen schnellen Return on Investment liegen mit Blick auf die Stärkung des lokalen Tourismus ebenso auf der Hand wie vor dem Hintergrund von absehbar notwendigen Maßnahmen für Klimaschutz und der vielerorts geforderten Verkehrswende.

Tourismus als Wachstumsmotor im Nordosten

Fast sieben Prozent aller Reisenden aus Deutschland haben im vergangenen Jahr gemäß der Deutschen Tourismusanalyse 2019 die Seen und Ostseegemeinden in Mecklenburg-Vorpommern besucht und damit für rund 34 Millionen Übernachtungen gesorgt. Damit führt die Region in der Beliebtheit bei deutschen Gästen vor Bayern (5,5 %), Niedersachsen (4,8 %), Schleswig-Holstein (4 %) und Baden-Württemberg (2,9%). Der Tourismus ist ein wichtiger Umsatztreiber und wird auch für die Zukunft als Wachstumsmotor der Region gesehen.


Bilder: stock.adobe.com – Katja Xenikis, Tim Birkholz, stock.adobe.com – stylefoto24, Marie Heidenreich

Nicht erst seit Corona steht der Tourismus vor Umbrüchen und der Radtourismus in neuen, vielfältigen Facetten mehr und mehr im Fokus. Für Planer und Entscheider gibt es vielfältige Chancen und Herausforderungen und vielfach unterschätzte Wirkungen in den Alltag und die Regionsentwicklung hinein. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Nachhaltigkeit, Klimawandel, Resilienz und Resonanz gehören als Themen im Tourismus nicht erst seit Fridays for Future und Corona zu den Hauptschlagworten, wenn es um die Gestaltung von aktuellen und künftigen Angeboten geht. Zurzeit beschleunigt aber nicht nur die Pandemie absehbare Umbrüche. Gerade das Thema Radtourismus boomt im Kleinen wie im Großen durch neue technische Möglichkeiten und neue Produkte ebenso wie durch veränderte Bedürfnisse und bislang unterschätzte Kundengruppen. Gleichzeitig stehen Regionen mit dem Zuwachs und den schnellen Veränderungen vor vielfältigen Herausforderungen. „Viele beliebte Rad- und Wanderwege verzeichneten im April und Mai fünf- bis zehnmal so viele Besucher“, stellt Fahrrad-Destinationsentwickler Tilman Sobek fest.

Konflikte oft hausgemacht

„Nicht nur der Radtourismus boomt, auch allgemein der Aktivtourismus“, betont Tilman Sobek, der als Geschäftsführer des Unternehmens absolutGPS und Macher des Mountainbike Tourismusforums Deutschland die Entwicklungen im Blick hat. Dabei sieht er mancherorts Probleme durch Überfüllung und Konflikte. Die seien aber vielfach durch Versäumnisse in der Vergangenheit eher hausgemacht. „Gerade im dicht besiedelten Deutschland haben wir begrenzt Raum. Deshalb müssen wir uns besonders gut Gedanken darüber machen, wie wir mit den unterschiedlichen Ansprüchen umgehen. Das betrifft zum Beispiel den Naturschutz, die Jagd, den Tourismus und die vielfältige Freizeitnutzung, vom Wanderer über den Geocacher und Trailrunner bis hin zum Mountainbiker.“ Dazu käme es darauf an, mit gezielter Planung Maßnahmen zu entwickeln, die sowohl räumlich als auch in Bezug auf die Kundengruppen in die Breite gingen. „Es ist möglich, die Potenziale nach drei bis fünf Jahren zu heben“, erläutert Tilman Sobek. Dafür seien aber auch ein Denken in größeren Zusammenhängen, ein langfristiges Konzept und eine entsprechende finanzielle Ausstattung wichtig. Seiner Erfahrung nach würde häufig mit viel Geld Konzepte entwickelt, dann fehlten aber die Mittel zur Implementierung und Vertiefung.

„Den größten Boom sehen wir in den Mittelgebirgen. Hier ändert sich die Situation mit dem E-Bike als neuem Standard fundamental.“

Tilman Sobek, absolutGPS

Gezielte Regionalentwicklung zahlt sich aus

Probleme durch versäumte Entwicklungen oder zu wenige Angebote und schlecht durchdachte Verbote sieht auch Darco Cazin, Gründer des Schweizer Beratungsunternehmens „Allegra Tourismus & Trails“, einem der Pioniere und Vordenker bei der Entwicklung von Mountainbike-Destinationen. „Wir sehen, dass diejenigen, die ihre Hausaufgaben gemacht haben, von der aktuellen Situation profitieren und die Früchte ernten. Andere, die nichts oder nur wenig gemacht haben, fallen dagegen gerade auf die Nase.“ Konkret gehe es dabei um vielfältige Aufgaben. Dazu gehören Nahbereichsangebote, die beispielsweise aus Metropolregionen einfach mit dem Rad oder dem öffentlichen Verkehr erreichbar sind, der Ausbau der Infrastruktur und das Einrichten von Bewegungs- und Naturangeboten für Familien und Kinder. Davon profitiert nicht nur der Tourismus, sondern auch die Region, die an Attraktivität gewinnt, und die Bevölkerung vor Ort. Gerade in sonst kaum beachteten ländlichen Mittelgebirgsregionen lasse sich hier mit wenig Aufwand viel bewegen. Negativbeispiele seien auf der anderen Seite Regionen, die eine schlechte Infrastruktur aufweisen oder wo man mit Verboten arbeitet.

Medial wird von Mountainbikern gern ein auf „harte Action“ zugespitztes Bild gezeichnet. „Tatsächlich ist es sehr viel unspektakulärer“, weiß MTB-Pionier Darco Cazin.

Bewegung und Natur hochattraktiv

Komplexer, als man vielfach denkt, ist heute auch die Definition des Radtourismus an sich. Hier lohnt die tiefere Beschäftigung mit den vielfältigen Nutzergruppen und den divergierenden Ansprüchen. „Das Bild der Radtouristen hat sich gewaltig verändert“, schreibt der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club ADFC zu den Ergebnissen seiner aktuellen Radreiseanalyse. Heute zählen dazu nicht nur Männer oder Paare im mittleren Alter mit Trekkingrädern und Packtaschen auf beliebten Flussradwegen, sondern laut ADFC beispielsweise auch Wellness-Reisen kombiniert mit Fahrrad-ausflügen, spontane Radkurztrips mit Städtebesuch, Sterntouren mit einer festen Unterkunft oder die aktive Auszeit in der Nähe des Wohnortes. Neben dem Tagesausflug gehört zu Letzterem auch die spontane Feierabendrunde mit dem Mountainbike, Rennrad oder Gravelbike. Was die Menschen bei aller Unterschiedlichkeit verbindet, ist nach den Erfahrungen von Darco Cazin vor allem der Wunsch nach aktiver Erholung in der Natur. „Das Bedürfnis rauszukommen wächst. Die Menschen wollen ausbrechen aus ihrem Alltag und ihrer Umgebung und in Resonanz mit der Natur und echten Menschen treten.“ Das decke das Fahrrad und auch der Mountainbike-Trail sehr gut ab, deshalb auch der Boom. Dabei ginge es den Menschen darum, „abzuschalten und im Hier und Jetzt im Flow zu sein.“ Das funktioniere durch externe Impulse wie Bewegung und eben Trails viel einfacher als beispielsweise durch Yoga oder Meditation. Mit Blick auf die Situation vor Ort komme es darauf an, die Bedürfnisse der Menschen ernst zu nehmen und entsprechende Angebote zu schaffen.

56 %

der deutschen Inlandsurlauber suchen
vor allem den Aufenthalt in der Natur.
Führend: kulturelle Angebote und
historischen Sehenswürdigkeiten (58 %).

Quelle: GfK Destination Monitor Deutschland 2019

Angebote statt Verbote

Allgemeiner Konsens unter Radtourismus-Experten ist, dass sich potenzielle oder tatsächliche Konfliktsituationen besser mit Angeboten statt Verboten lösen lassen. So macht die gesetzliche Vorgabe in Baden-Württemberg, die das Radfahren auf Waldwegen unter zwei Meter Breite verbietet, auch für Darco Cazin „überhaupt keinen Sinn“. Einwohner würden beispielsweise in Stuttgart grundlos „kriminalisiert und bestraft“, denn die Motivation, mit dem Rad in der Natur unterwegs zu sein und auf einem Trail zu fahren, sei ja keineswegs der Verbotsverstoß und es gebe wenig Alternativen. Ordnung schaffe man dagegen viel besser mit einer guten Planung und Angeboten, die Nutzer lenken, und einer sorgfältigen Abwägung mit allen Beteiligten, in welchem Verhältnis angenommene oder tatsächliche Konflikte oder Schäden zum Nutzen stehen.

