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Dr. Uwe Schneidewind ist seit Anfang November 2020 neuer Oberbürgermeister der bergischen Großstadt Wuppertal und hat dafür die Leitung des renommierten Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie aufgegeben. Was es für ihn braucht, ist „Zukunftskunst“. Also die Fähigkeit, kulturellen Wandel, kluge Politik, neues Wirtschaften und innovative Technologien miteinander zu verbinden. Was treibt den hoch angesehenen Vordenker und Transformationsforscher an und was sind seine Ziele im Bereich Verkehrswende? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Herr Dr. Schneidewind, wie geht es weiter in Wuppertal? Sie vertreten ja die grundsätzliche Auffassung, dass man Verkehr vermeiden, verlagern und verbessern müsste.

Das ist ja ein jahrzehntealtes verkehrspolitisches Paradigma im Sinne der grundlegenden Herangehensweise bei einem veränderten Verkehr. In der aktuellen Diskussion geht es vor allem um Verbesserungen, also vor allem Schadstoffe in den Innenstädten und Elektroautos. Aber das Thema ist ja viel grundsätzlicher.

Wo sehen Sie aktuell die eigentlichen Herausforderungen?
Es gilt eine umfassendere Perspektive einzunehmen. Dann werden die Diskussionen schwieriger, aber die Ergebnisse wirkungsmächtiger. Gerade das Thema „Verlagern“ vom Auto hin zu ÖPNV und Radverkehr mit einer anderen Verteilung des Straßenraums führt zu sehr kontroversen Diskussionen, die man aber führen muss. Die Debatte über Vermeidung berührt städtebauliche Strukturen und grundlegende Fragen des Wirtschaftswachstums. Sie ist damit noch langfristiger. Man kann sagen, je grundsätzlicher, aber am Ende auch wirkungsmächtiger, desto schwieriger wird die Diskussion.

Waren die schwierigen Diskussionen ein Grund, warum Sie von der Theorie in die Praxis, sprich in die Politik gewechselt sind?
Ich komme aus der Transformationsforschung, die verstehen will, wie Veränderungsprozesse im politischen und gesellschaftlichen Bereich möglich sind. Dazu gibt es viele Theorien, aber ich habe immer wieder gesehen, wie wenig sich da draußen tatsächlich bewegt. Jetzt die Chance zu haben, in dieses Gefüge einzutauchen und zu sehen, was möglich ist, das war für mich eine große Motivation.

Die mit großem Aufwand erbaute und im Jahr 1901 eröffnete Wuppertaler „Schwebebahn“ ist nicht nur das Wahrzeichen der Stadt, sondern auch die wichtigste Verkehrsverbindung. Auf 13,3 Kilometern führt die denkmalgeschützte Hängebahn, dem Flusslauf der Wupper folgend, durch das Tal.

Die auf der stillgelegten Rheinischen Bahnstrecke errichtete „Nordbahntrasse“ ist ein Magnet für Radfahrer und Fußgänger. Im und am alten Bahnhof Mirke befindet sich heute die „Utopiastadt“ als Ort für kreative Stadtentwicklung.

Spüren Sie aktuell Rückenwind für das Thema Verkehrswende?
Wir merken in der Bevölkerung, dass sich Wertvorstellungen verschieben. Es gibt ein neues Verständnis von qualitätsvollen Innenstädten und von neuen Anforderungen an den städtischen Verkehr. Deutlich wurde das zum Beispiel bei den Wahlen in Hannover, bei denen ein Oberbürgermeister (Anm. d. Red.: Belit Onay, Grüne) ins Amt gewählt wurde, der den Wahlkampf mit dem Versprechen einer autofreien Innenstadt geführt hat. Ähnliches hat sich in diesem November bei den Kommunalwahlen in Aachen und Bonn gezeigt. Wir kennen ja eigentlich seit dreißig Jahren die Konzepte, wie nachhaltiger Verkehr aussehen müsste. Mit der neuen Legitimation werden Ergebnisse plötzlich greifbar.

Eine Ihrer Leitlinien in Bezug auf den Verkehr ist ja, dass Sie die Grabenkämpfe zwischen Autofahrern und Radfahrern oder Radfahrern und Fußgängern beenden wollen.
Wir haben derzeit eine Diskussion, die eine falsche Rahmung hat: Die einen gegen die anderen. Das ist eine schwierige Rahmung für die politische Debatte. Insbesondere, weil eine so geführte Diskussion weit über die sachliche Ebene hinausgeht. Die Beteiligten nehmen das schnell als Kritik am eigenen Lebenskonzept, an eigenen Wertvorstellungen wahr. Immer wenn solche Sachkonflikte zu tiefen Wertkonflikten werden, dann sind sie politisch viel schwerer aufzulösen.

Wie sollte man aus Ihrer Sicht mit tief sitzenden Konflikten umgehen?
Es ist wichtig, eine gemeinsame Wertebasis zu finden, die auch in der Breite geteilt werden kann. Die kristallisiert sich aktuell immer mehr heraus: Lebensqualität in der unmittelbaren Wohnumgebung von Innenstädten. Darauf aufbauend müssen wir uns fragen, was heißt denn das jetzt für die Organisation der unterschiedlichen Mobilitätsformen in einer solchen Stadt? Das kann, so meine feste Überzeugung, den einen oder anderen Konflikt auflösen.

„Es ist wichtig, eine gemeinsame Wertebasis zu finden, die auch in der Breite geteilt werden kann.“

Es tut sich ja gerade international sehr viel. Was kann man aus anderen Städten lernen und wie beeinflussen diese uns hier in Deutschland?
Die Entwicklung in den anderen Städten ist auf unterschiedlichen Ebenen wichtig. Erstens: Es etablieren sich neue Leitbilder für die zukunftsfähige Stadtentwicklung, wie beispielsweise die Formel der „15-Minuten-Stadt“ durch die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Damit entstehen kraftvolle Bilder, die die neue Stadt beschreiben. Zweitens: Viele positive Beispiele anderer Städte stärken die Erfahrung mit erfolgreichen Transformationslogiken und -pfaden. Sie sensibilisieren aber auch für die Zeitspannen, die es dafür braucht. Beispiele wie Kopenhagen, wo sich die Veränderungen über 25 Jahre vollzogen haben, zeigen, dass wir einen langfristigen Kompass brauchen, viel, viel Ausdauer und konsequente Umsetzungsstrategien.

Wie schaut die Radverkehrssituation heute in Wuppertal aus? Was können andere Kommunen potenziell künftig von der Stadt lernen?
Wuppertal ist ja in vielerlei Hinsicht besonders, da es eine besonders autogerechte und fahrradungerechte Stadt ist. Der Fahrradanteil im Modal Split liegt hier, vor allem wegen der engen Bebauung und der schwierigen Topografie mit vielen Hanglagen, bislang im niedrigen einstelligen Bereich. Auf den ersten Blick scheint Wuppertal für eine Verkehrswende komplett ungeeignet. Insofern ist es gut, wenn sich eine Stadt wie Wuppertal jetzt aufmacht und selbst unter widrigsten Bedingungen Veränderungen anstößt. Das ist das Lernexempel, das Wuppertal setzen kann.

Was wollen Sie in Wuppertal im Bereich Verkehr erreicht haben, wenn Sie auf Ihre Amtszeit zurückblicken?
Um die Verhältnisse zu verändern, müssen wir erst einmal neue Angebote schaffen. Es gilt eine grundlegende Fahrradtrassen-Infrastruktur aufzubauen inklusive geeigneter Zuwegungen. Was wir aufbauen, sind Längsachsen entlang der Wupper im Tal und auf den Hängen inklusive Verbindungswegen. Damit entsteht eine Fahrrad-Grundstruktur, die man dann schrittweise ergänzen kann.

„Auf den ersten Blick scheint Wuppertal für eine Verkehrswende komplett ungeeignet. Das ist das Lernexempel, das Wuppertal setzen kann.“

Dr. Uwe Schneidewind, Oberbürgermeister von Wuppertal

Die Topografie ist bei Ihnen im Bergischen Land ja eine ganz besondere Herausforderung.
Deshalb muss es unsere Ambition sein, eine E-Bike-Hauptstadt zu werden. Wenn wir auf die Möglichkeiten des E-Bikes setzen, dann lassen sich relevante Teile der Bevölkerung aufs Rad bekommen. Niemand fährt, selbst wenn er trainiert ist, mit dem Anzug einen Hang mit zehn Prozent Steigung 300 oder 400 Meter hoch und kommt dann komplett durchgeschwitzt ins Büro. Und die meisten haben am Morgen oder nach der Arbeit auch einfach nicht die Lust und die Kraft dazu. So müssen wir aus der Not, was den Fahrradverkehr angeht, eine Tugend machen. Nach Corona lade ich gerne alle Beteiligten aus der Fahrradbranche auf einen E-Bike-Gipfel nach Wuppertal ein.

Wuppertal liegt rund 30 Kilometer östlich von Düsseldorf mitten im Bergischen Land und ist mit rund 350.000 Einwohnern die größte Stadt bzw. Verbindung von ehemals selbstständigen Städten entlang der Wupper. Mit den industriell geprägten Stadtkernen und den bewaldeten Hügeln ringsum gibt es hier ganz besondere Herausforderungen.

Wie wollen Sie Wuppertal mit seinen vielen Unterzentren zu einer weniger autodominierten Stadt machen?
Ich habe in meinem Wahlprogramm deutlich gemacht, dass ich nicht von oben anordnen werde, dieser oder jener Stadtteil wird autoarm. Sondern ich möchte in unserer autogerechten Stadt, wo das Thema bislang emotional sehr aufgeladen ist, „Inseln des Gelingens“ schaffen. Mein Angebot an die Bezirke ist: Wenn ihr mit der Unterstützung aus der Bevölkerung sagt, ihr wollt in eurem Umfeld eine höhere Innenstadtqualität und auch eine andere Form von Mobilität schaffen, dann bekommt ihr die volle Unterstützung aus der Verwaltung. Wir werden das eher als produktiven Wettbewerb ausgestalten mit der Frage, wer von euch hat schon am besten verstanden, was da eigentlich passiert im Hinblick auf neue urbane Qualität; und die, die es gut verstanden haben, haben unsere Unterstützung. Ich bin guter Dinge, dass sich Stadtbezirke finden, die unser Angebot gerne annehmen, und dass man damit eine produktive Dynamik und Spill-Over-Effekte auslöst.

Was machen Sie mit den Stadtteilen, die hier nicht mitziehen?
Wir haben alles Verständnis für die, die noch nicht so weit sind. Aber natürlich laufen sie Gefahr, dass ihre Quartiere künftig nicht mehr in die Zeit passen, weil sie sich der Veränderung verweigern.

Welche Rolle spielt künftig der auch in Wuppertal chronisch defizitäre ÖPNV?
Wie gesagt, bevor man an eine weitergehende Regulierung geht, müssen die Alternativangebote aufgebaut sein und in Wuppertal heißt das, im Modal Split einen noch besseren ÖPNV und seine langfristige finanzielle Stabilisierung. Wir brauchen andere Formen der Nahverkehrsfinanzierung. Wir werden uns zusammen mit den Stadtwerken bemühen, nach der kommenden Bundestagswahl, wenn es neue Finanzierungsinstrumente und Möglichkeiten gibt, dort mit Vorreiter zu sein.

Erwarten Sie Rückenwind durch die große Bürgerbeteiligung für das Fahrradgesetz in Nordrhein-Westfalen?
Der Weg zum Fahrradgesetz ist ja ein enorm wichtiger institutioneller Innovationsprozess gewesen. Die Tatsache, dass wir bürgerschaftliches Engagement nicht nur mobilisieren für Einzelprojekte, sondern für einen gesamten Gesetzgebungsprozess, der dann einen Rahmen schafft. Das ist der große Sprung, den der Berliner Radverkehrsentscheid gebracht hat. Das ist für alle, die in den Städten eine Verkehrswende befördern wollen, ein wichtiger Rückenwind, weil sich Landespolitik dazu verhalten muss, weil sich Akteure über einzelne Städte hinaus vernetzen und man damit einen Raum hat, die Verkehrswende-Diskussion anders zu führen.

Was sind Ihre Forderungen an den Bund?
Mehrere Punkte spielen eine Rolle: Es geht es um Ressourcen und Umschichtungen im Verkehrsetat, um alternative Formen von Mobilität auszubauen. Gerade für stark verschuldete Kommunen, wie beispielsweise Wuppertal, ist das wichtig. Daneben geht es auch um Anpassungen in der Straßenverkehrsordnung, zum Beispiel in Bezug auf Geschwindigkeitsbeschränkungen in den Städten. Wir sind hier ja durch die nationalen Rahmenbedingungen sehr limitiert. Hilfreich wären Experimentierklauseln, Lust auf neue Konzepte und ein gemeinsames Lernen zwischen Kommunen, um Veränderungsprozessen noch mal einen neuen Antrieb zu geben.

Dr. Uwe Schneidewind

ist 1966 in Köln geboren, leitete zehn Jahre das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie als Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer und zählt nach einem Ranking der FAZ zu den einflussreichsten Ökonomen Deutschlands. Als Mitglied der Grünen trat er bei den Kommunalwahlen in Wuppertal unter dem Motto „Schneidewind verbindet“ für Grüne und CDU an und ist seit dem 1.11.2020 neuer Wuppertaler Oberbürgermeister.

Nach seinem Studium der Betriebswirtschaftslehre war er als Berater bei Roland Berger Consulting tätig, promovierte an der Universität St. Gallen am Institut für Wirtschaft und Ökologie und wurde ab 1998 zum Professor für Produktionswirtschaft und Umwelt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg berufen, die er von 2004 bis 2008 auch als Präsident leitete. Für sein „herausragendes wissenschaftliches Engagement und seine Impulse zur Weiterentwicklung der Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung“ wurde er im Juli 2020 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.
Schneidewind ist seit 2011 Mitglied im Club of Rome, Vorstandsmitglied der Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung und war bis Februar 2020 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen.

