The Dutch Blueprint for Urban Vitality

von Melissa und Chris Bruntlett

Abkupfern erwünscht! Wie kommen Städte schneller zu mehr Lebensqualität und mehr Radverkehr? Expert*innen empfehlen, sich an funktionierenden Beispielen und Lösungen zu orientieren. Melissa und Chris Bruntlett haben genau dazu eine Anleitung geschrieben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Der Fokus des Buchs liegt auf den Niederlanden. Hier finden die ursprünglich kanadischen Campaigner und Radverkehrsexperten inspirierende Best-Practice-Beispiele en masse. Mit ihrem international geschulten Blick verharren sie aber nicht auf der „Fietsers“-Nation, sondern stellen vielfältige globale Bezüge und Vergleiche her. Durch persönliche Geschichten erklären die beiden verständlich und motivierend, wie eine menschen- und fahrradgerechte Planung aussehen kann. Im Buch finden sich grundlegende Lektionen aus der Verkehrsplanung, die anschaulich durch Interviews, Reportagen und Berichte ergänzt werden. Diverse Projekte sind auch fotografisch belegt. Beim Betrachten der inspirierenden Bilder für gelungene Infrastruktur kann man Neid empfinden oder diesen konstruktiv umwandeln und zur Tat schreiten.
Radverkehrsplaner*innen profitieren von der internationalen Fachexpertise. Denn das Autorenpaar nutzt die Vergangenheit, um die Gegenwart zu erklären und arbeitet so heraus, wie Zukunftsfähigkeit in der Stadtplanung entsteht und erkennbar ist. Die Niederlande sehen die beiden dabei als ideale „Blaupause“. Ihr Appell: „Der Auftrag ist es nun, die Lektionen der Niederländer weiter zu verbreiten – was funktioniert und was nicht – und andere aus ihrem jeweiligen Status quo herauszubekommen, damit sie sehen, was möglich ist, wenn sie ihre Autoabhängigkeit hinter sich lassen.“ Die Geschichten machen Lust, sich den beiden anzuschließen und sich aufzumachen auf den Weg hin zu einer nachhaltigen Mobilität und „glücklicheren, gesünderen und menschlicheren Städten“.

Melissa und Chris Bruntlett haben sich in Kanada mit der Agentur Modacity einen Namen gemacht. Seit 2019 leben sie mit ihren Kindern in Delft. Melissa arbeitet für die Mobilitätsberatung Mobycon und Chris ist als Kommunikationsmanager für die niederländische Fahrradbotschaft tätig.


Building The Cycling City: The Dutch Blueprint for Urban Vitality | von Melissa & Chris Bruntlett | Island Press Verlag | 1. Auflage 2018 | ca. 220 Seiten, Softcover | ISBN: 978-1-610918-794-4 | 22,75 Euro


Saris Cycling kennen Radfahrerinnen hierzulande vor allem als Hersteller von Fahrradträgern für Autos und von Heimtrainern. Darüber hinaus ist das amerikanische Unternehmen mit seiner Sparte Saris Infrastructure aber längst auch ein bekannter Name, wenn es um pfiffige Lösungen für einen besseren Radverkehr geht. Für Architektinnen und andere Planer*innen von Radverkehrslösungen gibt es nun zudem einen digitalen Produktkatalog mit CAD-Daten der verschiedenen Produktlösungen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Technisch umgesetzt wurde der digitale 3D-Katalog vom Augsburger Anbieter Cadenas, dessen Softwarelösungen für die Darstellung technischer Komponenten bei vielen Ingenieurinnen und Architektinnen bereits etabliert sind. Der neue digitale Produktkatalog bietet BIM- und CAD-Modelle verschiedener Fahrradständer und E-Bike-Ladestationen. Nutzerinnen können dank dem neuen Fahrradständer-Konfigurator schnell und einfach die benötigten Produkte für Fahrradinfrastruktur auswählen, spezifizieren und anschließend kostenlos im passenden Format herunterladen. „Architekten treffen in den jeweiligen Städten auf sehr unterschiedliche Anforderungen an die Fahrradinfrastruktur inklusive variierender Vorschriften und unterschiedlichem Platz an Abstellmöglichkeiten. Unser Ziel ist es, dass Architekten das passende Saris-Fahrradprodukt schnell und einfach finden, konfigurieren und in ihre Planungen integrieren können“, so Chris Bauch, Produktmanager bei Saris Infrastructure. Durch den neuen 3D-BIM-CAD-Konfigurator können Saris-Mitarbeiterinnen zudem während des gesamten Entwurfsprozesses mit Architekten und Planerinnen in Kontakt treten. Dadurch werden konstruktive Gespräche gefördert und die Kunden erhalten eine individuelle Beratung bezüglich des passenden Fahrradinfrastrukturprodukts für ihre Planung. „Wir haben festgestellt, dass immer mehr Konstrukteure unsere Webseite besuchen, um auf BIM-Modelle oder technische Produktinformationen zuzugreifen. Mit dem neuen Tool bieten wir einen Produktkonfigurator inklusive 3D-BIM-CAD Modelle, der direkt in unsere Webseite integriert ist“, fügt Chris Bauch hinzu. „Die Auswahl eines sehr spezifischen und hoch konfigurierbaren Produkts wird dadurch viel einfacher. Unsere Kunden werden es lieben.“

Den digitalen Katalog finden Nutzer*innen frei zugänglich unter https://b2b.partcommunity.com/3d-cad-models/saris-infrastructure