Unterschätzt: vielfältige Wechselwirkungen

In Gesprächen betonen Fachleute wie Norman Bielig, Gründer und Geschäftsführer der Kommunikationsagentur desire lines, immer wieder auch unterschätzte Wechselwirkungen zwischen Tourismus und Alltag sowie Stadt und Land. „Die touristische Infrastruktur wird natürlich gerne auch von der Bevölkerung vor Ort in der Freizeit oder im Alltag genutzt“, betont Norman Bielig. Beispiele sind neben Radrouten und Trails gut zu fahrende Radverbindungen innerhalb der Stadt. „Es geht nicht nur um die touristische, sondern auch um die regionale Entwicklung“, erläutert Norman Bielig, der bei komplexen Entwicklungsprojekten wie in Bayern, Österreich oder Ostbelgien gerne partnerschaftlich mit Tilman Sobek von absolutGPS zusammenarbeitet. Profitieren könnten Regionen so zum Beispiel von besseren ÖPNV-Angeboten, mehr Gaststätten, Einkaufsmöglichkeiten, Schwimmbädern etc. Verbessert wird damit vielfach nicht nur die Lebenssituation vor Ort, sondern auch die Attraktivität für jüngere Menschen, Familien oder neue Mitbürger. Mountainbike-Projekte zahlen damit auch auf die allgemeine Daseinsfürsorge ein. Wichtig ist hier nach Norman Bielig auch die Begegnung von Städtern mit der ländlichen Bevölkerung, generell ein besseres Verständnis von Naturräumen und ein positiv verändertes Freizeitverhalten der Bevölkerung vor Ort, die beispielsweise aktive Bewegung mit dem Fahrrad oder Mountainbike neu für sich entdeckt.

E-Bikes und E-MTBs boomen

1.360.000 E-Bikes sind im Jahr 2019 nach den Zahlen des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV) verkauft worden. Das entspricht einem Zuwachs von 39 Prozent zum Vorjahr und einem Anteil am gesamten Fahrradmarkt von inzwischen 31,5 Prozent. Den größten Anteil am E-Bike-Markt haben weiterhin E-Trekkingbikes mit 36 Prozent. Eine ungeahnte und in der breiten Öffentlichkeit bislang wenig beachtete Dynamik zeigt sich bei E-Mountainbikes: In nur vier Jahren hat sich der E-MTB-Anteil am E-Bike-Markt von acht Prozent im Jahr 2015 auf 26,5 Prozent in 2019 gesteigert. Die Verkaufszahlen bei E-Mountainbikes haben mit 360.400 Stück die in Fachforen „Biobikes“ genannten motorlosen Varianten mit nur 215.500 nicht nur erstmals überflügelt, sondern das Verhältnis umgedreht.

E-Revolution fängt gerade erst an

Ebenfalls unterschätzt wird oft auch der Einfluss von neuen Technologien und Produkten aus der Fahrradbranche, allen voran die Motorunterstützung, die in verschiedenen Formen inzwischen sämtliche Fahrradgattungen erreicht hat: vom City-, Trekking- und Lastenrad über das Mountainbike, bis hin zum Rennrad, Gravelbike und Mountainbike für Kinder. Claus Fleischer, General Manager von Bosch eBike Systems, dem Marktführer in Deutschland bei E-Bike-Motoren, schätzt den langfristigen E-Bike-Marktanteil auf „mindestens 65 Prozent des gesamten Fahrradmarktes“. Möglich machen diese Veränderungen unter anderem neue „Hybrid-Bikes“ mit kleinen, leichten Akkus und Motoren. Destinationsentwickler Tilman Sobek geht mit Blick auf den Fahrradtourismus sogar davon aus, dass E-Bikes bereits „bis zum Jahr 2025 der neue Standard“ seien. Damit ergeben sich künftig völlig neue Möglichkeiten in Bezug auf die Regionen, vor allem in Mittelgebirgen, und neue, attraktive Hotspots, wie erhöht gelegene Sehenswürdigkeiten, Aussichtspunkte oder Gaststätten. Ebenfalls neu in den Fokus rücken mit der weiteren Verbreitung der Motorunterstützung bislang vielerorts vernachlässigte Kundengruppen sowie generationenübergreifende Angebote und ein attraktives Gruppenerlebnis.

„Den größten Boom sehen wir in den Mittelgebirgen. Hier ändert sich die Situation mit dem E-Bike als neuem Standard fundamental.“

Tilman Sobek, absolutGPS

Strategische Planung wichtig

Angesichts der vielfältigen Chancen, aber auch Herausforderungen lohnt es sich wohl, die Entwicklungen genau zu beobachten und künftige Veränderungen zu antizipieren und gezielt zu steuern. Für Planer und Entscheider kommt es nach Meinung der Experten wohl vor allem auch darauf an, in sachlichen Diskussionen mit möglichst allen Beteiligten vor Ort herauszufinden, wo man steht, wo man hinwill, was zum Ort oder der Region passt, worauf man aufbauen kann und wo oder bei wem Bedenken liegen. „Wichtig ist, von Anfang an alle Interessengruppen und Ansprechpartner mit einzubeziehen und einen runden Tisch zu bilden“, sagt Darco Cazin, der in der Schweizer Region Graubünden zusammen mit den Beteiligten vor Ort ein bestens funktionierendes und hochgelobtes Mountainbike-Eldorado geschaffen hat. „So ein runder Tisch umfasst auch mal 80 Personen – wobei die Menschen wirklich gerne zu uns kommen.“ Der zweite Schritt sei, Meinungen und Vorurteile zu versachlichen und Projekte anzufangen. Die schlechteste Alternative ist für ihn dagegen, sowohl die Chancen als auch den bestehenden und weiterhin wachsenden Druck aus der Bevölkerung zu ignorieren und keine Angebote zu entwickeln.

Neuer Qualitätstourismus?

Fragen an Stefan Gössling, Professor für nachhaltigen Tourismus und Mobilität an der schwedischen Linnaeus-Universität

Wie sehen Sie neue Destinationsmodelle?
Wir versuchen seit ein paar Jahren, ein Modell vorzuschlagen und zu entwickeln, das man als „resiliente, klima-sichere, hochwertige Destinationen“ zusammenfassen könnte. Im Prinzip geht es darum, gedanklich wegzukommen vom Denken in immer mehr Wachstum und Flügen für 20 Euro.

Was kann man sich darunter vorstellen?
Zum Thema Resilienz: Dieser Tourismus muss Schocks widerstehen können, wie zum Beispiel Wirtschaftskrisen. Das geht, indem Destinationen zum Beispiel einen hohen Teil an Inlandstouristen und einen sehr loyalen Kundenstamm aufbauen. Wir müssen Tourismus in vielerlei Hinsicht anders und neu denken.

Wo gibt es für Destinationen Hebel, um mehr Geld zu verdienen?
Wir müssen uns fragen, wo haben wir Verluste, wo können wir Einnahmen erhöhen und wo können wir den Tourismus stabiler machen. Da gibt es jede Menge Möglichkeiten. Wir können zum Beispiel zusätzliche, attraktive Angebote machen, um Touristen länger am Ort zu halten. Dabei ist das nicht nur eine Frage, wie viel die Touristen ausgeben in einer Destination, sondern auch, wie viel abfließt. Wer zum Beispiel bei Booking eine Reise bucht oder AirBnB, der macht das genaue Gegenteil, da fließen enorme Beträge direkt an die Plattformbetreiber im Ausland ab. Wir können auch stärker sparen – es wird viel verschwendet – bei der Energie, bei Lebensmitteln …

Professor Stefan Gössling

beschäftigt sich seit Jahren in der Forschung, in Fachbüchern und auf Kongressen mit dem Thema Nachhaltigkeit im Tourismus und in der Mobilität. Mehr von ihm auch in der letzten VELOPLAN-Ausgabe 2/20, Schwerpunkt Gesundheit, und auf Youtube.

stefangossling.de

Was sollten Regionen tun?

Fragen an Norman Bielig, Geschäftsführer desire lines

Medien sprechen von Konflikten und Überfüllung. Was läuft falsch?
Viele Regionen haben sich in der Vergangenheit auf Leuchtturmprojekte konzentriert. Auf die fokussieren sich nun auch die Menschen. Wir haben sehr viel Verkehr auf bestimmten Routen, aber eben keine Verteilung in der Breite, deshalb müssen die Regionen dringend an einer Diversifizierung arbeiten.

Was ist mit mehr Diversifizierung gemeint?
Wir brauchen mehr Angebote und Wegenetze für unterschiedliche Zielgruppen. Waldtouren, Trailcenter nach schottischem Vorbild, Bikeparks mit vielfältigen Strecken und auch Angebote für Familien und Kinder. Seit zwei bis drei Jahren wird in den Regionen auch das E-Bike mitgedacht. Das ist also noch ein sehr junges Feld, das insbesondere aufgrund seiner Vielfältigkeit herausfordert.

Was würdet ihr euch mehr wünschen?
Vor allem die stärkere Zusammenarbeit von Verbänden, Vereinen, Kommunen, Politik und Tourismus. Denn Fahrrad- und Mountainbike-Tourismus sind unserer Erfahrung nach immer auch ein Motor der Regional- und Standortentwicklung.

Was sollten Regionen in der aktuellen Situation tun?
Genau jetzt müssen nachhaltige Stakeholder-Prozesse angestoßen, muss in den Dialog getreten und an Konzepten gearbeitet werden. Jetzt ist die Zeit, um Radtourismus größer zu denken: im Zusammenhang mit Jugendbildung, Umweltbildung, Alltagsverkehr, Gesundheit, Regionalentwicklung und vielem mehr.