In seinem Buch “Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels.” beschreibt er seine Vorstellung von „Zukunftskunst“. Damit ist die Fähigkeit gemeint, kulturellen Wandel, kluge Politik, neues Wirtschaften und innovative Technologien miteinander zu verbinden. So würden Energie- und Mobilitätswende, die Ernährungswende oder der nachhaltige Wandel in unseren Städten möglich. Das Buch ermuntert Politik, Zivilgesellschaft, Unternehmen und jeden Einzelnen von uns, zu Zukunftskünstlern zu werden.


Bilder: Wolf Sondermann, Jan (stock.adobe.com) M. Tausch (stock.adobe.com), Martin Randelhoff (Qimby), S. Fischer Verlage

Wie geht es weiter mit dem Thema Mobilität und Verkehr? Worauf müssen wir uns einrichten, wenn wir langfristig strategisch planen wollen und wohl auch müssen?
Prof. Stephan Rammler gehört in Deutschland zu den profiliertesten Experten für Mobilitäts- und Zukunftsforschung und schlägt im Gespräch den großen Bogen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Herr Professor Rammler, manche Experten sehen mit Corona eine Aufbruchstimmung, andere wenig echte Veränderungen und viele wollen wieder zurück in die gute alte Zeit. Wie sehen Sie die aktuelle Lage?

Wenn ich im Augenblick gefragt werde, wie sieht die Zukunft aus, dann sage ich, dass es gute Gründe gibt, die Zeiten vor und nach Corona zu unterscheiden. Vor Corona war es so, dass die globalen Megatrends wie Urbanisierung, demografisches Wachstum, Nachhaltigkeitstransformation, Individualisierung und die digitale Transformation in ihrem synergetischen Zusammenwirken einen großen Handlungsdruck erzeugt haben, in Richtung Klimaneutralität, Schutz der ökologischen Vielfalt und Schutz der Lebensgrundlagen zu gehen. Allen voran das große fanalhafte Thema Klimawandel und Forderung der Klimaneutralität.

Die Diskussion hat ja auch Kontroversen um die Mobilitäts- und Verkehrswende mit angestoßen.
Das hat insbesondere für die Mobilität Auswirkungen gehabt, weil sie hochgradig fossil gebunden ist. Es gibt eine hohe Transformationsnotwendigkeit, gleichzeitig aber auch große Schwierigkeiten, weil eben so viel davon abhängt und die Mobilität so tief in die lebenspraktischen Notwendigkeiten moderner Alltagskultur eingebettet ist. Wir hatten auch eine starke Dynamik im Sinne von mehr Bewusstheit für das Thema und eine starke Bewegung auf der kommunalen Ebene.

Viele erleben gerade engagierte Bürger und Kommunen als starke Treiber.
In den Kommunen haben viele verstanden, dass es keinen Sinn macht, auf die Landes- oder Bundespolitik zu warten, weil die Menschen vor Ort ihre Probleme erleben und vor Ort auch Lösungen von den lokalen Entscheidern geliefert bekommen möchten. Deswegen ist für mich nach wie vor die kommunale und lokale Ebene der wichtigste Ort für die Verkehrs-politik.

Und die Zeit nach Corona? Was hat sich verändert und wo sehen Sie eine Zäsur?
Die Pandemie hat vor allem die grundsätzliche Frage nach Resilienz aufgerufen. Wenn wir fragen, was hat Corona eigentlich an Veränderungen gebracht, dann können wir als Zwischenfazit sicher sagen: Homeoffice, Telependeln, Restabilisierung des Automobils sowie ein starker Impuls für den Bereich der Lieferlogistik und die Themen Radverkehr und Mikromobilität. Gleichzeitig sehen wir zunehmende Starkwetterereignisse, Brände und Dürren.

Sie sehen uns verschiedenen Krisen ausgesetzt, in unsicheren Zeiten und fordern Strategien, damit umzugehen. Was meinen Sie damit?
Ich arbeitete dabei immer mit dem Begriff der transformativen Resilienz, den wir im IZT (Anm. d. Red.: Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung) geprägt haben. Was ich damit meine, das ist eine Doppelfigur: Wir haben ja in den letzten 30 Jahren ein Narrativ genutzt, dass wir politisch und ökonomisch alles tun müssen, damit wir 1,5 bis 2 Grad mehr als Stabilisierungsziel bis 2050 erreichen und dann ist alles gut. Jetzt sehen wir zwei Dinge: Erstens, dass dieses Versprechen womöglich obsolet wird, je mehr wir verstehen über Kipppunkte und Dynamiken, die, wenn sie erst einmal eintreten, nicht mehr bewältigbar sind. Und zum Zweiten müssen wir festhalten und akzeptieren, dass der Klimawandel bereits hier und heute eintritt.


Prof. Dr. Stephan Rammler

“Die Politik muss den Menschen ehrlich sagen, dass wir den Klimawandel in einem gewissen Grad nicht mehr aufhalten können.”

Was ist aus Ihrer Sicht konkret nötig, um mit diesen enormen Herausforderungen umzugehen?
Wir müssen alles dafür tun, damit der Klimawandel eingehegt und nicht dynamischer wird und gleichzeitig müssen wir strategische Maßnahmen entwickeln, mit den Klimafolgen umzugehen, und Infrastrukturen so umbauen, dass sie resilient werden.

Wo sehen Sie mit Blick auf den Klimawandel wichtige Handlungsfelder?

Die Politik muss den Menschen ehrlich sagen, dass wir den Klimawandel in einem gewissen Grad nicht mehr aufhalten können. Wir müssen versuchen klimaresiliente Landwirtschaftssysteme und Städte zu bauen, die mit Hitzestress und Wasserknappheit umgehen können. Wir müssen an den Küsten neue Infrastrukturen aufbauen, die mit den Anforderungen klarkommen. Und wir brauchen Verkehrssysteme, die Starkwetterereignissen gegenüber resilient und widerstandsfähig sind.

Für viele Menschen klingt das sicher erst einmal eher theoretisch.
Ganz im Gegenteil. Der Klimawandel passiert jetzt schon und wir sind mitten in der Situation, damit umzugehen. Er kommt nicht erst auf uns zu. Die Hitze wird in vielen Häusern unerträglich, das heißt, man braucht eigentlich eine Klimaanlage. Die Bäume, die kürzlich noch Schatten gespendet haben, sind vertrocknet und müssen gefällt werden. Die Solaranlage wird vom Dach geweht, der Keller durch Starkregen geflutet und die Zugverbindungen werden bei Stürmen komplett eingestellt. All das sind Effekte und Folgewirkungen des Klimawandels die ich, wie viele andere, unmittelbar erlebe.

Wie beeinflusst der Klimawandel unsere Mobilität konkret? Was müssen wir tun?
Wir müssen das Verkehrssystem widerstandsfähig machen und grundsätzlich klimaneutral. Wir brauchen eine Gestaltungsstrategie bei der Infrastruktur, dem politischen Rahmen etc., die diese Resilienzanforderungen jetzt schon mitdenkt und umsetzbar macht.

Extremwetterereignisse wie sintflutartige Regenfälle, orkanartige Stürme, Hitzewellen, Dürren oder extremer Schneefall nehmen mit dem Klimawandel deutlich zu. (Bilder: Adobe Stock)

In Bezug auf eine Mobilitätswende herrschte ja eher jahrelang Stillstand. Hat die Pandemie hier Veränderungsimpulse gegeben?
Bei aller Neigung zum Optimismus bin ich der Meinung, dass auch eine Pandemie wie diese nicht einen hinreichenden Impuls gesetzt hat, damit sich alles grundlegend ändert. Als Innovationsökonom arbeitet man gerne mit dem Begriff der Pfadabhängigkeit. All das, was wir in der Vergangenheit entschieden und geschaffen haben, wirkt fort für jede weitere Entwicklung. Die Zukunft und auch wir sind in einem viel größeren Maße, als wir uns das im Allgemeinen vorstellen, durch die Vergangenheit determiniert. Trotzdem hat es durch die Pandemie wichtige Veränderungen gegeben, die meiner Einschätzung nach auch bleiben werden.

Wo sehen Sie Beispiele für Veränderungen durch die Pandemie? Was bleibt und was würden Sie Verkehrsplanern empfehlen?
Im Wesentlichen drei Dinge. Erstens: Setzt auf das Thema Radverkehr und Mikromobilität und macht das auf eine kluge Art und Weise. Nutzt den Impuls von Corona, zum Beispiel mit temporären Radspuren. Mit der Pandemie haben Menschen tatsächlich Veränderungen und Gewohnheitsbrüche erlebt, an die man anschließen kann. Das Ziel: Radverkehr schnell, dynamisch, kommunikativ, konstruktiv und symbolisch überlagert mit guten Geschichten für den Personen-, Privat- und Güterverkehr.
Zum Zweiten sollten sie stark auf das Telependeln setzen, denn auch dieses Thema wird aus ökonomischen Gründen und weil jetzt die Infrastruktur und die Hardware da ist, nicht mehr weggehen. Ich kann damit sehr viel Verkehr und viele Emissionen vermeiden, brauche dafür allerdings auch ein neues Zusammenwirken unterschiedlicher Bereiche und unter anderem neue Immobilien- und Wohnraumkonzepte, für Familien, für Singles oder für Ältere.
Drittens kommt es wesentlich auf die intermodale Vernetzung von Mikromobilität, Zweirad und öffentlichem Verkehr an. Auch der öffentliche Verkehr muss dabei im Hinblick auf Pandemien, aber auch Hitze und Starkwetterereignisse resilient gestaltet werden.

Wie kann der öffentliche Verkehr resilienter werden?
Schon vor 17 Jahren haben wir zum Beispiel im Auftrag eines Verkehrsunternehmens darüber nachgedacht, wie wir Innenräume von Bussen und Bahnen entsprechend gestalten können, zum Beispiel mit besseren Belüftungs- und Klimasystemen, antibakteriellen Oberflächen etc. Es kann und darf auch nicht sein, dass Stürme oder niedrige Temperaturen den Bahnverkehr im ganzen Land lahmlegen.

„Das Eigenheim ist so stark mit dem Auto verknüpft, dass man von einer Eigenheim-Automobilkultur sprechen kann. Suburbia macht ohne Auto auch gar keinen Sinn.“

Prof. Dr. Stephan Rammler

Ist die Bevölkerung aus Ihrer Sicht bereit für eine Mobilitätswende?
Sie ist in den Städten auf jeden Fall weiter als die Bevölkerung auf dem Land. Vor allem aufgrund der strukturellen Zwänge, durch die Angebotsvielfalt, die sich in den letzten zehn Jahren enorm differenziert und digitalisiert hat, und durch innovative lokale Regulierungspolitik in Richtung einer postfossilen und postautomobilen Mobilität. Aber das muss man auch differenziert betrachten und die Lagen und die Milieus berücksichtigen. Außerhalb des S-Bahn-Rings ist die Situation schnell eine völlig andere und je weiter man rausgeht, desto höher wird der Grad der Automobilität und desto geringer ist die soziokulturelle Adressierbarkeit der Milieus, mit denen Sie es zu tun haben. Jede Stadt und jeder Stadtteil ist zudem anders und nicht gleichermaßen progressiv.

Was ist mit der Mobilität auf dem Land? Wie sehen Sie dort mögliche Veränderungen?
Wir haben eine sehr dynamische Suburbanisierungs- und Eigenheimkultur gehabt in der Nachkriegszeit. Das private Auto ist hier mit all seinen Vorteilen nicht zu ersetzen. Wir müssen auf dem Land eine ganz andere Verkehrspolitik betreiben als in den Städten. Das Eigenheim ist so stark mit dem Auto verknüpft, dass man von einer Eigenheim-Automobilkultur sprechen kann. Suburbia macht ohne Auto auch gar keinen Sinn.

Eine Verkehrspolitik für die Städte, eine für das Land? Warum genau? Und wie könnte das aussehen?
Wir haben in den urbanen Kommunen die raumökonomische Debatte und Diskurse über soziale Gerechtigkeit der Mobilität zusammen mit Umweltgerechtigkeit als Treiber. Das ist wichtig. Über die ländliche Mobilität zu reden, ist aber auch sehr wichtig, weil die Hauptemissionen auf dem Land und durch die längeren Distanzen der Berufspendler erzeugt werden. Es ist überhaupt nicht erkennbar, wie finanzschwache Kommunen funktional äquivalente Angebote im Bereich Verkehr anbieten könnten. Zudem sehen wir ja, dass die Pfadabhängigkeit hier weiter gegeben ist und sogar weiter wächst, zum Beispiel durch die Eigenheimpauschale, die Pendlerpauschale und Dieselsubventionen. Das ist natürlich auch in den Köpfen der Babyboomer drin, die jetzt ca. 60 Jahre alt sind. Die haben Zeit, Geld und sind eine in der Wolle gefärbte automobile Generation wie keine vor ihnen und keine nach ihnen.

Ist diese Babyboomer-Generation nicht gleichzeitig auch offen für klimaneutrale Mobilitätsformen wie E-Bikes?
Die Babyboomer können in meinen Augen eine der Pioniergruppen in der weiteren Verbreitung der Pedelec-Kultur sein. Das Pedelec hält die Leute länger auf dem Fahrrad, die es sonst aus Altersgründen nicht mehr tun würden, und es ist sehr wirksam in den Regionen, in denen man aufgrund von Gegenwind oder topografischen Gegebenheiten sonst nicht gerne Fahrrad fährt. Das Pedelec ist in ländlichen Regionen durchaus eine verlässliche und hoffnungsvoll stimmende Verhaltensalternative. Wir gehen ja auch aufgrund des Klimawandels in Zeiten hinein, wo wir fahrradfreundliches warmes und trockenes Wetter haben. Sieben bis acht Monate ist es überwiegend regenfrei. Ich glaube, dass man mit dem Ausbau von Schnellradwegen im ländlichen Raum durchaus attraktive Verhaltensalternativen anbieten kann.

Könnten E-Bikes das Auto ersetzen?
Ich denke die Babyboomer werden sich ein Pedelec eher zusätzlich zum Auto und ein Elektroauto als Zweitwagen anschaffen und für Langdistanzfahrten den fossilen Verbrenner behalten. Wir müssen uns auch klarmachen, dass das ganze Transformieren im Mobilitätsbereich nicht funktioniert, wenn wir nur auf die Freiwilligkeit moralisch hinterlegter Konsumentscheidungen setzen. Es braucht Regulierung und politische Entscheidung, die dazu führen, dass das fossile Auto unattraktiver und teurer wird. Nur so kommen wir aus den Pfadabhängigkeiten raus.

