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Radfahren wird im politischen und gesellschaftlichen Kontext vor allem als verkehrstechnische Chance und Herausforderung behandelt. Das Potenzial des Fahrrads zur Eindämmung vieler Volkskrankheiten wird hingegen in der öffentlichen Diskussion seltener beachtet. Daran ist auch das Ressortdenken in Politik und Verwaltung mitschuldig. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Das von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlene Mindestmaß an Bewegung liegt bei 150 Minuten intensiver Bewegung bei gleichzeitig zweimaligem Krafttraining pro Woche. In Deutschland erreichen nur 20 % der erwachsenen Bevölkerung dieses Ziel im Alltag. Bei Kindern und Jugendlichen sieht es kaum besser aus. Schon vor der Covid-19-Pandemie bewegten sich zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen nicht genug. Seit 2020 hat sich die Situation noch verschärft: Im vergangenen Jahr stellten verschiedene Studien fest, dass sich die Hälfte der Kinder noch weniger bewegt als vor der Pandemie, 25 % essen mehr Süßigkeiten, jedes sechste Kind leidet unter Gewichtszunahme.
Welche Konsequenzen die Bewegungsarmut der nachwachsenden Generationen für die Zukunft der Gesellschaft haben wird, ist in der Gesamtheit bisher kaum abzuschätzen. Aktuelle Studien zu den geschätzten Folgekosten oder zum volkswirtschaftlichen Nutzen von Sport und Bewegung im Allgemeinen gibt es kaum. Der „Global Status Report on Physical Activity“ der WHO von 2022 geht jedoch davon aus, dass in der aktuellen Dekade weltweit 500 Millionen Menschen unter Zivilisationskrankheiten leiden werden. Dabei geht die WHO von Folgekosten in Höhe von 27 Mrd. US-Dollar für die Behandlung unter anderem von Herz-Kreislauf-Leiden, Adipositas und Diabetes aus, welche hauptsächlich für die entwickelten Industrieländer anfallen werden. Wissenschaftler*innen mahnen schon seit Jahren, dass es eines Paradigmenwechsels hin zu mehr Bewegung bedarf.

Dienstrad-Leasing schafft nicht nur zusätzliche Anreize für Arbeitnehmer*innen, sondern zahlt positiv auch unmittelbar auf die Krankheitstage der Beschäftigen ein.

Politik und Bewegung

Verkehrspolitik sei bislang sehr technisch geprägt, sagt die Bundestagsabgeordnete Swantje Michaelsen. Die Grünen-Politikerin ist Co-Vorsitzende des Parlamentskreises Fahrrad im Bundestag und Mitglied des Verkehrsausschusses. Das Fahrrad als Querschnittsthema habe es schwer in einem von Ressortdenken geprägten System. Die engen festgelegten Zuständigkeiten erschweren eine ressortübergreifende Zusammenarbeit. Dies sehe sie auch im Gesundheitsbereich, in dem wiederum das Thema Alltagsmobilität zu kurz käme. Um in diesem politischen Koordinatensystem systemische Veränderungen zu initiieren, bedürfe es einer enormen Anstrengung. Auf Initiative einiger fahrradaffiner Gesundheitspolitiker*innen wird nun die nächste Sitzung des überparteilichen Parlamentskreises zu dem Thema „Fahrrad und Gesundheit“ ausgerichtet. Anzeichen für ein Umdenken also. Offenbar auch seitens des Bundesministers für Gesundheit – zugesagt hat auch Sabine Dittmar, parlamentarische Staatssekretärin des Ministers.

Die Sportwissenschaftlerin Susanne Tittlbach hat zusammen mit Kollegen ermittelt, dass ein per Rad zurückgelegter Arbeitsweg das Gesamtmortalitätsrisiko im Vergleich zum Gehen um mehr als das Doppelte reduziert.

Fahrradfahren als Beitrag zum Kampf gegen Bewegungsarmut

In einem demnächst erscheinenden Artikel haben sich die wissenschaftler*innen Professorin Susanne Tittlbach, Dr. Julia Lohmann und Professor Peter Kuhn mit dem Thema „Bewegung, Gesundheit und Nachhaltigkeit“ auseinandergesetzt. Sie beschäftigen sich auch mit dem Thema Fahrradmobilität als Verknüpfung von Bewegung, Gesundheit und Nachhaltigkeit. In der mit dem Fahrrad praktizierten aktiven Mobilität sehen sie eine große Chance für die Bekämpfung von Bewegungsarmut.
Sowohl aus der Perspektive der Public Health als auch der Global Health könne man auf eine Reihe positiver Faktoren verweisen. Auch wenn das Radfahren im Alltag das Krafttraining als einen Teil der WHO-Bewegungsempfehlungen nicht ersetzen kann, wäre der Aspekt der ausdauerorientierten Aktivität der WHO-Bewegungsempfehlung über die Woche allein über die Arbeitswege erreichbar, wenn an fünf Tagen ein je 15-minütiger Hin- und Rückweg zur Arbeit aktiv mit dem Rad zurückgelegt würde.
„Ein per Rad zurückgelegter Arbeitsweg senkt das Gesamtmortalitätsrisiko um mehr als das Doppelte im Vergleich zum Gehen. Zusätzlich sind weitere Präventionseffekte möglich, beispielsweise auf Diabetes- oder Krebsrisiko, auf welches ausschließliches Gehen im Alltag keine signifikanten Effekte aufweisen konnte“, heißt es in dem zuvor erwähnten Artikel. Infrastrukturelle Voraussetzungen für einen Arbeitsweg per Fahrrad zu verbessern, lohnt sich also auch aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Hinzu kommt der positive Einfluss auf die mentale Gesundheit. Laut Tittlbach, Lohmann und Kuhn zeigen sich in den wenigen vorhandenen Studien dazu „positive Assoziationen von aktiver Mobilität mit mentaler Gesundheit, kognitiven Fähigkeiten und geringer wahrgenommenem Stress“. Dies können Fahrradfahrende leicht aus eigener Erfahrung bestätigen. Mit dem Rad ließen sich also die gesellschaftlichen Folgekosten von Bewegungsarmut buchstäblich „runterfahren“.

Initiativen wie die Aktion Fahrrad wollen das Fahrrad an den Schulen nicht nur als Verkehrsmittel, sondern auch als Sportgerät stärker verankern.

