Tempora mutantur. Die Zeiten ändern sich. Bürgermeister und Kommunen stehen heute überall auf der Welt vor einer zentralen Herausforderung: Wie sollen sie Mobilität erhalten während der öffentliche Verkehr als Leistungsträger, wohl nicht nur kurzfristig, vor schwierigen Zeiten steht? Wir werfen einen Blick auf temporäre Lösungen in Deutschland und Europa. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Gerade ungeübte Radfahrer brauchen die Gewissheit, sicher und bequem ans Ziel zu kommen.

Solange die Pandemie nicht beherrschbar ist, wollen und müssen Städte und Kommunen aktive Mobilität mit ausreichend Abstand sicherstellen. Mit seiner Entscheidung pro Radverkehr hat sich Berlin zu Beginn der Krise mit der kolumbianischen Hauptstadt Bogota an die Spitze einer internationalen Bewegung gestellt. Seitdem wirkt Corona in der Hauptstadt wie ein Beschleunigungsprogramm der ohnehin geplanten Verkehrswende.

Andauernde Pandemie forciert Umbau

Für Radfahrer und Fußgänger läuft es zurzeit gut in Berlin. Allein im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wurden in den vergangenen Wochen rund 20 Kilometer temporäre Radwege mit Baustellenbaken markiert. Für die grüne Umwelt- und Verkehrssenatorin Regine Günther hat die Umverteilung des Raums Priorität. Sie lässt ihre Verwaltung Abschnitte des bereits fertig geplanten Radwegenetzes mit provisorischen Mitteln wie Baustellenbaken umsetzen. Dabei soll es aber nicht bleiben. „Unser Ziel ist es, aus diesen vorgezogenen Maßnahmen möglichst überall dauerhafte Anordnungen zu machen und die provisorische Technik durch dauerhafte zu ersetzen“, betont die Berliner Senatorin.

Pop-up-Lösungen als ideales Tool

Nach wenigen Wochen zeigt sich: Die Pop-up-Lösungen haben für die Planer durchaus Vorteile. Der Praxistest mache Schwächen auf der Strecke oder Sicherheitsrisiken für Radfahrer sichtbar, sagt Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes in Friedrichshain-Kreuzberg. Ist das der Fall, kann sein Team schnell und kostengünstig nachjustieren. Bei neu gebauten Radwegen war das bislang nicht möglich. Die Radfahrer in Berlin erhalten demnach eine deutlich alltagstauglichere Radinfrastruktur als ohne Probelauf. Über ein Dutzend Pop-up-Bikelanes gibt es inzwischen in der Hauptstadt, und im Wochenrhythmus kommen neue hinzu. Mal werden Lücken im Netz geschlossen, mal an Hauptstraßen neue, sichere Radwege in Fahrspurbreite markiert, wo es zuvor keine Radanlage gab.

Neue Kundengruppen auf neuen Radwegen

Die neuen Radwege kommen nicht nur gut an in der Bevölkerung, sie gewinnen auch neue „Kundengruppen“. Burkhard Stork, Bundesgeschäftsführer des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs trifft dort Menschen, die er seit Jahren aufs Rad bringen will: Kinder, Erwachsene, die jahrelang nicht im Sattel saßen, und Menschen mit Migrationshintergrund. Er erkennt sie an ihren Rädern, die im Keller Staub angesetzt haben, und ihrem Fahrverhalten. „Sie sind deutlich langsamer unterwegs als der typische Berliner Radfahrer“, sagt Stork. „Wenn wir die Verkehrswende wollen, brauchen wir eine Radinfrastruktur, die Menschen dazu einlädt, aufs Rad zu steigen“, wiederholt der Fahrradlobbyist seit vielen Jahren. Die Pop-up- Bikelanes machen genau das.

Die Broschüre erklärt, wie man Pop-up-Bikelanes einrichtet und in nur zehn Tagen auf die Straße bringt. Download unter mobycon.nl

Gesucht: Beschleuniger im Radwegebau

Ob die Lösung permanent oder temporär ist, ist für Stork momentan zweitrangig. Die Menschen brauchten erst mal die Gewissheit, sicher und bequem ans Ziel kommen. In den Niederlanden und Kopenhagen ist das der Fall. Allerdings benötigten die Planer dort Jahrzehnte, um ihr Radwegenetz entsprechend aufzubauen. Die Zeit hat Deutschland nicht. Zwar hat das Bundesverkehrsministerium für den Ausbau des Radverkehrs 900 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, aber Stork mahnt: „Das Geld muss in den kommenden vier Jahren investiert werden, sonst ist es weg.“ Das schafft aus seiner Sicht aber kaum eine Stadt. In Berlin dauert der Bau eines Radwegs von der Planung bis zur Fertigstellung immer noch vier Jahre – manchmal sogar länger. Deshalb fordert Stork, Radwegenetze zügig zu planen und sie zunächst als Pop-up-Lösungen anzulegen. „Pop-up ist das neue Maß im Radwegebau“, betont der international anerkannte und bestens vernetzte Experte.

Berlin als Modellstadt und zur Nachahmung empfohlen

In Deutschland ist die Hauptstadt Berlin bislang eine Ausnahme. Hier wird sichtbar, wie Corona bestehende Prozesse beschleunigt. Hier ist die Bevölkerung ebenso wie die Politik und die Verwaltung für einen Wechsel bereit. Bereits zuvor hat die Zivilgesellschaft in Berlin das 2018 beschlossene Mobilitätsgesetz durchgesetzt und damit den Bau moderner Radwegenetze mit Protected Bikelanes legitimiert. Der Anklang bei anderen deutschen Städten und Kommunen ist bislang noch sehr verhalten. Echte Nachahmer für die Einrichtung gibt es kaum, obwohl sich immer mehr Initiativen vor Ort für ihre Einrichtung stark machen. So hat Greenpeace Ende Mai in Zusammenarbeit mit anderen Verbänden in 30 deutschen Städten mit Warnstreifen, Pylonen und Piktogrammen auf die Probleme aufmerksam gemacht. Am Geld und am Know-how kann es eigentlich nicht liegen. Felix Weisbrich vom Berliner Straßen- und Grünflächenamt will Kollegen zum Nachahmen animieren. In seinem Auftrag hat das Planungsbüro Mobycon gerade einen Leitfaden zum Bau von Pop-up-Bikelanes erstellt.


Bilder: Peter Broytman, Peter Broytman, Mobycon

Beim Stadtradeln motivieren die Kommunen in ganz Deutschland ihre Bürger zu mehr Bewegung ohne Pkw – und gewinnen aus GPS-Daten der Teilnehmer eine neue Informationsquelle für radgerechte Verkehrsplanung. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Es ist inzwischen über die meisten politischen Grenzen ein gemeinsames Ziel: Städte und Gemeinden wünschen sich einen möglichst hohen Anteil von Menschen, die statt des Autos ihr Fahrrad für die täglichen Strecken nutzen. Um ihre Bürgerinnen und Bürger zu motivieren, müssen sie allerdings mehr tun, als auf die Eigenmotivation der Menschen zu vertrauen. Wenn sie Luft und Gesundheit verbessern möchten, sollten sie den Radverkehr fördern – mit positiven Botschaften und stabiler Infrastruktur. Es sind genau diese Aspekte, die das Klima-Bündnis mit seiner Kampagne „Stadtradeln“ seit 2008 vorantreibt. Auch im Corona-Jahr, in dem alles anders ist als sonst, läuft die Kampagne wieder – und soll nicht nur mehr Velos auf Deutschlands Straßen bringen, sondern auch solide Daten über ihre Fahrten vor die Augen der Fachleute in den Behörden.

77 Millionen Kilometer mit dem Rad

Das Stadtradeln ist eine Erfolgsgeschichte: Schlossen sich vor zwölf Jahren die ersten 23 Kommunen für einen Radel-Aktionszeitraum zusammen, so waren es im vergangenen Jahr schon 1127 Städte und Gemeinden mit insgesamt 407.000 Menschen, die während der dreiwöchigen Aktion ihre Radfahrten mitzählten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen so auf 77 Millionen Kilometer auf dem Fahrrad. Das Potenzial dieser bewegten Massen ist enorm – denn mit der eigenen App der Kampagne lassen sich unkompliziert von großen Teilnehmergruppen relevante Nutzungsdaten sammeln. „Die Menschen bewegen sich gern mit dem Rad und möchten jetzt auch dabei helfen, die Bedingungen für den Radverkehr vor ihrer Haustür zu verbessern“, sagt Sebastian Reisch, der die Kampagne beim Klima-Bündnis betreut.

Movebis bringt neue Erkenntnisse

So ist aus einer Kampagne mit dem übergeordneten Ziel des Klimaschutzes inzwischen ein vielversprechender Ansatz entstanden, um auch den Radverkehrsplanern Daten zu liefern, die ähnlich verlässlich sind wie die Informationen aus dem Kraftverkehr. Dafür arbeitet das Klima-Bündnis seit 2017 im Projekt Movebis mit einem Team der TU Dresden zusammen, gefördert aus der Forschungsinitiative mFund des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. „Wir haben Stadtradeln als tragfähige Plattform identifiziert, um möglichst repräsentative Erkenntnisse über das tatsächliche Verhalten der Radfahrer für die Planer zu erschließen“, erklärt Sven Lißner, Verkehrsingenieur und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Verkehrsökologie an der Dresdner TU.

Mit der Heatmap erkennen die Nutzer auf einen Blick, wo Radfahrer die vorhandenen Wege nutzen und wie sich der Verkehr auf das Netz der Stadt verteilt. Im Webtool lässt sich nach Belieben zoomen, um die Details zu betrachten.

Beim genauen Blick in die Daten auf Straßenbasis lässt sich gut erfassen, wo der Verkehr schnell fließt – und wo es stockt. Hier sieht man etwa an Brückenaufgängen, dass die In­frastruktur den Radverkehr bremst.

Aus den Fahrten wird ein Datenschatz

Der Ansatz: Die Teilnehmer der Kampagne erfassen, sofern sie die Stadtradeln-App nutzen, die GPS-Spuren ihrer Strecken. Diese Informationen werden dann anonymisiert und zusammengefasst, um Erkenntnisse über die Nutzung von Routen, Wegbeziehungen, Durchschnittsgeschwindigkeiten und auch Wartezeiten zu erlangen. Aus einzelnen Fahrten wird also ein Datenschatz, der sich beispielsweise in Heatmaps gut visualisieren und somit schnell auch auf Straßen- oder Viertelsebene analysieren lässt. Hier unterscheidet sich Movebis nicht grundlegend von den bereits in der vergangenen VELOPLAN-Ausgabe vorgestellten Angeboten wie Bike Citizens oder Strava Metro. „Allerdings hat sich bewahrheitet, dass wir mit Stadtradeln auf einen Schlag eine deutlich größere Datenbasis erreichen und auch die Gesamtbevölkerung erheblich besser repräsentieren“, erklärt Lißner.

407.000

2019 zählten 407.000 Menschen in 1127 Städten und Gemeinden
ihre Radfahrten während der dreiwöchigen Aktion mit.

Repräsentative Erkenntnisse

Lißner forscht schon seit vielen Jahren daran, ob und unter welchen Bedingungen sich die App-Daten von Radfahrern für die Planung des Verkehrs nutzen lassen. Die Einwände etwa gegen die Strava-Daten sind ihm geläufig: Die Nutzer sind meistens weit sportlicher und schneller unterwegs als durchschnittliche Radbürger in Deutschland, außerdem vor allem männlich – daher sei die Aussagekraft für die Behörden eher begrenzt. Zwar hat Lißner mit seinen Kollegen gezeigt, dass sich auch solche Erkenntnisse besser nutzen lassen, als ganz auf empirische Einblicke in den Radverkehr zu verzichten. Aber mit den Daten der Stadtradler hat Movebis die Sache deutlich erleichtert: Fünf Testkommunen und das Bundesland Hessen haben etwa im vergangenen Jahr bei dem Modellversuch mitgemacht – und 28,2 Prozent der Teilnehmer haben über die App Daten geliefert. So konnten die Forscher erkennen, dass immerhin 44,7 Prozent der Nutzer weiblich waren. Auch ältere Jahrgänge waren gut vertreten, das Durchschnittsalter 37,2 Jahre. „Wir haben hier einen guten Querschnitt und auch viele Menschen erfasst, die sonst nicht so viel mit dem Rad unterwegs sind“, sagt Lißner.

Heatmap, Mengen, Geschwindigkeiten

In diesem Jahr hat Movebis das Projekt auf zehn Testkommunen erweitert. Wenn die dreiwöchige Kampagne zum Stadtradeln in den jeweiligen Kommunen dann startet, erscheinen die Verkehrsströme der Velofahrer fast in Echtzeit auf der Web-Plattform von Movebis. Auf dieser Web-Oberfläche betrachtet man eine Heatmap, also farblich abgestufte Darstellung der Aktivitäten auf dem Straßennetz, die Verkehrsmengen und die Geschwindigkeiten. Bei der Recherche zu diesem Artikel leuchtete es an der Ostseeküste hell auf – Rostock hatte gerade seine Stadtradeln-Kampagne gestartet.

„In Zukunft wird es einen noch größeren Bedarf nach vertrauenswürdigen Erkenntnissen für Radverkehrsplaner geben.“

Sven Lißner, Verkehrsingenieur und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Verkehrsökologie an der Dresdner TU

Die Realität radgerecht interpretieren

Was auf dieser Karte hinterlegt wird, sind die GPS-Spuren und die Erkenntnisse darüber, mit welcher Geschwindigkeit sich die Teilnehmer von Datenpunkt zu Datenpunkt bewegt haben. Doch um daraus auch sinnvolle Erkenntnisse für die Planer zu gewinnen, ist viel Denkarbeit nötig. Denn der Radverkehr folgt nicht immer den offiziellen Wegen. So würde ein herkömmlicher Algorithmus eine Fahrt über einen nicht zum Straßenplan gehörenden Privatplatz etwa einer darunterliegenden Tiefgarage zuordnen und entsprechende Wege auf der Karte anzeigen. Um die Daten also möglichst nah an der fahrradgerechten Realität zu interpretieren, müssen die Wissenschaftler neue Regeln formulieren. „Wenn man zu pauschal vorgeht, erfasst man viele Details nicht, die aber gerade für den Radverkehr besonders relevant sind“, erklärt Lißner. Das gilt auch für das Erfassen von Wartezeiten an Wegkreuzungen, was den Kommunen künftig ebenfalls aus den Stadtradeln-Daten ermöglicht wird.