Was müssten Politik und Verkehrsplaner aus Ihrer Sicht ändern, um die alten Pfade zu verlassen und zu einer klimaneutralen Mobilität zu kommen?
Was die Citylagen angeht, würde ich auf das Thema erste und letzte Meile setzen. Das hat im Bereich Ride Hailing beispielsweise mit Moia oder Berlkönig sehr gut funktioniert. Allerdings haben die Systeme ihre Leistungsfähigkeit im Zuge der Pandemie noch gar nicht wirklich zeigen können. Verkehrsplanerisch geht es weiterhin um die Elektrifizierung, unter anderem mit Brennstoffzellen, und wir müssen auch die regulative Praxis mit Blick auf die planerischen Ansätze neu denken. Citymaut-Konzepte sind aus meiner Sicht zum Beispiel der beste Weg, externe Kosten in Sachen Umweltgerechtigkeit, Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit moderner Mobilitätssysteme zu minimieren und gleichzeitig finanzielle Spielräume zur Ertüchtigung von Alternativen zum eigenen Automobil zu erzeugen. Seit diesem Jahr steht auch die Forderung nach einer resilienten Mobilitätspolitik der Zukunft mit auf der Agenda.

Was sind Ihre konkreten Empfehlungen für ländliche Regionen?
Alle Konzepte, die wir für die Städte entwickeln, sollten und werden eigentlich auch auf dem Land funktionieren, mit dem Unterschied, dass wir hier eine starke Dominanz des Automobils haben. Ich würde dort empfehlen, den öffentlichen Verkehr nicht als echte Alternative zum Auto als Strategie zu verfolgen, sondern sagen, wir akzeptieren hier den Bedarf des Autos und setzen auf Elektroautos mit Range Extender, also einem kleinen fossil betriebenen Motor, der unterwegs bei Bedarf Strom produziert und die Reichweite verlängert. Das ist in meinen Augen die beste Technologie, die wir im Moment hätten in ländlichen Regionen.

Wenn Sie von Pfadabhängigkeit sprechen: Kommen wir mit Überlegungen zu einer wieder menschengerechten Stadt nicht auch wieder zurück auf einen bestehenden Pfad?
Dieser Pfad ist verschüttet. Wir haben die Städte ja nach dem Zweiten Weltkrieg autogerecht umgebaut und dort, wo keine Bombenschäden waren, hat die Umorientierung den Städten zum Teil den Rest gegeben, indem Schneisen für Autostraßen geschaffen wurden. Aktuell haben wir durch den Trend der Urbanisierung ein Raumproblem in den Städten und führen damit eine Debatte, die wir früher nicht führen mussten. Die verschiedensten Branchen greifen ja auf die immer knapper werdende Ressource urbaner Raum zu. Das ist auch ein wichtiger Treiber, warum sich die Debatte um automobile Mobilität ein Stück weit geöffnet hat vor Corona. Insofern ja, vielleicht kann man wieder an die alte europäische Funktion der Stadt anschließen.

„Seit diesem Jahr steht auch die Forderung nach einer resilienten Mobilitätspolitik der Zukunft mit auf der Agenda.“

Prof. Dr. Stephan Rammler

Wie sicher sehen Sie Ihre Annahmen in Bezug auf die Zukunft?
Ich denke mit dem skizzierten Setting hätten wir für die Zukunft alle Bestandteile einer zeitgemäßen, ökonomisch durchaus verlässlichen und dennoch nachhaltigen Verkehrspolitik. Wir „sogenannten“ Zukunftsforscher müssen ja immer Aussagen über die Validität unserer Annahmen treffen können. Wir können nur spekulieren auf der bestmöglichen Güte der Daten, aber wir können natürlich keine sicheren Aussagen treffen. Wir dürfen als Zukunftsforscher auch nicht mit sogenannten Wildcards rechnen. Wenn wir Szenarien bauen und Antworten auf die Frage geben wollen, wie wir von A nach B kommen, also welche Transformationspfade es gibt, dann ist es nicht zulässig, mit sogenannten Wildcards zu operieren. Trotzdem müssen wir sie als mögliche Option mitdenken. Die Pandemie hat als Wildcard gewirkt. Sie hat in der Fachwelt einiges an intellektuellen Diskursen fokussiert, dynamisiert und einiges an Einsichten mit sich gebracht.

Trotz aller angesprochener Probleme blicken Sie optimistisch in die Zukunft.
Resilienz bedeutet nicht zurückfedern in einen alten funktional stabilen Zustand, sondern auf sich permanent verändernde Rahmenbedingungen ausgerichtet und eingerichtet zu sein und die krisenhafte Veränderung als normal zu leben. Dazu müssen wir uns klarmachen, dass die Widerstandsfähigkeit der Menschen, mit Krisen umzugehen, Menschen zu dem gemacht hat, was Menschen sind. Die permanente Fähigkeit, auf Krisen zu reagieren und zu innovieren, ist ja in der Geschichte oft genug durch Krisen angetrieben worden. Deshalb bin ich für die Zukunft optimistisch. Wir müssen es nur auch so klar formulieren. Veränderung, Dynamik und Veränderungsbereitschaft sind, so glaube ich, die Mindsets der kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte.

Prof. Dr. Stephan Rammler

ist einer der renommiertesten Vordenker, wenn es um die Mobilität der Zukunft und große Zusammenhänge geht. Der Politikwissenschaftler, Soziologe und Ökonom ist seit 2018 wissenschaftlicher Direktor des IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, einer außeruniversitären Forschungseinrichtung für Zukunftsforschung und Technologiebewertung in Berlin. Er arbeitet in der Mobilitäts- und Zukunftsforschung und forscht insbesondere zu Verkehrs-, Energie- und Innovationspolitik sowie Fragen kultureller Transformation und zukunftsfähiger Umwelt- und Gesellschaftspolitik. Zuvor war er Gründungsdirektor des Instituts für Transportation Design und Professor für Transportation Design & Social Sciences an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Zu aktuellen Fragen bezieht er regelmäßig sehr dezidiert in Interviews und Podcasts Stellung. Viele seiner Grundgedanken findet man auch in seinen Büchern „Schubumkehr – die Zukunft der Mobilität“ (2014) und „Volk ohne Wagen: Streitschrift für eine neue Mobilität“ (2017). Darin entwickelt er Bilder einer Zukunft mit innovativen Technologien, klugen ökonomischen Strategien und einer veränderten politischen Kultur.


Bilder: Armin Akhtar, Adobe Stock, Rolf Schulten, S. Fischer Verlage

Mit den aktuellen und kommenden bevorstehenden Lockerungen haben wir Professor Stefan Gössling als Experten um einen kurzen Ausblick gebeten. Mehr gibt es dann als Schwerpunktthema in der kommende VELOPLAN-Ausgabe. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Herr Professor Gössling, in der Vergangenheit haben Sie sich im Tourismus mit wünschenswerten Veränderungen beschäftigt. Können Sie versuchen, uns einen Ausblick zu geben auf die Änderungen in der nächsten Zeit?
Die Pandemie ist eine große Chance für eine Neuorientierung. Aus Klimaschutzgründen wünsche ich mir, dass Billigfluglinien nicht unterstützt werden, Destinationen ihre Volumenwachstumsmodelle und Reisende insbesondere Fernreisen infrage stellen. Reisen ist lange Zeit immer billiger geworden, auch durch direkte und indirekte Subventionen. Es ist jetzt Zeit, diese Modelle zu hinterfragen.

Was könnte das für den Tourismus bedeuten?
Kurzfristig werden mehr Menschen in Deutschland oder im nahen Ausland Urlaub machen, weil Entfernung mit Unsicherheit und Risiken assoziiert wird. Viele Tourismusbetriebe werden hart kämpfen müssen, um nicht insolvent zu werden, da die kurzfristigen Umbrüche zu enormen Umsatzausfällen geführt haben. Eine neue Normalität wird sich also hoffentlich bald einstellen.

Was ist aus Ihrer Sicht aktuell wichtig für den Tourismus?
Das wichtigste ist jetzt, dass Planungssicherheit geschaffen wird, sowohl für die Tourismusbetriebe als auch für die Reisenden. Die Frage, unter welchen Sicherheitsvorkehrungen man Gäste entgegennimmt, ist dann fast zweitranging. Denn das lässt sich regeln, zumindest überall da, wo die Besucherdichte nicht sehr hoch ist.

Was sind Ihre ganz persönlichen Tipps für diesen Sommer?
Schön ist, dass wir die kleinen Dinge wieder schätzen können. Dass man sich wieder ein Eis kaufen kann oder im Café sitzen kann. Bei den Urlaubsreisen würde ich Familien ans Herz legen, dass Kinder überall da glücklich sind, wo sie aktiv sein können und es andere Kinder gibt. Ferienhöfe, Camping, kleinere Urlaubsorte, das können gute Alternativen sein. Für Ältere würde ich einen Urlaub auf einer deutschen Insel empfehlen. Auch da gibt es viel Platz. Die Orte sind praktisch von Natur aus auf Abstand eingerichtet und ältere Menschen können natürlich auch gut außerhalb der Hauptsaison verreisen. Für Paare attraktiv sind vielleicht Ferienhäuser in Regionen, wo man zum Beispiel gut Radfahren kann, oder Hotels in naturschönen Landschaften. Es muss nicht unbedingt eine weite Reise sein, die viel Freude macht.


Bild: www.ortlieb.com | pd-f

Nach der Einschätzung vieler Experten macht die Corona-Krise Missverhältnisse und Brüche sichtbar und beschleunigt bereits bestehende Prozesse. Auch im Bereich Verkehr? Wir haben dazu mit Professor Stefan Gössling gesprochen, der sich hier als Experte einen Namen gemacht hat. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Herr Professor Gössling, Sie beschäftigen sich seit Langem intensiv mit den Zusammenhängen von Tourismus, Verkehr und Nachhaltigkeit. Gibt es im Bereich Verkehr Tendenzen, dass sich die Dinge gerade ändern?
Aktuell gibt es viele Debatten insbesondere zum Fahrradverkehr. Es ist aus meiner Sicht sehr positiv, dass jetzt nach vorne gedacht wird. Es scheint ein Konsens zu sein, dass man diese Krise nicht vorbeiziehen lassen darf, sondern sie nutzen sollte, um Änderungen im Verkehrssystem durchzusetzen.

Viele wollen ja möglichst schnell zum alten Zustand zurück. Macht das Sinn?
In Bezug auf den Verkehr war die Situation ja schon vor Corona so, dass die Entwicklungen, die wir hatten, nicht so weiterlaufen konnten. Eine problematische Entwicklung ist der kontinuierliche Zuwachs von Fahrzeugen auf den Straßen. In Deutschland haben wir ein Plus von rund einer Million Fahrzeugen netto pro Jahr. Dazu kommt der Trend hin zu immer mehr SUV und damit zu mehr Platzverbrauch und zu mehr Luftverschmutzung. Auch zu höheren Unfallrisiken.

„In Deutschland gibt es keine Verkehrspolitik, sondern nur eine Industriepolitik, und die ist leider sehr einseitig auf das Auto ausgerichtet.“

Professor Stefan Gössling

Aber das Auto ist ja auch gleichzeitig Deutschland liebstes Kind.
Fast alle Verkehrskonflikte, die wir in Deutschland und weltweit haben, beziehen sich auf das Auto. Unter den Verkehrsforschern ist es ein grundsätzlicher Konsens, dass wir etwas tun müssen, um Abhängigkeiten vom Auto zu reduzieren. Das Auto verbraucht zu viel Platz und hat zu viele negative Externalitäten, von der Luftverschmutzung bis hin zu Unfällen. Das alles wurde in der Verkehrspolitik bislang nicht thematisiert.

Kritiker weisen immer wieder auf die Autozentriertheit von Bundesregierung und Verkehrsministerium hin. Sehen Sie hier ein Problem?
In Deutschland gibt es keine Verkehrspolitik, sondern nur eine Industriepolitik, und die ist leider sehr einseitig auf das Auto ausgerichtet. Man hat nicht systematisch Mobilität als Dienstleistung gefordert und gefördert. Das gilt selbst für grün regierte Städte, die nicht einmal die gerichtlichen Vorgaben durch die von der Deutschen Umwelthilfe geführten Prozesse genutzt haben, um schmutzige Diesel aus den Städten zu verbannen. Maßnahmen, die auch ohne Gerichtsurteile schon längst hätten durchgeführt werden müssen.

Was sind Ihre Vorschläge für Städte und städtische Mobilität?
Ich habe schon früher argumentiert, dass wir Städte als Innovationsorte denken müssen, dass in den Städten der positive Wandel anfangen muss, weil dort die Konflikte, aber auch die Möglichkeiten am größten sind.

Was ist mit einem positiven Wandel gemeint? Autofahrer, Lobbyverbände und Teile der Politik sehen den Radverkehr ja eher als Konkurrenz um Räume.
Mit positivem Wandel meine ich, dass wir Mobilität für alle Menschen gewährleisten müssen und gleichzeitig die Lebensqualität in Städten erhöhen wollen. Das können wir erreichen durch die Förderung von Mikromobilität und insbesondere des Radverkehrs. Wichtig ist es dabei zu bedenken, dass jeder Radfahrer mehr auch einen Platzgewinn für Autofahrer bedeutet, denn nur wenn es uns gelingt mehr Menschen vor allem auf das Fahrrad zu bringen, können wir Räume freimachen. Ein Fußgänger oder Radfahrer braucht nur ein bis zwei Quadratmeter Fläche, ein Autofahrer bei Tempo 50 km/h aber 70 Quadratmeter. Es muss also attraktiver werden, aktiv mobil zu sein, nur dann werden Leute freiwillig auf das Auto verzichten. Darauf baut mein Vorschlag der Mikromobilitätsstraßen: Bei dem Konzept geht es darum, autofreie Nebenstraßen im Netz der gesamten Stadt einzurichten, die es jedem möglich machen, sich zu Fuß, mit dem E-Roller oder dem Fahrrad und ohne Interaktion mit dem Auto, Verkehrsrisiken, Lärm oder Abgasen zu bewegen.