Bilder: Saris

Übersichtlichkeit und Gerechtigkeit bei der Mobilitätswende gehen wohl anders. Ob ein Lastenradkauf in Deutschland gefördert wird, hängt von vielen Faktoren ab – vor allem vom Standort. Tatsächlich könnten die Unterschiede von Bundesland zu Bundesland und von einer Stadt oder Kommune zur anderen kaum größer sein. Expert*innen setzen sich für neue Wege ein. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Mittlerweile gibt es in Deutschland und Österreich über 100 Fördertöpfe für Lastenräder. In einem FAZ-Artikel aus dem Juni wird ein „Förderdschungel“ kritisiert, der über die Jahre entstanden sei. Allein in Bayern existieren rund 40 verschiedene kommunale Kaufprämien. Im Wesentlichen kommt es bislang auf den politischen Willen vor Ort und die finanziellen Möglichkeiten an. Experten fordern deshalb eine Vereinheitlichung und verstetigte und ausreichend hohe Fördermittel auf Bundesebene.

Vorreiter Wien: In der „Seestadt Aspern“ wurde erstmals weltweit ein Fahrrad- und Cargobike-Verleihsystem integriert.

Förderung auf verschiedenen Ebenen

Im deutschsprachigen Raum hat vor zehn Jahren die österreichische Stadt Graz den Anfang bei der Lastenradförderung gemacht. Bis zu 1.000 Euro gibt es heute als Zuschuss für gewerblich genutzte Räder oder bei der gemeinsamen Nutzung durch Hausgemeinschaften. Sicher wohl auch aufgrund der zu dieser Zeit noch kaum verbreiteten Motorunterstützung lief die Nachfrage in den ersten fünf Jahren mit insgesamt 77 Cargobikes erst langsam an. Inzwischen hat sie sich vervielfacht. Zum zehnjährigen Jubiläum wurde das fünfhundertste geförderte Cargobike gefeiert. In Deutschland hat München 2016 die erste kommunale Förderung gewerblicher und privater Cargobikes aufgelegt und sie sogar mit einer Kfz-Abwrackprämie kombiniert. Viele Kommunen sind dem inzwischen in verschiedenen Varianten gefolgt. In einigen Kommunen, wie Mainz und Aachen haben auch die Stadtwerke verschiedene Förderprogramme aufgesetzt. Zudem bietet rund die Hälfte der deutschen Bundesländer Förderprogramme an. Von Einheitlichkeit ist aber auch hier nichts zu sehen: Acht Bundesländer bieten gewerbliche Programme, in vier davon können auch private Nutzerinnen unterstützt werden. Einen anderen Weg geht Niedersachsen, wo es vom Land ausschließlich eine Förderung für private Nutzerinnen gibt. Auf Bundesebene gibt es seit März dieses Jahres eine auf drei Jahre angelegte Förderung von E-Lastenfahrrädern und E-Anhängern im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative des Bundesumweltministeriums (BMU) in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). Die Nachfrage ist laut Auskunft des Ministeriums groß: So gingen allein innerhalb der ersten sechs Wochen mehr als 500 Anträge für etwa 600 E-Lastenfahrräder ein. Förderfähig sind 25 Prozent der Ausgaben für die Anschaffung, maximal jedoch 2.500 Euro pro E-Lastenfahrrad bzw. Lastenfahrradanhänger mit E-Antrieb für den fahrradgebundenen Lastenverkehr in Industrie, Gewerbe, Handel, Dienstleistungen und im kommunalen Bereich. Teilweise können verschiedene Förderprogramme auch miteinander kombiniert und kumuliert werden. Fördertöpfe gibt es zudem nicht nur auf politischer Ebene. Die „Aktion Mensch“ fördert etwa Lastenräder, die dem Transport von Menschen mit Behinderung dienen, mit bis zu 5.000 Euro.

Noch viele Hemmnisse

Während die Förderung von Elektroautos oder deutlich weniger umweltfreundlichen Plug-in-Hybriden für private und gewerbliche Nutzer*innen denkbar unkompliziert ist und prall gefüllte Töpfe über Jahre zur Verfügung stehen, gestaltet sich die Situation bei Cargobikes deutlich schwieriger. Vielfach sind die Mittel gerade in Kommunen völlig unzureichend dimensioniert und bereits wenige Tage nach dem offiziellen Start ausgeschöpft. Belohnt werden so die cleveren, gut informierten und diejenigen, die pünktlich zum Stichtag – meist einmal im Jahr – über die nötigen Geldmittel verfügen. Ein Problem für Kunden und Händler stellt angesichts der aktuellen massiven Liefer- und Nachschubprobleme auch die Tatsache dar, dass in der Regel zunächst der Antrag genehmigt werden muss und erst dann das entsprechende Cargobike gekauft, sprich bestellt werden kann. Wann dies schließlich inklusive gewünschtem Zubehör geliefert wird, können viele Händler und Anbieter aktuell nur grob schätzen. Nur ein Fördertermin im Jahr und mehrere Monate Verzug bei der Lieferung sind, sowohl für Gewerbetreibende als auch für Familien, wenig praxisnah.
Ein weiteres Problem sind die umfangreichen und wenig einheitlichen Förderbedingungen und Restriktionen. Vielfach sind die Voraussetzungen bis ins Detail definiert. Wer beispielsweise in Freising ein E-Cargobike gefördert bekommen will, muss nachweisen, am Lade-Ort des Fahrzeugs Ökostrom zu beziehen. Man stelle sich das für Käufer von E-Hybrid-Autos vor. Üblich sind auch detaillierte Voraussetzungen an die Mindestnutzlast oder das Transportvolumen. In Drensteinfurt qualifizieren sich Räder zum Beispiel ab 140 Litern Stauraum und 40 Kilogramm Zuladung zusätzlich zur fahrenden Person für das Förderprogramm. Beim Land NRW müssen es 70 Kilogramm sein und auf Bundesebene sind es schon 120 Kilogramm. Verbreitet ist auch eine Abstufung der Förderung je nach Preispunkt, der Kategorie „mit/ohne E-Antrieb“ oder nach Ladevolumen. Dass kleinteilige Bestimmungen dem eigentlichen Zweck, der Realität und Innovationen entgegenlaufen können, zeigte sich im Juli in Osnabrück. Die Stadt machte Schlagzeilen, weil das Förderprogramm einen Radstand von 1,38 Metern vorschrieb und damit unter anderem die beliebten Lastenräder des Herstellers Babboe mit einem vier Zentimeter kürzeren Radstand einfach ausschloss. Auch hier könnte man fragen, warum man bei Cargobikes so viel Wert auf Details legt, während Gewicht und Maße bei der Förderung von Elektroautos praktisch kaum eine Rolle spielen.