Ausgründung geplant

Das Förderprojekt Movebis läuft in diesem Jahr aus. Für die Zeit danach haben Lißner und sein Team schon klare Pläne: Während die Erkenntnisse mit Ablauf des Förderzeitraums allen teilnehmenden Kommunen zur Verfügung gestellt werden, zielen die Forscher auf eine Ausgründung. „In Zukunft wird es einen noch größeren Bedarf an vertrauenswürdigen Erkenntnissen für Radverkehrsplaner geben“, sagt Lißner. Diesen Markt möchte das Team auf wissenschaftlich valider Grundlage bearbeiten.

Neue Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung

Die teilnehmenden Städte gewinnen mit der Stadtradeln-App neben dem Zugriff auf diesen Datenschatz noch weitere Informationen und treten in den Austausch mit Bürgern. 459 der 1127 teilnehmenden Kommunen nutzten im vergangenen Jahr das Angebot RADar. Dieses Tool ermöglicht es seinen Nutzern, Mängel und Hinweise zum Verkehrsnetz direkt aus der Stadt-radeln-App oder aus dem Web an die zuständige Stelle bei der Behörde zu übermitteln. „Das ist eine zeitgemäße Form der Bürgerbeteiligung, die sehr gut angenommen wird, die aber auch ernst genommen werden sollte“, sagt Sebastian Reisch vom Klima-Bündnis.

Es rollt weiter – trotz Corona

Trotz oder gerade wegen Corona: Auch 2020 rollt es weiter mit dem Stadtradeln, pedalieren die Menschen in Deutschland, Frankreich und Luxemburg für bessere Luft und weniger Stau – und liefern damit wichtige Erkenntnisse für die Forscher. „Bei den teilnehmenden Kommunen haben wir trotz der Pandemie beinahe den Stand des Vorjahrs erreicht“, sagt Sebastian Reisch, „und das kann sich im Laufe des Jahres ja sogar noch steigern.“ So steht auch für 2020 fest: Die Forscher werden genug Futter für die Analyse des Radverkehrs bekommen.

Die Aktion

Klimaschutz ist vor Ort möglich. Diesen Ansatz verfolg der kommunale Zusammenschluss Klima-Bündnis mit seiner Kampagne. An 21 aufeinanderfolgenden Tagen sammeln die Menschen in ihren Gemeinden möglichst viele Radkilometer und fahren so gemeinsam im Wettbewerb gegen andere Orte. Corona-bedingt hat das Klima-Bündnis den Aktionszeitraum der jährlichen Kampagne 2020 bis zum 31. Oktober verlängert. In diesem Zeitraum rufen die Städte und Gemeinden ihre Bürger dazu auf, möglichst viele Strecken mit dem Fahrrad zurückzulegen und die Strecken zu dokumentieren. Ziel ist es, Menschen im Alltag aufs Rad zu bringen, indem sie die Vorteile erleben. Die teilnehmenden Kommunen entrichten dem Klima-Bündnis je nach ihrer Einwohnerzahl eine Gebühr – in den meisten Bundesländern übernimmt allerdings inzwischen die jeweilige Landesregierung diese Kosten im Zuge einer Förderung.

www.stadtradeln.de


Bild: Klima-Buendnis

Die Bewegungs- und Koordinationsfähigkeiten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland haben rapide abgenommen. Dr. Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule Köln zeigt in einem Gastbeitrag die Hintergründe auf und warnt vor einer Entwicklung, die ohne aktives Gegensteuern in eine Sackgasse führen könnte. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Radfahren schult die Bewegungs- und Koordinationsfähigkeit viel mehr, als den meisten bewusst ist.

Das Fahrrad boomt und Politiker fangen an, diese bewährte Mobilitätsform wahrzunehmen. Auch in den Visionen zur Verkehrswende spielt das Fahrrad eine bedeutende Rolle. Es könnte so weitergehen, doch am Horizont braut sich ein Szenario zusammen, das den meisten Verkehrsplanern völlig fremd scheint: Kinder fahren immer weniger und zunehmend schlechter Fahrrad. Doch die Kinder von heute sind die Radfahrer von morgen, und was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Radfahren bei Kindern rückläufig

„Kinder fahren weniger und schlechter Fahrrad als noch vor zehn Jahren.“ Diese Feststellung wird von Lehrkräften an Grund- und weiterführenden Schulen, von Verkehrssicherheitsberatern der Polizei sowie von Eltern oft geäußert. In der wissenschaftlichen Literatur findet sich zu dieser subjektiven Wahrnehmung von Experten als einzige Quelle eine Studie der Unfallforscher der Versicherer (UDV) zur Häufung von motorischen Schwierigkeiten. Auf Grundlage einer Befragung von 347 Verkehrserziehungsdienststellen (Polizei und Schulen) aus dem Jahr 2009 ergibt sich allerdings ein recht eindeutiges Bild: Während bei der gleichen Fragestellung im Jahr 1997 nur 45,6 Prozent der Befragten angaben, dass die Anzahl der Kinder mit auffallenden motorischen Schwierigkeiten zunähme, stieg der Wert bei der Befragung im Jahr 2009 auf 72 Prozent an. Besonders betroffen schienen Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund zu sein, insbesondere Mädchen, sowie Kinder aus sozial schwächeren Familien, überbehütete, übergewichtige Kinder und Kinder mit Bewegungsmangel. Auffällig auch: Die motorischen Schwächen sind bei Kindern in Großstädten und Städten stärker ausgebildet als bei Kindern auf dem Land. Heute, gut zwölf Jahre nach dieser Befragung, hat sich die Situation nochmals verschärft. Das radspezifische Fertigkeitsniveau der Grundschüler sinkt erkennbar weiter, während die Zahl der Kinder, die sehr schlecht oder gar nicht Fahrrad fahren, steigt.

„Kinder lieben das Radfahren und sind hoch motiviert.“

Angela Baker Price, Lehrerin und Fachberaterin für Mobilitätserziehung in Grundschulen

Große Unterschiede und viel Potenzial an Grundschulen

Das gleiche Bild zeichnen Lehrkräfte an Schulen. Angela Baker Price, Grundschullehrerin und Fachberaterin für Mobilitätserziehung für die Grundschulen der Städteregion Aachen, betont: „Die meisten Kinder fahren weniger und vor allem schlechter Rad als noch vor 15 Jahren.“ Allerdings gäbe es andererseits auch Kinder aus radaffinen Familien, die ihr Fahrrad schon in der Grundschule perfekt beherrschten. Die erfahrene Pädagogin unterrichtet schon seit über 30 Jahren Kinder im Radfahren und stellt fest, dass die Schere zwischen Nichtradfahrern und Radfahrern mehr und mehr auseinandergeht. Während es vor allem in bildungsnahen Schichten recht viele radaffine Familien gibt, sinkt der Anteil bei bildungsfernen Bevölkerungsschichten dagegen drastisch. „Das stellt die Lehrkräfte methodisch vor erhebliche Probleme, denn ich muss absolute Könner im Fahrradtraining mit herausfordernden Übungen beschäftigen und mich gleichzeitig um die Kinder kümmern, die noch nicht fahren können.” Aber Baker-Price sieht auch große Potenziale: „Trotz aller Probleme stelle ich immer wieder fest, Kinder lieben das Radfahren und sind hoch motiviert. Wenn wir diese Chance nicht nutzen, dann sind wir es selber schuld, dass Kinder weniger Rad fahren.“

Best-Practice-Ideen:

Kreis Euskirchen: Der Kreissportbund führt mit Mitteln der Bezirksregierung Fahrradangebote für Kinder und Jugendliche durch. Zusätzlich werden Fortbildungen für Lehrkräfte an Grundschulen angeboten.

Städteregion Aachen: Eine extra geschaffene Stelle für den Radverkehr kümmert sich hier auch intensiv um die Belange junger Radfahrer. So werden Radlernkurse angeboten, Fortbildungen organisiert, Materialien angeschafft und Maßnahmen in Gremien und AGs zur Verbesserung des Radverkehrs durchgeführt.

www.radfahreninderschule.de ist ein Portal für Lehrkräfte an Grund- und Weiterführenden Schulen zum Thema Fahrradunterricht. Hier werden mit Videos erprobte Unterrichtsübungen und Konzepte gezeigt, die einfach nachzumachen sind. Ziel ist, einen möglichst spaßbetonten Fahrradunterricht durchzuführen, der die Sicherheit der Kinder erhöht, indem er ihre Fahrfertigkeiten verbessert. Zudem finden sich hier alle rechtlichen Grundlagen und Termine für Fortbildungen in den Städten und Landkreisen in NRW.

Pumptracks: Der neueste Trend für Kinder und Jugendliche. Auf einer etwa tennisplatzgroßen Fläche versucht man sein Mountainbike ohne zu treten durch Pumpbewegungen mit Armen und Beinen in Schwung zu halten. Einige Kommunen in Deutschland haben schon Pump Tracks eingerichtet und geben radbegeisterten Kids somit eine Anlaufstelle. In Skandinavien ist man schon viel weiter, denn hier finden sich die kostengünstigen Anlagen in sehr vielen Kommunen.

Mehr unter velosolutions.com

Problem: Skepsis bei Lehrern und Eltern

Lehrkräfte äußern in Gesprächen immer wieder große Ängste und Bedenken gegenüber Unterrichtsangeboten, bei denen Fahrrad gefahren wird. Und während an Grundschulen deutschlandweit die Verkehrserziehung und damit das Radfahren verpflichtend auf dem Lehrplan steht, ist es an weiterführenden Schulen sehr schlecht um das schulische Radfahren bestellt. „Wandertage oder Klassenfahrten mit dem Rad sind die absolute Ausnahme“, sagt Prof. Helmut Lötzerich von der Deutschen Sporthochschule in Köln, der sich mit dem Thema im Rahmen einer Schulbefragung befasst hat.
Auch Eltern setzten seltener auf das Fahrrad als Transportmittel. „Das Radfahren mit den Kindern im Stadtverkehr ist uns zu gefährlich“, so Lars Schulz aus Köln, Vater von zwei Grundschulkindern. „Da fahren wir lieber mit dem Auto. Radtouren machen wir am Wochenende und im Urlaub.“ Damit steht er nicht alleine da. Das Verkehrschaos vor Schulen zeigt, dass viele Eltern ihre Kinder am liebsten bis in den Klassenraum fahren würden. Schulleitungen bitten die Eltern jedes Halbjahr schriftlich, auf das Elterntaxi zu verzichten, doch die modernen Helikoptereltern können oder wollen gerade diese Bitte anscheinend nicht erfüllen. Dabei verunglücken überdurchschnittlich viele Kinder in den chaotischen Situationen vor den Schulen. Im Widerspruch dazu steht das oft auch schriftlich formulierte Verbot, Kinder mit dem Rad in die Grundschule zu schicken. Eine gängige Praxis, obwohl den Schulleitungen dazu die gesetzliche Grundlage fehlt, denn der Schulweg ist Sache der Eltern. Die zentrale Frage lautet also: Wo und vor allem mit wem sollen Kinder Rad fahren, wenn sowohl die Eltern als auch die Lehrer vor dem Thema kapitulieren?

Auf „Pumptracks“ bewegt man sich durch Pumpbewegungen mit Armen und Beinen fort. Kostengünstig einzurichten und beliebt bei Klein und Groß.

Mit dem Fahrrad zur Schule: Früher eine Selbstverständlichkeit, heute vielen zu gefährlich.

Bewegungslos mit Smartphone

Mögliche Gründe für die skizzierte Entwicklung finden sich genug, harte Fakten in Form von wissenschaftlichen Studien gibt es jedoch kaum. Ein wesentlicher Treiber für die abnehmenden Radfertigkeiten in den letzten Jahren ist der ausgeprägte und zunehmende Bewegungsmangel von Kindern, der durch die Nutzung von Smart­phones und anderen digitalen Endgeräten noch verstärkt wird. Während vor wenigen Jahren noch Spielekonsolen und Fernseher die Kinder im Haus fesselten, sind das heute die immer verfügbaren Smartphones mit ihren hochattraktiven Inhalten. Kinder, die ein Smartphone bedienen, bewegen sich nicht. Schon im Kleinkindalter haben über 70 Prozent der Kinder Nutzungszeiten von über 30 Minuten pro Tag. Das wurde in einer repräsentativen Studie der Drogenbeauftragten des Bundestags ermittelt.

„Wo und vor allem mit wem sollen Kinder Rad fahren, wenn sowohl die Eltern als auch die Lehrer vor dem Thema kapitulieren?“

Dr. Achim Schmidt, Deutsche Sporthochschule Köln

Elterntaxi erschwert Bewegungskoordination

Der zweite wesentliche Treiber für weniger Radmobilität sind die Eltern bzw. deren Verhalten. Kinder werden zu einem hohen Prozentsatz zur Schule und zu Terminen mit dem Auto gefahren. Selbstgetätigte Wege durch eigene Muskelaktivität gehören im Alltag vieler Kinder zur Ausnahme. Die Gründe hierfür sind die Angst vor Kontrollverlust, Stichwort Helikoptereltern, sowie der zeitlich verdichtete Alltag der Familien. Und Kinder, die sich wenig bewegen, fahren auch weniger und schlechter Fahrrad. Die Transferwirkung von Bewegung auf die Koordination anderer Bewegungsarten ist in der Sportwissenschaft hinlänglich bekannt.

Corona zeigt: Es geht auch anders

Jeder, der mit offenen Augen im Verkehr unterwegs ist, nimmt die während der Schönwetter-Corona-Krise zunehmende Zahl von Kindern und Familien auf Fahrrädern wahr. Gleiches gilt für Rennradfahrer, Inlineskater und Jogger. Oftmals sind Erwachsene mit mehreren Kindern auf Rädern unterwegs, auch aus Bevölkerungsschichten, die man normalerweise nicht auf Rädern sieht. Manche Kinder fahren nunmehr täglich Rad und ihre Eltern unterstützen das.
Das wundert nicht, denn trotz aller Widerstände und hemmender Faktoren ist Radfahren bei Kindern und Jugendlichen außerordentlich beliebt. Bei 4- bis 17-jährigen Mädchen steht Radfahren an erster Stelle der Sportarten. Bei Jungen wird es ab dem Alter von elf Jahren von Fußball von Platz eins verdrängt. Dazu kommt: Kinder motivieren Eltern. Jeder, der Kinder hat, weiß, dass Kinder oftmals der Motor für neue Familienaktivitäten oder Verhaltensänderungen sind. So ist es auch beim Radfahren.