„Jeder Fahrradkilometer bedeutet einen Nutzwert für die Gesellschaft. Autofahrer decken mit ihren Abgaben nur einen Bruchteil der Kosten, die der Gesellschaft entstehen.“

Was ändert sich jetzt gerade durch Corona?
In Städten konnten wir eine dramatische Abnahme des Verkehrsaufkommens sehen, die mit viel besseren Bedingungen für aktive Mobilität einherging. Die Luftverschmutzung nahm ab, ebenso der Lärm und die Enge. Weil ÖPNV und geteilte Formen der Mobilität als unsicher galten, gab es auch eine deutliche Zunahme des Fahrradverkehrs im Modal Split.

Denken Sie, dass es auch mittel- und langfristig zu Veränderungen kommen kann?
Inzwischen gibt es klare Anzeichen dafür, dass sich das Mobilitätsverhalten insgesamt geändert hat. Viele Menschen sind auf aktive Mobilität umgestiegen. Das führt vermutlich dazu, dass auch viele Umsteiger zukünftig beim Rad bleiben: Man fühlt sich mental und physisch besser. Viele Menschen teilen auch die Erfahrung, sich auf dem Fahrrad angstfreier und ohne Luftverschmutzung fortbewegen können. Deshalb haben wir aktuell tatsächlich ein Window of Opportunity, um auch langfristig mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen. Denn natürlich wird das Interesse am Rad mit wieder zunehmendem Autoverkehr in den Städten auch wieder sinken.

Sind die Menschen jetzt eher bereit für einen Umstieg vom Auto aufs Fahrrad?
Die Barriere für einen Umstieg war bislang die große Bindung, die man ans Auto hat, die über funktionale Aspekte weit hinausgeht – das Auto hat viele symbolische und affektive Werte, die durch die Ängste vor Infektionen noch verstärkt worden sind. Damit zu brechen, ist natürlich wahnsinnig schwierig. Aber genau das passiert im Moment in einem Teil der Gesellschaft. Ein anderer Teil, insbesondere auf dem Land, wird vermutlich stärkere Bindungen ans Auto entwickeln.

Der Städtetag sagt, die Kommunen wollen eine Verkehrswende. Ist ein höherer Radverkehrsanteil realistisch?
Wenn man Mikromobilitätsstraßen permanent einführte, dann könnte man in Städten auch einen viel höheren Radfahreranteil erreichen. Die besten deutschen Städte haben einen Anteil von vielleicht 35 bis 40 Prozent Radverkehr an den Fahrten im Stadtgebiet. In den Niederlanden werden deutlich höhere Werte erreicht, das heißt, es ist noch viel Spiel im System.

Mehr lesen. Eine Empfehlung von Prof. Stefan Gössling.

Todd Litman vom kanadischen Victoria Transport Policy Institute, einer unabhängigen Forschungsorganisation, gehört zu den führenden Stadt- und Verkehrsplanern weltweit. Auf der Instituts-Website werden kostenlos Ressourcen zur Verfügung gestellt, um die Verkehrsplanung und die Analyse der Verkehrspolitik zu verbessern. Ein aktueller Beitrag befasst sich mit der resilienten und Pandemieresistenten Planung von Städten und Kommunen. Aufgezeigt werden praktische Möglichkeiten zur Unterstützung bei der Vorbereitung, Reaktion und Erholung von Pandemien und anderen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Schocks. Zudem wird untersucht, wie Gemeinschaften ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Pandemien und anderen plötzlich auftretenden wirtschaftlichen, sozialen oder ökologischen Risiken erhöhen können.

Mehr unter vtpi.org

Was sollten Städte und Kommunen konkret tun?
Ich gehe immer davon aus, dass man die Transportmittelwahl nicht erzwingen kann. Man kann aber bestimmte Verkehrssysteme attraktiv machen. Und dann muss man es den Menschen überlassen, ob sie dieses Angebot annehmen. Ich denke aber, dass alle Studien in dieser Richtung zum gleichen Schluss kommen: Wenn man die Voraussetzungen für Fahrradstädte schafft, dann fahren die Menschen auch Rad. Wir haben beispielsweise in unserer Forschung nachgewiesen, dass Radfahrer erhebliche Umwege fahren, um motorisiertem Verkehr auszuweichen, also Abgasen, Lärm und Verkehrsrisiken. Wenn man gute In­frastruktur für mehr Radverkehr schafft, dann steigen viele Leute freiwillig um, noch mehr, wenn Mikromobilitätsstraßen eingeführt werden. Die Menschen fahren eigentlich sehr gerne Rad – das wird gerade in der Corona-Krise klar.

Viele Verbände fordern jetzt Anreize für umweltfreundliche Mobilität statt Kaufprämien für Autos. Was halten Sie davon?
Der große Erfolg der Fahrradleasing-Anbieter zeigt, dass schon ein kleiner finanzieller Anreiz einen Grund darstellt, um umzusteigen. Ich würde mir wünschen, dass der ökonomische Nutzen, den Radfahrer für die Gesellschaft erbringen, denn sie sind Kostensparer, auch wieder an sie ausgezahlt wird. Für jeden Radfahrer und jeden Kilometer.

Sie haben den ökonomischen Nutzen von Radfahren in der Vergangenheit ja schon konkret berechnet.
Richtig, im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse haben wir einen Vergleich zwischen Auto- und Radfahren gezogen. Bezieht man alle Faktoren ein, dann hat ein Fahrradkilometer einen Nutzen von 30 Cent für die Gesellschaft. Radfahren kann beispielsweise ganz massiv zur Entlastung der Gesundheitssysteme beitragen. Der Betrag wird quasi von Radfahrern erwirtschaftet, allerdings ohne dass bislang ein Ausgleich stattfindet.

Radfahren bringt also einen Nutzen für die Gesellschaft, wie verhält es sich mit Autofahren?
Ein mit dem Auto zurückgelegter Kilometer bedeutet gesellschaftliche Kosten von rund 20 Cent. In dieser Berechnung ist bereits berücksichtigt, dass Autofahrer erhebliche Steuern und Abgaben zahlen, die man mit acht Cent pro Kilometer ansetzen kann. Die größten Autokosten entstehen durch Lärm, den Ausbau von Verkehrsinfrastruktur und deren Erhalt sowie die Verfügbarkeit kostenfreier Parkplätze. Dazu kommen noch viele andere Kosten, wie die des Klimawandels. Negative Auswirkungen auf die Lebensqualität und den Tourismus sind in unserer Berechnung zum Beispiel noch gar nicht berücksichtigt, weil sie sich schlecht quantifizieren lassen.

Bei Verkehrsforschern und auch beim Deutschen Städtetag gibt es einen Konsens zur Reduzierung der Abhängigkeiten vom Auto.

Neben dem Verkehr steht ja vor allem das Autoparken in der Kritik. Haben Sie dazu Lösungsvorschläge?
Das durchschnittlich europäische Auto wird vermutlich 97 Prozent der Zeit nicht genutzt. In manchen Städten wird der eigene Wagen ja schon manchmal nicht mehr genutzt, weil man Angst hat, dass man bei der Rückkehr keinen Parkplatz mehr findet. Wenn solche Situationen entstehen, dann ist man wirklich in einer Sackgasse angekommen. Deswegen können wir auch mit deutlich weniger Autos auskommen. Zu den Kosten: Parkraum ist steuerlich subventioniert. Das fängt beim Anwohnerparkplatz an, der mit 30 Euro pro Jahr abgerechnet wird. Es wird eigentlich in keiner Stadt wirtschaftlich errechnet, was dieser Platz eigentlich wert ist. Der Kollege Donald Shoup in den USA fordert, dass vor allem Parkplätze in der Innenstadt prinzipiell so teuer sein müssten, dass immer eine ausreichende Zahl freier Plätze, ungefähr 15 Prozent, verfügbar ist. Das könnte ein Ausgangspunkt für die Bewirtschaftung sein.

Wie sollte die künftige staatliche Steuerung von Mobilität Ihrer Meinung nach aussehen?
Die Kosten-Nutzen-Analyse zeigt, dass wir eine Schere haben, die stark auseinanderklafft: Das Auto kostet, das Fahrrad nutzt. Volkswirtschaftlich betrachtet sollte diese Schere zunehmend geschlossen werden. Generell ist es sicher wünschenswert, dass der Autofahrer die Kosten trägt, die er verursacht. Das würde aus meiner Sicht bedeuten, dass Autofahren teurer werden muss. Auf der anderen Seite könnte man alternative Verkehrsmittel, wie das Fahrrad, fördern, indem man zum einen ökonomische Anreize schafft und zum anderen auch einen infrastrukturellen Ansatz verfolgt, in dem mehr Geld für das Fahrrad investiert wird. Die aktuell diskutierten Kaufprämien für Autos und der Abbau von Förderungen für Lastenräder führen in die absolut falsche Richtung.

Müsste man mit Blick auf Corona, Investitionsprogramme und den Klimawandel jetzt anders handeln?
Eigentlich sollte man Corona als Chance wahrnehmen – das tun auch viele Städte, nur leider kaum in Deutschland. Für mich ist klar, dass die potenziellen Störungen durch den Klimawandel im Wirtschaftssystem um ein Vielfaches schlimmer ausfallen werden als das, was wir gerade mit Corona erleben. Das wird allein deshalb deutlich, weil Klimawandel nicht kurzfristig, sondern permanent sein wird. Deshalb empfehle ich, aus der aktuellen Krise heraus auch langfristig Schlüsse zu ziehen über die Umgestaltung von Verkehrssystemen. Wir sollten die Systeme in den Städten auf einer viel fundamentaleren Ebene ändern. Immer mehr und größere Autos in Städten – es muss ja jedem klar sein, dass das nicht gehen wird. Wer jetzt handelt, handelt also langfristig und auf der Basis ökonomischer Vernunft.

Über Professor Stefan Gössling

Stefan Gössling hat in Münster und Freiburg studiert und ist heute Professor für nachhaltigen Tourismus und nachhaltige Mobilität an der schwedischen Linnaeus-Universität. Neben seiner Lehrtätigkeit ist er unter anderem als Berater von Regierungen und supranationalen Organisationen tätig und hat zahlreiche Fachbeiträge und Bücher veröffentlicht. Er ist Initiator des Mobilitätsforschungszentrums Transportation Think Tank Freiburg (t3freiburg.de).

Buchtipp: „The Psychology of the Car: Automobile Admiration, Attachment, and Addiction.“ (2017)


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Aktuell werden überall händeringend Verkehrsplaner gesucht. Aber auch insgesamt fehlt in den öffentlichen Verwaltungen Personal. Wie sieht es aktuell aus, wo sind Probleme und was können Kommunen ändern? Dazu haben wir mit Rolf Dindorf gesprochen, der sich auf strategisches Personalmanagement im öffentlichen Sektor spezialisiert hat. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Herr Dindorf, viele beklagen latenten Personalmangel in der öffentlichen Verwaltung. Wie sehen Sie die Situation und welche He­rausforderungen gibt es aktuell?
Vorweg muss man sagen, dass wir es mit einer ganzen Reihe von zunehmend kritischen Entwicklungen zu tun haben. Ein großes Thema ist dabei der demografische Wandel. Schon vor 20 Jahren gab es dazu warnende Artikel in den Medien. Aber nicht nur in der medialen Wahrnehmung ist das Thema in der Folgezeit weitgehend untergegangen, auch bei den Entscheidern. Das fällt uns jetzt vor die Füße und es muss dringend gegengesteuert werden.

Wie sieht der demografische Wandel konkret in der Verwaltung aus?
Laut Schätzungen des Deutschen Beamtenbunds fehlen aktuell 138.000 Beschäftige in den Kommunalverwaltungen. Das zieht sich durch alle Bereiche der Verwaltung. Die eigentlichen Probleme kommen aber erst noch: 1,5 Millionen Menschen arbeiten in den Kommunalverwaltungen. Von denen sind nur 51.000 unter 25 Jahren, 181.000 aber über 60 Jahre alt. Ungefähr 29 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, also fast ein Drittel, scheidet in den nächsten 10 Jahren aus.

„Man muss eine Marke sein und die Menschen müssen auch Lust haben, zu Ihnen zu kommen.“

Rolf Dindorf

Tun die Kommunen zu wenig, um dem Mitarbeiterschwund zu begegnen?
Man muss einfach sagen, dass manche Kommunen ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Sie wissen ja genau, wie dünn die Personaldecke ist, wie alt zum Beispiel ihre Ingenieure und Verkehrsplaner sind und wann diese in Pension gehen.

Vielfach kommt das Argument, dass Kommunen nicht so gut zahlen wie die Privatwirtschaft.
Da muss man sagen, ja, das stimmt. Anderseits würde es unterstellen, dass sich alle nur nach dem Geld orientieren. Und das würde ich zurückweisen. Natürlich ist Geld ein Faktor, aber es gibt noch ganz viele andere Faktoren und da muss man ansetzen.

Was empfehlen Sie Kommunen konkret, um Fachkräfte zu gewinnen?
Man muss sich anschauen, wie sich die Verwaltung einer Stadt darstellt und wie die Personalgewinnung konkret abläuft. Viele Homepages sind in ihrem Auftritt nicht mehr zeitgemäß. Oft müssen Sie den Button Personal oder Karriere erst langwierig suchen. Dann die Art der Stellenausschreibung: Es wird gesagt „Das müssen wir korrekt machen“. Das ist richtig. Trotzdem müssen die Ausschreibungen nicht so altbacken daherkommen.

Wie kann eine gute Mitarbeiterakquise aussehen?
Die Stadt Hamm hatte zum Beispiel erfolglos nach Bewerbern als Straßenbauingenieur gesucht. Überregionale Aufmerksamkeit und den Durchbruch brachte eine Anzeige: „Ihr baut den Highway to Hamm. Wir schicken euch auf die härteste Kreuzfahrt Europas“ (Anm.: Full Metal Cruise). Kann man so etwas machen? Warum nicht? Es muss natürlich zum Selbstverständnis und dem Außenbild passen. Letztlich kommt es darauf an, eine Arbeitgebermarke zu entwickeln.