Das Fahrrad in der Bildung

„Bildungspolitik ist die beste Sozialpolitik. Sie ist auch die beste Wirtschaftspolitik, die beste Klimaschutzpolitik“, sagte die Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) Jutta Allmendinger jüngst im Interview. Ebenso wie Gesundheitspolitik, könnte man ergänzen. Doch gerade im Bildungsbereich hat Bewegung in Form des Sportunterrichtes eine schwache Position. Schulen haben zum Teil keine benutzbare Sporthalle, oft wird der Unterricht von fachfremden Lehrerinnen ausgeübt. Es verwundert kaum, dass sich das im gesundheitlichen Status von Kindern und Jugendlichen niederschlägt. Die Active Healthy Kids Global Alliance, eine internationale Vereinigung von Wissenschaftlerinnen, hat in der Global Matrix 4.0 den Status der körperlichen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen untersucht und konnte trotz relativ guter Voraussetzungen hinsichtlich der Rahmenbedingungen hierzulande nur die Note 4 vergeben.
Verkehrsverbände wie der VCD und der ADFC und auch einige Krankenkassen haben sich auf die Förderung aktiver Mobilität auf dem Schulweg der Kinder konzentriert. Diesen mit dem Fahrrad zu erfahren, verringert nicht nur die durch Elterntaxis verursachten Autounfälle. Positive Gesundheitswirkungen sind auch im physischen und psychosozialen Bereich nachweisbar, etwa im Hinblick auf körperliche Fitness, der kognitiven Leistungsfähigkeit und dem Sozialverhalten. Signifikant ist auch die damit einhergehende Abnahme von Verkehrsunfällen und verunfallten Kindern in der Nähe von Schulen.
Man könnte jedoch mit dem Fahrrad auch direkt in die Schule vordringen: Eine Integration des Fahrrades in den Sportunterricht würde gesundheitspolitisch ebenso wie verkehrstechnisch positive Effekte haben. Radfahren als Kulturtechnik ist ebenso wie Schwimmen enorm wichtig. Ihm komme für die Ausprägung einer Bewegungskompetenz eine große Bedeutung zu, so Professor Tittlbach im Interview. Doch das Fahrradfahren sei zwar als Wahlfach sehr beliebt, im Sportartenkanon aber nicht obligatorischer Bestandteil der Lehrerinnenausbildung. In Berlin kann man inzwischen an einigen Schulen bereits Radfahren als Abiturfach belegen. Weiteres Potenzial für die Integration des Fahrrades in den schulischen Bereich könnte auch über das Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) erschlossen werden, welches ab 2026 schrittweise rechtskräftig werden wird. In der Umsetzung stellt das Gesetz die Schulbetreiber vor enorme Herausforderungen. Ohne externe Partnerinnen wird eine hochwertige Einbindung von Bewegungskonzepten in den Ganztagsbereich kaum möglich sein. Hier sind zum einen die Radsportverbände gefragt, welche ohnehin über Nachwuchssorgen klagen. Aber auch der VCD könnte hier seine Erfahrung in der Mobilitätsbildungsarbeit einbringen, so Anika Meenken vom VCD. Die dringend nötige personelle Unterstützung könnte aber auch aus der fahrradaffinen Zivilgesellschaft kommen. Je nach geografischer Verortung ist eine Heranführung ans Mountainbike oder ans BMX auch unter dem Aspekt der Ausbildung zukünftiger Olympioniken vielversprechend. Eine Einbindung des Einrades oder von Mannschafts-Ballsportarten wie Radball oder Radpolo könnte auch der Popularität der Radsportarten nutzen. Denkbar ist auch eine Kooperation mit der Fahrradwirtschaft, immerhin ist ein Heranführen von Kindern an das Fahrrad auch für sie nicht unwichtig. E-Scooter und andere relativ neue Formen der Mikromobilität stehen ebenfalls bereit, den Kund*innen von morgen flexible Mobilität zu ermöglichen.

Projekte zur Stärkung des Fahrradfahrens für Kinder und Jugendliche

Das Projekt „Zu Fuß und mit dem Fahrrad zur Schule und zum Kindergarten“ ist eine Mitmachaktion für Kinder, die seit knapp 20 Jahren vom Deutschen Kinderhilfswerk und dem VCD durchgeführt wird. Jeden September werden Schulklassen und Kindergartengruppen zu Aktionen aufgerufen, bei denen sie lernen, den Weg zum Kindergarten oder zur Schule selbst zurückzulegen.

www.zu-fuss-zur-schule.de

„FahrRad! Fürs Klima auf Tour“ ist ein Fahrradkilometer-Wettbewerb für Jugendgruppen. Ziel ist es, gemeinsam möglichst viele Fahrradkilometer zu sammeln. Jeder geradelte Kilometer wird zusammengerechnet und ins Internet übertragen.

www.klima-tour.de

Der VCD Bildungsservice bietet umfangreiche Lehr- und Lernmaterialien rund um das Thema nachhaltige Mobilität vom Kindergarten bis zur Berufs- und Hochschule und für außerschulische Bildungseinrichtungen.

bildungsservice.org

Eine weitere Aktion ist die Kidical Mass, die zweimal jährlich von einem breiten Aktionsbündnis, dem auch ADFC und VCD angehören, organisiert wird.

kinderaufsrad.org

Außerdem gibt es die AKTIONfahrRAD , die gemeinsam mit Partnerinnen aus der Fahrradwirtschaft deutschlandweit (Schul-)Projekte wie beispielsweise die Schoolbikers umsetzt, Schulen Fahrräder zur Verfügung stellt und sich in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen engagiert.