Nachahmenswert: Überall auf der Welt, wie hier in Seattle, USA, bilden Eltern begleitete Fahrradgruppen (Bike Bus/Bike Train) für den Schulweg.

Aktive Förderung gefragt

Es bleibt zu hoffen, dass einiges von dieser Aufbruchsstimmung in den Familien erhalten bleibt und künftig zunehmend mehr Menschen und vor allem Kinder und Jugendliche mit dem Rad im Alltag unterwegs sein werden. Aber auch Kommunen können viel tun, um aktiv steuernd einzugreifen. Die Liste der Fördermöglichkeiten für den Radverkehr von morgen ist lang. Jede Kommune muss für sich entscheiden, welche Maßnahmen Aussicht auf Erfolg haben und was realisierbar ist. Am Geld scheint es oftmals nicht zu mangeln, denn die Töpfe für Verkehrs- und Mobilitätserziehung und damit für das Radfahren von Kindern und Jugendlichen sind gut gefüllt. Wichtig ist, dass sich jemand engagiert kümmert. Denn die Verortung dieses Themas innerhalb der kommunalen Verwaltung ist sehr unterschiedlich. Sie reicht von Radverkehrsbeauftragten, Umwelt- oder Mobilitätsmanagern bis hin zu Verkehrsplanern.

Für mehr Fahrradmobilität von Kindern und Jugendlichen

  • kindgerechte Radinfrastruktur ausbauen
  • Umgestaltung von Kreuzungen zur Erhöhung der Sicherheit von „kleinen“ Radfahrenden
  • Arbeitskreis Schule ins Leben rufen (Grundschule, Sek I, Sek II)
  • Netzwerk Kinder- und Jugendmobilität aufbauen
  • Fortbildungen für Lehrkräfte an Schulen zum Thema Fahrrad
  • Fortbildungen für Erzieher*innen an Kitas
  • Erhebungen zur Radnutzung bei Kindern und Jugendlichen (ggf. als Projektarbeiten an weiterführenden Schulen)
  • Pro-Fahrrad-Kampagnen in Kommunen
  • gezielte Kinder- oder Familienangebote schaffen
  • „Bike Bus“-/„Bike Train“-Projekte fördern

Dr. Achim Schmidt

ist Sportwissenschaftler am Institut für Outdoor Sport und Umweltforschung der Deutschen Sporthochschule Köln und Fahrradexperte. Er befasst sich seit vielen Jahren unter anderem mit der Fahrradsozialisation von Kindern und Möglichkeiten zur Förderung von Bewegung und aktiver Mobilität.


Bilder: Dr. Achim Schmidt, www.pd-f.de / Luka Gorjup, Clint Loper, Klima-Bündnis – Laura Nickel

Nach der Einschätzung vieler Experten macht die Corona-Krise Missverhältnisse und Brüche sichtbar und beschleunigt bereits bestehende Prozesse. Auch im Bereich Verkehr? Wir haben dazu mit Professor Stefan Gössling gesprochen, der sich hier als Experte einen Namen gemacht hat. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Herr Professor Gössling, Sie beschäftigen sich seit Langem intensiv mit den Zusammenhängen von Tourismus, Verkehr und Nachhaltigkeit. Gibt es im Bereich Verkehr Tendenzen, dass sich die Dinge gerade ändern?
Aktuell gibt es viele Debatten insbesondere zum Fahrradverkehr. Es ist aus meiner Sicht sehr positiv, dass jetzt nach vorne gedacht wird. Es scheint ein Konsens zu sein, dass man diese Krise nicht vorbeiziehen lassen darf, sondern sie nutzen sollte, um Änderungen im Verkehrssystem durchzusetzen.

Viele wollen ja möglichst schnell zum alten Zustand zurück. Macht das Sinn?
In Bezug auf den Verkehr war die Situation ja schon vor Corona so, dass die Entwicklungen, die wir hatten, nicht so weiterlaufen konnten. Eine problematische Entwicklung ist der kontinuierliche Zuwachs von Fahrzeugen auf den Straßen. In Deutschland haben wir ein Plus von rund einer Million Fahrzeugen netto pro Jahr. Dazu kommt der Trend hin zu immer mehr SUV und damit zu mehr Platzverbrauch und zu mehr Luftverschmutzung. Auch zu höheren Unfallrisiken.

„In Deutschland gibt es keine Verkehrspolitik, sondern nur eine Industriepolitik, und die ist leider sehr einseitig auf das Auto ausgerichtet.“

Professor Stefan Gössling

Aber das Auto ist ja auch gleichzeitig Deutschland liebstes Kind.
Fast alle Verkehrskonflikte, die wir in Deutschland und weltweit haben, beziehen sich auf das Auto. Unter den Verkehrsforschern ist es ein grundsätzlicher Konsens, dass wir etwas tun müssen, um Abhängigkeiten vom Auto zu reduzieren. Das Auto verbraucht zu viel Platz und hat zu viele negative Externalitäten, von der Luftverschmutzung bis hin zu Unfällen. Das alles wurde in der Verkehrspolitik bislang nicht thematisiert.

Kritiker weisen immer wieder auf die Autozentriertheit von Bundesregierung und Verkehrsministerium hin. Sehen Sie hier ein Problem?
In Deutschland gibt es keine Verkehrspolitik, sondern nur eine Industriepolitik, und die ist leider sehr einseitig auf das Auto ausgerichtet. Man hat nicht systematisch Mobilität als Dienstleistung gefordert und gefördert. Das gilt selbst für grün regierte Städte, die nicht einmal die gerichtlichen Vorgaben durch die von der Deutschen Umwelthilfe geführten Prozesse genutzt haben, um schmutzige Diesel aus den Städten zu verbannen. Maßnahmen, die auch ohne Gerichtsurteile schon längst hätten durchgeführt werden müssen.

Was sind Ihre Vorschläge für Städte und städtische Mobilität?
Ich habe schon früher argumentiert, dass wir Städte als Innovationsorte denken müssen, dass in den Städten der positive Wandel anfangen muss, weil dort die Konflikte, aber auch die Möglichkeiten am größten sind.

Was ist mit einem positiven Wandel gemeint? Autofahrer, Lobbyverbände und Teile der Politik sehen den Radverkehr ja eher als Konkurrenz um Räume.
Mit positivem Wandel meine ich, dass wir Mobilität für alle Menschen gewährleisten müssen und gleichzeitig die Lebensqualität in Städten erhöhen wollen. Das können wir erreichen durch die Förderung von Mikromobilität und insbesondere des Radverkehrs. Wichtig ist es dabei zu bedenken, dass jeder Radfahrer mehr auch einen Platzgewinn für Autofahrer bedeutet, denn nur wenn es uns gelingt mehr Menschen vor allem auf das Fahrrad zu bringen, können wir Räume freimachen. Ein Fußgänger oder Radfahrer braucht nur ein bis zwei Quadratmeter Fläche, ein Autofahrer bei Tempo 50 km/h aber 70 Quadratmeter. Es muss also attraktiver werden, aktiv mobil zu sein, nur dann werden Leute freiwillig auf das Auto verzichten. Darauf baut mein Vorschlag der Mikromobilitätsstraßen: Bei dem Konzept geht es darum, autofreie Nebenstraßen im Netz der gesamten Stadt einzurichten, die es jedem möglich machen, sich zu Fuß, mit dem E-Roller oder dem Fahrrad und ohne Interaktion mit dem Auto, Verkehrsrisiken, Lärm oder Abgasen zu bewegen.

„Jeder Fahrradkilometer bedeutet einen Nutzwert für die Gesellschaft. Autofahrer decken mit ihren Abgaben nur einen Bruchteil der Kosten, die der Gesellschaft entstehen.“

Was ändert sich jetzt gerade durch Corona?
In Städten konnten wir eine dramatische Abnahme des Verkehrsaufkommens sehen, die mit viel besseren Bedingungen für aktive Mobilität einherging. Die Luftverschmutzung nahm ab, ebenso der Lärm und die Enge. Weil ÖPNV und geteilte Formen der Mobilität als unsicher galten, gab es auch eine deutliche Zunahme des Fahrradverkehrs im Modal Split.

Denken Sie, dass es auch mittel- und langfristig zu Veränderungen kommen kann?
Inzwischen gibt es klare Anzeichen dafür, dass sich das Mobilitätsverhalten insgesamt geändert hat. Viele Menschen sind auf aktive Mobilität umgestiegen. Das führt vermutlich dazu, dass auch viele Umsteiger zukünftig beim Rad bleiben: Man fühlt sich mental und physisch besser. Viele Menschen teilen auch die Erfahrung, sich auf dem Fahrrad angstfreier und ohne Luftverschmutzung fortbewegen können. Deshalb haben wir aktuell tatsächlich ein Window of Opportunity, um auch langfristig mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen. Denn natürlich wird das Interesse am Rad mit wieder zunehmendem Autoverkehr in den Städten auch wieder sinken.

Sind die Menschen jetzt eher bereit für einen Umstieg vom Auto aufs Fahrrad?
Die Barriere für einen Umstieg war bislang die große Bindung, die man ans Auto hat, die über funktionale Aspekte weit hinausgeht – das Auto hat viele symbolische und affektive Werte, die durch die Ängste vor Infektionen noch verstärkt worden sind. Damit zu brechen, ist natürlich wahnsinnig schwierig. Aber genau das passiert im Moment in einem Teil der Gesellschaft. Ein anderer Teil, insbesondere auf dem Land, wird vermutlich stärkere Bindungen ans Auto entwickeln.

Der Städtetag sagt, die Kommunen wollen eine Verkehrswende. Ist ein höherer Radverkehrsanteil realistisch?
Wenn man Mikromobilitätsstraßen permanent einführte, dann könnte man in Städten auch einen viel höheren Radfahreranteil erreichen. Die besten deutschen Städte haben einen Anteil von vielleicht 35 bis 40 Prozent Radverkehr an den Fahrten im Stadtgebiet. In den Niederlanden werden deutlich höhere Werte erreicht, das heißt, es ist noch viel Spiel im System.

Mehr lesen. Eine Empfehlung von Prof. Stefan Gössling.

Todd Litman vom kanadischen Victoria Transport Policy Institute, einer unabhängigen Forschungsorganisation, gehört zu den führenden Stadt- und Verkehrsplanern weltweit. Auf der Instituts-Website werden kostenlos Ressourcen zur Verfügung gestellt, um die Verkehrsplanung und die Analyse der Verkehrspolitik zu verbessern. Ein aktueller Beitrag befasst sich mit der resilienten und Pandemieresistenten Planung von Städten und Kommunen. Aufgezeigt werden praktische Möglichkeiten zur Unterstützung bei der Vorbereitung, Reaktion und Erholung von Pandemien und anderen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Schocks. Zudem wird untersucht, wie Gemeinschaften ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Pandemien und anderen plötzlich auftretenden wirtschaftlichen, sozialen oder ökologischen Risiken erhöhen können.

Mehr unter vtpi.org

Was sollten Städte und Kommunen konkret tun?
Ich gehe immer davon aus, dass man die Transportmittelwahl nicht erzwingen kann. Man kann aber bestimmte Verkehrssysteme attraktiv machen. Und dann muss man es den Menschen überlassen, ob sie dieses Angebot annehmen. Ich denke aber, dass alle Studien in dieser Richtung zum gleichen Schluss kommen: Wenn man die Voraussetzungen für Fahrradstädte schafft, dann fahren die Menschen auch Rad. Wir haben beispielsweise in unserer Forschung nachgewiesen, dass Radfahrer erhebliche Umwege fahren, um motorisiertem Verkehr auszuweichen, also Abgasen, Lärm und Verkehrsrisiken. Wenn man gute In­frastruktur für mehr Radverkehr schafft, dann steigen viele Leute freiwillig um, noch mehr, wenn Mikromobilitätsstraßen eingeführt werden. Die Menschen fahren eigentlich sehr gerne Rad – das wird gerade in der Corona-Krise klar.

Viele Verbände fordern jetzt Anreize für umweltfreundliche Mobilität statt Kaufprämien für Autos. Was halten Sie davon?
Der große Erfolg der Fahrradleasing-Anbieter zeigt, dass schon ein kleiner finanzieller Anreiz einen Grund darstellt, um umzusteigen. Ich würde mir wünschen, dass der ökonomische Nutzen, den Radfahrer für die Gesellschaft erbringen, denn sie sind Kostensparer, auch wieder an sie ausgezahlt wird. Für jeden Radfahrer und jeden Kilometer.

Sie haben den ökonomischen Nutzen von Radfahren in der Vergangenheit ja schon konkret berechnet.
Richtig, im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse haben wir einen Vergleich zwischen Auto- und Radfahren gezogen. Bezieht man alle Faktoren ein, dann hat ein Fahrradkilometer einen Nutzen von 30 Cent für die Gesellschaft. Radfahren kann beispielsweise ganz massiv zur Entlastung der Gesundheitssysteme beitragen. Der Betrag wird quasi von Radfahrern erwirtschaftet, allerdings ohne dass bislang ein Ausgleich stattfindet.

Radfahren bringt also einen Nutzen für die Gesellschaft, wie verhält es sich mit Autofahren?
Ein mit dem Auto zurückgelegter Kilometer bedeutet gesellschaftliche Kosten von rund 20 Cent. In dieser Berechnung ist bereits berücksichtigt, dass Autofahrer erhebliche Steuern und Abgaben zahlen, die man mit acht Cent pro Kilometer ansetzen kann. Die größten Autokosten entstehen durch Lärm, den Ausbau von Verkehrsinfrastruktur und deren Erhalt sowie die Verfügbarkeit kostenfreier Parkplätze. Dazu kommen noch viele andere Kosten, wie die des Klimawandels. Negative Auswirkungen auf die Lebensqualität und den Tourismus sind in unserer Berechnung zum Beispiel noch gar nicht berücksichtigt, weil sie sich schlecht quantifizieren lassen.

Bei Verkehrsforschern und auch beim Deutschen Städtetag gibt es einen Konsens zur Reduzierung der Abhängigkeiten vom Auto.