Stellenausschreibung mal anders: „Ihr baut den Highway to Hamm. Wir schicken euch auf die härteste Kreuzfahrt Europas.“

Das heißt, die kommunale Verwaltung sollte klarmachen, wofür sie steht und was sie bietet?
Ja, eine Arbeitgebermarke zu entwickeln, ist ein ganz wesentlicher Punkt. Damit tun sich viele kommunale Verwaltungen schwer und es gibt es Widerstände, wie „Wir sind nicht Coca-Cola oder ein Start-up. Das wollen wir nicht.“ Was dabei vergessen wird: Jede Kommune ist eine Arbeitgebermarke für sich und faktisch eine Firma. Je nachdem, wo sie sind, gehören die Stadt- und Kreisverwaltungen zu den wichtigsten Arbeitgebern. Sie stellen sich optisch nur oft nicht so dar und kommen als graue Maus daher. Egal, ob die Stadt Ulm heißt oder Bielefeld, es muss klar werden, wofür die Verwaltung steht. Also „Wer sind wir?“ „Was zeichnet uns aus?“ „Was bieten wir?“ Vielleicht sind Sie damit ja auch ein Paradiesvogel, der manche abschreckt aber andere werden auch angezogen. Graue Mäuse ziehen dagegen niemand wirklich an.

Was kann die Verwaltung bei der Rekrutierung sonst noch verbessern?
Entscheidend ist auch, wie die Bewerberkommunikation abläuft. Wenn man sich an jüngere Menschen wendet, muss man immer sehen, wie dort die Bedürfnisse und Erwartungshaltungen sind. Zum Beispiel sollte man überlegen, ob Bewerber ihre Unterlagen noch per Post senden müssen oder das auch per Mail machen können. Auch die Entscheidungsprozesse sollten kürzer werden. Die Berliner Landesverwaltung hat zum Beispiel in einer Pressemitteilung gesagt, dass die durchschnittliche Dauer bis zur Einstellung nicht mehr 5,3 Monate, sondern nur noch 3,8 Monate beträgt. Das entspricht aber nicht der Lebensrealität der Stelleninteressenten. Nach einer Untersuchung des Nachwuchsbarometers öffentlicher Dienst erwarten über 80 Prozent der Interessenten innerhalb von vier Wochen eine Rückmeldung und ggf. Einladung zum Gespräch.

„Der öffentliche Dienst ist nicht nur ein sicherer Hafen, er bietet auch Sinnorientierung.“

In Krisenzeiten gibt es ja einen erhöhten Zulauf im öffentlichen Dienst. Beseitigt er die Pro­bleme?
Manche sagen: Die nächste Krise kommt bestimmt und dann wollen sie alle wieder in den öffentlichen Dienst. Aber die Spekulation auf die Krise löst das Problem nicht. Wenn Sie den demografischen Wandel sehen, dann wird schnell klar, dass das so nicht funktionieren kann. Diese Erkenntnisse gab es natürlich schon vor Corona. Dazu kommt in Bezug auf Fachkräfte, wie Verkehrsplaner, dass man diese nicht vor Ort rekrutieren kann. Man muss eine Marke sein und die Menschen müssen auch Lust haben, zu Ihnen zu kommen.

Was können Verwaltungen tun, um als Arbeitgeber attraktiver zu werden?
Vielfach wird auf notwendige und wohl auch unumgängliche Änderungen negativ reagiert. Die Strukturen sind da und sie sollen so bleiben. Man tut so, als müssten heilige Kühe geschlachtet werden. Das kann aber nicht die Lösung sein. Es kommt darauf an, frischen Wind in die Verwaltung zu bringen, verbunden mit einem Kultur- und Wertewandel. Junge Menschen sind heute viel individueller, das sehen Sie allein an den weiterverbreiteten Tattoos. Sie wollen mehr Freiheiten und Verantwortung. Die Verwaltung kann hier mit Gestaltungsmöglichkeiten punkten. Digitalisierung, Homeoffice, Projektteams über Fachgrenzen hinaus – alles, was man unter agilem Arbeiten summieren kann. Wir brauchen eine innovative gegenwartsadäquate Arbeitsumgebung.

Aber auch viele Amtsräume strahlen ja noch den Charme der 1980er Jahre aus.
Natürlich sind attraktive Neubauten mit moderner Innenraumgestaltung schön. Räume wirken auf Menschen. Da häufig die finanziellen Mittel nicht für umfangreiche bauliche Änderungen reichen, sollte man trotzdem im Kleinen beginnen. Eine wesentliche Verbesserung ist es zum Beispiel, Kreativräume zu öffnen. Köln hat hier mit dem „Zukunftslabor“ ein Zeichen gesetzt. Salopp gesagt: Eine geeignete Fläche für vernetztes Arbeiten und persönlichen Austausch ist schnell mit einer elektronischen Tafel, einem Beamer und ein paar kreativen Methodentools eingerichtet. Dabei geht es vor allem auch darum, Signale zu setzen. Zum Beispiel im Hinblick auf die Zusammenarbeit – auch zwischen Jung und Alt. Es ist auch eine Haltungsfrage, wie man mit älteren Mitarbeitern umgeht, ob man noch von ihrer breiten Erfahrung profitieren möchte, indem man sie zum Beispiel weiterbildet und aktiv mit Jüngeren zusammenbringt.

Was würden Sie als Fachmann den Verwaltungen gerne mitgeben?
Wichtig ist für die Kommunalverwaltungen, dass sie personell wieder Wasser unter den Kiel bekommen. Sie müssen mit einem strategischen Personalmanagement langfristig gezielt planen. Im Hinblick auf die Personalgewinnung genauso wie die Personalentwicklung und den Ausbau digitaler Kompetenzen. Ein wichtiges Argument kann die Verwaltung dabei immer für sich in Anspruch nehmen: Der öffentliche Dienst ist nicht nur ein sicherer Hafen, er bietet auch Sinnorientierung im Hinblick auf die Arbeit an der Gemeinschaft und den Zusammenhalt der Gesellschaft. Das kann und sollte in der Kommunikation viel stärker herausgestrichen werden. Gerade in Krisenzeiten.

Rolf Dindorf

ist seit 2005 als Führungskräfteberater und Seminarleiter auf das Themenfeld strategische Personalarbeit im öffentlichen Dienst und angelehnten Wirtschaftsbranchen spezialisiert. Seine Themenschwerpunkte sind unter anderem agile Verwaltung, demografischer Wandel sowie sinnstiftende Unternehmenskultur.

Mehr Informationen unter rolf-dindorf.de


Bilder: SimpLine – stock.adobe.com, Reiner Voß

Das S-Pedelec (E-Bike 45) fristet ein Schattendasein in der deutschen Verkehrslandschaft. Schade. Denn das schnelle E-Bike könnte mithelfen, unsere Verkehrsprobleme zu lösen. Hier die Hintergründe, Praxiserfahrungen und Optionen für die Zukunft. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Das S-Pedelec ist ein Fahrzeug, das wir in unserer Verkehrswelt bis heute fast nicht vorfinden. Selten, dass man im Alltag ein solches „Fahrrad mit Mofa-Kennzeichen“ sieht. Dabei könnte man diese schnelle Variante des beliebten Pedelecs gezielt dafür einsetzen, den Individualverkehr autoärmer, geschmeidiger und natürlich umweltfreundlicher zu machen. Denn deutlich besser noch als mit dem mit 25 Stundenkilometern langsameren Bruder lassen sich damit auch Strecken von 5 bis 15 Kilometer ähnlich schnell wie per PKW zurücklegen. Mit leichtem Tritt erreicht man je nach Variante 30 bis 35 Stundenkilometer. 45 km/h sind nur bei einigen Modellen relativ lang zu halten und bei den meisten Rädern nur schwer zu erreichen.
Nebeneffekte: Man bewegt sich, ist draußen und tut etwas für seine Gesundheit. Das S-Pedelec als Autoersatz, dieses Konzept liegt nahe – zumindest für den kurzen bis mittleren Arbeitsweg vieler Menschen. Das Gefährt ist wendig wie ein Fahrrad, mit 25 bis 30 Kilogramm meist nur wenig schwerer als ein E-Bike 25 und macht auch noch richtig Spaß. Was also hält die E-Bike-verrückten Deutschen also davon ab, damit zur Arbeit zu fahren?

Radverkehrsförderung, die ausgrenzt: Die Weiterfahrt ist hier leider auch für S-Pedelecs verboten – für 20 Meter.

Erfahrungsbericht:

Durch die City ist es stressig

Sebastian Graf pendelt seit einem guten Jahr fast täglich mit seinem S-Pedelec von Gau-Algesheim nach Rüsselsheim – gute 38 Kilometer. Etwa 1¼ Stunden braucht er dafür. Der Opelianer fährt dabei etwa sechs Kilometer durch Mainz. Für ihn der anstrengendste Teil. „Auf der mehrspurigen Straße schneiden dich Autofahrer oft, versuchen dich wegzuhupen“, sagt er. Aber es wird allmählich besser: „Dadurch, dass ich jeden Tag fast zur selben Zeit an derselben Stelle bin, tritt bei den Autofahrern ein Gewöhnungseffekt ein.“ Die Pendler „kennen“ das Rad mit Nummernschild allmählich. Ein weiteres Problem: Seine Geschwindigkeit werde oft unterschätzt. Von Autos überholt zu werden, die direkt danach abbiegen und ihn zum harten Bremsen zwingen, sei Alltag. Außerhalb der Stadt dagegen kann Graf die Fahrt genießen. Allerdings nutzt er immer dieselbe, ausgetüftelte Route, und die führt ihn über viele kleine Seitenstraßen und am Rhein entlang. „Anders ginge es gar nicht“, so der 44-jährige. Heißt verallgemeinert: Wo kleine Straßen vorhanden sind, die man auch mit dem S-Pedelec benutzen darf, läuft es flott und angenehm.

„Mitschwimmen“ nicht auf gängigen Stadtstraßen

Wir haben S-Pedelec-Fahrer und -Fahrerinnen nach ihren Erfahrungen gefragt. Zunächst scheint ganz wichtig: Man unterschätzt den Unterschied zwischen der Geschwindigkeit des Rads und den innerstädtischen 50 km/h. Denn die mit Tretunterstützung bis 45 km/h zugelassenen Räder werden nur selten wirklich so schnell bewegt. Der Pkw-Verkehr in 50er-Zonen bewegt sich aber meist um 55 Stundenkilometer oder mehr. Von einem „Mitschwimmen“ der schnellen Pedelecs kann man also nur in Tempo-30-Zonen sprechen. In der Innenstadt sind die Erfahrungen der von uns Befragten ähnlich. Nach dem Motto Probieren geht über Studieren hat auch der Chefredakteur dieses Magazins Reiner Kolberg in seiner Wahlheimat Köln einige gesammelt und stellt generell fest: „Schnelle E-Bikes sind eigentlich eine tolle Sache. Man kommt flott voran, passt die Geschwindigkeit aber auch entspannt an die Verkehrssituation an – ganz anders als beim Radfahren, denn zum Beschleunigen nach dem Abbremsen braucht man nur wenig Kraft. Wenn man sicher und gleichzeitig gesetzeskonform unterwegs sein will, steht man in der Praxis allerdings schnell vor unerwarteten und legal unlösbaren Problemen.“

Gefährlich und nicht zu Ende gedacht: Der Gesetzgeber zwingt S-Pedelecs in Deutschland auf ungeeignete Straßen, zu langen Umwegen oder illegalem Handeln.

Vom Gesetzgeber ausgebremst

Liegen auf der Fahrradroute etwa gegen die Fahrtrichtung freigegebene Einbahnstraßen, muss der S-Pedelec-Fahrer umdenken und neu planen. Denn gegen die Richtung fahren, selbst wenn es wie im Bildbeispiel nur 20 Meter sind, geht nur mit dem Fahrrad oder Pedelec. Mehrspurige Straßen in der City können zumindest gefühlt sehr gefährlich sein, wenn Autofahrer dort mit höherem Tempo unterwegs sind. Bei Stau steht auch das S-Pedelec – anders als das normale Fahrrad oder Pedelec, das gemütlich auf dem Radweg vorbeifahren kann. Der Geschwindigkeitsvorteil relativiert sich so schnell. Ein legal tatsächlich unlösbareres Problem: Viele Brücken sind gesetzeskonform mit dem S-Pedelec gar nicht passierbar. Denn vielfach sind die Fahrbahnen nur für Fahrzeuge ab 60 Stundenkilometer freigegeben oder sie können aufgrund des großen Geschwindigkeitsunterschieds nicht gefahrlos genutzt werden. Das Ausweichen auf den Radweg böte sich an, ist aber laut StVO verboten. Gleiches gilt für „Kompromisslösungen“ neben stark befahrenen, mehrspurigen Straßen, wo der danebenliegende Fußweg mit „Radfahrer frei“ gekennzeichnet ist. Bekanntes Beispiel: das Rheinufer an der Kölner Altstadt. Während Radfahrer und E-Biker hier bei Begegnungen mit Schrittgeschwindigkeit fahren müssen, hat ein S-Pedelec hier nichts zu suchen. Doch der schnellste Umweg über die Stadt dürfte zwei- bis dreimal so viel Zeit in Anspruch nehmen. Hochgefährlich und aus praktischer Sicht wenig nachvollziehbar ist die aktuelle Gesetzeslage auch in Bezug auf Bundesstraßen, auf die die „schnellen“, aber im Vergleich zu anderen Verkehrsteilnehmern viel langsameren S-Pedelec-Fahrer gezwungen werden. Selbst wenn gleich nebenher ein Radweg oder sogar ein gut ausgebauter Radschnellweg vorhanden sein sollte. Von Selbstversuchen kann man hier nur abraten.