www.aktionfahrrad.de

Gesunde Arbeitnehmer*innen

Schon 2016 belegte eine Studie, wie sehr Radfahrende im ökonomischen Interesse von Arbeitgeberinnen liegen. Menschen, die ihren Arbeitsweg ganzjährig zu Fuß oder mit dem Rad zurücklegen, wiesen durchschnittlich zwei Krankheitstage weniger auf, haben einen niedrigeren BMI-Wert, sind zufriedener und bleiben länger arbeitsfähig. Den Grünen Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar veranlasste diese positive Bilanz zu der Forderung nach einem zusätzlichen Urlaubstag für alle, die regelmäßig mit dem Rad zur Arbeit fahren. Seine Forderung wurde damals auch aus Angst vor einer „Gesundheitspolizei“ abgewiesen. In Anbetracht einer längeren Lebensarbeitszeit und des demografischen Wandels wird das Thema Gesundheit im Arbeitskontext jedoch weiter an Bedeutung gewinnen.
Der Gesetzgeber hat in den letzten Jahren eine Reihe von steuer- und beitragsfreien Zuschüssen zur Gesundheitsförderung von Beschäftigten ins Leben gerufen. Diese Präventionsmaßnahmen und finanziellen Anreize kommen aber der Bewegungsförderung mit dem Fahrrad nicht zugute. Hier wäre ein Inspirationsschub in Richtung Fahrrad für die Politik hilfreich.
Die gängigste Maßnahme, die Arbeitgeberinnen zur Förderung des Fahrrades zur Hand haben, ist das Dienstrad-Leasing. Mit ihm wird betriebliche Mobilität ebenso wie der Verkauf hochwertiger Fahrräder gefördert. Doch nur 4 Prozent der Bevölkerung können bislang von entsprechenden Angeboten profitieren. Betrachtet man es genau, ist ein klarer Objektfokus auf das Fahrrad erkennbar; die Gesundheit der Fahrradfahrenden steht dabei nicht im Mittelpunkt. Wie oft das geleaste Rad am Ende tatsächlich bewegt wird, ist weder für den Gesetzgeber und Arbeitgeberinnen noch für die Fahrradwirtschaft entscheidend. Technisch betrachtet wäre die Erfassung der real gefahrenen Kilometer durchaus machbar und beispielsweise als Grundlage für Boni der Krankenkassen denkbar.

Ein praktischer Blick nach vorn

Für Kommunen ergäbe sich durch die Wertschätzung der bewegungsfördernden Effekte des Fahrrades eine zusätzliche Motivation und Argumentation für den Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur. Auch neue Fördertöpfe ließen sich durch einen Fokus auf den Bereich Gesundheit und Bewegungsförderung bereitstellen oder zielführend abschöpfen. Ebenso sollten strategische Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention Fahrradmobilität mit einbinden. Ein Beispiel hierfür ist der Entwicklungsplan Sport, in dem das Potenzial des Fahrrades unbedingt sichtbar sein sollte.
Die Fahrradwirtschaft hätte die Option, ihren Beitrag zur Bewegungsförderung jenseits des Verkaufens von Fahrrädern auszuweiten. Eine Möglichkeit hierfür wäre etwa eine Verstärkung des kommunalen Engagements, beispielsweise durch Aktionen pro Fahrrad in Schulen und Sportvereinen. Auch ehrenamtliches Engagement, das im Bereich „Sport und Bewegung“ auf eine lange Tradition zurückblicken kann, würde das Fahrrad als Thema stärken und Kinder bewegen. Da in den Kommunen die tatsächliche Förderung von Bewegung und der Ausbau von Radwegen geschieht, lohnt sich hier ein Kulturwandel hin zu einer aktiveren Stärkung des Themas Fahrrad absolut.
Letztendlich muss es darum gehen, die große Gruppe der potenziell Interessierten aber durch die schlechte Infrastruktur vom Radfahren abgehaltenen Menschen zur (häufigeren) Nutzung des Fahrrades zu motivieren. Unter dieser Zielsetzung sind Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und auch kreative Köpfe gefragt. Ein moralischer Zeigefinger wird niemanden auf das Rad bringen; hier braucht es eine gute Story, weiterhin einen interdisziplinären Ansatz, gute Zusammenarbeit der Stakeholder und Geld. Eine Einbeziehung des gesundheitsfördernden Aspektes in die Arbeit pro Fahrrad könnte einen Beitrag für diesen Paradigmenwechsel leisten.


Bilder: stock.adobe.com – Kara, Jobrad, Stefan Dörfler, Aktion Fahrrad, Grafik Quelle: Institut für Generationenforschung

Instrumente, Verfahren, Methoden

von Sabine Baumgart & Andrea Rüdiger

Stadtplanung ist kein eindimensionales Feld, sondern betrifft die meisten Facetten der Gesellschaft. Das Fach muss interdisziplinär diversen menschlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht werden. Sabine Baumgart und Andrea Rüdiger zeigen, welche Rolle Gesundheit in der Stadtplanung spielen sollte und mit welchen Mitteln Stadtplaner*innen sich ihr widmen können. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, September 2022)


Gesundheit und Städte sind eigentlich schon lange Themen, die eng beieinanderliegen. Früher schützten Städte vor Gefahren aus der Umgebung, brachten aber auch selbst neue Risiken, wie Krankheiten und Unfälle mit sich. Diesem historischen Verhältnis geht unser Buchtipp auf die Spur, Corona-Pandemie, Affenpocken und Co. sind der jüngste Beweis, dass die Themen auch heute noch nahe beieinanderliegen und vielleicht relevanter denn je sind.
„Gesundheit in der Stadtplanung“ ist der vierte Band der Edition Nachhaltige Gesundheit und setzt das Oberthema in Bezug zu vielen städtebaulichen Handlungsfeldern, etwa Wohnen, Arbeiten, Baukultur und Mobilität. Nachdem sie diese Handlungsfelder in Beziehung zueinander setzen, widmen die Autorinnen mehr als die Hälfte der Seiten der aktiven Stadtplanung. Sie erklären, auf welche rechtlichen Instrumente sich Städtebau stützen darf, welche Akteure Städteplaner*innen unbedingt einbeziehen sollten und welche Daten und Informationen sich als Basis guter Planung eignen.

Die Bücherreihe „Edition Nachhaltige Gesundheit in Stadt und Region“ besteht aus fünf Werken, die zwischen 2018 und 2022 im Oekom-Verlag erschienen sind. Drei der Bücher, zwei davon mit dem Schwerpunkt Hamburg, stehen unter Open-Access-Lizenz. Interessierte können sie in digitaler Form kostenlos beziehen. Band 1, ebenfalls kostenlos zum Download, thematisiert die nachhaltige und gesunde Stadt der Zukunft, während der dritte Band gesunde Quartiere beleuchtet. Die Reihe wird unterstützt von der Fritz und Hildegard Berg-Stiftung im Stifterverband.