Lastenrad- vs. E-Auto-Förderung

Laut Bundesumweltministerium wurden 2020 als Kaufprämie für insgesamt 365 Lastenräder 727.000 Euro zur Verfügung gestellt. Die Förderung von elektrischen Autos findet dagegen in ganz anderen Dimensionen statt: 2020 wurden dafür 652 Millionen Euro ausgeschüttet. In diesem Jahr waren es in der ersten Jahreshälfte bereits 1,25 Milliarden Euro. Rund die Hälfte davon entfiel auf potenziell umweltschädliche Plug-in-Hybride.

Unternehmen gewinnen durch die Förderung

Für Unternehmen, die Transporte per Lastenrad erledigen wollen, ist die finanzielle Förderung ein großer Vorteil, wie Max Matta vom Radlogistiker Himmel un Ääd berichtet. Das 2020 gegründete Unternehmen, das im Kölner und Bonner Raum aktiv ist, liefert regionale Bio-Lebensmittel mit Schwerlasträdern aus. Die Geschäfte laufen gut und seit Ende 2020 entwickelt sich das Unternehmen zunehmend zum Logistikanbieter für die letzte Meile und expandiert auch in den Non-Food-Bereich. Bei der Anschaffung der Schwerlasträder konnte auf verschiedene Fördertöpfe zurückgegriffen werden. „Wir haben sowohl die Landes- als auch die Bundesförderung erhalten, das hat beides gut funktioniert. Im Endeffekt haben wir dadurch eines oder sogar anderthalb unserer Räder als Unterstützung bekommen“, sagt Max Matta. „Das war schon sehr wichtig für uns.“ Eine Förderung könne den Unterschied machen, was in einem Unternehmen konkret angeschafft werde. Immerhin könne man für den Preis eines neuen Schwerlastrads auch einen gebrauchten Transporter kaufen. Von den Folgekosten abgesehen war für Himmel un Ääd aber immer klar, dass alles mit dem Rad gemacht werden sollte. Die Förderung mache es leichter und habe diese umwelt- und städte-freundliche Alternative nochmals gestärkt.

Privathaushalte zu wenig berücksichtigt

Vor der Qual der Wahl stehen auch Familien und Privathaushalte. Während sie für die Anschaffung eines fabrikneuen Elektroautos ohne Pro-bleme bis zu 6.000 Euro als Umweltprämie vom Staat bekommen, gibt es bei E-Cargobikes, wenn überhaupt, nur wenig Unterstützung. Mancherorts gibt es Zuschüsse für gemeinnützige Nutzungsformen durch den Zusammenschluss mehrerer privater Haushalte. Aktuell wird diese geteilte Privatnutzung zum Beispiel in Brandenburg mit bis zu 50 Prozent der Anschaffungssumme gefördert. Aber so eine gute Nachbarschaft, in der das möglich ist, muss man erst einmal finden. Grundsätzlich lassen sich mit gezielten Förderungen auch soziale
Unterschiede ausgleichen. Beispiele dazu kommen aus der Gemeinde Telgte aus dem Münsterland in Nordrhein-Westfalen und aus Stuttgart. In Telgte werden Familien mit einem Jahresgehalt unter 37.000 Euro zum Beispiel über einen Sozialbonus weitere 30 Prozent Förderung und damit insgesamt 60 Prozent des Kaufpreises zugesichert. In Stuttgart kann die Förderquote für Menschen mit niedrigerem Einkommen sogar auf bis zu 90 Prozent steigen. Ob das der richtige Weg ist? Martin Seißler, Geschäftsführer der Cargobike.jetzt GmbH, die unter anderem Kommunen zu Lastenradförderungen berät, hat Zweifel. Die Frage „Was möchte ich für meine Region erreichen?“ sollte laut Seißler im Mittelpunkt und am Anfang des Planungsprozesses stehen. Sozialpolitische Zielstellungen ließen sich dagegen auch anders umsetzen, zum Beispiel durch die Unterstützung von Lastenrad-Sharing-Modellen. Nach Martin Seißlers Erfahrungen gibt es neben Kaufanreizen noch weitere Stellschrauben zur Förderung von Lastenrädern. Eine Grundfrage sei: „Gibt es Lastenräder, die bei uns sichtbar und verfügbar sind?“ Gerade die Initialzündung durch erste Räder sei wichtig, um den Stein ins Rollen zu bringen. Ansatzpunkte biete etwa der kommunale Fuhrpark. Lohnenswert sei es, sich mit der Frage zu beschäftigen, in welchen kommunalen Betrieben und Ämtern es Prozesse gibt, die mit Lastenrädern bewältigt werden können. Dazu könnte etwa ein Wettbewerb ausgeschrieben werden. So ließen sich Mitarbeiter*innen motivieren, die bereits Lust auf einen Veränderungsprozess und aufs Radfahren haben. Kommunale Beschaffung könnte ein weiterer Hebel sein. Bei Ausschreibungen könne beispielsweise die Klimaverträglichkeit als zentraler Entscheidungsfaktor aufgenommen werden, um nachhaltige Verkehrsträger wie das Lastenrad zu fördern.