5000

Verkaufte S-Pedelecs pro Jahr
in Deutschland: 5.000 – Schweiz: 18.000

Von Europas S-Pedelec-Paradiesen lernen

Bei unseren südwestlichen Nachbarn ist das S-Pedelec ein wichtiger Bestandteil des täglichen Verkehrs: „In der Schweiz wurden 18.000 S-Pedelecs im Jahr 2018 verkauft“, so der dort beheimatete Journalist Urs Rosenbaum. Das sind etwa 12 Prozent der gesamten 135.000 E-Bikes 2018. Zum Vergleich: In Deutschland betrug die Zahl der verkauften Pedelecs zuletzt insgesamt knapp eine Million. Davon waren laut Zweirad-Industrie-Verband ZIV gerade einmal 0,5 Prozent S-Pedelecs – also etwa 5.000.
„Die Schweizer S-Pedelec-Zahl ist voraussichtlich noch leicht wachsend, die Kurve hat sich aber, nicht zuletzt aufgrund des enormen Erfolgs der E-Mountainbikes, etwas abgeschwächt“, erklärt der Geschäftsführer des Unternehmens Dynamot, das auch den „Marktreport Velohandel Schweiz“ herausgibt. Nach einer Statistik des alle fünf Jahre erscheinenden Mikrozensus von 2015 werden die schnellen Räder in der Schweiz zu 41 Prozent für den Arbeits- oder Ausbildungsweg genutzt. Mehr noch als normale Pedelecs (25 %) und Fahrräder ohne Motor (27 %). In der Schweiz wird das schnelle Rad also vor allem als Pendlerfahrzeug eingesetzt. Einen der Gründe für die Länderunterschiede sieht Urs Rosenbaum in der Infrastruktur, vor allem im Punkt Radwegbenutzungspflicht: „Bei uns muss auch mit dem S-Pedelec auf dem Radweg gefahren werden. Außerorts ist das auf jeden Fall sinnvoll. Darüber, die Verpflichtung für innerörtliche Radwege aufzuheben, wird derzeit wieder diskutiert.“ Wie in Deutschland sind übrigens auch in der Schweiz die Regelungen zur Benutzung des Radweges Bundessache.
Allerdings könnten diese in Zukunft aufgeweicht werden (siehe Interview mit Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer). Das schnelle Velo hat bei den Eidgenossen aber auch eine ganz andere Historie als in Deutschland: „Die ersten E-Bikes waren bei uns S-Pedelecs“, so Rosenbaum, „und es herrscht seit 20 Jahren volle Rechtssicherheit für Nutzer. Technische Vorgaben, Helmpflicht etc. – alles ist klar geregelt.“

Geschwindigkeitsgrenzen in den Niederlanden

Mopeds/Bromfietsen (45 km/h max.) und S-Pedelecs dürfen (und müssen dann auch) in den Niederlanden auf Fahrradwegen mit dem Zusatzschild „Bromfietspad“ fahren. Hier gilt dann eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h innerorts und 40 km/h außerorts. Nur auf der Straße dürfen 45 km/h gefahren werden. Auf Radschnellverbindungen wird die Nutzung von S-Pedelecs nach Einzelentscheidung und Untersuchungen zur Sicherheit auf der Straße zugelassen.

Wo die Möglichkeiten, da floriert der Markt

Auch als Hersteller kann man den Länderunterschied deutlich spüren. „Der Markt in Deutschland ist für S-Pedelecs praktisch nicht vorhanden“, sagt Ruud Sjamaar, der bei Klever Mobility, einem deutsch-taiwanesischen Hersteller und Tochter des Motorroller-Produzenten Kymco für die Benelux-Länder und die DACH-Region zuständig ist. „In der Schweiz und in Belgien ist die Akzeptanz am größten, die Niederlande holen gerade auf. In Belgien sprechen wir von gut fünf Prozent an S-Pedelecs,“ so der Manager der Marke Klever, die sich auf leistungsstarke Pedelecs und S-Pedelecs mit Heckmotor spezialisiert hat. Der vielleicht entscheidende Unterschied in der Infrastruktur: „In diesen beiden Ländern ist es so, dass der S-Pedelec-Fahrer innerstädtisch die Straße, auf dem Land den Radweg nutzt.“ Und: In Belgien werden Pedelecs und seit 2016 auch S-Pedelecs steuerlich gefördert: Wer mit dem E-Bike zur Arbeit kommt, für den gibt es pro Kilometer 23 Cent. In Deutschland, wo das S-Pedelec steuerrechtlich wie ein Auto behandelt wird, gibt es zwar die Möglichkeit, ein schnelles E-Bike zu leasen, das steuerlich dieselbe Vergünstigung bekommt wie der Dienstwagen. Meist bieten die Unternehmen aber nur Dienstwagen- und/oder E-Bike-25-Leasing an.

Meinungen von Verbänden und Experten

Die meisten deutschen Branchenverbände fordern rechtliche Nachbesserungen für die schnelle E-Bike-Klasse. „Das enorme Potenzial des S-Pedelecs wird sich nur entfalten, wenn sie auch auf Radwegen fahren dürfen – zumindest auf solchen, die dafür geeignet sind“, erklärt Dirk Sexauer, einer der Geschäftsführer des Branchenverbands Service und Fahrrad die Haltung des VSF. Ähnlich sieht man das beim Wirtschaftszusammenschluss Zweirad-Industrie-Verband ZIV: „Das Fahren mit S-Pedelecs muss sicherer werden! Außerörtliche Radwege sowie Radschnellwege und Fahrradstraßen sollten für S-Pedelecs freigegeben werden. Zudem wäre eine Geschwindigkeitsbegrenzung für S-Pedelecs ein denkbarer Ansatz, um das Fahren auch innerorts auf geeigneten Radwegen zu ermöglichen“, heißt es dazu in einem Themenpapier des Verbands.
Der ADFC als Vertreter der Fahrradfahrer sieht die Forderung nach Freigabe von Radwegen für S-Pedelecs im Hinblick auf die Sicherheit der langsameren Radfahrer und E-Bike-25-Fahrer sehr skeptisch. Allerdings betont Roland Huhn, ADFC-Referent Recht, in einem Beitrag in der Zeitschrift Radwelt, dass man die Ergebnisse der Tübinger Regeländerungen mit Spannung erwarte.
Die aktuelle Rechtslage absurd findet Tilman Bracher, Verkehrsforscher am Deutschen Institut für Urbanistik, wie er in einem Artikel in der Zeit betonte. „S-Pedelecs werden benutzt wie andere Pedelecs auch“, sagt er. Ihre Fahrer seien nicht schneller unterwegs, als es die Verkehrslage erlaubt. „Warum auch?“ Schließlich führen Porschefahrer in der Innenstadt auch nicht Tempo 200. S-Pedelecs böten Pendlern eine echte Chance, das Auto zu ersetzen. Das Problem sei die fehlende Lobby.
Für Mut zu neuen Lösungen plädiert auch der Bundesverband eMobilität (BEM): Einerseits würde im Hinblick auf den klassischen Autoverkehr eine Sicherheit postuliert, die es gar nicht gäbe, andererseits würden Gefährdungsszenarien in neuen Bereichen ausgemalt, die kaum eine Grundlage hätten. „Was wir brauchen, sind Testfelder für neue Mobilität, damit überhaupt erst einmal Erfahrungswerte gesammelt werden können“, so ein Sprecher des Verbands.

S-Pedelecs – rechtliche Bestimmungen in Deutschland

Anders als das Pedelec mit Unterstützung bis 25 km/h braucht das S-Pedelec, amtliche Typenbezeichnung L1-eB, zweirädriges Kleinkraftrad, eine Betriebserlaubnis und ein Versicherungskennzeichen. Der Motor darf bis zu 4000 Watt Leistung haben, aber nur bis zum Vierfachen der Pedalkraft unterstützen. Benötigt wird mindestens ein Führerschein der Klasse AM („Rollerführerschein“), der beispielsweise im Führerschein Klasse B, PKW, enthalten ist. Inner- wie außerorts ist die Nutzung des Radwegs verboten (auch bei Kennzeichnung „Mofa frei“ oder „E-Bike frei“). Ein Fahrradhelm ist Pflicht. Wie beim Auto gilt eine Mindestprofiltiefe der Reifen von einem Millimeter und entsprechende Promille-Grenzen. Nicht erlaubt ist u. a. das Befahren von in Gegenrichtung freigegebene Einbahnstraßen sowie das Ziehen von Kinderanhängern.

Quelle: FIS/Forschungs-Informationssystem, Herausgeber: BMVI, Stand: 19.10.2019.


„Wenn der Bund nicht will, dann müssen es die Städte eben selbst machen“

Interview mit dem Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, der einen Teil des örtlichen Radnetzes für S-Pedelecs freigegeben hat.

Herr Palmer, Sie konnten im November 2019 einen Teil des Radnetzes von Tübingen für die S-Pedelec-Nutzung freigeben. Wie groß ist der Bereich?
Das sind insgesamt 80 Einzelstrecken. Sie werden jetzt nach und nach für den S-Pedelec-Verkehr geöffnet und zu einem Netz zusammengeschlossen.

Was war das Ziel dabei?
Ich habe vor zehn Jahren selbst festgestellt, dass es bis 15 Kilometer Strecke kein schnelleres und dabei umweltfreundlicheres Fahrzeug gibt. Das sollte doch besser genutzt werden können. Die Ausnutzung der Vorteile wird durch die Infrastruktur unmöglich gemacht. Das fängt schon damit an, dass vom S-Pedelec-Fahrer auf Bundesstraßen geradezu Selbstmördertum erwartet wird. Dann habe ich gesehen, dass die Schweiz einen zehnmal höheren Anteil an S-Pedelecs hat. Das ist ein regulatorisches Problem.

Haben Sie sich an den Bundesverkehrsminister gewandt?
Ich habe mich nacheinander an drei Bundesverkehrsminister gewandt. Aber man wollte keine Veränderung. Dann habe ich schließlich mit dem Landesverkehrsministerium eine „Duldungslösung“ erreicht und konnte die Freigabe umsetzen.

Was waren die Hindernisse auf dem Weg dorthin?
Wie bei jeder Veränderung gibt es Streit – es soll ja am besten immer alles so bleiben wie bisher. Das Hauptargument war die vermeintlich fehlende Sicherheit durch die höhere Geschwindigkeit, die S-Pedelecs fahren können.

Wie kann man dem Argument einer unterstellten hohen Geschwindigkeit begegnen?
Die bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit wird beim Porsche-Fahrer nicht als Argument dafür gesehen, dass man ihn nicht in 30er-Zonen ließe. Und wenn man Autofahrern zutraut, die Geschwindigkeit anzupassen, dann sollte man das auch S-Pedelec-Fahrern zutrauen.

Wie war das Feedback auf die Änderungen?
Fast nur positive Reaktionen. An einen einzigen negativen Kommentar in der Zeitung kann ich mich erinnern.

Was kann man anderen Gemeindeverantwortlichen etc. empfehlen – wie packt man das an?
Ganz einfach: Sich das regionale Radroutennetz ansehen, feststellen, wo weist es Lücken auf und wie kann ich sie schließen – und dann Radstrecken freigeben.

Wie erreicht man die Akzeptanz in der Bevölkerung?
Großer Widerstand ist nirgends zu erwarten in Zeiten von Fridays for Future. Der Anzahl der Anfragen nach bei mir ist dagegen durchaus zu erwarten, dass bald einige Städte folgen. Wenn der Bund nicht will, dann müssen es die Städte eben selbst machen!


Bilder: Klever, Reiner Kolberg, Pixabay, Georg Bleicher, Manfred Grohe

Verkehrsexperten empfehlen den Blick über die Landesgrenzen hinaus. Über die Situation in Deutschland im internationalen Vergleich hat unsere Autorin Andrea Reidl mit Stefan Wallmann gesprochen. Der Diplomingenieur und Infrastrukturexperte ist Deutschlandchef von Ramboll, eines der größten internationalen Ingenieur-, Planungs- und Beratungsunternehmen mit Hauptsitz in Dänemark. In Deutschland beschäftigt Ramboll 500 Mitarbeiter an zehn Standorten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Herr Wallmann, Deutschland galt im Ausland lange als fortschrittliche Industrienation. Gilt das noch für die Verkehrsinfrastruktur?
Nein, Deutschland hat massiv den Anschluss an andere Länder verloren. Viele Brücken sind marode, der Schienenverkehr ist am Limit und in den Ballungsgebieten droht der Verkehrskollaps. Wenn man die vergangenen 30 Jahre betrachtet, habe ich das Gefühl, uns ist nach dem Aufschwung Ost die Luft ausgegangen.

Welche Länder sind fortschrittlicher, wenn wir nur den Aspekt nachhaltige Mobilität betrachten?
Die skandinavischen Länder sind deutlich weiter als wir. Sie wollen den Menschen den Umstieg leicht machen. Die Regierungen fördern den Umweltverbund, die E-Mobilität mit Fahrrad und Auto, bauen massiv ihr Radwegenetz aus und sind mit der Digitalisierung viel weiter als wir.
In Finnlands Hauptstadt Helsinki wurde mit „Whim“ die zurzeit modernste Mobilitäts-App der Welt entwickelt. Whim heißt so viel wie „nach Lust und Laune“ und vereint das gesamte Mobilitätsangebot der Stadt – Busse und Bahnen, Fähren, Mietwagen alles bis hin zu Taxis und Leihrädern. Über die App lassen sich verschiedene Abos buchen, man kann aber auch einzelne Fahrten darüber abrechnen.
Die Politik unterstützt diese Entwicklung. Mit dem neuen Transportgesetz haben sie dieses umfassende Angebot überhaupt erst möglich gemacht. Seit es 2018 eingeführt wurde, sind alle Verkehrsunternehmen dazu verpflichtet, ihre Daten offenzulegen. Sie stellen ihre Fahrpläne, die Echtzeitdaten und ihre API-Schnittstellen zur Verfügung, damit tatsächlich alle Angebote in einer App gebündelt werden können.

In Städten wie München oder Hamburg geht zur Hauptverkehrszeit oft nichts mehr. Busse und Bahnen sind überfüllt und ebenso die Straßen. Wie konnte es so weit kommen?
Die Politik hat das Zeitfenster verstreichen lassen, um das Angebot dem Bedarf anzupassen. Die Urbanisierung, wie wir sie gerade in den Innenstädten erleben, ist im Wesentlichen so eingetroffen, wie man sie bereits Ende der Neunzigerjahre prognostiziert hat. Der heutige Bedarf war absehbar.