Neben dem Verkehr steht ja vor allem das Autoparken in der Kritik. Haben Sie dazu Lösungsvorschläge?
Das durchschnittlich europäische Auto wird vermutlich 97 Prozent der Zeit nicht genutzt. In manchen Städten wird der eigene Wagen ja schon manchmal nicht mehr genutzt, weil man Angst hat, dass man bei der Rückkehr keinen Parkplatz mehr findet. Wenn solche Situationen entstehen, dann ist man wirklich in einer Sackgasse angekommen. Deswegen können wir auch mit deutlich weniger Autos auskommen. Zu den Kosten: Parkraum ist steuerlich subventioniert. Das fängt beim Anwohnerparkplatz an, der mit 30 Euro pro Jahr abgerechnet wird. Es wird eigentlich in keiner Stadt wirtschaftlich errechnet, was dieser Platz eigentlich wert ist. Der Kollege Donald Shoup in den USA fordert, dass vor allem Parkplätze in der Innenstadt prinzipiell so teuer sein müssten, dass immer eine ausreichende Zahl freier Plätze, ungefähr 15 Prozent, verfügbar ist. Das könnte ein Ausgangspunkt für die Bewirtschaftung sein.

Wie sollte die künftige staatliche Steuerung von Mobilität Ihrer Meinung nach aussehen?
Die Kosten-Nutzen-Analyse zeigt, dass wir eine Schere haben, die stark auseinanderklafft: Das Auto kostet, das Fahrrad nutzt. Volkswirtschaftlich betrachtet sollte diese Schere zunehmend geschlossen werden. Generell ist es sicher wünschenswert, dass der Autofahrer die Kosten trägt, die er verursacht. Das würde aus meiner Sicht bedeuten, dass Autofahren teurer werden muss. Auf der anderen Seite könnte man alternative Verkehrsmittel, wie das Fahrrad, fördern, indem man zum einen ökonomische Anreize schafft und zum anderen auch einen infrastrukturellen Ansatz verfolgt, in dem mehr Geld für das Fahrrad investiert wird. Die aktuell diskutierten Kaufprämien für Autos und der Abbau von Förderungen für Lastenräder führen in die absolut falsche Richtung.

Müsste man mit Blick auf Corona, Investitionsprogramme und den Klimawandel jetzt anders handeln?
Eigentlich sollte man Corona als Chance wahrnehmen – das tun auch viele Städte, nur leider kaum in Deutschland. Für mich ist klar, dass die potenziellen Störungen durch den Klimawandel im Wirtschaftssystem um ein Vielfaches schlimmer ausfallen werden als das, was wir gerade mit Corona erleben. Das wird allein deshalb deutlich, weil Klimawandel nicht kurzfristig, sondern permanent sein wird. Deshalb empfehle ich, aus der aktuellen Krise heraus auch langfristig Schlüsse zu ziehen über die Umgestaltung von Verkehrssystemen. Wir sollten die Systeme in den Städten auf einer viel fundamentaleren Ebene ändern. Immer mehr und größere Autos in Städten – es muss ja jedem klar sein, dass das nicht gehen wird. Wer jetzt handelt, handelt also langfristig und auf der Basis ökonomischer Vernunft.

Über Professor Stefan Gössling

Stefan Gössling hat in Münster und Freiburg studiert und ist heute Professor für nachhaltigen Tourismus und nachhaltige Mobilität an der schwedischen Linnaeus-Universität. Neben seiner Lehrtätigkeit ist er unter anderem als Berater von Regierungen und supranationalen Organisationen tätig und hat zahlreiche Fachbeiträge und Bücher veröffentlicht. Er ist Initiator des Mobilitätsforschungszentrums Transportation Think Tank Freiburg (t3freiburg.de).

Buchtipp: „The Psychology of the Car: Automobile Admiration, Attachment, and Addiction.“ (2017)


Bilder: Kara – stock.adobe.com, vtpi.org, Pixabay,

Aktuell werden überall händeringend Verkehrsplaner gesucht. Aber auch insgesamt fehlt in den öffentlichen Verwaltungen Personal. Wie sieht es aktuell aus, wo sind Probleme und was können Kommunen ändern? Dazu haben wir mit Rolf Dindorf gesprochen, der sich auf strategisches Personalmanagement im öffentlichen Sektor spezialisiert hat. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Herr Dindorf, viele beklagen latenten Personalmangel in der öffentlichen Verwaltung. Wie sehen Sie die Situation und welche He­rausforderungen gibt es aktuell?
Vorweg muss man sagen, dass wir es mit einer ganzen Reihe von zunehmend kritischen Entwicklungen zu tun haben. Ein großes Thema ist dabei der demografische Wandel. Schon vor 20 Jahren gab es dazu warnende Artikel in den Medien. Aber nicht nur in der medialen Wahrnehmung ist das Thema in der Folgezeit weitgehend untergegangen, auch bei den Entscheidern. Das fällt uns jetzt vor die Füße und es muss dringend gegengesteuert werden.

Wie sieht der demografische Wandel konkret in der Verwaltung aus?
Laut Schätzungen des Deutschen Beamtenbunds fehlen aktuell 138.000 Beschäftige in den Kommunalverwaltungen. Das zieht sich durch alle Bereiche der Verwaltung. Die eigentlichen Probleme kommen aber erst noch: 1,5 Millionen Menschen arbeiten in den Kommunalverwaltungen. Von denen sind nur 51.000 unter 25 Jahren, 181.000 aber über 60 Jahre alt. Ungefähr 29 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, also fast ein Drittel, scheidet in den nächsten 10 Jahren aus.

„Man muss eine Marke sein und die Menschen müssen auch Lust haben, zu Ihnen zu kommen.“

Rolf Dindorf

Tun die Kommunen zu wenig, um dem Mitarbeiterschwund zu begegnen?
Man muss einfach sagen, dass manche Kommunen ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Sie wissen ja genau, wie dünn die Personaldecke ist, wie alt zum Beispiel ihre Ingenieure und Verkehrsplaner sind und wann diese in Pension gehen.

Vielfach kommt das Argument, dass Kommunen nicht so gut zahlen wie die Privatwirtschaft.
Da muss man sagen, ja, das stimmt. Anderseits würde es unterstellen, dass sich alle nur nach dem Geld orientieren. Und das würde ich zurückweisen. Natürlich ist Geld ein Faktor, aber es gibt noch ganz viele andere Faktoren und da muss man ansetzen.

Was empfehlen Sie Kommunen konkret, um Fachkräfte zu gewinnen?
Man muss sich anschauen, wie sich die Verwaltung einer Stadt darstellt und wie die Personalgewinnung konkret abläuft. Viele Homepages sind in ihrem Auftritt nicht mehr zeitgemäß. Oft müssen Sie den Button Personal oder Karriere erst langwierig suchen. Dann die Art der Stellenausschreibung: Es wird gesagt „Das müssen wir korrekt machen“. Das ist richtig. Trotzdem müssen die Ausschreibungen nicht so altbacken daherkommen.

Wie kann eine gute Mitarbeiterakquise aussehen?
Die Stadt Hamm hatte zum Beispiel erfolglos nach Bewerbern als Straßenbauingenieur gesucht. Überregionale Aufmerksamkeit und den Durchbruch brachte eine Anzeige: „Ihr baut den Highway to Hamm. Wir schicken euch auf die härteste Kreuzfahrt Europas“ (Anm.: Full Metal Cruise). Kann man so etwas machen? Warum nicht? Es muss natürlich zum Selbstverständnis und dem Außenbild passen. Letztlich kommt es darauf an, eine Arbeitgebermarke zu entwickeln.

Stellenausschreibung mal anders: „Ihr baut den Highway to Hamm. Wir schicken euch auf die härteste Kreuzfahrt Europas.“

Das heißt, die kommunale Verwaltung sollte klarmachen, wofür sie steht und was sie bietet?
Ja, eine Arbeitgebermarke zu entwickeln, ist ein ganz wesentlicher Punkt. Damit tun sich viele kommunale Verwaltungen schwer und es gibt es Widerstände, wie „Wir sind nicht Coca-Cola oder ein Start-up. Das wollen wir nicht.“ Was dabei vergessen wird: Jede Kommune ist eine Arbeitgebermarke für sich und faktisch eine Firma. Je nachdem, wo sie sind, gehören die Stadt- und Kreisverwaltungen zu den wichtigsten Arbeitgebern. Sie stellen sich optisch nur oft nicht so dar und kommen als graue Maus daher. Egal, ob die Stadt Ulm heißt oder Bielefeld, es muss klar werden, wofür die Verwaltung steht. Also „Wer sind wir?“ „Was zeichnet uns aus?“ „Was bieten wir?“ Vielleicht sind Sie damit ja auch ein Paradiesvogel, der manche abschreckt aber andere werden auch angezogen. Graue Mäuse ziehen dagegen niemand wirklich an.

Was kann die Verwaltung bei der Rekrutierung sonst noch verbessern?
Entscheidend ist auch, wie die Bewerberkommunikation abläuft. Wenn man sich an jüngere Menschen wendet, muss man immer sehen, wie dort die Bedürfnisse und Erwartungshaltungen sind. Zum Beispiel sollte man überlegen, ob Bewerber ihre Unterlagen noch per Post senden müssen oder das auch per Mail machen können. Auch die Entscheidungsprozesse sollten kürzer werden. Die Berliner Landesverwaltung hat zum Beispiel in einer Pressemitteilung gesagt, dass die durchschnittliche Dauer bis zur Einstellung nicht mehr 5,3 Monate, sondern nur noch 3,8 Monate beträgt. Das entspricht aber nicht der Lebensrealität der Stelleninteressenten. Nach einer Untersuchung des Nachwuchsbarometers öffentlicher Dienst erwarten über 80 Prozent der Interessenten innerhalb von vier Wochen eine Rückmeldung und ggf. Einladung zum Gespräch.

„Der öffentliche Dienst ist nicht nur ein sicherer Hafen, er bietet auch Sinnorientierung.“

In Krisenzeiten gibt es ja einen erhöhten Zulauf im öffentlichen Dienst. Beseitigt er die Pro­bleme?
Manche sagen: Die nächste Krise kommt bestimmt und dann wollen sie alle wieder in den öffentlichen Dienst. Aber die Spekulation auf die Krise löst das Problem nicht. Wenn Sie den demografischen Wandel sehen, dann wird schnell klar, dass das so nicht funktionieren kann. Diese Erkenntnisse gab es natürlich schon vor Corona. Dazu kommt in Bezug auf Fachkräfte, wie Verkehrsplaner, dass man diese nicht vor Ort rekrutieren kann. Man muss eine Marke sein und die Menschen müssen auch Lust haben, zu Ihnen zu kommen.

Was können Verwaltungen tun, um als Arbeitgeber attraktiver zu werden?
Vielfach wird auf notwendige und wohl auch unumgängliche Änderungen negativ reagiert. Die Strukturen sind da und sie sollen so bleiben. Man tut so, als müssten heilige Kühe geschlachtet werden. Das kann aber nicht die Lösung sein. Es kommt darauf an, frischen Wind in die Verwaltung zu bringen, verbunden mit einem Kultur- und Wertewandel. Junge Menschen sind heute viel individueller, das sehen Sie allein an den weiterverbreiteten Tattoos. Sie wollen mehr Freiheiten und Verantwortung. Die Verwaltung kann hier mit Gestaltungsmöglichkeiten punkten. Digitalisierung, Homeoffice, Projektteams über Fachgrenzen hinaus – alles, was man unter agilem Arbeiten summieren kann. Wir brauchen eine innovative gegenwartsadäquate Arbeitsumgebung.

Aber auch viele Amtsräume strahlen ja noch den Charme der 1980er Jahre aus.
Natürlich sind attraktive Neubauten mit moderner Innenraumgestaltung schön. Räume wirken auf Menschen. Da häufig die finanziellen Mittel nicht für umfangreiche bauliche Änderungen reichen, sollte man trotzdem im Kleinen beginnen. Eine wesentliche Verbesserung ist es zum Beispiel, Kreativräume zu öffnen. Köln hat hier mit dem „Zukunftslabor“ ein Zeichen gesetzt. Salopp gesagt: Eine geeignete Fläche für vernetztes Arbeiten und persönlichen Austausch ist schnell mit einer elektronischen Tafel, einem Beamer und ein paar kreativen Methodentools eingerichtet. Dabei geht es vor allem auch darum, Signale zu setzen. Zum Beispiel im Hinblick auf die Zusammenarbeit – auch zwischen Jung und Alt. Es ist auch eine Haltungsfrage, wie man mit älteren Mitarbeitern umgeht, ob man noch von ihrer breiten Erfahrung profitieren möchte, indem man sie zum Beispiel weiterbildet und aktiv mit Jüngeren zusammenbringt.

Was würden Sie als Fachmann den Verwaltungen gerne mitgeben?
Wichtig ist für die Kommunalverwaltungen, dass sie personell wieder Wasser unter den Kiel bekommen. Sie müssen mit einem strategischen Personalmanagement langfristig gezielt planen. Im Hinblick auf die Personalgewinnung genauso wie die Personalentwicklung und den Ausbau digitaler Kompetenzen. Ein wichtiges Argument kann die Verwaltung dabei immer für sich in Anspruch nehmen: Der öffentliche Dienst ist nicht nur ein sicherer Hafen, er bietet auch Sinnorientierung im Hinblick auf die Arbeit an der Gemeinschaft und den Zusammenhalt der Gesellschaft. Das kann und sollte in der Kommunikation viel stärker herausgestrichen werden. Gerade in Krisenzeiten.

Rolf Dindorf

ist seit 2005 als Führungskräfteberater und Seminarleiter auf das Themenfeld strategische Personalarbeit im öffentlichen Dienst und angelehnten Wirtschaftsbranchen spezialisiert. Seine Themenschwerpunkte sind unter anderem agile Verwaltung, demografischer Wandel sowie sinnstiftende Unternehmenskultur.