Gesundheit in der Stadtplanung: Instrumente, Verfahren, Methoden. Edition Nachhaltige Gesundheit in Stadt und Region (Band 4) | von Sabine Baumgart & Andrea Rüdiger | Oekom Verlag | 1. Auflage 2022 |490 Seiten, Softcover | ISBN 978-3-96238-301-5 | 40,00 Euro


Der urbane Verkehr ist nicht nur ein Mitverursacher der Klimakatastrophe, sondern etwa durch Abgas- und Lärmemissionen auch Auslöser von gesundheitlichen Schäden. Nachhaltige Mobilität mit dem Fahrrad hat den umgekehrten Effekt: Wer mit dem Fahrrad pendelt, lebt nachweislich gesünder. Die Mobilitätswende kann somit auch eine Gesundheitswende sein. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


2017 hat eine Studie des Beratungsunternehmens EcoLibro zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt herausgefunden, dass fahrradfahrende Mitarbeitende im Schnitt etwa ein Drittel weniger Krankheitstage aufwiesen als ihre Kollegen und Kolleginnen, die mit anderen Verkehrsmitteln zur Arbeitsstelle kamen. 3,35 Krankheitstage standen 5,3 bei den Benutzerinnen des eigenen Pkws oder öffentlicher Verkehrsmittel gegenüber. Am besten schnitten darunter wiederum jene Radfahrenden ab, die nicht nur gelegentlich, sondern das ganze Jahr über mit dem Fahrrad oder E-Bike zur Arbeit kamen. Ein weiterer interessanter Aspekt: Sie schnitten in Sachen Krankheitstage sogar besser ab als Mit-arbeiterinnen, die regelmäßig Sport treiben. Außerdem sind zwar laut EcoLibro die Krankheitstage der Rad-pendler*innen nach Unfällen rechnerisch etwas höher als bei verunfallten Autofahrenden, trotzdem waren die Krankheitstage bei der Radfahr-Gruppe insgesamt noch die geringsten. Das lässt auf einen deutlichen Zusammenhang zwischen aktiver Mobilität, wie Zufußgehen und Radfahren, und dem Gesundheitszustand der Mitglieder dieser Gruppe schließen.
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO werden viele der häufigsten Krankheiten, wie Erkältungs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Diabetes und Adipositas, von Bewegungsmangel verstärkt. Tatsächlich ist es also einfach, diese Krankheiten einzudämmen. Mehr aktive Mobilität bedeutet mehr Gesundheit.
Das gilt übrigens genauso für die mentale Gesundheit: Schon vor acht Jahren wurde in einer britischen Langzeitstudie mit 18.000 Probanden und Probandinnen an der East Anglia University in Norwich festgestellt, dass sich Menschen, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, deutlich weniger zufrieden fühlten als solche, die mit anderen Verkehrsmitteln pendelten. Das mag mit den täglichen Staus auf den Straßen zu tun haben, aber auch mit der aktiven Form des Pendelns. Ein überraschendes Ergebnis war auch, dass Zu-Fuß-Pendler und -Pendlerinnen sich zufriedener fühlten, je länger ihre Pendel-Strecke war.

Leben auch E-Bike-Nutzende gesünder?

Wie sieht das für Pedelec-Fahrer und -Fahrerinnen aus? Sie bewegen sich mit weniger Krafteinsatz als Radfahrende ohne Motor. Ernten sie daher eher weniger Zufriedenheit und Gesundheit? Das könnte man vermuten, stimmt aber nicht ganz: Eine europäische Studie mit älteren Menschen hat 2019 nachgewiesen, dass Pedelec-Nutzer und -Nutzerinnen im Schnitt etwa 35 Prozent längere Strecken zurücklegen als die Vergleichsgruppe mit normalen Fahrrädern. Die Schlussfolgerung: Zwar ist der Kraftaufwand auf dem E-Bike geringer, doch Menschen, die Pedelec fahren, bewegen sich dafür häufig mehr auf dem Fahrrad. Zudem kommen viele Menschen überhaupt erst zum Radfahren respektive Pendeln, weil ihnen E-Bike-Fahren mehr Spaß macht als Radfahren ohne Unterstützung. Sie trauen sich eine bestimmte Entfernung erst mit dem Zusatzschub durch den E-Motor zu. All diese Punkte untermauern die These: Fahrradfahren ob mit oder ohne Motor kann – und sollte – Teil eines gesellschaftlichen Gesundheitsmanagements sein.

Der VCÖ sieht einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit letaler Herz-Kreislauf-Erkrankungen und dem Anteil aktiver Mobilität am Modal Split.

Wie können Städte gesünder werden?

Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) forderte im Herbst 2020: „Mehr Gesundheit in die Städte!“ Im Institut gibt es bereits seit 2002 die Arbeitsgruppe Gesundheitsfördernde Gemeinde- und Stadtentwicklung (AGGSE), die fünf Thesen zur nachhaltigen und gesundheitsfördernden Verkehrspolitik aufgestellt hat. „Nachhaltig kommunale Gesundheitsförderung braucht eine hinreichend soziale, technische und grüne Infrastruktur“, heißt es da in These fünf. Ein wichtiger Beitrag dazu seien die Priorisierung des Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehrs und die Reduzierung des motorisierten Individual- und Güterverkehrs.

Bessere Infrastruktur – mehr gesellschaftliche Gesundheit

Was bedeutet das für den Bund und die Kommunen? Vor allem eines: für die Existenz, Sicherheit und den Komfort von Fahrrad-Infrastruktur zu sorgen. Ganz im Sinne von: Wer Radwege baut, wird Radverkehr ernten (Hans-Jochen Vogel, damals Münchner OB, prägte den Satz: „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten!“). Dazu muss das Fahrrad zunächst in den Köpfen der Entscheiderinnen und Planerin-nen als Verkehrsmittel angekommen sein – ein Vorgang, der derzeit noch im Wachsen begriffen scheint.
Heißt das, dass die komplette Infrastruktur verändert werden muss, um mehr Autofahrende auf das Fahrrad zu bekommen? Nicht unbedingt und vor allem nicht überall.
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club ADFC hat einen Leitlinien-Katalog für den Ausbau einer nachhaltigen Fahrrad-Infrastruktur herausgegeben. Darin geht es nicht nur um geschützte Radverkehrsanlagen wie Protected Bike Lanes, wie wir sie bereits aus der Corona-Zeit in Berlin kennen, sondern auch grundsätzlich um das Zusammenspiel verschiedener Verkehrsmittel. In Tempo-Dreißig-Zonen etwa könne man getrost auf Radspuren verzichten und Mischzonen schaffen, in denen alle Verkehrsmittel parallel existieren. Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch Kreuzungen und Schnittstellen. Hier wird das Plus an Gesundheit von Radfahrenden bedroht von gesteigertem Unfallrisiko. Grundsätzlich gilt allerdings: Je mehr sich die Verkehrsteilnahme vom Auto zum Fahrrad und E-Bike verschiebt, desto weniger unfallträchtig sind Letztere unterwegs. Beispiel Niederlande: In Städten mit sehr hohen Zahlen an Fahrradfahrenden gibt es eine signifikant geringere relative Verunfallung von Radlern und Radlerinnen.