Also hat die Politik ihre Aufgabe der Grundversorgung nicht erfüllt?
Richtig, und sie hat zu sehr auf den Privatwagen gesetzt. Die Menschen organisieren ihre Mobilität fast nur noch mit dem eigenen Wagen, weil der öffentliche Verkehr mit Bus, Bahn und S-Bahn zunehmend ausgedünnt oder den Bedürfnissen nicht mehr angepasst wurde.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer will massiv in den Verkehr investieren. Holt Deutschland gerade auf?
Es ist gut, dass Mittel bereitgestellt werden. Aber Geld allein reicht nicht aus. Neben der Infrastruktur fehlt die Kapazität in vielen anderen Bereichen. Wir brauchen mehr Personal in den Verwaltungen, bei den Bauherren und selbst bei den Gerichten. Außerdem müssen die Prozesse stärker vereinheitlicht werden. Das Planungs- und Baurecht ist in Deutschland nicht nur wahnsinnig komplex, es ist auch noch divers. In jedem Bundesland gelten andere Regeln. Wir brauchen einen einheitlichen Standard, der bundesweit gilt. Das hilft uns dabei, schneller zu werden.

Eine schnellere Umsetzung von Bauvorhaben wünschen sich viele Menschen. Gleichzeitig fürchten Verbände und Initiativen, dass eine Zeitersparnis zu Lasten ihrer Mitbestimmung geht.
Das muss nicht sein. In Deutschland wird immer noch viel mit Papier gearbeitet. Eine digitale Prozesskette von der Planung über die Bürgerbeteiligung bis hin zur Freigabe des Bauvorhabens spart Zeit und erleichtert vielen Menschen die Teilhabe.

„Die skandinavischen Länder sind deutlich weiter als wir. Sie wollen den Menschen den Umstieg leicht machen.“

Stefan Wallmann

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Ich habe mir kürzlich den Bebauungsplan für ein neues Vorhaben in meinem Stadtteil in Berlin angesehen. Das ging nur zwischen 10 und 15 Uhr an einem bestimmten Wochentag. Ich musste meinen Ausweis vorlegen und konnte die Unterlagen nur mit dem Smartphone fotografieren. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Die skandinavischen Staaten stellen ihren Bürgern und Bürgerinnen sämtliche Unterlagen online bereit. So kann sich die gesamte Bevölkerung jederzeit barrierefrei informieren. Das ist zeitgemäß.

Sie arbeiten für ein dänisches Unternehmen. Setzt Dänemark Bauvorhaben schneller um?
Auf jeden Fall. Dort sind an den Planungsprozessen vom ersten Tag an alle beteiligt, die in irgendeiner Form an und von dem Vorhaben betroffen sind – auch Vertreter von Verbänden und Initiativen. In diesen Runden wird jeder gehört und ernst genommen. Das gehört zur Kultur. In skandinavischen Unternehmen herrschen flache Hierarchien. Es ist normal, dass Mitarbeiter mit ihren Vorgesetzten auf Augenhöhe kommunizieren, sie hinterfragen und ihnen widersprechen. In den Runden zu den Bauvorhaben wird das Thema so lange diskutiert, bis möglichst alle mit der Lösung zufrieden sind. Das dauert in der ersten Phase länger, zahlt sich aber über den gesamten Prozess aus.

Inwiefern?
Das Ergebnis wird von einer breiten Bevölkerung getragen. In Dänemark herrscht eine große Konsenskultur. Es kommt deutlich seltener zu Klagen als in Deutschland.

Wer müsste so einen Wandel anstoßen?
Die Politik. Zugegeben, das ist kein leichtes Vorhaben, aber es steigert die Effizienz ungemein. Und das sollte unser Ziel sein. Wir müssen schneller werden. Schauen Sie nach China. Dort wurde in der Hafenstadt Xiamen innerhalb von nur sechs Monaten der sieben Kilometer lange Skycycle-Highway geplant und gebaut, der auf Stelzen über der Autostraße und unter der Buslinie verläuft.

Radverkehr 2.0 in China mit Know-how aus Dänemark: Den Bicycle Skyway in Xiamen entwarf das Kopenhagener Architekturbüro Dissing & Weitling, mit dem auch Ramboll zusammenarbeitet.

In China wird über den Bau von Radwegen oder Autobahnen nicht diskutiert, sie werden einfach angeordnet …
Das stimmt. So etwas funktioniert nicht in unseren Demokratien und ist für uns sicherlich nicht erstrebenswert. Trotzdem lohnt sich der Blick nach Xiamen. Denn es weist uns darauf hin, was möglich ist. Dafür haben wir den Blick verloren. Wir sind unglaublich langsam geworden. Um schneller zu werden, müssen wir die Planungs- und Genehmigungsprozesse drastisch verkürzen. Diese Phase bremst uns aus. Das zeigt das Beispiel der Dresdner Bahn in Berlin. Die Planungen wurden nach der Wende begonnen. Aber erst 2015 gab es – nach 20 Jahren Auseinandersetzung – einen Planfeststellungsbeschluss. Gegen den wurde dann von einer Bürgerinitiative geklagt, wie gegen nahezu alle vergleichbaren Beschlüsse zuvor ebenfalls. Seit September wird nun endlich gebaut.

„Es ist gut, dass Mittel bereitgestellt werden. Aber Geld allein reicht nicht aus“

Stefan Wallmann

Von welchem Zeitraum sprechen Sie, wenn Sie fordern, den Planungs- und Genehmigungsprozess drastisch zu verkürzen?
Wir sollten versuchen, von zehn Jahre auf zwei Jahre zurückzukommen. Das Beispiel Dänemark zeigt, dass beides geht: Die Menschen am Prozess beteiligen und schneller werden. Die Politik ist gefordert, einen klar strukturierten Prozess vorzugeben, in dem alle zu Wort kommen, der aber die Dauer des Planungs- und Genehmigungsprozesses reduziert.

In Berlin dauert der Bau eines Radwegs von der Planung bis zur Fertigstellung zurzeit vier Jahre. Wie schnell geht das in Dänemark?
Der Prozess ist dort sehr effizient. Nach Einschätzung unserer dänischen Kollegen braucht man, wenn der Prozess von Anfang an gut läuft, sechs Monate vom Anfang der Planung bis zu dem Moment, wo der tatsächliche Bau anfängt. Da wir selbst nicht bauen, ist es schwierig, eine belastbare Aussage für die Bauphase zu treffen. Hinzu kommen manchmal Zeiten für die Bürgerbeteiligung oder politische Entscheidungsfindungen. Alles in allem dauert die Planungsphase aber selten länger als sechs bis neun Monate. In Deutschland kann das durchaus rund 24 Monate dauern, obwohl wir hier gerade, zum Beispiel konkret in Berlin, durchaus positive Signale der Entscheidungsträger sehen, dies deutlich zu beschleunigen.

Über Ramboll

Mit mehr als 15.000 Mitarbeitern und 300 Offices in 35 Ländern gehört das Ingenieur-, Planungs- und Managementberatungsunternehmen Ramboll (dänisch Rambøll) zu den größten internationalen Beratungs­­gruppen. Geschäftsbereiche sind Hochbau und Architektur, Transport und Infrastruktur, Stadtplanung und -gestaltung, Wasser, Umwelt und Gesundheit, Energie sowie Management Consulting. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Ramboll beraten auch Regierungen und Kommunen, unter anderem auf dem Weg zu fossilienfreien / CO2-neutralen Städten. In den vergangenen vier Jahrzehnten hat Ramboll nach eigenen Angaben jeden zweiten Radweg in Kopenhagen geplant. Aktuell berät die Unternehmensgruppe auch Berlin beim Ausbau der Radinfrastruktur.


Bilder: Stefan Wallmann, Dissing+Weitling Architecture, Ma WeiWei

Mit ungewohnter Klarheit fordert der Deutsche Städtetag (staedtetag.de) seit einiger Zeit nachdrücklich eine Verkehrswende. Im Spitzenverband, der die Interessen der Städte auch gegenüber den politischen Institutionen bündelt, gibt es dazu offenbar große Einigkeit. Gründe, Positionen und Zielrichtungen erläutert Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy.


Herr Dedy, der Deutsche Städtetag setzt sich für eine schnelle Weichenstellung zu einer Verkehrswende ein. Was sind die Beweggründe?
Der Blick in die Städte zeigt: So wie der Verkehr heute organisiert ist, kommt er an seine Grenzen. Staus, Lärm und Abgasbelastungen mindern die Lebensqualität. Und der Verkehr hat in Deutschland noch nicht zu einer wirksamen CO2-Verringerung beigetragen. Deshalb brauchen wir eine Verkehrswende.

Vor welchen Problemen stehen die Städte und Kommunen aktuell konkret?
Es gibt große Herausforderungen, denen sich die Städte stellen: Bezahlbarer Wohnraum, Luftreinhaltung, Investitionsstau, Fachkräftemangel – um einige zu nennen. Uns ist es wichtig, all diese Aufgaben über die einzelnen Fachbereiche hinaus anzugehen. Deswegen ist die Verkehrswende für die Städte nicht bloße Verkehrspolitik. Da geht es zum Beispiel auch um Stadtentwicklung. Unser Ansatz ist, Verkehr stärker als bisher in Regionen zu denken.
Und natürlich müssen die notwendigen Investitionen für die Verkehrswende auch finanziert werden. Bei der kommunalen Verkehrsinfrastruktur haben wir einen Investitionsstau von 38 Milliarden Euro. Deshalb ist es gut, dass die Bundesmittel mit dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz aufgestockt werden. Ab dem Jahr 2025 sollen es zwei Milliarden Euro jährlich sein. Das brauchen wir dauerhaft und dynamisiert. Nur dann haben die Städte Planungssicherheit, um den Umfang der Maßnahmen zu stemmen.

Helmut Dedy, Deutscher Städtetag

Die Städte wollen die Verkehrswende.”

Immer wieder kommen Einwürfe, dass Bemühungen um eine Verkehrswende ideologiegetrieben oder einfach nicht machbar seien. Wie sehen Sie das?
Die Städte wollen die Verkehrswende. Diese Entscheidung haben wir im Städtetag einstimmig und über alle Parteigrenzen hinweg getroffen. Natürlich werden wir in den Städten die Frage beantworten müssen, wie viel Raum will ich dem motorisierten Individualverkehr für andere Verkehrsmittel abnehmen. Wenn zum Beispiel eine Stadt neue Radwege bauen will, kann das nicht auf dem Bürgersteig geschehen. Das zeigt auch, dass Verkehrswende nicht bedeuten kann, einfach jedes Verbrennerauto durch ein E-Fahrzeug zu ersetzen. Diese Gleichung kann nicht aufgehen.

Angesichts langer Planungshorizonte beim Ausbau des ÖPNV sehen viele Experten einen wichtigen Lösungsansatz für die nächsten Jahre in der Stärkung des Fuß- und Radverkehrs.
Die Städte unterstützen es, wenn mehr Menschen im Alltag das Fahrrad nutzen oder zu Fuß gehen. In vielen Innenstädten werden schon jetzt über 30 Prozent der Wege mit dem Rad zurückgelegt, Tendenz steigend. Die Städte wollen das Fahrradfahren weiter stärken, etwa durch gut ausgebaute Radwege, Vorrangschaltungen an Ampeln für Radfahrer oder Fahrradparkhäuser, zum Beispiel an Bahnhöfen. Wo allerdings nicht nur umgeplant, sondern auch aufwendig umgebaut werden muss, da sind auch Bürgerinnen und Bürger und auch der Einzelhandel zu überzeugen.

“Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Der Bund muss den Städten vertrauen.”

Helmut Dedy, Deutscher Städtetag

Man gewinnt den Eindruck, dass immer mehr Städte im europäischen Ausland umdenken und viel stärker auf den Radverkehr setzen als bei uns. Hinken wir in Deutschland hinterher?
Immer mehr Städte in Deutschland erreichen gute Platzierungen beim Fahrradklima-Test des ADFC. Wir müssen daher nicht immer nur in die Niederlande oder nach Kopenhagen schauen. Denn nicht alle Maßnahmen würden in deutschen Städten funktionieren, auch die rechtlichen Rahmenbedingungen sind andere. Die Radverkehrsinfrastruktur wird sich durch die Förderung im Rahmen des Klimaschutzprogramms weiter verbessern – und das ist gut so. Denn der Radverkehr ist ein wichtiger Baustein für klimafreundliche Mobilität. Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Der Bund muss den Städten vertrauen.

Bundesverkehrsminister Scheuer hat mit dem „Bündnis für moderne Mobilität“, Fördermitteln für den Radverkehr und einer Reform der StVO ja einige Veränderungen auf den Weg gebracht. Sind Sie damit zufrieden?
Das Bündnis für moderne Mobilität ist ein sinnvoller Erfahrungs- und Wissensaustausch zwischen Bund, Städtetag und anderen Organisationen. Wir haben dadurch die Möglichkeit, dem Bund klarzumachen: Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Ein Beispiel: Bisher können die Städte nur an Gefahrenstellen Tempo 30 anordnen, etwa vor einer Schule oder einer Kita. Wenn aber der Schulweg auch an einer Hauptverkehrsstraße entlanggeht, ist das im Moment nicht möglich.
Positiv ist, dass Bund und Länder inzwischen einig darüber sind, dass ein neuer Gebührenrahmen für das Bewohnerparken notwendig ist. Die Städte fordern seit Langem, dass der Spielraum größer wird. Wir können uns einen Rahmen zwischen 20 und 200 Euro pro Jahr für das Anwohnerparken vorstellen. Denn bei dem bisherigen Gebührenrahmen bis 30 Euro werden noch nicht einmal die Verwaltungskosten gedeckt. Wenn der neue Rahmen in Kürze steht, können die Städte selbst entscheiden, wie sie ihre Satzungen ändern. Wichtig ist, dass zukünftig auch der wirtschaftliche Wert des Bewohnerparkausweises berücksichtigt werden kann. Öffentlicher Raum ist ein knappes Gut.