Norman Bielig

hat mit der Gründung der Kommunikationsagentur desire lines den Rahmen geschaffen, um Contentproduktion, Kampagnen und touristischen Produktentwicklung zu vereinen. Für den Deutschen Alpenverein bildet er Mountainbike-Trainer und -Trainerinnen aus und engagiert sich als Mitglied des Vorstandes beim Mountainbike Tourismusforum Deutschland.

desire-lines.de

Was gibt es bei der Planung zu beachten?

Fragen an Tilman Sobek, Geschäftsführer absolutGPS

Wo gibt es neue Chancen für den Radtourismus?
Auch wenn einige Angebote schon recht reif sind, insgesamt stehen wir bei vielem erst relativ am Anfang. Wir können so tolle Erlebniswelten schaffen! Hier ist bei den Angeboten und der Kommunikation noch viel mehr möglich.

Was zeichnet Planer im Radtourismus aus?
Die psychologischen Komponenten im Blick zu haben. Es geht um Bewegung in der Natur, aber auch um Sinn und Werte. Wenn etwas wirklich vorangebracht wird, dann ist es oft so, dass die Verantwortlichen selbst vom Fahrrad oder Mountainbike kommen und dafür brennen.

Was ist für die Planung wichtig?
Vor Ort: Informieren, Transparenz und Vertrauen herstellen, vernetzen. Man sollte sich nichts vormachen, manche Projekte, besonders beim Mountainbiken, führen anfangs zu Vorurteilen und Widerständen. Für den Gast und die Region: möglichst intensiv an bestehende Konzepte anknüpfen und die eigene Identität weiterentwickeln. Man sollte sich gezielt fragen, was will ich als Ort oder Region oder was will ich auch ganz bewusst nicht.

Ist Mountainbiken das neue Skifahren?
Das ist eine aktuelle Fokussierung aus den Alpen. Moderne Mountainbikes sind heute hochmoderne Geräte, die bestmöglich unterstützen, weit tragen und von fast jedem schnell beherrscht werden. Die Motorunterstützung ermöglicht dabei neue Streckenprofile und erschließt gerade für Mittelgebirgsregionen enorme Chancen.

Tilman Sobek

liegt als Destinationsentwickler die Synthese von Outdoor-Kompetenz und Tourismusmanagement am Herzen. Dafür setzt er sich als Geschäftsführer von absolutGPS und Kopf des Mountainbike Tourismusforums Deutschland e. V. bei der strategischen Arbeit mit Destinationen in Europa ein. Sein Firmenmotto: „Erlebnisse, die bleiben: für den Gast unvergesslich, nachhaltig für die Region.“

absolut-gps.com

Das Mountainbike Tourismusforum Deutschland e. V. versteht sich als Denkfabrik und fungiert als Raum für Vernetzung und Dialog. Seit 2015 ist der jährlich ausgerichtete deutsche MTB-Tourismuskongress eine zentrale Plattform zum Austausch. Wichtige Tools sind der „Mountainbike-Monitor“, die nach eigenen Angaben weltweit umfassendste Untersuchung von Mountainbike-Gästen sowie Forschungsergebnisse, z. B. zu den Auswirkungen auf Boden, Flora und Fauna. Dazu kooperiert der Verein international mit Hochschulen.

mountainbike-tourismusforum.de

Wo liegen die großen Chancen?

Fragen an Darco Cazin, Gründer Allegra Tourismus & Trails

Wo seht ihr Potenziale im Fahrradtourismus?
Das Schöne am Radtourismus ist es, dass es sehr viel Raum gibt, um etwas zu entwickeln, angefangen von null Höhenmetern an der Küste bis rauf auf 3.000 Höhenmeter an den Gletschern. Heute wissen wir auch, dass man nicht in großen Dimensionen denken muss. Viele kleine Regionen sind sehr erfolgreich, weil sie gut durchdacht und geplant sind.

Gibt es einen neuen Schub fürs Rad?
Wir sehen aktuell den Aufstieg des Fahrrads vor allem in den Städten – auch als Statussymbol. Gleichzeitig wird das Radfahren im Urlaub immer wichtiger für Gäste, die keine Fahrradtouristen im eigentlichen Sinne sind. Das verlangt nach neuen Angeboten und Langsam-Verkehrsplänen. Wenn man das angeht, eröffnet sich eine Riesenchance für den ländlich peripheren Raum, um sich stark als alternativer Lebensraum zu positionieren.

Wie schaut es im Umfeld der Städte aus?
Tourismus in den Städten hat eine große Chance in den Naherholungsgebieten. Die in Wert zu setzen gegenüber den Einwohnern und den Touristen kann stark an Bedeutung gewinnen. Wir sehen ein großes Wachstum vor allem bei Mountainbikes. Wenn man die Zahl der neuen Mountainbiker mit den Ausübungstagen multipliziert, dann kommen wir in der Schweiz aktuell auf einen Zuwachs von einer Viertelmillion Ausübungstagen. In Deutschland kann man das mal zehn oder zwölf nehmen.

Wie ordnet man den neuen Zustrom?
Das ist eine große Herausforderung, der man sich stellen muss. Aber nicht mit Verboten, sondern mit Angeboten und einer guten Steuerung. Meiner Erfahrung nach kann man 80 bis 90 Prozent der Nutzer sehr gut durch solche Maßnahmen lenken.

Mit welchen Vorurteilen werdet ihr immer wieder konfrontiert?
Tatsächlich geht es in unserer Arbeit immer wieder darum, von Meinungen zu objektiven Fakten zu kommen. Beispielsweise, wenn es um gefühlte Mengen von Wanderern und Mountainbikern oder potenzielle Beeinträchtigungen der Natur geht. Dazu kommt, dass insbesondere von Mountainbikern medial ein falsches Bild vermittelt wird. Tatsächlich ist das Mountainbiken sehr viel unspektakulärer. Es geht nicht um harte Action, sondern um das Naturerlebnis. Dafür braucht es auch keine Berggipfel, es genügt auch der Wald, ein See oder ein Fluss.

Wie können kleine, erfolgreiche Mountainbike-Projekte aussehen?
Schon in einem sehr limitierten Stück Wald kann man viel Erlebnis entwickeln für den Nutzer. Zum Beispiel kleine Flächen für Trails einrichten und spielerische Elemente mit einem hohen Aufforderungspotenzial bauen, wie Pumptracks oder auch Mountainbike-Spielplätze für Anfänger und Familien, eventuell kombiniert mit Transportbändern, sogenannten Zauberteppichen, dazu Grillplätze für Familien und vieles mehr. Ich finde jede Stadt, jede Region und auch jede kleine Kommune sollte solche Bewegungsräume in der Natur schaffen, wo man lernen und sich ausprobieren kann. Das ist machbar und gerade für junge Menschen wäre das sehr wichtig. Das Mountainbike könnte hier künftig Teil einer neuen Kultur werden.

Darco Cazin

gehört als Gründer des Schweizer Unternehmens Allegra Tourismus & Trails zu den Visionären der Szene und entwickelt seit vielen Jahren Mountainbike-Regionen im In- und Ausland. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist der Schweizer Kanton Graubünden mit namhaften Destinationen wie Andermatt oder St. Moritz. Die Region setzt im internationalen Vergleich Maßstäbe und entwickelt sich rasant weiter fort. Empfehlung: Allegra-Blog und Youtube-Channel. Hier erläutert Darco Cazin unter anderem „die Basics erfolgreicher Mountainbike Destinationen“.

allegra-tourismus.com



Bilder: stock.adobe.com – Uwe, Saalfelden-Leogang – Klemens König, stock.adobe.com – ARochau, Saalbach-Bike – Stefan Voitl, stock.adobe.com – ARochau, Norman Bielig, Tilman Sobek, Allegra – Peter Linden

Mikromobilität heißt in der öffentlichen Wahrnehmung oft: Fun-Fahrzeuge für feuchtfröhliche Großstadt-Touristen. Aber ist das wirklich so? Zumindest die Branche sieht ihren Kernmarkt anders und erholt sich gerade vom Corona-Schock. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Manchmal kommt es anders, als man denkt. Mitte Juli dieses Jahres wurde die Produktion des Pioniers der Mikromobilität Segway PT eingestellt. Was vor rund 20 Jahren als Revolution mit Absatzerwartungen von Hunderttausenden Personal Transportern pro Jahr ausgerufen wurde, endete in einem Flop. Auf weltweit nur 140.000 Einheiten kam man während der kompletten Produktionszeit. Viele Segways werden zum Beispiel weiter für touristische Führungen genutzt. Mit zum Ende beigetragen hat aber wohl auch der Boom der E-Tretroller im Verleih. Wobei gerade hier die Erwartungen hochgesteckt waren. Sind E-Scooter in deutschen Städten also vor allem etwas für Touristen?