Win-Win-Situation für die aktive Mobilität

Als wie weitreichend man den Zusammenhang zwischen gesunder Mobilität und gesellschaftlicher Gesundheit sehen kann, zeigt die Veröffentlichung „Gesunde Städte durch gesunde Mobilität“ des Österreichischen Verkehrsclubs VCÖ. Hier steht unter anderem ein Fakt im Vordergrund: Wenn wir unsere Mobilität auf Gesundheit der Verkehrsteilnehmenden ausrichten, gewinnen wir auch automatisch an Klima-Gesundheit, denn der Großteil der gesundheitsbelastenden Schadstoffe und Treib-hausgas-Emissionen wird vor allem von Verbrennungsmotoren verursacht, die auch die nächsten Jahre bei Weitem das Gros der Personenbeförderung bestimmen werden.
Jedenfalls führt die gesunde, weil aktive Mobilität als Konsequenz aus den angeführten Punkten erwartungsgemäß wieder zu weiterer gesellschaftlicher Gesundheit. So wie umgekehrt die Automobilität, vor allem auf die kurzen Strecken bezogen, uns bislang nicht nur aus Mangel an Bewegung krank gemacht hat, sondern auch einen Großteil der krank machenden klimatischen Veränderungen verursacht hat. Noch ein Grund mehr, auf die neue Velo-Mobilität zu setzen – und entsprechende Infrastruktur bereitzustellen.


„Gesundes Mobilitätsmanagement ist auch Arbeitgeberattraktivität“

Die Berliner Agentur für Elektromobilität eMO unterstützt kostenlos Berliner Unternehmen und Betriebe, die ihr Mobilitätsmanagement verbessern wollen. In Sachen Unternehmensmobilität informiert die eMO unter anderem über die Vorteile wie Nachhaltigkeit und Gesundheit, die zunehmend wichtigere Bedingungen für eine zeitgemäße Mobilität der Mitarbeitenden sind, und begleitet Unternehmen bei der Umsetzung.Darüber haben wir mit Luisa Arndt, Projektmanagerin in der Agentur, gesprochen.

Warum ist auch gesunde Mobilität für die Unternehmen, die Sie unterstützen, ein Thema?
Mobilität kann mit gesunder Fortbewegung verbunden sein – etwa indem immer mehr Mitarbeitende mit E-Bike oder Fahrrad zum Betrieb fahren. Gleichzeitig ist diese Mobilität umweltfreundlicher und oft wirtschaftlicher. Zudem fördert die aktive Fortbewegung die Gesundheit, was sich in weniger Krankheitstagen äußert, wie Studien belegen. Hinzu kommt: Gesunde Mobilitätsangebote wie das Dienstradleasing steigern auch die Arbeitgeberattraktivität deutlich.

Ist in den Betrieben ein Umdenken hin zu nachhaltigeren, gesünderen Formen der Mobilität bereits in Gange?
Das ist unterschiedlich. Manche Betriebe sehen, dass sie innerbetriebliche Mobilität strukturell angehen müssen. Andere wollen zunächst einfach nur Veränderungen im Detail schaffen, indem bestimmte Strecken nicht mehr mit dem Dienstauto, sondern per Dienstrad zurückgelegt werden sollen. Unsere Aufgabe ist es zunächst, den Blick des Unternehmens auf ihr eigenes Mobilitätsmanagement zu schärfen. Dazu ist eine ganzheitliche Betrachtung der Unternehmensmobilität notwendig.

Stichwort Arbeitswege-Mobilität. Wie kann der Betrieb seine Mitarbeiter motivieren, per E-Bike oder Fahrrad in die Arbeit zu kommen?
Das kann mit ganz kleinen Dingen anfangen – der Luftpumpe am Empfangstisch, das Schaffen von sicheren Abstellmöglichkeiten für E-Bikes im Betrieb, aber auch Umkleideräume im Unternehmen oder die Teilnahme an Aktionen wie „Wer radelt am meisten?“ oder „Stadtradeln“ können für Mitarbeitende motivierend wirken. Oft ist aber auch die Belegschaft vor dem Arbeitgeber sensibilisiert, wenn es etwa um die Akzeptanz des Jobradleasings im Unternehmen geht. Dusch- und Garderoberäume werden oftmals von Mitarbeitenden angeregt. Allgemein kann man sagen, es gibt beide Richtungen beim Anstoß von Veränderungsprozessen, Top-Down wie auch Bottom-Up.

Macht sich die Verkehrswende denn tatsächlich im betrieblichen Mobilitätsmanagement breit?
Jein. Es gibt ein zunehmendes Bewusstsein für nachhaltige Mobilität, sowohl von Geschäftsführenden als auch Mitarbeitenden. Oft spüren größere Betriebe mehr Druck, sich zu verändern. Hier braucht es allerdings oft Zeit, bürokratische Strukturen zu verändern. Bei kleinen Betrieben hängt Veränderung andererseits oft von einzelnen, hoch motivierten Personen ab, die diese Tätigkeiten übernehmen, dann jedoch auch schneller etwas erreichen können. Zukünftig könnte die von der EU eingeführte Berichtspflicht zur Nachhaltigkeit einen weiteren Beitrag zur Einführung von nachhaltigen Mobilitätsformen leisten.


Bilder: Georg Bleicher, VCÖ 2021, Berlin Partner

Wenn von Radverkehr die Rede ist, dann wird sehr oft vor allem auf verkehrliche Aspekte und Unfallgefahren eingegangen. Dabei sind viele unserer Zivilisationskrankheiten auf Bewegungsmangel zurückzuführen. In Zeiten von Corona fällt auch darauf ein besonderer Blick. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Die Deutschen sitzen viel – viel zu viel. Damit sind wir nicht alleine. Mehr als ein Viertel der erwachsenen Weltbevölkerung bewegt sich laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) so wenig, dass sie dadurch krank werden. Die Folgen für ihre Gesundheit sind absehbar, die gesellschaftlichen Kosten ebenso. Dabei muss der Einzelne gar nicht viel schwitzen oder stundenlang Sport treiben, um gesund zu bleiben. Radfahren reicht – am besten zur Schule oder zur Arbeit.