Mehr Informationen unter rolf-dindorf.de


Bilder: SimpLine – stock.adobe.com, Reiner Voß

Vor dem Hintergrund absehbarer ökonomischer Verwerfungen sagen Marktexperten einen neuen Boom der Sharing-Economy und Pay-per-use-Angebote voraus. Wir werfen einen Blick auf eta­blierte Lösungen der Fahrradbranche für Unternehmen, Tourismus, Kommunen und Privatkunden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise werden zunehmend sichtbar und spürbar. Aber auch in Bezug auf die Geschäftsfelder, Prozesse und Arbeitsabläufe sprechen Experten inzwischen von seismischen Erschütterungen. Mögliche Auswirkungen auf die Arbeitswelt beschreibt zum Beispiel der Personalberater Heiner Thorborg im Manager Magazin. Seiner Einschätzung nach sind Verschiebungen hin zum Homeoffice und damit verbunden eine Neuausrichtung des Facility- und Mobilitätsmanagements beispielsweise in vollem Gange. Geschäftsreisen würden weniger, Firmenwagen künftig abgeschafft oder durch deutlich kleinere Flotten mit umweltfreundlicheren und kostengünstigeren Alternativen ersetzt. Auch in anderen Bereichen, wie dem Tourismus sind Umbrüche absehbar: So könnten hier flexibel buchbare Fahrrad- und E-Bike-Angebote statt kostenintensiver und aktuell nur schwer nutzbarer Einrichtungen, wie Wellness-
Oasen, zur neuen Zukunfts- und Überlebensstrategie gehören. Auch die Kommunen stehen vor vielfältigen Herausforderungen und müssen die Frage beantworten, wie Mobilität in den Städten und auf dem Land künftig für Einwohner und Mitarbeiter flexibel gewährleistet werden kann.

Neu gedacht: kostengünstig und gesund

Ein Neudenken von Mobilität macht allein wohl mehr Sinn, als uns eigentlich bewusst ist. Das zeigen der Markterfolg der E-Bikes, von denen 2019 fast 1,4 Millionen verkauft wurden und die große Zahl der Abschlüsse beim Fahrrad- und E-Bike-Leasing. Erfahrungen von Unternehmen, Verwaltungen und Mitarbeitern zeigen immer wieder, dass Management und Mitarbeiter gleichermaßen positiv überrascht und zufrieden sind, wenn statt Autos Fahrräder und E-Bikes zum Einsatz kommen. Unternehmen aus der Fahrradbranche wundert das nicht. Sie betonen immer wieder die positiven Effekte, bis hin zum „eingebauten Lächeln“ bei E-Bike-Fahrern. Dank neuer Technologien bieten sie eine breite Palette an Produkten für praktisch jeden Bedarf – auch im B2B-Markt. Ausgereift und vielfach erprobt sind inzwischen Full-Service-Angebote und vernetzte Lösungen mit Buchungssystemen via Smartphone-App, mit der sich einzelne Räder buchen und komplette Flotten verwalten lassen. Sowohl bei den Produkten als auch bei den Vernetzungslösungen gehören Unternehmen aus Deutschland und Europa zu den Markt- und Innovationsführern.

Nextbike – Spezialist für Public Bikesharing

Seit über 14 Jahren aktiv und europäischer Marktführer im Bikesharing ist das Unternehmen Nextbike mit Hauptsitz in Leipzig. Nextbike versteht sich als Ergänzung zu Bus und Bahn und ist aktuell in über 200 europäischen Städten mit seinen markanten Fahrrädern und E-Bikes aktiv. 2019 wurde Nextbike von der Stiftung Warentest als Testsieger im deutschen Bikesharing-Markt ausgezeichnet. Warum das Unternehmen unter Nutzern nicht bekannter ist, liegt vor allem daran, dass die Räder in vielen Städten quasi unter fremder Flagge fahren – oft unter der lokaler Verkehrsbetriebe, aber auch von Städten oder externer Sponsoren, wie Deezer in Berlin. Interessant ist auch das starke Interesse von auf den ersten Blick nicht besonders fahrradaffinen Ländern wie Polen. Gerade hier tut sich offenkundig in Bezug auf nachhaltige Mobilität eine ganze Menge.

„Allgemein erhoffen wir uns ein nachhaltiges Umdenken, dass die viel besprochene Mobilitätswende mit mehr Nachdruck umgesetzt wird.“

Niclas Schubert, Movelo

Movelo – Corporate E-Bike-Sharing

Seit 2005 ist das Unternehmen Movelo als Spezialist für E-Bike-Sharing bekannt. Vom Anbieter von Flyer-E-Bikes in Tourismusdestinationen hat sich das Unternehmen inzwischen aber deutlich weiterentwickelt und neu positioniert. Schwerpunkt ist ein „Plug & Play-System“ für das Corporate E-Bike-Sharing, bestehend aus E-Bikes und E-Cargobikes, Docking-Stationen und Flottenmanagement-Software, mit dem Unternehmen ihren Mitarbeitern eine Alternative zum Auto bieten können. Spezifische Zielgruppen sind, neben Unternehmen, vor allem Pflegedienste, Tourismusdestinationen und der Immobiliensektor. Businesskunden wird eine flexible monatliche Gebühr berechnet. Da das Produkt modular aufgebaut ist, ist es einfach, die Flotte zu erweitern oder zu verkleinern, wenn die Nachfrage nach E-Bikes unter den Mitarbeitern variiert. Heute sind nach Unternehmensangaben 5000 Movelo E-Bikes im Umlauf und über 1000 Lade- und Mietstationen aktiv. Zur aktuellen Corona-Situation befragt, sagt Geschäftsführer Niclas Schubert: „Allgemein erhoffen wir uns ein nachhaltiges Umdenken, dass die viel besprochene Mobilitätswende mit mehr Nachdruck umgesetzt wird. Solange die Abstandsregelung gilt, ist das E-Bike für viele das optimale Verkehrsmittel für den Weg in die Arbeit. Wir haben rasch auf die Situation reagiert und bieten Unternehmen Kurzzeitmieten an.“ Ein spezielles Angebot gibt es aktuell zudem für Lieferdienste.

ZEG Eurorad: Travelbike und Sharea

Mit Dienstleistungen und speziellen Angeboten ist die Firma Eurorad, eine Tochter des ZEG-Verbunds von 960 unabhängigen Fahrrad-Fachhändlern, seit einigen Jahren im Tourismus- und B2B-Bereich aktiv. Unter der Marke Travelbike gibt es ein Full-Service-Angebot für Tourismusdestinationen in vielen verschiedenen Regionen in Deutschland und Österreich. Zusammen mit lokalen ZEG-Partnern bietet Travelbike maßgeschneiderte Angebote für den E-Bike-Verleih, vom coolen Strandrad bis hin zum E-Mountainbike.
Ein ähnliches Konzept wie Movelo bietet Eurorad mit Sharea als neuem Anbieter für Zweirad-E-Mobilität. Kunden können E-Bikes, E-Lastenräder oder E-Kickscooter für spezifische Zeiträume mit einem digitalen Verleihsystem mieten. Dazu gibt es spezielle Hubs, eine Vielzahl möglicher Fahrzeuge und ebenfalls Full-Service-Pakete in Zusammenarbeit mit ZEG-Händlern vor Ort. Für Kommunen und Investoren interessant: Nach einer Eurorad-Präsentation lassen sich zum Beispiel für ein Münchner Wohnquartier mit 50 Einheiten und 3300 qm Wohnfläche durch die Einrichtung eines Radverleihsystems und der gleichzeitigen Reduzierung von Parkflächen von 1 auf 0,3 Stellplätze pro Wohneinheit Kosteneinsparungen von rund 650.000 Euro realisieren.

Starkes Wachstum für Abo-Angebote: Allein in Deutschland hat Swapfiets 35.000 Kunden und über 500 Mitarbeiter.

Swapfiets – alles im Abo und aus einer Hand

Seit dem Start im Jahr 2014 ist der niederländische Fahrrad-Abo-Anbieter Swapfiets, erkennbar an den blauen Vorderreifen, jedes Jahr um mindestens 500 Prozent gewachsen, heißt es in einer Pressemitteilung. Swapfiets ist in Dutzenden von Städten und neben den Niederlanden inzwischen auch in Belgien, Deutschland und Dänemark aktiv. Für Deutschland gibt Swapfiets 35.000 Kunden und über 500 Mitarbeiter an. Mit den Rädern werden bislang vor allem junge urbane Kunden angesprochen. Kurzfristig kündbare Abos ab 15 Euro pro Monat bedeuten für sie keine große Investition und vor allem keinen Stress mit Reparaturen und Diebstahl. Geplant ist neben der internationalen Expansion auch die Ausweitung des Geschäfts auf E-Bikes und E-Tretroller und der Einstieg in das Geschäftsfeld der Business-Räder mit neuen Modellen.

Bond: Spezialist für schnelle Sharing-E-Bikes

Der etablierte Schweizer Sharing-Anbieter von schnellen S-Pedelecs hat Anfang des Jahres seine internationalen Expansionspläne bekannt gegeben und dazu auch gleich seinen Namen von Smide zu Bond (Bike on Demand) gewechselt. Neue Standorte seien dazu in europäischen Städten und den USA geplant. Aktuell gebe es durch Corona Verschiebungen bei der Nutzung, erläutert Dr. Raoul Stöckle, CEO & Mitgründer von Bond: „Wir sehen zum Beispiel einen deutlichen Rückgang an den ‚normalen‘ Fahrten, dafür aber auch eine Steigerung bei den Tages- und Langzeitmieten. Es zeigt sich klar, dass Bond als Ersatz für das Auto und den öffentlichen Verkehr genutzt wird.“ Trotz oder gerade wegen der Corona-Krise blickt Raoul Stöckle für sein Unternehmen positiv in die Zukunft: „Mittel- und langfristig dürfte Covid dem ganzen (E-)Bike – egal ob Sharing oder Besitz – einen großen Schub verleihen.“ Dies habe man insbesondere in China gesehen. Nachdem die Restriktionen teilweise aufgehoben wurden, sei die Bike-Sharing-Nutzung innerhalb einer Woche um 80 Prozent gegenüber der Vor-Covid-Zeit gestiegen. Von den Kosten her unterscheide sich die Nutzung der schnellen E-Bikes kaum vom ÖPNV. Abgerechnet wird nach Kilometern, dazu gibt es Abos für Viel- und Gelegenheitsfahrer und Boni für das Abstellen in bestimmten Zonen oder an den Ladepunkten. Nach den Machern von Bond spricht Vieles für die schnellen E-Bikes. „Wichtig ist unserer Erfahrung nach bei den Nutzern nicht nur das Argument, gut und sicher anzukommen, sondern auch das Gefühl, etwas Gutes für sich zu tun und dabei Spaß zu haben.“ Das spezielle Gefühl, das viele Kunden anziehe, sei „wie Gehen auf einer Rolltreppe.“

Gesunde Mobilität zum günstigen Preis. Die Mietkosten für ein schnelles E-Bike 45 unterscheiden sich laut Bond kaum von einem ÖPNV-Ticket.

Neue Mobilität fördern, nicht ausbremsen

Über die Hindernisse für die Nutzung von schnellen S-Pedelecs haben wir in der letzten VELOPLAN-Ausgabe bereits ausführlich berichtet. Für die Zukunft wünscht sich auch Raoul Stöckle von Bond eine größere Offenheit der Gesetzgeber. Noch wichtiger sei aber eine faire Behandlung solcher Angebote durch die Städte und Kommunen. „Die Kunden wollen es, für die Vermeidung von Autoverkehr und Emissionen ist es wichtig, aber in der Praxis werden wir durch lokale Regularien vielerorts ausgebremst.“ Zusätzlich zu den europaweit sehr unterschiedlichen und in Deutschland restriktiven Regeln im Straßenverkehr beträfe dies vor allem die Zulassung in Kommunen, verbunden mit der Verpflichtung, Gebühren für die Nutzung des Straßenraums zu zahlen. „Neben den Ausschreibungen für Radverleihsysteme sollte immer auch noch Platz sein für weitere Anbieter.“ Im Sinne dringend nötiger Innovation sei es wichtig, für Angebote im Bereich nachhaltige Mobilität abseits des Pkws keine Markthindernisse, zum Beispiel durch indirekte Subventionen bestehender Lösungen und Anbieter aufzubauen, sondern neue Angebote aktiv zu fördern oder zumindest nicht auszubremsen. „Das wünschen wir uns für die Zukunft.“


Bilder: Nextbike, Movelo, Swapfiets, Bond

Ein Kommentar von Reiner Kolberg

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Die zentrale Frage, die wir uns aktuell wohl alle auf die eine oder andere Weise, bewusst oder unbewusst, stellen heißt: Wie geht es weiter? „Nichts wird so sein wie zuvor“, zu dieser Schlussfolgerung kam schon Mitte März der Zukunftsforscher Mattias Horx in einem viel beachteten Artikel, als sich das Ausmaß der Pandemie erst andeutete. Ist das so? Und, wenn ja, was sollten wir tun?

Neuer Blick auf alte Probleme

Unter Wissenschaftlern und Journalisten scheint es in einer Auffassung einen großen Konsens zu geben: Die Corona-Krise beschleunigt Prozesse und macht Schwierigkeiten und Bruchstellen sichtbar, die es vorher zwar gab, die wir aber aus unserem Bewusstsein ausgeblendet haben. Dazu gehört zentral das Thema Gesundheit, verbunden mit einer ethischen Diskussion, wie viel unsere physische und psychische Gesundheit und Menschenleben eigentlich wert sind – im Vergleich zu Einschränkungen, finanziellen Einbußen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten. In einem anderen Licht erscheint auch das Verhältnis zu unserer Umwelt, unserem Glauben an „immer schneller und mehr“ und das Vertrauen in die Beherrschbarkeit von Risiken.

Neu im Fokus: der Mensch

Die zurückliegenden Wochen haben in vielerlei Hinsicht gezeigt, was Menschen wirklich bewegt. Ohne Freizeitstress haben Millionen wieder Bewegung und Natur für sich entdeckt. Zu Fuß beim Spazieren, Wandern und Joggen, mit Rollern, Inlineskates und mit dem Fahrrad. Anthropologen sehen darin eine völlig logische Konsequenz, denn genau da fühlen wir uns als Menschen seit Jahrtausenden wohl, während umgekehrt das Zeitalter des „vor dem Bildschirm und hinter dem Lenkrad sitzen“ wohl viel zu kurz war, um uns zu prägen. Werden diese Erfahrungen unser Verhalten oder unsere Ansprüche ändern? Gut möglich. Die Älteren unter uns erinnern sich noch an die Ölkrise Anfang der 1970er-Jahren. Nicht? Aber an die autofreien Sonntage ganz sicher, oder? Ich fand sie herrlich! Und danach? Bei uns markierte die Krise den Beginn neuer Verkaufsargumente für Autos mit Blick auf den Benzinverbrauch (heute verdrängt) und den CW-Wert (erst recht verdrängt). Für die USA begann der bis vor Kurzem andauernde Kampf ums Öl und in den Niederlanden startete der Wandel hin zu einer Fahrradnation. Randbemerkung: Die Niederländer sind weiterhin ziemlich glücklich mit ihrer Entscheidung. Moderne Mobilität, lebenswerte Städte und wirtschaftlicher Erfolg gehen hier weiter Hand in Hand.