Image vom Touri-Roller

Diese Einschätzung drängte sich im ersten Jahr auf, als die motorisierten Tretroller 2019 in den deutschen Kommunen Einzug hielten. Medial wurde intensiv über die touristische Nutzung des neuen Angebots berichtet. Steckt in dieser Form der Mikromobilität neben dem zusätzlichen Verkehrsmittel für lokale Pendler also auch eine Chance, um Stadttouristen an ihrem Zielort eine clevere Mobilität zu bieten? E-Tretroller als jederzeit verfügbares und flexibles Fahrzeug mit Frischluftgarantie zum Cruisen durch die Stadt, aber auch als Alternative zur Fahrt mit dem Taxi oder der Bahn? Das hätte man zumindest meinen können, als etwa 2019 das Beratungsunternehmen 6T in drei französischen Großstädten die Nutzer der neuen Angebote interviewte. 42 Prozent der Befragten nutzten die Scooter der Umfrage zufolge als Touristen. „E-Scooter haben sich mehr als Verkehrsmittel für Touristen im urbanen Raum herauskristallisiert“, sagte auch der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) Niedersachsen, Rüdiger Henze, in der Braunschweiger Zeitung.

5.000 E-Roller der Bosch-Tochter Coup hat das Berliner Startup Tier Mobility Anfang des Jahres samt Ladeinfrastruktur erworben. Die neuen 45-km/h-Roller ergänzen das bestehende Angebot in mehreren großen Städten.

Anbieter sehen Schwerpunkt nicht im Tourismus

War es richtig, das Image vom Touri-Roller zu bedienen? Bei den Anbietern selbst ist man alles andere als erpicht darauf, mit Tourismus identifiziert zu werden. Das Berliner Unternehmen Tier zumindest will das Thema nicht in den Blick nehmen. „Tourismus spielt bei der Planung für unsere Expansion in Städten keine Rolle“, schreibt der PR-Manager des Unternehmens, es gehe um die „nachhaltige Verbesserung der Mobilität für Bewohnerinnen und Bewohner der Städte, damit diese sich ohne eigenes Auto abgas- und emissionsfrei bewegen können“. Dazu passt, dass das Unternehmen Ende letzten Jahres den E-Roller-Sharing-Dienst Coup, eine Bosch-Tochter, übernommen hat und die 45 km/h schnellen E-Mopeds ergänzend in immer mehr Städten mit anbietet. Der E-Tretroller-Verleiher Lime gibt den Anteil der Nutzer in Deutschland, die aus der gleichen Stadt kommen oder dort arbeiten, mit 84 Prozent an. Auch hier lässt sich also kaum behaupten, dass es sich vor allem um ein Gefährt für Touristen handelt. Die Zahlen, die sich auf 2019 beziehen, sind selbst in Madrid kaum anders: Dort sind 80 Prozent der Lime-Nutzer aus der Stadt oder beruflich dort angesiedelt. Bei Lime immerhin heißt es, dass Touristen und Geschäftsreisende für das E-Scooter-Geschäft generell eine Rolle spielen, obwohl der Großteil der Nutzer an allen deutschen und internationalen Lime-Standorten einheimisch sei. Man verweist auf große Unterschiede: „Städte wie Berlin, Madrid oder Málaga verzeichnen einen Anteil von 20 bis 25 Prozent touristischer Nutzung, in anderen Städten wie Hannover, Dortmund oder Wiesbaden liegt der Anteil bei unter zehn Prozent“, sagt Lime-Geschäftsführer Jashar Seyfi. Gern möchte man die touristische Seite ausbauen. „Ja, es gibt erste Gespräche und wir arbeiten schon mit einigen Städten, Hotels und Hotelketten sowie Organisationen wie der Messe Hamburg zusammen“, sagt Seyfi. Dennoch stehe das Unternehmen erst am Anfang. Man habe sich vorgenommen, mit Blick auf 2021 mit weiteren Städten und touristischen Partnern ins Gespräch zu kommen.

Branche in der Krise?

Geht es um die allgemeine Wahrnehmung, dann steht es nicht gut um die Gefährte. E-Scooter gelten – gerade in Verbindung mit Partygängern und urbanem Tourismus – vielfach als Plage. Junge Menschen auf der Straße, unter Alkoholeinfluss, ohne Blick für den Verkehr der Stadt, das sind die Vorurteile, die sich mitunter in der Praxis bestätigen. Die Presse für die neue Variante der E-Mobilität war im ersten Jahr alles andere als gut, und im Corona-Jahr 2020 diskutieren viele weiterhin über die Gefährte als Stolperfallen oder Technikleichen am Wegesrand. Corona hat die Branche hart getroffen, zwischenzeitlich war das Geschäft eingebrochen. Die Betreiber hatten mit Nachfrageproblemen ebenso zu kämpfen wie mit Imageproblemen. Sie wollen sich mit Macht als Teil der nachhaltigen urbanen Mikromobilität etablieren. Und tatsächlich: Wenn man sich den Mobilitätsmix in Großstädten anschaut, merkt man, dass sich einiges verändert hat. E-Tretroller sind inzwischen ebenso wenig aus dem Stadtverkehr wegzudenken wie die kaum hörbaren E-Roller.

„In Großstädten verzeichnen wir 20 bis 25 % touristische Nutzung, in anderen Städten liegt der Anteil bei unter 10 % .“

Jashar Seyfi, Geschäftsführer Lime

Neue Mobilitätsformen per Fahrrad, E-Tretroller oder Segway könnten sich zu einem wichtigen Standbein im Städtetourismus entwickeln. Offenheit und Unterstützung wünscht sich auch Lime- Geschäftsführer Jashar Seyfi.

Köln-Tourismus: „Keine Erweiterung des Mobilitätsangebots“

Ob Bestrebungen, im Tourismus zu wachsen, so einfach sein werden, ist die Frage. Für diesen Artikel blieben Anfragen bei Hamburg Tourismus unbeantwortet – auch wenn die Tourismusgesellschaft der Hansestadt die Scooter auf ihrem Internetportal als Angebot aufführt. Bei Köln-Tourismus redet der neue Geschäftsführer Jürgen Amann nicht lange drumherum. Klar sei der Spaß bei der touristischen Mobilität nicht zu vernachlässigen: „Aktuell sehen wir aber nicht, dass E-Scooter langfristig und nachhaltig das Sharing-Konzept erweitern können.“ Amann sieht in den Scootern denn auch „keine Erweiterung des städtischen Mobilitätsangebots im touristischen Kontext. Hier sind andere Sharing-Angebote und der ÖPNV nachhaltiger zu beurteilen.“

Neuer Markt mit Informationen und Regelung

Bei Lime hätte man es gern anders: „Natürlich wünschen wir uns, dass Städte unseren E-Scooter-Service als Teil des städtischen Mobilitätsangebots für Touristen bekannt machen“, sagt Geschäftsführer Jashar Seyfi. Aber auch hier, sagt Seyfi, stehe man noch ganz am Anfang. Jedenfalls wird er auch eine Menge Vorurteile ausräumen müssen, wenn die E-Scooter-Nutzung im Fremdenverkehr zum aktiv beworbenen Bestandteil werden soll. Es bestehe „definitiv Aufklärungsbedarf, wenn Touristen hierzulande E-Scooter nutzen, denn die geltenden Regeln und Vorschriften unterscheiden sich stark von Land zu Land und auch teilweise innerhalb von Deutschland.“ Für die Mikromobilität im Tourismus sind die Wege also noch weit. Trotzdem, oder gerade deswegen, empfehlen Experten, sich viel stärker als bislang mit dem Thema zu befassen. Die Hersteller haben sich gerade auf Leitlinien für eine neue Generation nachhaltiger Fahrzeuge geeinigt, die Fahrzeuge sprechen neue, bislang autoaffine Nutzergruppen vor allem in der Gruppe an und auch Stadtführer setzen verstärkt auf Fahrräder und Mikromobile. Neue Formen aktiver Mobilität könnten sich so zu einem Standbein für den Städtetourismus entwickeln. Gerade in der aktuellen Krise sicher kein schlechter Gedanke für Touristiker, Planer und kommunale Entscheider.


Bilder: stock.adobe.com – Peeradontax, stock.adobe.com – Peeradontax, Lime, Pressestelle der Stadt Hamm

Das Klima ist im Umbruch und mit ihm der alpine Tourismus. Neben dem Wintersport rücken Sommeraktivitäten, wie Wandern und Mountainbiken, immer stärker in den Fokus. Wie man damit umgeht, zeigen die Region Leogang und die „Bike Republic Sölden“. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Katrin blickt zu ihrem Mann. Sie hat ein Glas Hugo in der Hand, er greift zu seinem Bier. Im Hintergrund flutet die Mittagssonne die Leoganger Steinberge. Verliebt schauen sich die beiden Fünfziger in die Augen. Er im rosa Poloshirt mit beiger Chino, sie im farbenfrohen Sommerkleid. Fehlt eigentlich nur noch ein Oberklasse-Cabrio, das vor dem Biergarten geparkt steht, um die Szene aus einer Alpen-Romanze perfekt zu machen. Stattdessen schnoddert ein Teenie „Hey Papa, ich brauche noch Geld“. Der Sohn der beiden ist mächtig dreckverkrustet und seine Protektoren an Knien, Ellenbogen und Brust zeugen von einigen Stürzen. Klaus öffnet sein Portemonnaie und 50 Euro gehen an die nächste Generation über. Nicht der erste Schein und nicht der letzte, den die Eltern ihrem bikenden Nachwuchs hier zustecken. Wir sind in der Steinadlerbar direkt neben der Mittelstation der Asitzbahn oberhalb von Leogang. Anfang Juli im Corona-Jahr 2020 lässt sich hier live erleben, wie moderner Mountainbike-Tourismus funktioniert.