Bewegung ist und bleibt essenziell

Der Sozialmediziner Professor Hans Drexler fährt jeden Tag sechs Kilometer in das Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin in Erlangen, das er leitet. Damit schafft er das Pensum an Sport, das die WHO Erwachsenen pro Woche empfiehlt: 150 Minuten moderate Fitness oder anders gesagt 2,5 Stunden Bewegung. Das ist nicht viel. Trotzdem gelingt es vielen Erwachsenen nicht, ausreichend Bewegung in ihren Alltag zu integrieren. „Wir sind alle etwas faul“, sagt er „deshalb fahre ich mit dem Fahrrad zu Arbeit.“ Denn die Bewegung sei wichtig, um körperlich und psychisch fit zu bleiben und Krankheiten vorzubeugen.

Fahrrad-Rushhour in Kopenhagen. Nach Angaben der Stadt pendelt hier täglich die Hälfte der Menschen mit dem Fahrrad zur Arbeit oder zur Ausbildung.

Radfahren ist gut für Herz, Muskeln und Lunge

Wer regelmäßig auf zwei Rädern unterwegs ist, spart sich den Gang ins Fitnessstudio und stärkt seinen ganzen Körper. Insbesondere sein Herz-Kreislauf-System. Denn wie jeder andere Muskel muss auch das Herz trainiert werden, um gut arbeiten zu können. Bei körperlicher Anstrengung schlägt es häufiger und pumpt mehr Blut in den Körper – gleichzeitig beruhigt sich seine Pumpleistung. Infolgedessen werden Herz und Kreislauf weniger belastet und arbeiten ökonomischer. Ähnlich ist es mit der Lunge. Sie wird beim Radfahren dauerhaft mit frischem Sauerstoff versorgt. Die erhöhte Atemfrequenz fordert das umliegende Muskelgewebe und stärkt es. Eine trainierte Lunge pumpt mehr Luft durch ihre Flügel als eine untrainierte, wodurch automatisch mehr frische Luft nachfließen kann.

Gelenkschonend und gut für die Psyche

Radfahren ist Sport im Sitzen. Das klingt seltsam, ist aber ein wichtiger Faktor für Menschen, die an Ar­throse leiden oder Gewicht reduzieren wollen. Denn Radfahren im niedrigen Gang mit hoher Trittfrequenz schont die Gelenke. Außerdem ist es gut für die Psyche und hilft beim Denken. Jeder kennt das: Beim gleichmäßigen Dahingleiten kommt einem eine gute Idee oder plötzlich die Lösung für ein verzwicktes Problem in den Sinn. „In Bewegung ist die Gehirnaktivität viel höher als in Ruhe“, erläutert der Sportwissenschaftler Achim Schmidt von der Sporthochschule Köln dieses Phänomen. Aber Radfahren aktiviert nicht nur die Gehirnaktivität, es macht auch glücklich. Bei der gleichmäßigen Bewegung beim Treten schüttet der Körper nach etwa 30 Minuten Endorphine aus und Stresshormone werden abgebaut. Wer regelmäßig Rad fährt, weiß: Ob man sich den Ärger von der Seele fährt oder einfach langsam dahingleitet – es geht einem gut, wenn man vom Rad steigt.

40–50 %

Nach einer Untersuchung des Umweltbundesamts liegen 40–50 Prozent der Autofahrten unter einer Länge von fünf Kilometern. Auf dieser Distanz ist das Fahrrad aber unschlagbar schnell.

Umbrüche als Einstieg in Verhaltensänderungen

Der Einstieg ins Radfahren ist hierzulande leicht – jedenfalls in der Theorie. Zwar hat fast jeder Deutsche ein Fahrrad im Keller stehen, aber trotzdem werden im Alltag nur 11 Prozent der Wege damit zurückgelegt. Das Auto bleibt mit 57 Prozent das Verkehrsmittel Nummer eins. In der Großstadt ist das kontraproduktiv. Nach einer Untersuchung des Umweltbundesamts liegen 40–50 Prozent der Autofahrten unter einer Länge von fünf Kilometern. Auf dieser Distanz ist das Fahrrad aber unschlagbar schnell. Es lohnt sich also für den Einzelnen, umzusteigen. Das Problem ist: Der Wechsel vom Auto aufs Rad ist eine Verhaltensänderung und damit tun sich die meisten Menschen schwer.
Eine gute Gelegenheit, um das Verhalten zu ändern, sind Lebensumbrüche. Dazu gehören beispielsweise ein Umzug, der Wechsel des Arbeitsplatzes, die Geburt von Kindern, der Eintritt in die Rente oder, ganz aktuell, die Corona-Pandemie. Oft sind auch Impulse von außen hilfreich. Die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) wollte im Rahmen des Projekts zum Gesundheitsmanagement der Mitarbeiter an Unikliniken ihre unsportlichen Angestellten dazu motivieren, sich regelmäßig zu bewegen. Um ihnen den Einstieg leicht zu machen, umfasste ihr Sportangebot die verschiedensten Bewegungsformen vom Schwimmen bis zum Krafttraining. Das kam gut an. 400 Männer und Frauen meldeten sich freiwillig. Ihre Aufgabe war, sich ein halbes Jahr lang werktags durchschnittlich 30 Minuten zu bewegen. Gut ein Drittel der Teilnehmer hat den Weg zur Arbeit modifiziert. Statt Auto, Bus oder Bahn zu nutzen, fuhren sie mit dem Fahrrad zur Arbeit.