Sieben Lastenräder vom Typ Lademeister wurden bei Himmel un Ääd bereits gekauft. Wichtig waren dabei die Bundes- und die Landesförderung.

Förderprogramm auf Bundesebene

Die Förderung vom Bund zielt auf die gewerbliche Nutzung. Neben Unternehmen sind aber auch rechtsfähige Vereine und Verbände antragsberechtigt. Seit dem

  1. März 2021 werden nicht mehr nur Schwerlasträder gefördert, sondern auch leichtere E-Cargobikes und Lastenanhänger mit Elektrounterstützung. Die Förderhöhe beträgt maximal 25 Prozent der Anschaffungskosten bzw. 2.500 Euro. Für Mikro-Depots werden bis zu 40 Prozent oder maximal 20.000 Euro gefördert.

Informationen und Anträge beim Bundesamt für Ausfuhrkontrolle unter bafa.de

Mobilitätswende mit E-Autos oder E-Cargobikes?

Die Zahl der privaten Pkws muss vor allem in den Städten verringert und der Umstieg auf ÖPNV, Fahrräder, E-Bikes, (E-)Cargobikes und andere Verkehrsmittel aktiv gefördert werden. Daran besteht nach den Einschätzungen von Expert*innen und des Deutschen Städtetags kein Zweifel. Ob die Verteilung der Fördermittel dieses Ziel fördert und gerecht ist, daran lässt sich allerdings aktuell schon zweifeln. Wie geht es besser? Aus der Politik kam beispielsweise von den Grünen der Vorschlag, auch den Kauf von Lastenrädern für den Privatbereich bundesweit mit bis zu 1.000 Euro zu unterstützen. Der Bund könne mit einem eigenen langfristigen Programm mehr Verlässlichkeit bei der Förderung herstellen, so ein Argument. Auch das Bundesumweltministerium empfiehlt im Rahmen einer 2020 vorgestellten Studie zur „Sozial-ökologisch ausgerichtete Konjunkturpolitik“ eine breit angelegte bundesweite Cargobike-Prämie für private und gewerbliche Nutzer. Der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) plädiert in einem Papier zur Bundestagswahl darüber hinaus für eine „Umstiegsprämie“ für Privatpersonen. Zudem solle die gewerbliche Förderung verstetigt und weiter ausgeweitet werden – etwa auf kleinere Lastenräder. Insbesondere die Kommunen würden durch solche Programme stark entlastet, und das nicht nur finanziell. Fast ein Drittel des Berliner Budgets zur Lastenradförderung entfällt laut Angaben des Senats derzeit allein auf die Verwaltung des Berliner Förderprogramms. Ist eine „Umstiegsprämie“ sinnvoll? In Frankreich sagt man „Ja“. Mit einem Öko-bonus (Bonus écologique) wird der Kauf neuer Elektroautos (ausgenommen Plug-in-Hybride) und neuerdings auch gebrauchter Elektroautos gefördert. Zusätzlich gibt es eine „Auto-Abwrackprämie“, wenn man einen Verbrenner durch ein Auto mit CO2-Emissionen unter 50 g/km oder durch ein Lastenrad ersetzt. Zumindest mit Blick auf die Klimabilanz ist das Industrie- und Autoland Frankreich damit deutlich konsequenter und zukunftsorientierter als wir.

Cargobike-Berater

Das Berliner Unternehmen Cargobike.jetzt versteht sich als „Think- and Do-Tank“ und will das Lastenrad im deutschsprachigen Raum etablieren. Auf der Website gibt es Übersichten und Informationen zum Thema und Übersichten zu den Kaufprämien.


Bilder: qimby.net – Martin Randelhoff, Himmel un Ääd, Screenshot cargobike.jetzt

„Wieso kann man nicht den Platz oberhalb einer Straßenbahn nutzen, um schnell mit dem Fahrrad unterwegs zu sein?“ Diese Frage stand am Anfang eines Denkprozesses und der folgenden Gründung des Schweizer Start-ups Urb-X. Ein Radhochweg aus Holz, modular und flexibel wie eine Carrera-Bahn, so ließe sich die Idee wohl am besten beschreiben. Hinzu kommen smarte Anwendungen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Die Grundidee eines Radhochwegs ist kein Novum. Schon im Jahr 1900 wurde der erste Weg dieser Art, der „California Cycleway“, zwischen Pasadena und Los Angeles konzipiert. Auch in anderen Regionen gibt es Radhochwege; wo jedoch bisher immer kostenintensive Individuallösungen vonnöten waren, soll es bei Urb-X (urb-x.ch) einen Baukasten geben, aus dem sich Planer*innen bedienen können. Mittels Standardisierung und Modularität soll ein konkurrenzfähiges Produkt entstehen. Die nötigen Investitionen belaufen sich nach Angaben des Unternehmens auf zwei bis drei Millionen Euro pro Kilometer. Unterschiede ergeben sich je nach Streckenverlauf und der Anzahl der nötigen gekrümmten Module. Mit kalkulieren müsse man zusätzliche 25 Prozent für die Errichtung der notwendigen Stützpfeiler.