Auf Flowtrails kann man sehr einfach die Schwierigkeitsstufe wählen. Zur Naturnähe gehört immer auch Staub und bei Regen manchmal auch Schlamm. Mit Service und dem richtigen Zubehör aber alles kein Problem.

Gemeinsamer Urlaub mit Erlebnischarakter

Der Zögling nimmt das Geld und sieht zu, schnell wieder zum anderen Tisch zu kommen. Dort sitzen acht Jungs. Alle zwischen 15 und 18 Jahren alt, alle in Mountainbike-Kluft und alle in „Spendierlaune“: Der hölzerne Außentisch biegt sich fast unter der Last von Getränken und Burgern. Es wird viel gelacht, lautstark über die tagesaktuelle Traktion der verschiedenen Lines/Abfahrten diskutiert und Energie für die zweite Hälfte des Bike-Tages in Leogang getankt. Derweil erzählt uns Katrin, dass sie selbst lieber ans Meer gefahren wäre, der Bikepark aber die einzige Chance gewesen sei, Paul, den Sohn, zu einem gemeinsamen Sommerurlaub zu bewegen. So sitzen die beiden in trauter Zweisamkeit bei einem Absacker-Kaffee, während Paul mit seinen Kumpels Richtung „Bongo Bongo“-Line aufgebrochen ist.

Von Sorgenkindern zu wichtigen Umsatzbringern

An den Mountainbikern hängt mittlerweile viel Umsatz, nicht nur bei den jungen Leuten, in deren Windschatten die Eltern für touristische Erträge sorgen, sondern im Gesamten. Davon berichtet Kornel Grundner, Geschäftsführer der Leoganger Bergbahnen, und fasst zusammen: „Das Sommergeschäft wird noch wichtiger werden.“ Mountainbiker hatten es lange schwer, touristisch ernst genommen zu werden. Ein starkes Wintergeschäft mit Skifahrern und Snowboardern ließ die involvierten Regionen florieren. Im Sommer sorgten Wanderer und gesetztes Klientel, laut Grundner früher „vor allem 60 Jahre und älter“, für einen Grundumsatz in den Pensionen und Hotels, die einen, wenn auch ruhigeren Betrieb jenseits der Hochsaison im Winter erlaubten. Die Rechnung ging im Jahresmittel für Gastronomie und Hotellerie auf.
Urlauber auf dem Mountainbike passten in dieses Idyll kaum hinein. Ihre touristischen Anforderungen fanden sich in den eingespielten Prozessen nicht wieder und das Fahren auf (Wander-)Wegen war in manchen Regionen schlicht illegal. Noch heute sind Waldwege in Österreich zumindest offiziell tabu, sofern der Eigner diese nicht freigibt. Dass Mountainbiker dennoch als touristische Gruppe erschlossen wurden, hat zwei Ursachen. Zum einen ist ihre Anzahl stetig gestiegen und konnte ab einem gewissen Moment in kaum einer alpinen Region mehr ignoriert werden: Organisieren, Kanalisieren und Monetisieren taten Not. Zum anderen boten die radelnden Gäste eine Möglichkeit, Ineffizienzen aus dem Wintergeschäft abzuschwächen. Denn die in Anschaffung und Unterhalt sehr kostspieligen und ressourcenintensiven Bergbahnanlagen stehen für eine starke Dysbalance zwischen winterlicher und sommerlicher Nutzung. Grundner spricht heute von 85 Prozent Wintergeschäft für seine Bahnen. 2001, im Jahr als der Bikepark in Leogang gebaut wurde, waren es 96 Prozent. Anders sieht es übrigens bei den Übernachtungen aus. Hier sei bereits Parität zwischen Sommer- und Wintersaison. Auch, wenn die Wertschöpfung im Winter bislang noch höher sei. Wichtig ist die höhere Auslastung in der „grünen Saison“ auch mit Blick auf den Personalbedarf. So können aus „weißen“ Saisonkräften, die nur während der Wintermonate beschäftigt sind, Vollzeitkräfte werden. Das gibt dem einzelnen Angestellten Planungssicherheit und erlaubt Spezialisierung und Fortbildung.

„Wir haben von Anfang an versucht, keine gemischten Wege zu machen, also Mountainbiker und Wanderer gehören für uns nicht auf den gleichen Weg. Weil einfach zu unterschiedliche Geschwindigkeit vorherrschen.“

Kornel Grundner, Geschäftsführer Leoganger Bergbahnen

Alpen und Tourismus im Klimawandel

Die Klimaerwärmung trifft die Gebirge Untersuchungen zufolge schneller und intensiver als anderswo. In den Alpen ist das mehr als deutlich sicht- und spürbar: Gletscher schmelzen, die Winter werden kürzer, wärmer und unsteter und die Pistenqualität leidet selbst in der Hauptsaison. Auch wenn man vor Ort alles tut, um dem kränkelnden Patienten „Wintertourismus“ durch immer mehr Kunstschnee-Anlagen und Ähnliches zu helfen: Die Tourismusindustrie muss sich anpassen. Deshalb richtet sich der Blick immer stärker auf das Sommerhalbjahr – unter anderem mit Mountainbikern und anderen, jüngeren Erlebnis- und Aktivtouristen.

Differenzierter Blick auf „die Mountainbiker“

Wenn man heute von Mountainbikern spricht, dann lohnt sich ein genauer Blick. Denn so unterschiedlich die Bikes inzwischen sind, so unterschiedlich sind auch die Fahrerinnen und Fahrer – wobei es viel Sinn macht, beide Geschlechter mit unterschiedlichen Ansprüchen im Blick zu haben und auch den Nachwuchs nicht zu vergessen. Ebenso ausdifferenziert sind auch die Produkte, seitdem Mitte der 1990er-Jahre Federungssysteme beim Mountainbike Einzug hielten. Inzwischen reicht das Spektrum vom leichten Cross-Country-MTB für schnelle Fahrten auf und ab durch gemäßigtes Gelände über Enduro- und Allmountainbikes, die sich akzeptabel bergauf und lustvoll bergab bewegen lassen, bis zu Freeride-/Downhill-Boliden, die gänzlich fürs Bergabfahren optimiert sind. Nicht zu vergessen sind zudem Tourenfahrer und Trail-Reisende aus der Gravel- und Bikepacking-Szene. Und als wäre das alles noch nicht genug, gibt es die allermeisten Räder inzwischen auch mit Motor – unter anderem auch für Kinder. Die konsequente Ausgestaltung auf spezifische Ansprüche und Anwendungen brachte optimierte Räder hervor, mit denen auch „normal-talentierte“ sportliche Menschen am Berg oder im Bikepark fahren können, und schafft darüber hinaus einen neuen Zugang und neue Nutzergruppen, in denen Männer, Frauen, Junge, Alte, Kinder, Sportskanonen und weniger sportliche gemeinsame Erlebnisse genießen können. Für Touristiker ergibt sich damit ein Füllhorn neuer Möglichkeiten und Sportgeschäfte vor Ort können den Markt mit neuen Verleihangeboten gezielt weiter anschieben.

Früh übt sich! Ähnlich dem „Ski-Kindergarten“ kümmern sich Fahrtechnik-Bikeschulen um kleinste Biker und vermitteleln ihnen spielerisch den Umgang mit dem Rad. Solche Kurse gibt es natürlich auch für die Großen. Sehr empfehlenswert übrigens.