Radfahren macht jung, Krankenstand sinkt

Die neuen Fahrradpendler im Projekt waren im Schnitt 207 Minuten pro Woche unterwegs. Das entspricht etwa 20 Minuten radeln pro Strecke. Der Effekt war immens. Die Teilnehmer wurden nicht nur leistungsfähiger, ihre Zellen hatten sich auch verjüngt. Die Wissenschaftler untersuchten bei den neuen Freizeitsportlern die Länge der Chromosomen-Enden (Telomere) der weißen Blutzellen und stellten fest: Obwohl das Training moderat war, waren diese in den sechs Monaten deutlich gewachsen. Das ist ungewöhnlich, denn in der Regel verkürzen sich die Telomere bei jeder Zellteilung als natürlicher Vorgang der Alterung der Zellen und des gesamten Organismus. Als am Ende der Studie die Teilnehmer untersucht wurden, stellte sich heraus, dass die „Verjüngung“ bis zu 15 Jahre betragen kann.
Was die Forscher noch mehr überraschte: Nach dem Projektende behielten etwa drei Viertel der Teilnehmer ihr neues Verhalten bei. Sie trieben weiterhin im gleichen Umfang Sport wie zur Zeit der Untersuchung. Diese Verhaltensänderung ist besonders für Arbeitgeber interessant: Im Rahmen des Projekts wurde festgestellt, dass der Krankenstand der Trainingsteilnehmer um mehr als 40 Prozent zurückging. Gerade für eine alternde Gesellschaft und älter werdende Belegschaften ist das eine wichtige Erkenntnis.

„In Bewegung ist die Gehirnaktivität viel höher als in Ruhe.“

Achim Schmidt, Sporthochschule Köln

E-Bike-Fahren viel gesünder als erwartet

Während Pendlern, die mit dem Rad zur Arbeit fahren, die Anerkennung ihrer Kollegen gewiss ist, ernten E-Bike-Fahrer häufig immer noch mitleidige Blicke. Völlig zu Unrecht, wie Uwe Tegtbur, Professor an der MHH, und sein Team in den vergangenen Jahren in einer Studie feststellten. Sie haben die Wirkung von E-Bike-Fahren und herkömmlichesnRadfahren auf das Herz-Kreislauf-System verglichen. Dafür haben sie 60.000 Fahrten von rund 2000 E-Bike-Fahrern untersucht. Die Teilnehmer ließen sich in zwei Fahrertypen unterteilen: Ältere Menschen, die aus gesundheitlichen oder körperlichen Einschränkungen mit Motor fahren, und Pendler, die das E-Bike für die Fahrt zur Arbeit nutzen, um entspannt und ohne zu schwitzen anzukommen.
Während die Pendler immer dieselbe Strecke fuhren und selten Umwege machten, fuhren die Senioren deutlich weitere Strecken als die Berufstätigen. Sie waren auch häufiger mit dem Bike unterwegs.
Der Effekt war identisch: Beide Gruppen brachten ihr Herz-Kreislauf-System auf Touren, sobald sie 30 Minuten moderat unterwegs waren. Die Herzfrequenz der E-Bike-Fahrer lag bei den Fahrten nur etwa zehn Schläge unter dem Puls der Bio-Biker. Tegtbur vermutet, dass alle Elektroradfahrer instinktiv einen Unterstützungsmodus wählen, der ihnen das Fahren zwar erleichtert, sie aber weiterhin fordert. So erzielten sie eine Herzfrequenz, die sich positiv auf ihr Herz-Kreislauf-System auswirkte.
Das wiederum wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus. „Der Puls wird beim E-Bike-Fahren um 10 bis 20 Prozent gesenkt“, sagt Tegtbur. Für den Mediziner ist das ein wichtiger Faktor. Denn neben einem hohen Blutdruck ist ein hoher Puls ein wesentlicher Risikofaktor für Herzinfarkte. Ein gut trainiertes Herz kann in Ruhe langsamer schlagen, weil es sehr kräftig pumpt und pro Schlag sehr viel Blut transportiert. Ein schwaches Herz dagegen hat pro Schlag nur relativ wenig Volumen und muss deshalb häufiger schlagen.
Radfahren ist laut Tegtbur ein Blutdrucksenker für jeden Tag. Dabei sei die regelmäßige Bewegung deutlich effektiver als die 30-km-Tour am Sonntagnachmittag. Sie wirke dauerhafter, da sie den Blutdruck noch viele Stunden nach der Ausfahrt senke.

Radfahren nutzt auch der Gesellschaft

Der Effekt der Bewegung für den Einzelnen und für die Gesellschaft ist hoch. Zum einen, weil die Kosten für Zivilisationskrankheiten allein durch das tägliche Pendeln mit dem Rad drastisch reduziert werden. „Zum anderen, weil die Feinstaubbelastung sinkt – und so ebenfalls dazu beiträgt, Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu vermeiden“, sagt der Sozialmediziner Drexler. Kein Medikament sei so wirksam wie körperliche Bewegung. Er schätzt, dass 25 bis 30 Prozent der Kosten für Zivilisationskrankheiten mit mehr Bewegung gesenkt werden könnten.
Die Gesellschaft hätte also viel davon, wenn möglichst viele Menschen mit dem Rad zur Arbeit fahren würden. Trotzdem mahnt Drexler: „Morgens ist man häufig mit dem Kopf schon bei der Arbeit. Das heißt: Man ist unkonzentriert.“ Im Straßenverkehr kann das schnell gefährlich werden. Abhilfe schafft nur eine fehlerverzeihende Infrastruktur, die Radfahren fördert. Etwa indem sie Fahrradfahrer sicher und auf dem kürzesten Weg durch die Stadt lotst, während Autofahrer Umwege in Kauf nehmen müssen. Die niedersächsische Stadt Nordhorn an der Landesgrenze zu den Niederlanden plant seit Jahrzehnten ihre Infrastruktur mit dieser Zielsetzung. Von den Dutzenden Brücken im Zentrum sind nur eine Handvoll für Autos frei gegeben. Alle anderen dürfen ausschließlich Rad- und Fußgänger nutzen. Das Fahrrad ist in Nordhorn das schnellste Verkehrsmittel und wird von Schülern wie Politikern gleichermaßen genutzt. Über 40 Prozent aller Wege werden dort täglich mit dem Rad zurückgelegt.

Gefühlt waren während der Lockdown-Phase in einem April wohl noch nie so viele Radfahrer unterwegs – darunter viele Anfänger und Neueinsteiger.