Pendeln fernab des Autoverkehrs

Die Firma plant, einzelne, standardmäßig je 20 Meter lange Module auf Stahlpfeilern zu montieren. Auf einer Breite von 4,40 Metern sollen so „Schnellstraßen“ für Radfahrende entstehen, mit je zwei 1,10 Metern breiten Spuren pro Fahrtrichtung. Besonders attraktiv sei der Bau durch die Trennung des Radverkehrs von anderen Verkehrswegen für Pendlerinnen. „Die Verkehrsinfrastruktur stößt weltweit in den meisten Städten an ihre Kapazitätsgrenzen – wir müssen deshalb urbane Mobilität neu denken“, sagt Bálint Csontos, COO und Mitbegründer der Schweizer Firma. „Die aufgeständerten Bike-Highways ermöglichen eine Entflechtung des Fahrrads von den anderen Verkehrsträgern, was ein schnelles und sicheres Pendeln bei gleichzeitig hohen Kapazitäten erlaubt.“ Bislang ist ein erstes Modul in Zusammenarbeit mit einem Schweizer Holzbauunternehmen entstanden. Folgen soll bald eine Teststrecke auf einem Grundstück in Basel, welches die Schweizer Bundesbahnen für Smart-City-Initiativen zur Verfügung stellt. An der Finanzierung wird derzeit gearbeitet. Die Chancen stünden gut, dass die Teststrecke im nächsten Jahr besucht werden kann und dann der globale Roll-out erfolge, heißt es. In Gesprächen mit Stadtplanerinnen werde viel Interesse bekundet. Aktuell investiere die Firma viel Zeit in die Bauvorbereitung der Teststrecke. Parallel dazu wird auch an einem Tool gearbeitet, das die Planung und Visualisierung von Fahrradstrecken wesentlich erleichtern soll.

Bálint Csontos, COO und Mitbegründer des Unternehmens Urb-X AG aus Birsfelden in der Schweiz sieht für das Konzept große Chancen.

Integration von smarter Technik geplant

Das Trägerelement des Radhochwegs bildet eine Hohlkammer aus Holz, die über die Stahlstützpfeiler mit dem Boden verbunden ist. Damit sind die Einwirkungen auf den Boden – Stichwort Versiegelung – minimal. Je Trägerelement werden acht Fahrbahnelemente aufgesetzt, die modular vorgefertigt werden. Holz ist für das Unternehmen dafür das perfekte Material, auch aus Gründen der Nachhaltigkeit. In die Fahrbahn werden nach dem Urb-X-Konzept Heizelemente und Sensoren eingearbeitet, die beispielsweise eine bedarfsgesteuerte „mitfahrende“ Beleuchtung ermöglichen sollen. Die Fahrdaten, die ermittelt werden, können der Stadtplanung zudem zur Verkehrsleitung zur Verfügung gestellt werden. Am Rand der Fahrbahn wird ein Geländer installiert, das gleichzeitig als Träger für eine großflächige Photovoltaikanlage dienen soll. Damit soll mehr Strom produziert werden, als verbraucht wird. Pro Kilometer Strecke rechnet das Unternehmen mit bis zu einem Megawatt Leistung. Potenziell machbar soll auch eine Beschattung mit Rankpflanzen sein.

Baukasten als Vorteil

Ein fertiges Trägerelement wiegt 5,4 Tonnen; pro Fahrbahn-Element inklusive Geländer etc. fallen weitere 725 Kilogramm an. Insgesamt ergibt sich so ein Gewicht von 11,3 Tonnen pro 20-Meter-Modul. Bei Problemen wird selbstständig Alarm ausgelöst und bei Bedarf sollen sich einzelne Module problemlos austauschen lassen. Vorteile soll es auch bei der Baugeschwindigkeit geben. Man erwarte, eine Bauleistung von 150 bis 250 Metern pro Woche erbringen zu können, Fundamente und Stützen ausgenommen. Denkbar seien auch Interimslösungen für fünf bis zehn Jahre. So ließe sich beispielsweise eine größere Baustelle überbrücken. Flexibilität soll es auch bei der Herstellung und der Nutzung geben. Es gibt eine Produktionspartnerschaft in der Schweiz, der Bau der Module könne aber auch lokal umgesetzt werden. Möglich seien auch gemischte Lösungen für Fuß- und Radverkehr. Auch der Aufbau der Stützpfeiler erlaube Spielräume. Kürzer können die Abstände ohnehin immer werden, aber auch andere Lösungen, wie Flussquerungen mit einer Hängebrücke sollen möglich sein.