„The best way to predict the future is to create it .“

Abraham Lincoln (1809 – 1865), Der 16. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika schaffte die Sklaverei ab und legte die Grundsteine für die Industrienation und den Aufstieg zur Weltmacht.

Wertvoll: Gesundheit und ein gutes Leben

Plötzlich kann man sich über die vielen kleinen, noch vor Kurzem selbstverständlichen Dinge freuen und es ist gleichermaßen traurig und berührend zu sehen, wie sehr die meisten Menschen „das gute Leben“ vermissen. Umso unverständlicher ist es, wenn man realisiert, wie lässig und fahrlässig Menschen, Unternehmen oder die Politik mit der Gesundheit anderer umgehen. Und für was eigentlich? Diese Frage stelle ich mir auch im Verkehrssektor. Immer wieder betont wird beispielsweise der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Schwere von Erkrankungen durch das Corona-Virus und Vorerkrankungen. Die wiederum entstehen laut WHO vorwiegend durch unseren Lebenswandel, unter anderem durch zu wenig Bewegung und externe Einflüsse wie zu hohe Luftschadstoffwerte. Wir wissen es, aber wir handeln nicht danach. Regelmäßig wird, sogar von höchster Stelle, versucht, wissenschaftliche Erkenntnisse zu entkräften.
Auch vom ausgegebenen Ziel „null Verkehrstote und Schwerverletzte“ (Vision Zero) sind wir weit entfernt. Viel weiter, als uns bewusst ist. An die nach wie vor hohen Zahlen haben wir uns einfach gewöhnt. Warum? Kann man das? Und warum machen wir bei uns in der Krise nicht einfach Platz auf Straßen und Parkplätzen frei für Fußgänger, Radfahrer und Gastronomen? Brüssel kann es, Wien kann es, Paris, London, Mailand, … Und wir? Wir reden stattdessen über die StVO und Unverhältnismäßigkeit bei Strafen für Raser. Wirklich?

Willkommen in den 20ern

Wie wir leben wollen, welchen Kurs wir einschlagen und ob wir für die nächste Krise gerüstet sind, all das liegt viel mehr in unserer Hand, als wir bislang dachten. Auch das scheint eine Erkenntnis aus der Krise zu sein. Experten zufolge öffnet sich mit den geplanten Milliardenhilfen gerade ein Fenster für neue Möglichkeiten – und es wird sich wieder schließen. „Manything goes“ heißt es dazu vom Zukunftsinstitut in Verbindung mit der Forderung nach mehr Resilienz. Mein Tipp: In der Vergangenheit hat sich das Fahrrad als weltweit meistgebaute Maschine und effektivstes Fortbewegungsmittel, das die Menschheit je erfunden hat, vielfach als nützliches Instrument zur Bewältigung von Krisen bewährt. Die 20er-Jahre werden besonders. So oder so. Dafür sorgt, neben Covid-19 oder Covid-XY, der Klimawandel. Wir haben die Zukunft in der Hand. Wenn nicht für uns, dann für unsere Kinder und Enkel.


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Wie können Kommunen mehr Sicherheit für Radfahrer erreichen? Gibt es aktuell neuen Handlungsdruck? Wir haben den Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV) Siegfried Brockmann gefragt. Die UDV im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) hat sich zur Aufgabe gemacht, die Verkehrssicherheit auf Deutschlands Straßen zu verbessern und zu helfen, Unfälle zu vermeiden oder zumindest abzuschwächen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Herr Brockmann, in der Corona-Krise gibt es aktuell deutlich mehr Radfahrer. Verändert sich Ihrer Meinung nach damit etwas?
Im Moment ist es so, dass der ÖPNV mit dem Virus-Ausbruch gemieden wurde und noch weiter gemieden wird. Ich gehe aber davon aus, dass sich langfristig die alten Prozesse wieder so einspielen werden, wie sie vorher waren. Was ich aktuell beobachte, ist, dass viele Menschen aufs Fahrrad umgestiegen sind, genauso aber auch auf das Auto. Das kann positive, aber auch negative Effekte haben.

Welche negativen Effekte sehen Sie durch die Zunahme des Radverkehrs?
Radfahrer sind zwar gesünder unterwegs, eine schnelle Steigerung des Radverkehrsanteils produziert aber zusätzliche Gefahren. Das muss man auch offen aussprechen. Denn der gestiegene Radverkehrsanteil trifft ja auf die Infrastruktur, die schon vorher da war. Die meisten Städte haben nicht für einen Anstieg vorgesorgt.

Was halten Sie von der Annahme, dass eine höhere Anzahl von Radfahrern auch mehr Sicherheit bringe?
In der Fachwelt gilt die These der „Safety in Numbers“ als widerlegt. Zudem muss man sich nur einmal die Rahmenbedingungen wie die Platzverhältnisse für den Radverkehr anschauen. Wir haben ja mit 1,5 Metern Breite sehr enge Radwege – viele sind noch schmaler. Ich bin davon überzeugt, dass das zu wenig ist. Mit einer Lenkerbreite von 80 Zentimetern, mit der man rechnen muss, ist das Überholen untereinander hier schon extrem anspruchsvoll.

Was würden Sie Städten und Kommunen empfehlen?
Wenn der Radverkehr stark steigt, bin ich durchaus der Meinung, dass Lösungen, wie sie in Berlin gemacht werden (Anm. d. Red.: z. B. temporäre Pop-up-Bikelanes), sinnvoll sein können. Hier muss man aber natürlich planerisch nachgehen, denn im Zweifel drohen auch Klagen. Der Straßenraum lässt sich nicht per Order anders verteilen, das muss schon ein planerischer Prozess sein. Generell wäre eine deutliche Steigerung des Radverkehrsanteils eine Aufforderung an die Kommunen, jetzt mal richtig zu klotzen und nicht zu kleckern.

Parkdruck, mangelhafte Infrastruktur und fehlende Kontrollen führen zu gefährlichen Sichtbehinderungen an Kreuzungen.

Dauert der Umbau der Infrastruktur nicht viel zu lange?
Die Infrastruktur ist ja nur einer der Verursacher der Probleme. Langfristig brauchen wir natürlich ordentliche Lösungen und für die müssen auch mehr Planer da sein. An einer Stadt wie Berlin sieht man, wie lange es in der Realität dauert. Das Pro­blem haben andere Städte auch – man darf halt keine Wunder erwarten. Andererseits glaube ich, dass es massig Dinge gibt, die nicht so einen großen Planungsvorlauf haben und wo man auch eine Menge machen kann.

Was wäre denn aus Ihrer Sicht möglich und nötig für mehr Sicherheit?
Ich wünsche mir schon lange, dass das, was die Forschung ermittelt hat, schneller Eingang in die Realität findet. Durch die Forschung ist ja alles auf dem Tisch! Aber es passiert nichts oder viel zu wenig. Wir alle in der Szene haben uns angewöhnt, da mit einem sehr langen Atem heranzugehen. Das fängt an beim Abbiegeassistenten für Lkws. Wir haben bereits im Jahr 2013 vor schweren Unfällen mit Radfahrern gewarnt. Die Technik steht prinzipiell zur Verfügung. Aber wo bleibt sie? Erst vor Kurzem haben wir eine Studie vorgestellt, die untersucht, wie viele Fußgänger durch anfahrende Lkws überfahren werden. Auch da gibt es die nötige Technik. Aber es kommt bislang nichts in Bewegung.

„Der Straßenraum lässt sich nicht per Order anders verteilen, das muss schon ein planerischer Prozess sein.“

Vielfach werden auch schlechte Sichtbeziehungen und gefährdendes Parken für Unfälle mitverantwortlich gemacht.
Gute Sichtbeziehungen sind ein enorm wichtiges Thema. Und hier mangelt es sehr deutlich. Wir werden demnächst eine Studie vorstellen, was legales und illegales Parken eigentlich für die Gefährdung von Fußgängern und Radfahrern bedeutet. Unsere Fragen: Warum müssen rechts neben Radfahrstreifen noch Parkstände sein? Das produziert uns doch erst das Dooring-Thema. Warum parken Autos, meist unbehelligt, bis in die Ecken hinein, sodass hier kein Fußgänger sicher queren kann?

Mit welchen weiteren Themen sollten sich Politik und Entscheider mit Blick auf mehr Sicherheit Ihrer Meinung nach noch beschäftigen?
Wichtige Themen sind die Einhaltung der StVO, die allgemeine Verkehrsmoral und die gegenseitige Rücksichtnahme. Auch hier kann man kurzfristig einiges machen. Aktuell wird sehr klar, dass alle mehr Rücksicht auf den jeweils anderen nehmen müssen. Das bezieht sich nicht nur auf den Rad- und Autoverkehr, sondern insgesamt auf das Verhalten untereinander.

Warum klappt es in anderen Ländern zum Teil besser?
Eine Erklärung für mich ist, dass wir in Deutschland einen sehr ausgeprägten Hang danach haben, uns selbst zu verwirklichen. Das betrifft alle Verkehrsteilnehmer. Radfahrer würde ich hier nicht ausnehmen.

Mit einer Lenkerbreite von 80 Zentimetern, mit der man rechnen muss, ist nach den Erkenntnissen des UDV das Überholen auf engen Radwegen untereinander extrem anspruchsvoll.

Laut UDV vergessen Autofahrer beim Abbiegen „viel zu oft den Schulterblick“ oder sie könnten wegen Sichtbehinderungen und ungünstig geführter Radwege gar nichts sehen. Deshalb käme es häufig zu schweren Unfällen mit geradeausfahrenden Radfahrern. Diese Konfliktsituation hat die UDV in einem Forschungsprojekt und einem Crashtest detailliert untersucht.

Tun Politik und Verwaltung hierzulande zu wenig?
Wir haben in den letzten Jahren im Bereich Verkehrssicherheit gute Fortschritte gemacht und brauchen uns mit den Zahlen im internationalen Vergleich nicht zu verstecken. Das heißt aber nicht, dass das nicht alles noch viel besser geht.

Wie sehen Sie die Aussagen von Bundesverkehrsminister Scheuer der „erlauben, erleichtern und ermöglichen und nicht verbieten, verteufeln und verteuern“ möchte?
Tatsächlich sehe ich im Verkehrsministerium eine sehr ambivalente Haltung. Auf der einen Seite eben zum Beispiel die Änderungen der StVO, die für Radfahrer einiges Gutes tun wird. Auf der anderen Seite haben wir einen sehr wirtschaftsfreundlichen Kurs. Das sehen wir beim Thema Pedelec, wo meines Erachtens nicht ausreichend darauf reagiert wird, dass die Unfallzahlen jedes Jahr zweistellig steigen, das sehen wir beim Thema E-Scooter in Bezug auf die Radverkehrsanlagen und wir sehen es auch bei den PS-starken Autos oder dem neuen A1-Motorradführerschein für Autofahrer. Die Frage ist, was soll das für ein Signal sein? Ist es tatsächlich so, dass Sicherheit im Vordergrund steht, oder eher vermeintliche Bedürfnisse der Bürger und das Interesse der Industrie? Ich sehe hier ein Spannungsfeld.

Wie beurteilen Sie die steigende Zahl von hochmotorisierten Fahrzeugen und SUVs?
Die hohe Motorisierung fällt in Bezug auf die Unfallzahlen nicht besonders ins Gewicht. SUVs sind aus ökologischen Gründen, aufgrund des hohen Luftwiderstands und des großen Gewichts, natürlich nicht zu vertreten. In Bezug auf die Unfälle mit Radfahrern und Fußgängern, die vor allem innerorts passieren, ist es aber nicht relevant, ob das Auto 150 oder 250 PS hat, oder ob ein Unfall durch ein normales Auto oder einen SUV verursacht wird. Der entscheidende Faktor ist einfach die Geschwindigkeit. Und die kann heute jeder VW Polo fahren. Wie gesagt, wichtig sind die Einhaltung der StVO und die gegenseitige Rücksichtnahme.

Siegfried Brockmann

ist seit 2006 Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV) im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) sowie Vorstandsmitglied des Deutschen Verkehrssicherheitsrats und Präsidiumsmitglied der Deutschen Verkehrswacht. In Deutschland gehört er zu den gefragtesten Experten im Bereich Verkehrssicherheit.