Kindern gehen Fähigkeiten verloren

Gewohnheiten der Eltern und eine mangelhafte Radinfrastruktur prägen auch das Mobilitätsverhalten von Kindern und Jugendlichen. Die aktuelle Entwicklung ist hier alarmierend. Regelmäßig melden Schulen und Verkehrserzieher: Kinder verlernen das Radfahren. Die Grundschüler scheitern in der Fahrradprüfung daran, gleichzeitig den Arm auszustrecken und geradeaus zu fahren. Dabei sitzen die Kinder heute früher auf dem Rad als je zuvor. Das Laufrad gehört inzwischen zur Standardausrüstung vieler Dreijähriger.
Aber auf dem Weg zur Fahrradprüfung geht den Kindern die Fähigkeit offenbar verloren. Die Gründe dafür sind vielschichtig und bewegen sich oft im Extremen. Sie reichen von Freizeitstress bei den Kleinen bis zur Verwahrlosung vor dem Smartphone, vom überbehütetenden Elternhaus bis zum Haushalt, in dem schlicht das Geld fürs Fahrrad fehlt. Die Folge ist: Immer mehr Kinder haben motorische Schwierigkeiten – und das nicht nur beim Radfahren.
Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule Köln versucht seit Jahren, diesem Trend entgegenzuwirken. Er hat einen Fahrrad-Parcours für Kindergärten und Schulen entwickelt und mit der Landesregierung Nordrhein-Westfalen und dem Verkehrsverbund Rhein-Sieg eine Lehrerfortbildung initiiert nebst Online-Portal „Radfahren in der Schule“. Der Sportwissenschaftler plädiert mittlerweile sogar dafür, Radfahren in den Regelunterricht zu integrieren. „Fahrradfahren ist Teil unserer Kultur, es gehört ebenso dazu wie das Schwimmen und muss ebenso als Schulfach unterrichtet werden“, sagt er. Tatsächlich lernen alle Kinder Radfahren – sofern sie die Zeit und die Gelegenheit haben, es auszuprobieren und regelmäßig zu üben. Früher haben sie es an langen Nachmittagen mit ihren Freunden vor der Haustür beim Spielen nebenbei erledigt. Heute brauchen sie dafür einen geschützten Raum. Die Kinder von heute müssen sich auf dem Rad wohl und sicher fühlen, damit sie sich später als erwachsene Radfahrer im Straßenverkehr zurechtfinden und es dem ÖPNV und Auto vorziehen. Eltern und Erzieher legen damit nicht nur den Grundstein für die Mobilität der heutigen Kindergeneration. Sie prägen bereits heute ihre spätere Gesundheit.

Radfahren – gerade in Corona-Zeiten ein guter Tipp

In Zeiten der Lungenkrankheit Corona schützt regelmäßiges Radfahren gleich doppelt. Einerseits stärkt es die Lungen und das Immunsystem und zudem ist es auf dem Fahrrad deutlich leichter, die Abstandsregeln einzuhalten als in Bussen oder Bahnen, und sich so vor einer Tröpfcheninfektion zu schützen. Mediziner haben auf diesen Zusammenhang bereits zu Beginn der Pandemie in Deutschland hingewiesen und Radfahren zur Prävention empfohlen. So betonte der Ulmer Pneumologe Dr. Michael Barczok vom Bundesverband der Pneumologen, Schlaf- und Beatmungsmediziner (BdV) gegenüber dem Spiegel unter anderem, dass beim rhythmischen Radeln das Atmungsorgan gut belüftet und besser durchblutet werde. Man atme intensiver, das heißt, man reinige seine Lunge gut. „Und das ist in punkcto Virusprotektion optimal“, so Barczok. Langfristig wirkt sich Radfahren auch positiv auf andere Risikofaktoren aus: Neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen auch auf Übergewicht und Diabetes. Damit wird der Körper insgesamt widerstandsfähiger – nicht nur gegen Corona.

Städte in Bewegung – Ideen für eine bewegungsaktivierende Infrastruktur

Wie wollen wir in Zukunft leben, wohnen und mobil sein? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen e. V. (AGFS) unter dem Schwerpunkt Verkehr seit ihrer Gründung im Jahr 1993.

Mit der Broschüre „Städte in Bewegung“, die auf dem Konzept der Nahmobilität beruht, sollte im Jahr 2015 „auf Grundlage aktueller Fakten und Forschungsergebnisse eine längst fällige Diskussion über Mobilität, Infrastruktur und Bewegung angestoßen werden“. Sie beinhaltet eine Fülle grundlegender Informationen zu den Themen Bewegungsmangel, Mobilität-Bewegung-Sport und der „Stadt als gesunder Lebens- und Bewegungsraum“. Dazu zeigt sie Kriterien und Bausteine der Bewegungsförderung, Good-Practice-Beispiele und gibt Hinweise für Fördermöglichkeiten. Die in Kooperation mit dem Landessportbund NRW erstellte Broschüre richtet sich vornehmlich an Entscheider in Politik, Planung, Umwelt, Sport und an alle, die sich für eine „Stadt als Lebens- und Bewegungsraum“ engagieren.

Vision der AGFS: Stadt als Lebens- und Bewegungsraum

Für die AGFS ist die „Stadt als Lebens- und Bewegungsraum Vision und Handlungsansatz zugleich“: „Als Kernaufgabe der zukünftigen kommunalen Stadt- und Verkehrsplanung sehen wir deshalb weniger den Ausbau und die Optimierung des bestehenden Systems, sondern vielmehr eine Transformation der öffentlichen Stadt- und Verkehrsräume. Ziel ist die Realisierung von lebendigen, ‚humanen‘ Straßen und Plätzen, die sich wieder neu auf den ‚Maßstab Mensch‘ beziehen, gemeinschaftlich von allen Verkehrsteilnehmern genutzt werden, aber insbesondere adäquaten Raum für körperaktive Bewegung bieten. Eine ‚gesunde Stadt‘, in der Nahmobilität ‚Basismobilität‘ ist, also ein Großteil der persönlichen Alltags- und Freizeitwege zu Fuß und/oder mit dem Fahrrad abgewickelt wird. Unsere Zielmarke im Modal Split ist, dass ca. 60 Prozent der Wege zu Fuß und mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Wir glauben, dass insbesondere die Verkehrsinfrastruktur das Mobilitäts- und Bewegungsverhalten wesentlich prägt und formt. Deshalb engagieren wir uns für eine qualitativ hochwertige, bewegungsaktivierende Infrastruktur, die über ihre Verkehrsfunktion hinaus vielfache urbane Nutzungen zulässt und zugleich entscheidende Anreize für eine gesundheitsfördernde Nahmobilität setzt.“

Als Download erhältlich in der
Mediathek unter agfs-nrw.de


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