Bilder: Andreas Zimmermann Fotografie, Urb-X AG

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Kommt Ihnen unser Titel „Plan-Build-Ride“ bekannt vor aus Ihrem Unternehmen, Ihrer Organisation oder Verwaltung? „Plan-Build-Run“ war viele Jahre das gelebte Mantra in der IT – und mehr oder weniger bewusst sicher auch ein gutes Stück im Verkehrssektor. Grob gesagt war diese Philosophie in erster Linie auf Sicherheit, Prozesskonformität und Effizienz ausgelegt. Innovationen bedeuten vor allem weitere Effizienzsteigerungen und Kostensenkungen, nicht mehr, nicht weniger. Damit fuhr man jahrelang gut. Mit der heutigen Realität hat das System, das Unternehmen und das Denken einer ganzen Generation prägte, aber nur noch wenig gemein. Längst fordert die enorme Geschwindigkeit der allgemeinen Veränderungen neue Ansätze. Umkehrt beschleunigen diese wiederum Veränderungen.
„Das Plan-Build-Run-Modell ist tot“, behaupteten schon vor über zehn Jahren die Technologieberater von Forrester Research. Die Zukunft sei „Agilität“. Dieser neue Ansatz hat Konzerne wie Amazon, Google oder Tesla mit hervorgebracht und tatsächlich gibt es heute kaum noch ein Unternehmen, das sich nicht intensiv mit dem Thema befasst. Allerdings ist Umfragen zufolge der Anteil der Mitarbeitenden, die damit bislang noch nicht viel anfangen können, groß. Zeit also, auch in den Bereichen Mobilität und Verkehrsplanung über Agilität als neue Basis und Zukunftsstrategie nachzudenken? Sicher ist, dass auch hier die Geschwindigkeit der Veränderungen immer weiter zunimmt. Ein Treiber ist das Ziel Klimaneutralität mit seinen Verpflichtungen, wie dem Pariser Abkommen und dem Green Deal der EU, ein anderer die Einsicht, dass sich die Städte und Kommunen beim Thema Mobilität in einer Sackgasse befinden. „Die Städte wollen die Verkehrswende“, sagte im Februar letzten Jahres der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages Helmut Dedy im VELOPLAN-Interview (online unter veloplan.de).

Schneller Wandel und Disruption

„Allein durch alternative Antriebe werden wir die Klimaziele im Verkehr keinesfalls erreichen“, sagt der gefragte Analyst und Mikromobilitätsexperte Horace Dediu. Weltweit steige mit dem zunehmenden Wohlstand auch die Anzahl der Pkw, ihr Gewicht und ihre Motorisierung. Den zusätzlichen Material- und Energieverbrauch könne keine Technologie auffangen. Wer sich die Statistiken anschaut, wird ihm kaum widersprechen wollen. Auch in Deutschland steigen die Pkw-Zulassungen und der Anteil an schweren SUVs weiter und die durchschnittliche PS-Zahl ist im letzten Jahr um 7 auf nun 165 gestiegen. Notwendig ist nach der Meinung von Experten wie Horace Dediu ein Umdenken auf breiter Ebene hin zu kleineren, leichteren und umweltfreundlicheren Fahrzeugen.
Mit neuen Technologien entwickeln sich heute zudem auch Geschäftsmodelle um ein Vielfaches schneller. Während vielerorts beispielsweise noch über den zunehmenden Internethandel und steigendes Paket- und Lieferaufkommen geredet (oder geschimpft) wird, sind längst Fakten geschaffen. Amazon und Zalando oder Start-ups wie Lieferando oder Flaschenpost krempeln komplette Märkte um. Schnelligkeit und maximale Verfügbarkeit werden zum Geschäftsmodell. On-Demand-Lieferdienste, wie „Gorillas“, versprechen heute Lebensmittellieferungen – dank E-Bikes – innerhalb von zehn Minuten. Was macht das mit den Kaufhäusern, dem Einzelhandel und unseren Städten? Und welche Funktionen müssen sie künftig erfüllen?
„Der Wandel verlangsamt sich nicht“, sagt der amerikanische Keynote-Speaker Scott Stratten (UnMarketing Inc.). In seinen Vorträgen macht er das anhand eingängiger Bilder deutlich: „Es hat 76 Jahre gedauert, bis sich Elektrizität in den amerikanischen Haushalten durchgesetzt hat, 43 Jahre für den Kühlschrank, 27 Jahre für die Mikrowelle, 6 Jahre für das Internet, 4 Jahre für Smartphones, 2 Jahre für Social Media. Sehen wir da ein Muster?“ Für die junge Generation der Millennials, also die ca. zwischen 1980 und 2000 Geborenen, sei „Disruption“ die einzige bekannte Erfahrung und „ein Asset für jedes Business und ein Asset für diese Welt“. Der Begriff Disruption steht dabei für Revolution statt Evolution. Eine alte, etablierte Lösung wird durch eine potenziell deutlich einfachere, schnellere oder bequemere in rasantem Tempo ersetzt. Unter dieser Perspektive kann man das schnelle Verschwinden von CDs und DVDs ebenso besser verstehen wie den sprichwörtlichen Durchmarsch der E-Scooter-Sharer. Mit enormer Geschwindigkeit bei der Innovation und Expansion, viel Investorenkapital im Rücken und dem festen Willen, Fakten zu schaffen und Konkurrenz aus dem Rennen zu schlagen, träfen die Betreiber nach Scott Stratten auf absolut unvorbereitete und völlig andersdenkende Städte und Verantwortliche. Von heute auf morgen würden einige Tausend E-Kickscooter in einer Stadt aufgestellt, verbunden mit der impliziten Botschaft „kommt damit klar“. Widerstand sei weitgehend sinnlos, denn genau das sei das Wesen von Disruption: „Wandel, ohne Zeit, ihm zu widerstehen.“