Hochwertige Infrastruktur zieht Kunden

Der Fokus der lokalen Bergbahnenbetreiber, die neben den Hoteliers meist Motor hinter der Entwicklung sind, liegt in der Regel auf stationären Angeboten, die auf eine lange Verweildauer der Gäste am Ort abzielen. Radtouristische „Durchreise-Projekte“ wie etwa sogenannte Transalp-Touren quer oder längs über die Alpen werden dagegen meist von Radreiseveranstaltern forciert. Wie gelingt es, Biker anzulocken und diese an den Standort zu binden? Noch vor zehn oder 15 Jahren genügte die schlichte Existenz von ein paar ausgewiesenen Strecken. Heute sind die Biker anspruchsvoller und die Anbieter offener und mutiger geworden. Sie übersetzen die Idee vom Wintersport auf den Sommer: Statt einzelne Abfahrten oder Hotels zu bewerben, kommunizieren sie ein Paket aus perfekter Sport-Infrastruktur der kurzen Wege mit Strecken, Liften, Gastronomie, Hotellerie und Dienstleistungen. Wie das in der Praxis aussieht, lässt sich in Leogang oder Sölden erleben. Beide Regionen konkurrieren seit geraumer Zeit darum, zu zeigen, wie der perfekte Mountainbike-Urlaub aussieht – mit unterschiedlichen Ansätzen.
Leogang baute zu Anfang bewusst schwierige, selektive Bike-Strecken mit dem Ziel, neue Gäste anzulocken. Es ging nach Grundners Worten nicht darum, dem Gast vor Ort eine neue Attraktion in sein Urlaubsprogramm zu schreiben, sondern neue Gäste zu bekommen, die mit dem traditionellen Wander-Angebot nicht adressierbar waren. Auf Basis dieses Rufs, dass Leogang ein biketechnisch anspruchsvolles Terrain ist, wurden die neuen Gäste mit immer neuen Strecken weiter umgarnt. In der Sprache der Wintersportler gesagt: Erst wurden die schwarzen Pisten für mutige Könner gebaut und zuletzt der Anfängerhügel. Geradezu gegensätzlich ging Sölden in die Bike-Offensive. Viele natürliche Mountainbike Downhill-Strecken haben in Leogang ein Durchschnittsgefälle von 20 Prozent. Das ist für Anfänger deutlich zu steil. Sölden wollte es deshalb entspannter: Deshalb wurde hier das Durchschnittsgefälle der Strecken halbiert. Mit sogenannten Flowtrails, also gebauten Abfahrten, die ein flüssiges, fließendes Fahrerlebnis (daher der Name) ermöglichen. Die lassen sich mit Grundkenntnissen auf dem Mountainbike quasi von jedermann mit ein wenig Mut und adäquater Ausrüstung fahren und bieten gleichzeitig ein wunderbares Naturerlebnis. Könner fahren Kurvenaußenranderhöhungen („Anlieger“) aus oder nutzen Wellen und speziell gebaute Elemente für Sprünge, die von anderen entspannt umfahren werden können. So sind gut gemachte Flowtrails für alle, vom Anfänger bis zum ambitionierten Biker, ein attraktives Terrain. Berühmtes Beispiel ist die „Tiäre-Line“ in Sölden: Gebaut vom ehemaligen Profi-Fahrer Joscha Forstreuther bedeuten die 130 Kehren auf kaum 5,2 Kilometern puren Flow und Fahrspaß, der auch international für Furore sorgte. Wichtig für Interessierte: Die Baukosten für diese Art der Streckenführung sind zwar höher, als wenn man auf steilere Trails zurückgreift, dem gegenüber stehen aber geringere Erhaltungskosten, da der Boden weniger beschädigt wird, obwohl in Summe mehr Leute darauf fahren.

Basis für Marketing- und PR-Offensive

Als „Bike Republic Sölden“ wird die Destination inzwischen in einem Kommunikationskonzept aus einem Guss international erfolgreich vermarktet. Vor Ort besteht kaum eine Chance, mehr als ein paar Minuten auf dem Bike unterwegs zu sein, ohne ein BRS-Signet zu passieren. Leogang ist mit dem Eigenmarketing dezenter und räumt dafür Sponsoren prominente Flächen auf sogenannten Wallrides oder Rampen ein. Dafür formiert sich Leogang mit Nachbar-Bikeparks zu „Österreichs größter Bikeregion“, so der Eigenanspruch, den die Website unterstreicht: „Über 70 km Lines & Trails und 9 Bergbahnen – Saalbach, Hinterglemm, Leogang, Fieberbrunn: Sechs moderne Bergbahnen in Saalbach Hinterglemm, zwei in Leogang und eine in Fieberbrunn bringen Biker schnell und bequem auf die schönsten Gipfel und zu den Einstiegen der lässigsten Trails. Saalbach Hinter-glemm gilt schon seit vielen Jahren als führende Mountainbike-Region in Österreich. Ein enormes Wegenetz von 400 km aller Schwierigkeitsstufen für Tourenfahrer und E-Biker lässt keine Wünsche offen.“

„Der Weg geht für mich dahin, dass das ein ganzes Familienangebot wird wie im Winter.“

Kornel Grundner, Geschäftsführer Leoganger Bergbahnen

Rollenklischees im Umbruch

Zwischenzeitlich sind wir via „Flying Gangster“-Line talwärts gesaust und haben unterwegs einen bikenden Querschnitt der Gesellschaft getroffen. Nach Fahrtechnik und Radbudget durchaus divers, nach Herkunft und Geschlecht sicherlich nicht. Biken ist auch hier bislang noch „weiß und männlich“ dominiert. Hinsichtlich der Geschlechter ist ein Wandel aber deutlich spürbar. „In den Anfängen war es zu 90 bis 95 Prozent ein Männerthema“, sagt Grundner und ergänzt: Aber „auch Frauen haben absolut Spaß an Freeride und Downhill“. Das braucht Vorbilder und der Bike-Großraum von Saalbach und Leogang spielt hier eine Trumpfkarte in der Kommunikation. Die heißt Valentina „Vali“ Höll und ist ein Star in der Downhillszene. Bereits als Juniorin fuhr die gebürtige Saalbacherin Zeiten wie die Profidamen und ist nunmehr mehrfache Weltmeisterin. Sie ziert Plakatwände, Banner und Poster in der Region und fungiert auch als Aushängeschild für die MTB-Weltmeisterschaften, die im Oktober in Leogang stattfinden.

Zukunftsweisend: Spielplatz für alle

Unten angekommen, setzen wir uns auf die Terrasse des Hotel Bacher und beobachten die Szenerie. Aus verschiedenen Lines kommen die Biker an unterschiedlichen Stellen aus dem Wald auf den Hang heruntergesaust. Dort können sie aus einer Vielzahl von Ausläufen in variierenden Schwierigkeitsgraden wählen. Mancher nimmt den großen Drop, andere einen mehrere Meter messenden Gap und eine Familie rollt ohne „Airtime“ (Sprünge) zur Talstation aus. Direkt daneben übt eine Gruppe Männer mittleren Alters in der Drop Area mit unterschiedlichen Sprunghöhen. Zwei Förderbänder, Zauberteppiche genannt, wie man sie aus dem Skitourismus oder dem Transit der Flughäfen kennt, erlauben den schweißfreien Weg zurück zum Ausgangspunkt im sogenannten Riders Playground. Diese Spielwiese ist das reinste Paradies für Biker jeden Alters und jeder Könnerstufe. An unterschiedlichen Hindernissen kann sich jeder schrittweise an die eigene Grenze herantasten und Fahrtechnik und Selbstvertrauen auf- und ausbauen. Es ist Konzept, die Besucher hier – zusammen mit einer Bike-Technik-Schule – fahrtechnisch fit für die Region und die Lines des Bikeparks zu machen. Großes Familienvergnügen: Für die kleinsten Biker gibt es Strecken, die sich sogar mit dem Laufrad meistern lassen. Davon wird reichlich Gebrauch gemacht. Uns erinnert das an die Skateparks oder Golf-Übungszentren am Stadtrand. Nur viel unterhaltsamer anzuschauen für den Außenstehenden und natürlich die Familien oder Freundeskreise.

Eine gute Beschilderung ist ein wichtiger Baustein für ein reibungsloses Mit- bzw. Nebeneinander.

Blick aus der Gondel auf den Auslauf mit den Routenoptionen der verschiedenen Lines.

Kritik zeigt Bedarf nach Kommunikation und Planung

So entspannt und genussvoll sich der Besuch eines Bikeparks in Sölden oder Leogang gestaltet, so krampfig war deren Entstehung. Da waren zum einen die Widerstände vor Ort. Mancher Wintertourismusanbieter sah im vergleichsweise ruhigen Sommer den genau richtigen Gegenpol zum hektischen Winter. Die benötigten Flächen mussten gekauft oder gepachtet, gestaltet und dann unterhalten werden. So sind allein in Leogang zehn Mitarbeiter im Sommer für die „Trailpflege“ angestellt. Nutzungsrechte für Wege und Wiesen waren einzuholen und Vorbehalten des Naturschutzes und zur Störung anderer Touristen musste entgegnet werden. Ein ganz wichtiger Faktor sind auch die Bauern, die die Wiesen im Sommer für ihre Weidetiere beanspruchen. Sie von den Projekten zu überzeugen, sei teilweise eine Mammutaufgabe, wie Dominik Linser, Projektleiter der Bike Republic Sölden, erklärt. Einer seiner Ansätze: Die Köche im Ötztal nutzen gezielt Produkte aus der heimischen Landwirtschaft. So profitieren die Bauern vom wachsenden Sommertourismus. „Mittlerweile wollen einige Landwirte sogar lieber eine Mountainbike-Strecke auf ihrem Gebiet als einen Wanderweg“, erläutert Linser und liefert die Begründung: „Mountainbiker haben keine Hunde dabei, die die Tiere erschrecken können.“
Bei jeder neuen Line gehen die Verhandlungen jedoch von vorn los. Dabei ist die Zusammenarbeit mit den Landwirten sogar von Vorteil für die Trailbauer: Sie kennen die Untergründe durch jahrelange Erfahrung und wissen zum Beispiel, wo feuchte Stellen sind, die man besser umgehen sollte. Kritik an Bikeparks gibt es auch aus der Mountainbike-Szene selbst: Spezielle Parks seien Steigbügelhalter für die Argumentation, Bikeverbote in der Region auszusprechen mit dem Verweis, es seien doch extra Bikeparks eingerichtet worden. Auch hier sollte man immer daran denken, dass es eben keine homogene Kundengruppe gibt und die einen Biker überhaupt kein Interesse an den künstlichen Welten von Parks, andere kein Interesse an Liften haben und wieder andere genauso gerne auch den Uphill-Flow auf dem E-Mountainbike genießen.