Informationen und Studienergebnisse unter udv.de


Bilder: UDV, Reiner Kolberg

Abbiegefehler von Kraftfahrenden sind die häufigste Ursache von Unfällen. Rechtsabbiegende Lkw sind dabei die Hauptverursacher von Radunfällen mit Todesfolge. Jedes Jahr sterben laut ADFC allein 30 bis 40 Radfahrende unter den Rädern von abbiegenden Lkw. Als Opfer überdurchschnittlich häufig betroffen seien Frauen, Kinder und Senior*innen auf dem Rad. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Beispielhafte Verkehrsführung „Protected Intersection“ in Vancouver, Kanada

Mit der Zunahme des städtischen Lkw- und Radverkehrs werden die Zahlen nach Einschätzung des Fahrradclubs ADFC und des Bundesverbands Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) e. V. künftig weiter steigen.
Die Verbände haben deshalb im Februar 2020 mit einem gemeinsamen Positionspapier dringend an die Kommunalpolitik und die Transportbranche appelliert, mehr Sicherheit für Radfahrende zu schaffen. Gefordert wird ein Bündel von Maßnahmen:
• Kreuzungen sicher umbauen – Verkehrsströme räumlich trennen!
Um schwere Unfälle an Kreuzungen zu verhindern, müssen Lkw und Rad- sowie Fußverkehr räumlich getrennt und gute Sichtbeziehungen hergestellt werden. Die Bundesmittel für den Radverkehr aus dem Klimapaket sollen zur schnellen Entschärfung von Kreuzungen durch Sicherheitselemente, wie aufgepflasterte Schutzinseln und deutlich vorgezogene Haltelinien, genutzt werden.
• Grünphasen trennen – Ampelschaltungen entschärfen!
Geradeausfahrender Radverkehr und rechts abbiegende Kfz sollten nicht gleichzeitig Grün haben. Die Lösung sind getrennte Ampelphasen für die unterschiedlichen Verkehrsströme. Kürzere Grünphasen für den Kfz-Verkehr sind zugunsten der Verkehrssicherheit und der Gleichberechtigung der Verkehrsarten in Kauf zu nehmen.
• Lkw-Abbiegeassistenten – zum Standard machen!
Der verpflichtende Einbau von Lkw-Abbiegeassistenten muss schnellstmöglich umgesetzt werden. Bis die europaweite Pflicht greift, müssen Kommunen ihre Fuhrparks freiwillig mit Abbiegeassistenten aus- beziehungsweise nachrüsten. Auch an Transportunternehmen geht der Appell, Lkw-Flotten mit Abbiegeassistenten nachzurüsten und die Fördermittel des Bundes aus der „Aktion Abbiegeassistent“ zu nutzen. Hersteller müssen schnellstmöglich Abbiegeassistenten mit Notbremsfunktion marktreif entwickeln.
• Sichere Anfahrt zu Baustellen – nur konfliktarme Routen!
Bei großen innerstädtischen Bauvorhaben müssen Kommunen darauf achten, dass die Anfahrtsrouten der Baustellenfahrzeuge möglichst konfliktarm geplant werden. Hauptachsen des Radverkehrs und Baustellenverkehr müssen wo immer möglich voneinander getrennt sein.
• Toten Winkel überwinden – Verkehrsteilnehmende sensibilisieren
Theoretisch gibt es seit der Einführung der vorgeschriebenen Zusatzspiegel an Lkw im Jahr 2007 keinen Toten Winkel mehr. In der Praxis kann der Fahrer / die Fahrerin während eines komplexen Abbiegevorgangs nicht alle Spiegel gleichzeitig im Auge behalten. Toter-Winkel-Kampagnen sind daher genauso irreführend wie die Aussage, der Lkw-Fahrer/die Lkw-Fahrerin könne stets alles überblicken. Alle Verkehrsteilnehmenden müssen für die Gefahr sensibilisiert werden. Vor Fahrtantritt müssen Lkw-Fahrer*innen auf freie Sicht und die richtige Spiegeleinstellung achten.
• Unfallforschung verbessern – Forschungslücke Kreuzungsdesign schließen
ADFC und BGL beklagen eine Forschungslücke zur Bewertung unterschiedlicher Kreuzungs- und Signalisierungsarten. Diese muss geschlossen werden. Auf Basis dieser Forschung müssen neue Design-Standards für sichere Straßen und Kreuzungen entwickelt und schnell in den technischen Regelwerken verankert werden. Schwere Unfälle müssen auch im Hinblick auf die Verbesserung der Infrastruktur systematisch ausgewertet werden.

Auf Bundes- und EU-Ebene setzt sich der ADFC für folgende Maßnahmen ein:

• Elektronische Warnsysteme und Abbiegeassistenten, die den Lkw im Gefahrenfall automatisch stoppen.

• Tief gezogene Windschutz- und Seitenscheiben, die Fußgänger und Radfahrende vor und neben dem Lkw für den Fahrer sichtbarer machen.

BMVI verweist auf EU-Regelungen und nationales Förderprogramm

Die österreichische Hauptstadt Wien hat Lkw über 7,5 Tonnen ohne Abbiegeassistenten ab April dieses Jahres von ihren Straßen verbannt. In Deutschland verweist das Bundesverkehrsministerium auf die europaweite schrittweise Einführung von Abbiegeassistenten, die aber erst 2024 für alle Neufahrzeuge wirksam wird und die Nachrüstung von Bestandsfahrzeugen nicht miteinschließt. Stattdessen setzt das BMVI seit 2018 auf nationale Geldanreize und eine freiwillige Selbstverpflichtung. Die Förderung des BMVI betrifft „Nutzfahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 3,5 Tonnen und Kraftomnibusse mit mehr als neun Sitzplätzen einschließlich Fahrersitzplatz, die im Inland für die Ausübung gewerblicher, freiberuflicher, gemeinnütziger oder öffentlich-rechtlicher Tätigkeit angeschafft und betrieben werden.“ Im Haushalt 2020 stehen laut BMVI erneut rund zehn Millionen Euro für die Umsetzung des Förderprogramms zur Verfügung. Förderrichtlinie, Informationen zur Antragstellung sowie Fragen und Antworten zum Förderprogramm finden Sie auf der Homepage des Bundesamts für Güterverkehr (BAG).


Bilder: ADFC -Jens-Lehmkühler, Madi Carlson/familyride

Rund 3.200 Menschen sterben in Deutschland pro Jahr im Straßenverkehr. Weitere 15.000 werden lebensgefährlich verletzt. Viele leiden ihr Leben lang schwer an den Folgen. Unsere Autorin Andrea Reidl hat die Aufgabe übernommen, Opfern ein Gesicht zu geben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


In der öffentlichen Wahrnehmung kommen die Schwerstverletzten kaum vor. Die wenigsten kehren jemals wieder in ihren Beruf zurück. Beate Flanz ist eine von ihnen. Sie fühlt sich von der Gesellschaft vergessen.
Beate Flanz hatte keine Chance. Sie hätte nichts tun können, um den hüfthohen Reifen des Sattelschleppers an der Kreuzung auszuweichen. Die erfahrene Radfahrerin hatte das gewusst, seit sie aus dem Koma erwacht war. Trotzdem war sie erleichtert, als drei Gutachten vor Gericht ihre Annahme bestätigten: Der Fahrer des Lastwagens war schuld an dem Unfall. Er hatte nicht aufgepasst und war an der grünen Ampel in Berlin Wilmersdorf zügig rechts abgebogen. Die Radfahrerin in ihrer leuchtend roten Jacke war da längst auf der Fahrbahn. Er rammte sie mit seiner Fahrerkabine, um sie dann mit 32 Tonnen Kies auf der Ladefläche mitsamt ihrem Fahrrad zu überrollen und zerquetschen. Er bemerkte davon nichts und fuhr weiter – bis Zeugen ihn stoppten.

Hohe Unfallzahlen und hinter jeder steckt ein Schicksal

Verkehrsunfälle sind europaweit ein größeres Problem, als uns bewusst ist. Laut dem wissenschaftlichen Beirat des Bundesverkehrsministeriums sind sie die häufigste Todesursache von EU-Bürgern im Alter zwischen 1 und 45 Jahren. In Deutschland verunglücken etwa 390.000 Menschen jedes Jahr im Straßenverkehr – das sind mehr als in Bochum leben. Rund 3.200 Menschen sterben bei diesen Unfällen, 67.000 werden schwer verletzt und weitere 15.000 in den vergangenen fünf Jahren lebensgefährlich – also schwerstverletzt.
Beate Flanz war 2017 eine von ihnen. Sie gehörte zu den wenigen Fällen, die in der Lokalpresse und in den Abendnachrichten erwähnt werden. Normalerweise sind Unfallopfer nur eine Meldung im Polizeireport und später eine Zahl in der Verkehrsunfallstatistik. Wenn überhaupt. Wer später als 30 Tage nach dem Unfall seinen Verletzungen erliegt, geht nicht in die Zahl der Verkehrstoten ein. Auch die Schwerstverletzten, bei denen von einer echten Genesung kaum die Rede sein kann, verschwinden aus dem Blickfeld der Gesellschaft. Für sie gibt es keine Extrastatistik. Niemand zählt sie. Versehrt bleiben sie trotzdem. Viele, wie Beate Flanz, sind schwerstbehindert bis an ihr Lebensende.
Anfangs hatte die 52-Jährige überlegt, vom Balkon zu springen. Wer sie heute in Berlin mit ihrer leuchtend roten Lockenmähne auf dem Liegerad sieht, ahnt von ihren Selbstmordgedanken nichts. Schein­bar mühelos tritt sie die Pedale ihres E-Liegerads und gleitet über den glatten Asphalt des Radwegs. Aber mühelos ist gar nichts mehr, seit sie im Oktober 2017 überfahren wurde. Die Unfallchirurgen haben zwar von ihrer rechten Körperhälfte gerettet, was sie konnten. Aber der Sattelschlepper hat der sportlichen Frau wenig gelassen. Ihr Bein musste über dem Knie amputiert werden, ihr Arm ist seltsam verformt, taub und unbrauchbar. Ebenso wie ihre rechte Gesichtshälfte. „Ich kann auf der Seite nichts hören und nichts sehen“, sagt sie. Der Gesichtsnerv ist zerstört und sie kann den Mund nicht mehr schließen. Auch nicht beim Essen. Beim Kauen und Trinken fällt die Hälfte wieder heraus oder rinnt an Kinn und Hals herunter. Aber nicht nur körperlich hat der Unfall die lebensfrohe Frau gebrochen. Er hat auch ihr Wesen verändert.
„Vor dem Unfall war für Beate das Glas immer halb voll. Sie war lebenslustig, unheimlich beliebt und kam mit jedem klar“, beschreibt Bettina Schmitt ihre Freundin. Sie war ein Motor, der stets andere antrieb. Für ihren Arbeitgeber leitete sie eine Betriebssportgruppe, sie fuhr mit Freunden und Pferden in Urlaub und kombinierte als ADFC-Tourenleiterin ihre Ausfahrten mit Qigong-Einheiten. „Bewegung und draußen sein waren mein Ein und Alles“, sagt die Wahlberlinerin – mit ihrem Pferd, per Rad oder Kanu und im Winter mit Skiern. Unstimmigkeiten im Freundeskreis spülte sie gerne mit ihrem Lachen fort. Sie war hilfsbereit, eine, die in der Urlaubszeit immer die Katzen der anderen fütterte.

Bewegung und draußen sein waren für die engagierte, lebensfrohe Wahlberlinerin Beate Flanz bis zu ihrem Unfall alles.

Bruch im Leben und alleingelassen von der Gesellschaft

Seit dem Unfall ist sie diejenige, die Hilfe braucht – bei 98 Prozent aller alltäglichen Dinge. Für die dynamische Frau ist die Abhängigkeit eine Tortur. Immer noch will sie, was irgendwie geht, selbst erledigen. Eilt ihr jemand ungefragt zu Hilfe, raunzt sie ihn an. Den Taxifahrer ebenso wie ihre Freunde, ihre Assistenten oder auch ihre Mutter. Das kommt bei ihren Vertrauten nicht gut an. Sie erkennen ihre alte Freundin in der neuen brüsken Beate nicht wieder. Während die Fürsorge ihrer Freunde Beate Flanz schnell zu viel wird, vermisst sie für die vielen neuen Alltagsfragen eine Anlaufstelle. Elf Monate lag sie im Krankenhaus. Als die Sozialarbeiterin ihr mitteilte, sie werde in ein paar Tagen entlassen, und fragte, ob sie jemanden habe, der sich zu Hause um sie kümmere, war die ehemalige Sachbearbeiterin einer Rentenversicherung fassungslos. Sie lebte allein. Sie kam mit einem Bein und einem Arm kaum die Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Wie sollte sie eine Einkaufstasche tragen oder gar den Müll rausbringen? Dafür fehlte eine Hand. Die linke hält den Gehstock. Wie sollte sie ihr neues Leben in den wenigen Tagen regeln? Und viel wichtiger: Was brauchte sie überhaupt alles?

Unfallopfer brauchen bessere Informationen und Hilfe

Diese Fragen und Probleme kennt Rechtsanwalt Eduard Herwartz seit Jahren. Er vertritt Unfallopfer und ihre Angehörigen. Wenn sie zu ihm kommen, haben sie oft bereits jahrelang Hilfe gesucht, haben auf Schadensersatz gewartet oder sind an Versicherungen verzweifelt, die Zahlungen für Therapien und Prothesen ablehnen und hinauszögern. Um den Betroffenen zu zeigen, was ihnen zusteht und an wen sie sich wenden können, hat er mit seinem Verein „Deutsche Interessengemeinschaft für Verkehrsunfallopfer e. V.“ (DIVO) einen Leitfaden geschrieben. Auf 55 Seiten beschreibt er sämtliche Ansprüche vom Betreuungsgeld, das Angehörige bereits für ihre Besuche im Krankenhaus beantragen können, über Finanzhilfen für notwendige Umbauarbeiten in der Wohnung bis hin zur Übernahme von Reise- und Betreuungskosten einer Begleitperson bei Urlaubsreisen. Die DIVO hat die Broschüre bundesweit an die wichtigsten Stellen verschickt. „Aber nur engagierte Krankenhäuser und Sozialarbeiter verteilen sie“, stellt Herwartz ernüchtert fest.
Beate Flanz kennt die Broschüre nicht. „Für die Opfer von Gewalttaten gibt es den ‚Weißen Ring‘“, sagt sie. 50.000 Mitglieder sind bundesweit im Einsatz und vermitteln den Hilfesuchenden Kontakte zu Therapeuten, Anlaufstellen, finanzielle Hilfe, Rechtsbeistand und vielem mehr. Oftmals begleiten sie die Opfer sogar zu Behörden oder unterstützen sie beim Ausfüllen von Dokumenten. Opfer von Verkehrsunfällen sind dagegen weitestgehend auf sich alleine gestellt. Dabei sind sie viele und ihr Bedarf ist entsprechend groß.

Mit Unterstützung kann die dynamische Frau wieder Rad fahren. Bei 98 Prozent aller alltäglichen Dinge ist sie aber auf fremde Hilfe angewiesen.

Prävention – Entscheidung von Politik und Gesellschaft

In Deutschland sinkt die Zahl der Verkehrsopfer seit ein paar Jahren nur noch leicht. In den vergangenen zehn Jahren wurden jährlich etwa 400.000 Verkehrsteilnehmer verletzt. Technische Fortschritte in den Fahrzeugen und eine optimierte Notfallversorgung haben zuvor jahrzehntelang die Unfallzahlen reduziert. Von 1970 bis 2008 sank die Zahl der Getöteten um rund 80 Prozent und die der Schwerverletzten zwischen 1996 und 2008 um 46 Prozent. Aber seit rund zehn Jahren stagnieren die Werte und sind bei ungeschützten Verkehrsteilnehmern in letzter Zeit sogar wieder gestiegen. Fast scheint es so, dass Deutschland eine gewisse Zahl in Kauf nimmt, um die individuelle Mobilität in ihrer gewohnten Weise zu erhalten.
In Deutschland wird Vision Zero, also keine Verkehrstoten und keine Schwerverletzten, vielfach als Ziel ausgegeben. Allerdings ist die Umsetzung in Ländern wie Schweden, der Schweiz oder den Niederlanden bereits seit Ende der 1990er Jahre deutlich konsequenter. Schwedens Strategie ist: Wenn es irgendwo kracht, dann muss der Verkehrsplaner dafür sorgen, dass dies nie wieder passieren kann. Um Konflikte von vornherein zu vermeiden, werden der Rad- und Autoverkehr dort strikt voneinander getrennt und Kreuzungen durch Kreisel ersetzt.

„Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.“

Richard von Weizsäcker, Zitat aus dem „Leitfaden für Unfallopfer & Angehörige“ des DIVO e. V.

Geschwindigkeit: Schlüssel zur Unfallvermeidung

Inzwischen ziehen immer mehr Städte und Länder nach. Die finnische Hauptstadt Helsinki hat für 2019 zum ersten Mal seit Beginn vergleichbarer Aufzeichnungen gemeldet, dass keine Fußgänger oder Fahrradfahrer im Straßenverkehr ums Leben gekommen sind. Einer der Schlüsselfaktoren für den Erfolg war laut der Vize-Bürgermeisterin Anni Sinnemäki die Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit im Ballungsgebiet. In den meisten Wohngebieten und im Zentrum der 630.000-Einwohnerstadt gilt heute Tempo 30, auf den Hauptverkehrsadern Tempo 40. Eine Langzeitstudie aus London bestätigt dies. Die Einführung von 20-mph-Zonen (32 km/h) reduzierte von 1986 bis 2006 die Verkehrsopfer in der englischen Hauptstadt um rund 42 Prozent. Seitdem werden 200 Menschen weniger pro Jahr verletzt.
„Die Zeit ist reif für Tempo 30 in den Innenstädten, auch in Deutschland“, sagt Bernhard Schlag. Er ist Verkehrspsychologe, Seniorprofessor an der Universität Dresden und war bis 2017 Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundesverkehrsministeriums. Allerdings reiche ein Tempolimit allein oftmals nicht aus. „Breite mehrspurige, gerade verlaufende Straßen mit glattem Asphalt suggerieren den Fahrern ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit“, erklärt er. Die moderne Fahrzeugtechnik verstärke dieses Gefühl noch. Während man in den 1970er Jahren in „Ente“ und „Käfer“ die Geschwindigkeit hören und spüren konnte, dämpften die heutigen Fahrzeuge diese Eindrücke. Wer die Geschwindigkeit tatsächlich senken wolle, sollte die Straße umgestalten und den Platz zugunsten von Radfahrern und Fußgängern neu verteilen. Schlag fordert ein generelles Umdenken in der Verkehrsplanung. „Menschen machen Fehler“, sagt er, „deshalb muss die Verkehrswelt so gestaltet werden, dass sie Fehler verzeiht.“ Bei Tempo 30 könnten Fehler noch korrigiert werden – von den Verursachern ebenso wie von potenziell Betroffenen. Außerdem müssten Tempolimits kontrolliert und konsequent bestraft werden. Die aktuellen Bußgelder gehen dem Experten nicht weit genug. „Geldstrafen tun nicht richtig weh“, sagt er. Er setzt sich dafür ein, dass bei Geschwindigkeitsüberschreitungen viel früher Fahrverbote und ein Verlust des Führerscheins drohen. „Fahrverbote sind für Autofahrer, die viel und gerne fahren, deutlich wirkungsvoller.“

Neue Regeln und neue Technologien könnten helfen

Seit der Änderung der Straßenverkehrsordnung im Frühjahr 2020 dürfen Lkw über 3,5 Tonnen beim Rechtsabbiegen innerorts nur noch Schrittgeschwindigkeit fahren, das heißt 7 bis 11 km/h. Ob diese Regelung Beate Flanz’ Unfall verhindert hätte? „Der Fahrer war zu schnell und mit seiner Aufmerksamkeit ganz woanders“, sagt sie. Die Gerichtsgutachten hätten das eindeutig bestätigt. Hinzu kommt, dass der Sattelschlepper ohne Abbiegeassistenzsystem unterwegs war. Das System hätte den Fahrer warnen und den Wagen stoppen können. Die EU will ab 2022 nur noch Lastwagen und Busse mit diesen Systemen zulassen. Zwei Jahre später soll die neue Technologie dann zur Pflicht werden – allerdings nur für Neufahrzeuge. Für Radfahrer sind das schlechte Neuigkeiten. Experten schätzen, dass zwischen 30 und 40 von ihnen pro Jahr von Lastwagenfahrern beim Rechtsabbiegen übersehen werden. Die meisten dieser Unfälle enden tödlich.

Makaber: Unfallkosten steigern das Bruttosozialprodukt

Die volkswirtschaftlichen Kosten für Verkehrsunfälle betragen laut der Bundesanstalt für Straßenwesen zwischen 34 bis 35 Milliarden Euro im Jahr, wobei der Anteil an Sachschäden höher liegt als die bezifferten Kosten für die getöteten und verletzten Menschen. Makaber ist dabei, dass die volkswirtschaftlichen Kosten für das Bruttosozialprodukt als Plus gezählt werden, da Unfallkrankenhäuser, Rehakliniken, Werkstätten und Therapeuten ihre Leistungen als Umsatz abrechnen.

Wie viel ist uns ein Menschenleben wert?

Studien aus der Unfallforschung zeigen, dass Abbiegeassistenten über die Hälfte der tödlichen Abbiegeunfälle verhindern könnten. Aber den Speditionen ist der Preis von 2000 bis 3000 Euro oftmals zu hoch. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Preis einer Zugmaschine beträgt rund 100.000 Euro. Beate Flanz ist bestürzt, wie wenig den Entscheidern ein Menschenleben wert ist. Außerdem wundert sie sich, dass Versicherungen keinen Druck machen. Schließlich habe allein ihre Behandlung im Krankenhaus rund 300.000 Euro gekostet.

Sind wir zu sehr an Unfälle und Gefahren gewöhnt?

Die Spedition und der Lastwagenfahrer, der Beate Flanz mit seinem Sattelschlepper überrollte, haben sich nie bei der 52-Jährigen gemeldet. Bis heute wartet sie auf eine Entschuldigung. Während die Folgen des Unfalls ihr Leben nun rund um die Uhr bestimmen, kam der Lastwagenfahrer aus ihrer Sicht glimpflich davon. Er wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt, die zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurden. „Das Verkehrsrecht ist ein sehr mildes Recht“, erklärt Wilfried Echterhoff, Professor der Psychologie und Vorstandsvorsitzender Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland (VOD). Es sei historisch gewachsen und gehe von der Grundannahme aus, dass alle Menschen sich gemeinsam in einem unsicheren Straßenraum bewegen. „Wahrscheinlich entstehen 98 Prozent der Unfälle durch kleine Unachtsamkeiten der Verkehrsteilnehmer. Die Folgen sind oft massiv und für die Verursacher überraschend“, sagt Echterhoff. Die Schuldigen verletzen die Opfer also nicht absichtlich. Für Echterhoff reicht diese Begründung für das geringe Strafmaß allerdings nicht mehr aus. Der VOD setzt sich unter anderem dafür ein, dass die Verhältnismäßigkeit hergestellt wird. „Die Aufmerksamkeit muss auf das Schädigungspotenzial gelegt werden“, fordert Echterhoff. Wenn beispielsweise ein Autofahrer in einem Tempo-30-Bereich mit bis zu 90 km/h fahre, koste ihn das 280 Euro und nur zwei Punkte in Flensburg. Nach dem Schädigungspotenzial habe der Fahrer dann aber bereits alle Voraussetzungen geschaffen, einen Menschen zu töten. Das sollte laut VOD das Strafmaß widerspiegeln.
Eine Reform sei jedoch schwierig. Das läge laut Echterhoff vor allem daran, dass die Gesellschaft sich an den Straßenverkehr gewöhnt und angepasst habe. Obwohl die Menschen dort täglich Situationen ausgesetzt würden, die im Berufsleben verboten seien. „In der betrieblichen Arbeitssicherheit ist es unmöglich, dass einen Meter hinter unserem Arbeitsplatz ein Auto mit 50 km/h vorbeirauscht“, betont Echterhoff. Im Straßenverkehr dagegen sei das gängige Praxis. Es sei für Radfahrer und Fußgänger selbstverständlich auf einer schmalen Verkehrsinsel zu warten, während einen halben Meter vor und hinter ihnen Lastwagen und Autos vorbeifahren. „Wir haben uns an die Gefährdung gewöhnt, weil der Verkehr sich über viele Jahrzehnte langsam entwickelt hat“, sagt er.

150.000

Schwerstverletzte verschwinden aus der Statistik –bleiben aber.
Allein in zehn Jahren summiert sich die Zahl auf 150.000.
So viel wie eine Großstadt.

Ein schwerer Unfall betrifft mehr als hundert Menschen

Allerdings kann diese Gewöhnung auch gestört werden. Beispielsweise durch einen Unfall. Jeder Unfalltod betrifft im Mittel über 100 Menschen, das hat der Deutsche Verkehrssicherheitsrat im Rahmen der Studie „Runter vom Gas“ festgestellt. Betroffen seien Angehörige, Freunde, Bekannte, Unfallzeugen, Einsatzkräfte und Ersthelfer, aber auch die Unfallverursacher selbst. Sie alle könnten seelische Narben davontragen. Für Bettina Schmitt hatte der Unfall ihrer Freundin Beate solche Folgen. Von einem Tag auf den anderen traute sie sich nicht mehr aufs Fahrrad. Dabei war die Berlinerin eine versierte Rennradfahrerin, Triathletin und quasi mit dem Rad verwachsen. 30 bis 40 Kilometer fuhr sie täglich damit durch die Stadt. Zwei bis drei Beinahe-Unfälle pro Tag gehörten dabei zu ihrem Alltag. „Ich habe das immer mit Gehirnjogging abgetan“, sagt sie. Sie sei immer vorausschauend gefahren – ebenso wie Beate Flanz. „Ich konnte mir nie vorstellen, dass mir oder ihr etwas passiert.“

Nur eine Illusion von Sicherheit?

Für Außenstehende ist ihre Reaktion vielleicht schwer nachvollziehbar. Schließlich hat sie den Unfall noch nicht einmal gesehen. Für Professor Echterhoff dagegen ist sie logisch. Er sagt: „Der Unfall hat eine Illusion zerstört. Wir meinen, den Verkehr im Griff zu haben, das Geschehen steuern zu können.“ Wenn diese Illusion zerstört werde, beginne die Angst. Eine berechtigte Grundangst lasse sich auch nicht wegtherapieren. „Sie ist real, sie beschreibt ein Lebensrisiko“, sagt er. Den Betroffenen bleibt dann nur noch eines: Ihr Verkehrs-verhalten zu ändern. Bettina Schmitt hat sich ein Auto gekauft. Aber selbst damit bekommt sie auf stark befahrenen Straßen Angst. Besonders wenn neben ihr Lastwagen auftauchen. „Ich weiß jetzt, dass sie mich zerquetschen können“, sagt sie.

Wie fühlt sich ein Leben als Schwerstverletze(r) an?

Im Gegensatz zu ihrer Freundin hat Beate Flanz keine Angst mehr im Verkehr. Mit ihrem Liegerad ist sie in Berlin und Umgebung unterwegs, wann immer es geht. Sie sagt, wenn sie am Kanal die Kurven entlangfahre, dann denke sie häufig darüber nach, einfach geradeaus zu fahren. „Ich bin am Rad festgebunden, der Akku ist schwer und das Rad auch, damit gehe ich unter wie ein Stein.“ Im Oktober ist der Unfall drei Jahre her. Verändert hat sich seitdem für sie kaum etwas. „Bei mir wird nichts mehr besser“, sagt sie, „das Auge wächst nicht mehr nach, das Bein und der Arm auch nicht.“ Im Gegenteil. „Ich habe jeden Morgen wenn ich aufwache das Gefühl, mich erneut durch die 32 Tonnen Kies kämpfen zu müssen. „Ich beginne jeden Tag bei -100“, sagt sie. „Es muss schon was passieren, damit ich mich besser fühle.“
Dabei helfen auch die vielen Logopädie-, Ergo- und Physiotherapiestunden jede Woche wenig. Sie können den großen körperlichen Verlust nicht ausgleichen, sondern nur den weiteren Verfall aufhalten.
Noch kann Beate Flanz die Kosten für ihre Assistenten und Extratherapien aus der Einmalzahlung ihrer Unfallversicherung und dem Schmerzensgeld bezahlen. „Aber dafür ist das Geld ja eigentlich nicht gedacht“, sagt sie und ihre Stimme kippt. Einmal hat sie seit ihrem Unfall Urlaub gemacht – eine Radreise mit einer Gruppe. Die Kosten für die Begleitperson zahlte sie ebenfalls aus eigener Tasche, weil die Versicherung sich weigerte. „Es ist nicht vorgesehen, dass Menschen diese Unfälle überleben und dann noch so aktiv sind wie Sie“, hatte ihr ihre Ärztin vor einiger Zeit gesagt. Die Medizinerin weiß, wovon sie spricht. Schwerstverletzte Unfallopfer sind selten aktiv. Sie bleiben zu Hause. Sie werden von ihren Angehörigen gepflegt oder in Heimen und fallen nicht auf. Kaum jemand der vielen Schwerstverletzen kehrt wieder in seinen Job zurück. Und die wenigen, die es doch versuchen, geben laut Echterhoff irgendwann erschöpft auf.

Informationen und Hilfe für Verkehrsopfer

  • Deutsche Interessengemeinschaft für Verkehrsopfer (divo.de) Mit Leitfaden für Unfallopfer & Angehörige: Unfall – Schwerverletzt – Hilfe.
  • Subvenio e. V. (subvenio-ev.de)
  • Institut für Psychologische Unfallnachsorge (unfallnachsorge.de)
  • Verkehrsopferhilfe e. V. (verkehrsopferhilfe.de)
  • Notfallseelsorge (notfallseelsorge.de)
  • Traumahilfe (traumahilfe-ev.de)

Bilder: stock.adobe.com – AA+W, Beate Flanz (privat)