Mehr Agilität

Angesichts der enormen Herausforderungen und der Geschwindigkeit der in vielerlei Hinsicht unumkehrbaren Veränderungen wirken viele der seit Jahren andauernden Diskussionen um Fahrrad versus Auto oder Jahrzehnte alte Normen, Gesetze und Verwaltungsvorschriften wie aus der Zeit gefallen. Was will man bewegen mit Planungshorizonten von fünf oder mehr Jahren und Reformen, die ein um das andere Mal auf die nächste Legislaturperiode vertagt oder nur in homöopathischen Dosen umgesetzt werden? „Da brennt die Hütte und wir legen einen Plan auf, wie wir die Temperatur des Feuers messen und machen anschließend ein Konzept zur optimalen Temperatur des Löschwassers“, so die Meinung von Dr. Christoph Hupfer, Professor für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik an der Hochschule Karlsruhe zur Situation der Radverkehrsförderung im Rahmen einer Podiumsdiskussion im März dieses Jahres.
Auf der anderen Seite waren die Voraussetzungen für neue Mobilität noch nie so gut wie jetzt. Auf technischer Seite wächst gerade viel zusammen, mit extrem leistungsfähiger und gleichzeitig preiswerter Technik und der weltweiten Marktdurchdringung mit Smartphones. Finanzkräftige Investoren suchen nach neuen, klimafreundlichen Geschäftsfeldern und Anbieter aus allen Bereichen tun sich mit Kooperationspartnern für neue Services und Geschäftsmodelle zusammen. Auch die in den letzten Jahrzehnten dominante Vorstellung, dass Straßenräume für den motorisierten Individualverkehr, sprich Pkw, freigehalten werden müssten, bekommt immer mehr Risse. Ein großer Teil der Bevölkerung wünscht sich Veränderungen hin zu mehr umwelt-, menschen- und städteverträglichem Verkehr und mehr Lebensqualität. Und vielen geht es längst nicht schnell genug. Neuverteilung und Umgestaltung sind machbar und engagierte Bürgerinnen und Bürger wirken gerne aktiv mit. Das zeigen Beispiele aus ganz Europa, und das macht Hoffnung und Lust auf mehr. „Wenn wir jetzt die Potenziale nutzen, auch aus der Bevölkerung und den Hochschulen, dann können wir sehr viel schneller in die Pötte kommen“, so Professor Christoph Hupfer zu den Chancen für mehr Radverkehr und eine echte Mobilitätswende. Zeit also für mehr Tempo, mehr Flexibilität oder, wie Berater und Coaches wohl sagen würden, mehr Agilität.


Bild: Illustration: stock.adobe.com – j-mel

Seit 2019 gibt es beim Sharing-Anbieter Tier, der neben E-Tretrollern auch 45-km/h-Motorroller im Programm hat, das unabhängige Netzwerk „Women of Tier“. Warum gerade bei neuen Mobilitätsformen mehr weibliche Perspektiven wichtig sind, haben wir die Tier-User-Researcherin Nastya Koro gefragt und Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan, die Micromobility-Anbieter und Kommunen zu geschlechterspezifischen Unterschieden in der Mobilität berät. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Mehr Frauen: Wer sich durch die Pressebilder von Tier klickt, stellt fest, dass hier sehr oft junge Frauen zu sehen sind. Dem Selbstbild von Tier folgend fast immer auch mit Helm.

Warum braucht es auch oder mehr weibliche Perspektiven in der Mikromobilität?
Ines Kawgan-Kagan: Weibliche Perspektive fehlt leider immer noch häufig in der Verkehrsplanung und in den Projekten. Der „Standard“ ist eher den männlichen Bedürfnissen und Anforderungen angepasst. Das hat den Effekt, dass die Lebensrealität vieler Frauen nicht ausreichend berücksichtigt wurde und wird.

Warum ist das aus Ihrer Sicht so?
Nastya Koro: Historisch gewachsen sind in Berufen rund um Mobilität und Verkehr erheblich mehr Männer tätig. In der EU zum Beispiel sind gerade einmal ein Fünftel der Arbeitskräfte weiblich. Das führt dazu, dass die Mobilitätsprodukte immer noch sehr männerzentriert sindInes Kawgan-Kagan: Die Themen sind stark von technischen Details und Infrastruktur geprägt. In diesen Bereichen finden wir mehr Männer als Frauen. Dass sich mehr Männer als Frauen für diese Themen interessieren, ist übrigens nichts, was uns „in den Genen liegt“. Bereits Kinder werden so von der Gesellschaft sozialisiert, dass es eher männliche Themenfelder gibt und eher weibliche. Alles rund ums Auto ist sehr männlich konnotiert in unserer Gesellschaft.

Was sind konkrete Unterschiede in der Mobilität?
Ines Kawgan-Kagan: Frauen zeigen typischerweise ein anderes Verkehrsverhalten, haben andere Bedürfnisse, Erfahrungen und andere Erwartungen an ihre Mobilität. Unterschiedliche Aufgaben im Alltag auch aufgrund von der Kinderbetreuung, die immer noch meistens von Frauen übernommen wird, haben da einen sehr großen Einfluss. Aber nicht nur Kinder sind ein Faktor; Sicherheit, Barrierefreiheit und der Einsatz von Technik sind für Unterschiede verantwortlich. Wir sprechen auch immer über statistisch nachweisbare Unterschiede und keine Stereotype oder Klischees.