Lukrativ und mit nachhaltigem Effekt

Mountainbiker sind eine attraktive Zielgruppe, die mit passend adressierten Angeboten sehr lukrativ für eine Region sein kann. Neben adäquaten Strecken braucht es auch ein komplettes Netz aus Ansprache, Strecken, Service, Gastronomie, Hotellerie und Rahmenprogramm mit alternativer Freizeitgestaltung. Anders als Ski-Touristen sind Mountainbiker auch deutlich anpassungsfähiger an Wetter und Witterung. Ihre Saison kann mit abgetautem Schnee beginnen und reicht, dank extra breiter Reifen, bis zur ersten geschlossenen Schneedecke. Es gibt bereits viele kleinere Bikeparks auch in deutschen Mittelgebirgen, die zeigen, dass auch ein kleineres Streckennetz sehr wohl konkurrenzfähig ist, besonders wenn es sich im Einzugsbereich größerer Metropolen befindet oder keine direkte Konkurrenz hat. So haben die Bikeparks im Harz ein Einzugsgebiet, das von Berlin über Hamburg bis nach Dänemark reicht. Dass Flowtrail im großen Stil auch ohne Lifte erfolgreich sein kann, zeigt der tschechische Park „Singltrek Pod Smrkem“. Er kombiniert rund ein Dutzend Flowtrail-Runden, die sich nahezu beliebig befahren lassen.
Die Effekte für die Destination sieht Bergbahnchef Grundner sehr positiv: „Wir bekommen eine zweite Saison, die nicht mehr nur dem Preiskampf ausgeliefert ist“, denn so sei das früher gewesen: Die Winterkapazitäten wurden im Sommer quasi verramscht. Dieses Prinzip kann man sich mit dem zunehmenden Abschmelzen der Wintersaison heute gar nicht mehr leisten. Statt Kapazitäten werden im Sommer deshalb verstärkt Erlebnisse vermarktet und so kann ein neuer Qualitätstourismus gedeihen: „Wir haben jetzt mehr Vier-Sterne-Hotels“, betont Grundner. Dazu kämen das Leihgeschäft und der Zusatzverkauf von Ausrüstung, Bekleidung und Ersatzteilen. Dominik Linser sieht in seiner Heimat Sölden inzwischen sogar einen prägenden Effekt für die Bewohner der Region: „Mountainbiken wird bei der Jugend immer beliebter. Unser Mountainbike-Club hat mittlerweile rund 140 junge Mitglieder.“ Durch den Sport lernen die Jugendlichen eine neue Heimatverbundenheit, Bergsportbegeisterung und bekommen erste Einblicke in den Tourismus – was wiederum langfristig für heimischen Nachwuchs bei Bergführern, Trainern, Guides oder auch Hoteliers sorgt und der Landflucht entgegenwirkt.

Unser Autor Gunnar Fehlau (links) war in der Vergangenheit mehrfach auf Einladung in der Bike Republic Sölden, um Reportagen zu realisieren, und wurde für diesen Artikel nach Leogang eingeladen. Eigene Erfahrungen und echte Begeisterung für den Bike- und Mountainbike-Tourismus in seinen unterschiedlichsten Facetten bringen aber alle im VELOPLAN-Team mit.


Bilder: Gunnar Fehlau, Tourismusverband Saalbach Hinterglemm, Felix Hens, Klemens König – Leogang

Radrouten sind für die touristische Erkundung einer Region bestens geeignet, sie helfen aber auch beim Alltagsverkehr, vor allem in der Stadt. Das Kölner Planungsbüro Via erläutert, warum eine gute Wegweisung auch in Zeiten von Apps unverzichtbar ist. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


„Natürlich sind die bekannten Wegweiser auch Werbung für den Radverkehr“, sagt Michael Schulze vom Kölner Planungsbüro Via. Eigentlich sind sie aber viel mehr. Bei Via werden unter anderem Fahrrad-Wegweisesysteme für Städte geplant und entwickelt. Die vor weißem Hintergrund rot oder grün bedruckten Schilder in 20 mal 80 Zentimetern Größe kennen wir alle. Aber sind diese Leitsysteme in Zeiten von Smartphones am Lenker und Software wie Komoot oder Google Maps überhaupt noch wichtig?

Schilder werben und lenken

In der City finden sich auf den langen Schildern für den Alltags-, aber auch den touristischen Verkehr Hinweise auf wichtige Orte wie Bahnhöfe, Kirchen oder wichtige Plätze mit Sehenswürdigkeitscharakter. Außerhalb leiten die Schilder in die nächsten Orte, zum Badesee, zu kulturellen Stätten oder Aussichtspunkten. Gelegentlich zeigen Piktogramme neben diesen Orten auch besonders steile Wegabschnitte, einen Park-and-Ride-Parkplatz oder auch eine Geschäftsstelle des ADFC. Viele Informationen für den Radfahrer auf kleiner Fläche also. Unterschieden wird deshalb zwischen dem genannten Vollwegweiser und dem Zwischenwegweiser – also der kleine Pfeil mit dem Fahrrad-Symbol darunter auf quadratischen Flächen. Die ersten Funktionen sind damit klar: Sie erleichtern den Weg, lenken die Radler, zeigen Entfernungen und werben gleichzeitig für interessante Ziele.

Große Unterschiede zur GPS-Navigation

Wer den Weg per Fahrradnavigation und Wegweisung vergleicht, kann oft einen deutlichen Unterschied feststellen: Die Wegweiser-Route ist gelegentlich etwas länger, dafür aber ruhiger und bietet meist mehr Erlebnischarakter; sei es aufgrund der Landschaft, durch die sie führt, oder wegen der Points of Interest, die dort vorbeigleiten. Zumindest dann, wenn es sich um touristisch relevante Regionen handelt. Natürlich funktioniert das auch für Einheimische, die so potenziell komfortabler und sicherer unterwegs sind. Tipp: Einfach ausprobieren. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Planungs-Auftraggeber haben eigene Schwerpunkte in Sachen Qualität, Direktheit der Verbindungen und Gefälligkeit der Strecke. „Das wichtigste Kriterium für die Qualität einer Route ist natürlich die Fahrradinfrastruktur beziehungsweise die Eignung der Wege für den Fahrradverkehr“, betont der Geograf Michael Schulze. Beim Planungsbüro Via werden auch Radverkehrskonzepte erstellt und klassische Radweganlagen geplant und entwickelt, „was teilweise eher schon in den Ingenieurbereich geht“, erklärt Schulze. Aber es gibt eben auch die Fahrrad-Wegweisung als Aufgabengebiet, eine Kernkompetenz von Via. Zudem müsse man natürlich berücksichtigen, dass nur wenige Radler ein Navi oder das Handy mit GPS-Wegweisung ständig am Lenker hätten.

Die Standorte der Schilder werden nach Gesichtspunkten wie Sichtachsen, Auffälligkeit in der Umgebung etc. penibel geplant. Dafür gibt es Empfehlungen der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen.

Wechselwirkung mit anderen Verkehrsträgern

Bedarf gibt es überall dort, wo in den letzten Jahren nichts oder wenig in Richtung Radrouten getan wurde, so sehen es die Planer. Selten gibt es Aufträge, wo von Grund auf ein neues Netz erstellt werden soll. Meist ist schon ein Radroutennetz vorhanden, und es soll überarbeitet werden. Und das aus guten Gründen. „Wenn einmal 15 Jahre lang nichts am System verändert worden ist, dann kommt das fast einer Neuplanung gleich“, erläutert Schulze. Verkehr sei dynamisch und Veränderungen im Auto- oder Fußgängerverkehr wirkten sich oft direkt auf den Radverkehr aus. Alles hängt mit allem zusammen. Das ist oft auch der Grund, weshalb manche Routen in der Praxis plötzlich nicht mehr funktionieren: So wird aus einer Straße eine Einbahnstraße und der Radweg endet damit plötzlich im Nichts. Oder eine Straße wird zur Fußgängerzone und für die Fahrradfahrer heißt es plötzlich „draußen bleiben“. Es gelte viele Ansprüche zu befriedigen, sagt Schulze. Ein Punkt, den viele aus ihrer eigenen, fixen Perspektive, zum Beispiel als Radler, Autofahrer oder Wanderer, oft vergessen. Dazu käme, „dass Kompromisse eben dauern“. Das geht so weit, dass bei manchen Projekten vor der Fertigstellung die Grundvoraussetzungen plötzlich andere sind. Denn leider sei es immer noch in den wenigsten Städten und Regionen so, dass die Radverkehrs-Infrastruktur an erster Stelle stehe.