„Der Standard ist eher den männlichen Bedürfnissen und Anforderungen angepasst.“

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan, AEM Institute

Wie steht es um die weibliche Perspektive im Bereich Mikromobilität?
Nastya Koro: Gerade in den innovativen Bereichen sehen wir sehr viel mehr Männer als Frauen. Der Fokus liegt dabei meist darauf, was mit einer bestimmten neuen, skalierbaren Technik möglich ist, und weniger darauf, die Mobilität strategisch nachhaltig zu gestalten. Dadurch kommt es auch dazu, dass sehr viel mehr Männer an Micromobility interessiert sind und diese dann auch eher nutzen als Frauen.
Ines Kawgan-Kagan: Bei diesen Unterschieden steckt wieder sehr viel unterschiedliche Sozialisation drin, die dazu führt, dass Frauen sich auch tendenziell wenig mit mobilitätsbezogenen Themen beschäftigen. Das in Kombination mit einer Start-up-Kultur führt zu einem geringen Anteil an Frauen.

Sollten es spezielle Angebote für Frauen geben?
Ines Kawgan-Kagan: Jein! Das Angebot selbst sollte nicht speziell Frauen ansprechen, also zum Beispiel ein Roller speziell für Frauen ist nicht zielführend. Es muss für so viele Menschen wie möglich nutzbar sein. Um das aber zu erreichen, sollte es Maßnahmen geben, die Frauen gezielt ansprechen und deren Bedürfnisse decken. Es geht darum, einen inklusiven Ansatz zu verfolgen, der sich mit den Bedürfnissen und Anforderungen verschiedener Personengruppen befasst. Dazu müssen diese bekannt sein, um sie dann zu berücksichtigen.
Nastya Koro: Genau das haben die „Women of Tier“ mit einem Moped-Fahrtraining speziell für Frauen getan. In einem geschützten Raum konnten Frauen unsere Mopeds ausprobieren. Frauen antizipieren viel mehr, wenn es um die Sicherheit neuer Angebote geht. Wir konnten so die Hemmschwelle abbauen, sich zum ersten Mal auf ein Moped zu setzen.

„Gerade in den innovativen Bereichen sehen wir sehr viel mehr Männer als Frauen“

Nastya Koro, Tier

Wie kann die weibliche Perspektive besser integriert werden?
Ines Kawgan-Kagan: Durch die Förderung von Frauen in den Arbeitsbereichen. Diverse Teams bieten genau diese vielen unterschiedlichen Perspektiven, die es braucht, um Angebote inklusiv zu gestalten. Wichtig ist dabei auch, dass Frauen auch in Entscheidungspositionen sein müssen, damit diese Perspektiven dann tatsächlich Einfluss nehmen können. Um das zu erreichen, sollten Frauen in der Branche sichtbar gemacht und typische Arbeitskulturen, die Frauen eher abschrecken, geändert werden.
Nastya Koro: Ein hervorragender Ansatz sind dabei Netzwerke für Frauen in der Branche, damit sie sich austauschen, vernetzen und voneinander lernen können. Mit nur 22 Prozent beschäftigten Frauen in der Mobilitätsbranche werden ihre Stimmen oft nicht gehört. Also dachten wir – Ligia, Galuh, Sadie und ich – wir sollten an unserem Arbeitsplatz etwas dagegen tun, und haben unsere Grassroots-Initiative „Women of Tier“ aus diesem Bedürfnis heraus gegründet. Im Laufe der Zeit war das Management mehr und mehr überzeugt, der Einstellung von Frauen für Führungspositionen Vorrang einzuräumen, was zu einer diverseren Verteilung in der Führung und einem empathischeren Verständnis für die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer führte. Darüber hinaus wurde mit Moped-Trainings, Veranstaltungen und Podcasts mit weiblichen Vorbildern eine Community geschaffen, um Frauen in der Mobilität ins Rampenlicht zu rücken und mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Belegschaft und in der Nutzer*innen-Basis zu thematisieren.

Es geht also nicht nur um mehr Frauen, sondern um ein anderes Verständnis?
Ines Kawgan-Kagan: Am Ende bleibt festzuhalten, dass allein mehr Frauen hier nicht automatisch mehr Kompetenz schaffen. Es geht vielmehr darum, dass alle, die in diesem Bereich arbeiten, die Unterschiede kennen und berücksichtigen. Immerhin handelt es sich um die Hälfte der Bevölkerung.


Nastya Koro

… ist User Researcherin bei Tier. Zu ihren Aufgaben gehört die Nutzerforschung im Hinblick auf urbane Mobilität, Multimodalität, Zukunftstrends und geschlechtsspezifische Unterschiede. Bei der Initiative „Women of Tier“ befasst sie sich unter anderem mit Webinaren, Podcasts und Veranstaltungen zur Stärkung von Frauen in der Mobilität.

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan

… ist Mitgeschäftsführerin AEM Institute. Das Unternehmen unterstützt bei der Umsetzung von gerechter und umweltfreundlicher Mobilität, mit dem Schwerpunkt Gender- und Accessibility-Beratung – unter anderem mit Inhouse-Trainings und interaktiven E-Kursen.


Bilder: AEM Institute, Tier