Von der Idee zur Umsetzung

Wie kommt man eigentlich vom Bedarf bis zur fertig ausgeschilderten Radwegweisung? „Der gängigste Weg, wie Behörden Kontakt mit dem Planer aufnehmen, ist die Angebotsaufforderung“, sagt Schulze. Allerdings nur, solange keine Ausschreibung stattfinden muss, was beispielsweise ein bestimmtes Kostenvolumen für das Projekt vorschreibt. Diese Summe kann von Bundesland zu Bundesland variieren. Meist ist zudem ab 250.000 Euro eine europaweite Ausschreibung fällig. Der Großteil der Aufträge für die Radrouten-Wegweisung läge allerdings ohnehin unter dieser Summe. Die eigentliche Arbeit beginnt dann mit der Sichtung und Prüfung vorhandener Strukturen: Wo gibt es Lücken in einem Routennetz, wo will man weiterleiten? Neu in Auftrag gegebene Routen werden ins vorhandene Netz eingepflegt. Zu beachten sind dabei bundeseinheitliche Richtlinien und die Vorgaben der Gemeinden. So geht es zum Beispiel bei einem Auftraggeber um eine möglichst schnelle Führung zu den anvisierten Punkten, bei einem anderen um möglichst ruhige Strecken oder darum, möglichst viele Netzschnittpunkte zu erreichen. Andere Kriterien sind „steigungsarm“ oder „alltagstauglich“, was in der Praxis unter anderem „beleuchtet“ heißt. Die Planung liefe auch politisch nicht immer reibungslos: Nicht immer zögen beispielsweise die einzelnen Gemeinden und deren Behörden mit dem Bundesland an einem Strang. Überhaupt hänge eine fahrradoptimierte Planung oft mit einzelnen Personen bei der auftraggebenden Behörde zusammen. Auftraggeber ist meist das Straßenbauamt, das Amt für Straßenverkehrswesen oder das Verkehrsmanagement einer Kommune.

„Eine fahrradoptimierte Planung hängt oft mit einzelnen Personen bei der auftraggebenden Behörde zusammen.“

Michael Schulze, Planungsbüro Via

Ringen um den optimalen Weg

Der Entwurf der Wegweisung wird mit den Auftraggebern besprochen, gegebenenfalls Änderungsvorschlägen nachgegangen. Denn die optimale Wegweisung ist nicht immer das, was der Auftraggeber wünscht, wenn dadurch Einschränkungen oder besondere Kosten entstehen. Bei alledem helfen Erfahrung, Fingerspitzengefühl – und der Computer. So ist bei Via über die Jahre zusammen mit einem IT-Partner ein spezielles Computerprogramm für die Konzeption und das Management von Leitsystemen entstanden. Es ist laut Via nicht nur für Fahrradleitsysteme, sondern auch für Kfz- oder Mountainbike-Leitsysteme nutzbar und unterstützt die Planung: Standortwahl, Zielauswahl, Themenroutenauswahl, relevante Entfernungen, Steigungen, alles ist über Datenbanken integriert. Mit ihm werden zwar keine Kriterien zur Routenwahl erarbeitet, aber es erleichtert die Arbeit der Planer deutlich.

Ein Stück Fahrradkultur entsteht

Die Standorte der einzelnen Schilder werden nach Gesichtspunkten wie Sichtachsen, Auffälligkeit in der Umgebung etc. penibel geplant. Dazu sind Mitarbeiter wie Schulze zur Sichtung der tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort. Dazu kommt: Nicht überall dürfen Schilder aufgestellt werden. Oft braucht es dazu privaten Grund, was zusätzlich Zeit und Geld kostet. Für die Wegweiser selbst und deren Aufstellung gibt es Empfehlungen, die von der Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen entwickelt wurden. Aber nicht alle Gemeinden halten sich daran, oft aus finanziellen Erwägungen. Lohnenswert ist es allerdings schon, denn bei solider Planung und guten Ausführung entsteht so ein echtes Stück sichtbarer Fahrradkultur für die Öffentlichkeit.


Bilder: stock.adobe.com – hkama, Georg Bleicher

150 Prozent mehr Ausleihen als im Vorjahr durch Corona. Das ist die Bilanz von „Rad und Tour“ an der Nordsee in Cuxhaven. Neben Touristen sorgen auch viele Einwohner für einen Run auf Mieträder und E-Bikes. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Mit dem Lockdown Ende März mussten Fahrradhändler in vielen Städten ihre Geschäfte schließen. Sie durften zwar noch Räder reparieren, aber sowohl das Verkaufen als auch die Vermietung waren vielerorts verboten. Die Entscheidung war umstritten. Denn viele Menschen, die vorher gar nicht oder selten per Bike unterwegs waren, wollten nun Radfahren – in ihrer Freizeit und im Alltag. Einige Händler fanden ebenso kreative wie nachhaltige Lösungen und brachten die Menschen trotz des Lockdowns aufs Rad.

Mehr Bewegung an der frischen Luft

Einer von ihnen ist Thorsten Larschow aus Cuxhaven. Er hat vor 27 Jahren sein Geschäft „Rad und Tour“ in Cuxhaven eröffnet. Für ihn war der Slogan „stay at home“ zu Beginn des Lockdowns die falsche Strategie. „Corona ist eine Lungenkrankheit. Ich finde, die Leute sollten nicht zu Hause sitzen, sondern sich bewegen. Am besten draußen im Wald, in einer Umgebung, die gesund ist“, sagt er. Dafür ist das Fahrrad perfekt. Man kann damit gemütlich die Promenade ent-langrollen, aber auch mit Abstand Sport treiben. Larschow betreibt neben seinem Geschäft eine Mietradflotte mit 700 Fahrrädern und E-Bikes für Ausflügler und Feriengäste. Die meisten davon standen seit Ende März in den Lagern. Als ein Lieferdienst ihm 50 neue E-Bikes auf den Hof stellte, hatte er eine Idee. Er durfte die Räder zwar nicht vermieten, aber kostenlos verleihen. Unter der Devise „Bewegt euch!“ warb er auf Youtube und Facebook für die kostenlose Ausleihe. Das sprach sich schnell in Cuxhaven und Umgebung herum. 24 Stunden nach dem Aufruf standen die ersten Anwohner auf seinem Hof, bereit für einen Ausflug per Bike.

Große Begeisterung für E-Bikes

Die Ausleihe selbst war kontaktlos. Die Leute hatten online gebucht, ihre Anschrift auf dem vorbereiteten Formular auf einem Stehtisch im Hof hinterlassen und konnten so das vorbereitete Rad direkt mitnehmen. 50 Tage ging das so. Was den Radsportler Larschow besonders freut: Viele der Nutzer waren das erste Mal mit einem E-Bike auf Tour. „Es gibt immer noch viele Menschen, die E-Bikes ablehnen, weil sie meinen, Fahren mit Motor sei nur etwas für Ältere“, sagt er. Sie kamen begeistert zurück.

Neu: Online-Verleih und Lieferservice

Mit den Lockerungen strömten im Mai auch die Gäste an die Nordsee und mit ihnen zogen die Buchungen an. „Wir haben 150 Prozent mehr Ausleihen als im Vorjahr“, sagt er. Von Hektik im Laden spürt man aber wenig. Bereits vor 20 Jahren hat er für seine Mietradflotte ein Online-Buchungsverfahren eingerichtet. Die Gäste sehen so das gesamte Sortiment und reservieren nach Bedarf inklusive Zubehör. 50 Prozent der Gäste lassen sich die Räder zur Ferienwohnung liefern. Das ist in Larschows Service inbegriffen. „Gerade für Familien mit kleinen Kindern ist das praktisch“, sagt er. Wer nur ein paar Hundert Meter zur Leihstation laufen muss, kommt in der Regel selbst vorbei. Während die Online-Buchungen vor Corona unter 20 Prozent betrugen, liegen sie jetzt seinen Schätzungen zufolge zwischen 60 und 70 Prozent.

„Der Radtourismus ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Region“

Thorsten Larschow, Rad und Tour

Fahrräder als Verkehrsmittel unterschätzt

Der große Ansturm auf seine Mieträder spiegelt sich auch sonst in Cuxhavens Zentrum wider. Die kleine Innenstadt ist voll mit Radtouristen und Alltagsradlern, die sich auf den Straßen tummeln oder durch die Fußgängerzone flanieren. Die Fahrradständer sind überfüllt. Rechts und links von ihnen werden in langen Reihen Räder abgestellt. „Der Radtourismus ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Region“, so Larschow, das sei schon lange vor Corona so gewesen. „Aber das touristische Fahrrad als Verkehrsmittel hat die Politik vor Ort noch nicht im Blick.“ Das zeige das neue Verkehrskonzept für Urlauber: Um zu verhindern, dass Einheimische, Urlauber und Tagesgäste mit dem Auto an den Sandstrand nach Duhnen fahren, haben die Entscheider eine Park-and- Ride-Anlage in Cuxhaven gebaut.
Autofahrer können ihren Pkw im Zen-trum am Kreishaus abstellen und dann per Shuttlebus im Viertelstundentakt in den vier Kilometer entfernten Kurort weiterfahren. An eine Fahrradverleih-Station habe allerdings niemand gedacht. „Warum gibt man den Leuten nicht die Möglichkeit, aufs Rad zu steigen?“, fragt Larschow. Er ist sich sicher: „Einige würden das Angebot lieber nutzen, statt den Bus zu nehmen.“ Familien und Senioren, die auf den Shuttle angewiesen sind, hätten dann auch deutlich mehr Platz. Insgesamt zeigen die Erfahrungen an der Nordsee sehr klar die Bedürfnisse der Menschen.


Bilder: Mailin Busko / Rad und Tour