Aus den Kommunen ist zu hören, dass beim Radverkehr sowohl die Beantragung von Fördermitteln als auch Planungsprozesse zu aufwendig seien. Wie kann man das verändern?
Klar ist, dass die Städte den Ausbau der Radinfrastruktur nicht allein stemmen können. Durch das Sofortprogramm Saubere Luft haben die Städte eine Vielzahl unterschiedlicher, aber meist kurzfristiger Fördermöglichkeiten erhalten. Wir brauchen aber eine Verlässlichkeit und Verstetigung der Förderung über Jahre, damit es nicht bei einem „Strohfeuer“ bleibt. Das Ziel der Städte ist es, gemeinsam mit Bund und Ländern die Vision Zero zu erreichen (…) dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum.

Der Deutsche Städtetag will mehr Schutz für Radfahrer und Fußgänger. Wo sehen sie Veränderungsbedarf?

Die Zahl der im Verkehr getöteten Radfahrer bleibt seit 2010 besorgniserregend hoch. Dagegen müssen Kommunen, Bund und Länder gemeinsam mehr tun. Dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum, damit sie Mobilität so organisieren können, dass sie den Bedürfnissen der Menschen vor Ort gerecht wird. Deshalb ist die Entschließung zum sicheren Radverkehr, die die Regierungsfraktionen im Bundestag im Januar 2020 getroffen haben, ein guter Schritt. Darin wird z. B. betont, dass die Städte Erprobungsmöglichkeiten brauchen, zum Beispiel um ein generelles Tempolimit von 30 km/h auszuprobieren.

“Das Ziel der Städte ist es, gemeinsam mit Bund und Ländern die Vision Zero zu erreichen (…) dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum.”

Helmut Dedy, Deutscher Städtetag
Verkehrswende als Gesamtaufgabe: Der Deutsche Städtetag fordert mehr Freiheiten für die Kommunen und eine „konsistente Verkehrspolitik auf Bundes- und Länderebene für eine Transformation der Mobilität”.

Beim Thema Lkw-Abbiegeassistent verweist Bundesverkehrsminister Scheuer immer wieder auf die EU. Was können Kommunen in der Zwischenzeit hier tun und warum folgen sie nicht dem Wiener Beispiel, Lkws ohne Assistenten die Durchfahrt zu verbieten?
Die Assistenzsysteme in Lkw für das Rechtsabbiegen helfen, Unfälle mit Fahrradfahrern an Kreuzungen zu verhindern. Das Bundesverkehrsministerium setzt auf eine freiwillige Selbstverpflichtung der Betreiber von Lkw, um den Abbiegeassistent möglichst flächendeckend einzuführen. Dieser Initiative haben sich auch viele städtische Betriebe angeschlossen. Das ist ein guter Weg, weil dadurch bereits vor dem Inkrafttreten der EU-weiten Regelung ab 2023 Maßnahmen angeschoben werden können, auch wenn nicht alle Lkw damit erreicht werden. Ein Vorgehen wie in Wien ist den deutschen Städten nicht möglich. Sie dürfen Lkw ohne Abbiegeassistenzsysteme die Einfahrt nicht einfach verbieten.

Der Verkehrsexperte Prof. Andreas Knie hat im Interview mit VELOPLAN die Auffassung vertreten, dass zwei Drittel der Menschen in den Großstädten bereit wären, dem Auto Raum zu nehmen und dem Fahrrad mehr Raum zu geben. Wie ist das Stimmungsbild in den Kommunen?
Wir werden es nicht schaffen, den Großteil der Autos von heute auf morgen aus den Innenstädten zu verdrängen. Auch wissen wir, dass sich die Stimmungsbilder zwischen Stadt und Land deutlich unterscheiden. Die Verkehrswende braucht die Akzeptanz der Bevölkerung, das ist klar. Wir wissen heute, dass der Verkehr von morgen vielseitiger und flexibler sein wird. Mit den Möglichkeiten der Digitalisierung wollen wir ihn auch umfassend vernetzen. Dann ist die Mobilität von morgen nicht nur umweltfreundlicher und klimaschonender, sondern komfortabler und schneller als heute.

Thema Bikesharing und E-Tretroller: Man hat den Eindruck, dass die Städte den Entwicklungen ziemlich hinterherlaufen. Was muss sich aus Ihrer Sicht verändern?
Die Zulassung von E-Tretrollern hat von der Idee bis zur Verwirklichung auf Bundesebene ein knappes Jahr gedauert. Die Städte hatten wenige Monate, um Anforderungen an Verleihsysteme umzusetzen. Wir haben deshalb eine Handlungsempfehlung zu E-Tretrollern im Stadtverkehr herausgegeben. Und mit den ersten Anbietern haben wir uns auf gemeinsames Vorgehen verständigt. Das zeigt: Wir setzen uns für Nachbesserungen in den gesetzlichen Regelungen ein, damit das Abstellen von Leihfahrzeugen auf Bürgersteigen und Fußgängerzonen ordentlicher erfolgt und Tabuzonen bei Fahrten mit den Scootern beachtet werden. Die aktuelle Initiative im Bundesrat begrüßen wir deshalb.

Lebenswerte Stadt? Wildwuchs nicht nur bei Pkws und Lieferdiensten, sondern auch bei Leihfahrzeugen.

Die KEP-Branche verzeichnet rasante Zuwächse und eine aktuelle Studie des IFH Köln geht davon aus, dass der Online-Anteil am Lebensmittelhandel bis 2030 auf neun Prozent ansteigt. Was sollten Städte hier tun?
Rund vier Milliarden Paketsendungen werden für das Jahr 2020 erwartet. Damit steigt das Verkehrsaufkommen in den Innenstädten durch Lieferverkehre. Es ist wichtig, dass die Städte und ihre Bürgerinnen und Bürger zuverlässig erreichbar sind. Aber wir wollen, dass die Logistiker sich auf der „letzten Meile“ zusammentun. Gemeinsame Mikrodepots für Paketsendungen und die gebündelte Auslieferung mit Elektrofahrzeugen oder Lastenrädern werden bereits in mehreren Städten erprobt. Das ist der richtige Weg, weil dadurch Lärm und Abgase in den Innenstädten verringert werden und der innerstädtische Verkehr entlastet wird.

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Das Interview mit Helmut Dedy hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im Februar 2020 geführt. Erschienen in Ausgabe 1/20.

Über den Deutschen Städtetag
Der Deutsche Städtetag ist ein freiwilliger Zusammenschluss von kreisfreien und kreisangehörigen Städten in Deutschland. Er vertritt aktiv die kommunale Selbstverwaltung und nimmt die Interessen der Städte gegenüber Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat, Europäischer Union und zahlreichen Organisationen wahr. Zudem berät er seine Mitgliedsstädte, informiert über Vorgänge und Entwicklungen und fördert den Erfahrungsaustausch. Der Verwaltungsjurist Helmut Dedy ist seit 2016 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages und Geschäftsführer des Städtetages Nordrhein-Westfalen.


Bilder: Deutscher Städtetag / Laurence Chaperon, ADFC, Pixabay / Thomas Wolter

Wir haben auf der internationalen Fahrradleitmesse Eurobike mit Lastenradexperte Arne Behrensen (cargobike.jetzt) gesprochen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Auf der diesjährigen Fahrradmesse Eurobike hatte man den Eindruck Cargobikes stehen vor einem Durchbruch im Markt.
Das kann man auf jeden Fall so sagen. Es gibt immer mehr Hersteller innovativer Lastenradkonzepte für den privaten und gewerblichen Bereich und die Branche hat sich stark professionalisiert. Gute Voraussetzungen also, um echte Alternativen zu Pkws und Lieferwagen zu bieten.

Im letzten Jahr wurde der Radlogistik Verband Deutschland (RLVD) gegründet, warum?
Auf europäischer Ebene gab es bereits die European Cycle Logistics Federation (ECLF), um den Einsatz von Cargobikes in der urbanen Logistik voranzubringen. Der RLVD ist nun die deutsche Sektion und bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Fahrrad- und Logistikbranche. Die RLVD-Mitglieder sind zum einen Logistik-Unternehmen, die mit großen E-Lastenrädern und Lastenanhängern mit teilweise über 200 kg Zuladung unterwegs sind. Das erfordert ganz neue Konzepte. Bei den Fahrzeugen, den eingesetzten Komponenten, bei der Standardisierung, aber auch bei der Information, der Beratung und im Service. Deswegen sind auch die entsprechenden Hersteller und Experten für Logistikprozesse und -infrastrukturen im RLVD organisiert.

Warum setzen neben Familien immer mehr Paket- und Lieferdienste, Handwerker oder Kommunen auf Cargobikes?
Steigende Emissionen und ständig verstopfte Städte führen auch bei Unternehmen zu einem Umdenken. Im Wirtschaftsverkehr gibt es riesige Verlagerungspotenziale. Dazu braucht es Cargobikes mit hoher Belastbarkeit, verlässlichem Service und einer Vielfalt von professionellen Transportaufbauten. Inzwischen gibt es immer mehr Cargobike- und Anhängerhersteller, die sich auf gewerbliche Anwendungen spezialisieren und auch auf den Messen der Nutzfahrzeugbranche ausstellen. Doch der Schwerpunkt der Cargobike-Nutzung dürfte noch für lange Zeit beim privaten Kindertransport, Einkäufen und Ausflügen liegen.

„Steigende Emissionen und ständig verstopfte Städte führen auch bei Unternehmen zu einem Umdenken.“

Arne Behrensen, cargobike.jetzt

Lastenradförderung: Köln stockt auf

Zu Beginn des Jahres hat die Stadt Köln eine Förderung von Lastenfahrrädern bzw. Gespannen (Lastenrad + Anhänger) aufgelegt. Laut Kölner Verwaltung wurden bis zum Ende des Antragszeitraums innerhalb rund eines halben Jahres 958 Anträge zur Förderung eingereicht. Sie verteilten sich gemäß den Förderrichtlinien zu 47,5 % auf private Gemeinschaften von drei bis fünf Haushalten, zu 47,5 % auf die beruflich-gewerblichen Nutzung und zu 5 % auf Vereine und gemeinnützigen Organisationen. Die Anträge zur beruflich-gewerblichen Nutzung kamen dabei überwiegend aus den Branchen Gesundheit, Medien, Handwerk, Handel, Beratungsdienstleistungen, den Bereichen Lebensmittelhandel und Gastronomie sowie von Kindertageseinrichtungen.

Aufwand für die Stadt:

Ursprünglich standen mit Ratsbeschluss 200.000 Euro zur Förderung zur Verfügung. Da die Anzahl der Anträge das Förderbudget sehr deutlich überstieg, wurde es angepasst und eine abschließende Erhöhung des
Fördervolumens auf 1,9 Millionen Euro beschlossen. Für die Bearbeitung der kompletten 958 Anträge wurde in Summe ein Arbeitsaufwand von zusammen 2.250 Stunden ermittelt.

Wie geht es weiter in Köln?

Die Prüfung und Bewilligung der Anträge wird sukzessive fortgeführt. Die Stadt erhält aber auch aktuell viele weitere Anfragen. Bezüglich der Schaffung von Lastenrad-Stellplätzen im öffentlichen Raum prüft die Kölner Verwaltung derzeit die Anforderungen und die rechtlichen Rahmenbedingungen. Die verkehrlichen Auswirkungen der Lastenfahrradförderung auf den städtischen Wirtschaftsverkehr werden im Rahmen einer studentischen Abschlussarbeit untersucht. Für die Zukunft wird im Kölner Rat über eine weitere Förderung nachgedacht.

Ist ein Massenmarkt für Cargobikes nicht noch Zukunftsmusik?
Laut Marktdaten des Zweirad-Industrie-Verbands ZIV hatten wir 2018 bei E-Cargobikes ein Marktwachstum von 80 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Mit knapp 40.000 Verkäufen lagen die E-Cargobikes dabei vor E-Autos mit rein elektrischem Antrieb. So wird es auch weitergehen. Denn immer mehr Kommunen und Bundesländer starten Kaufprämien-Programme für Cargobikes. In Städten wie Köln, Münster und Hamburg gab es dieses Jahr bereits einen riesigen Ansturm auf die Förderprogramme. In Köln hat die Oberbürgermeisterin das geplante Förderbudget kurzerhand von 200.000 Euro auf 1,9 Million Euro erhöht.

Wen würden Sie gerne für Cargobikes gewinnen?
Pioniere und Botschafter für diese neue Mobilität: privat zum Beispiel beim Kindertransport. Und bei den Profis in der Kurierszene, bei Händler und bei den Kommunen. Wir brauchen aber auch Fürsprecher in der Politik und der Verwaltung, um die nötigen Rahmenbedingungen in Bezug auf die Gesetzgebung und die Infrastruktur zu schaffen.

Was können Kommunen konkret tun?
Wir brauchen eine gezielte Information zu den Möglichkeiten, die es heute gibt und eine Förderung dieser neuen nachhaltigen Mobilität. Beim Elektroauto gibt es ja langfristig angelegte, großzügige Förderprogramme. Das brauchen wir auch für den Bereich der Lastenräder. Und wir brauchen eine gute Infrastruktur mit ausreichend Platz.

Also sollten wir jetzt mit Cargobikes starten?
Auf jeden Fall. Sie bieten Lösungen für Business und Alltag, Fahrspaß und Unabhängigkeit, sind kostengünstig im Unterhalt und emissionsfrei. Man bewegt sich und kommt zudem oft schneller zum Ziel, als mit dem Auto. Ganz ohne Parkplatzprobleme. Mein Tipp: Einfach ausprobieren. Viele Anbieter haben auch Test-Bikes zum Leihen. Und Cargobike-Sharing-Angebote gibt es bereits in über 70 deutschen Städten.

Zum Vertiefen: Informationen und Argumente

Enorme Verlagerungspotenziale durch Cargobikes

Laut einer Studie des Cycle Logistics Projekts (2011 bis 2014) können mit Hilfe von Cargobikes und Lastenanhängern ­51 Prozent aller motorisierten Transporte in europäischen Städten auf Fahrräder verlagert werden. Dabei geht es um Transporte mit einer Wegstrecke bis 5 Kilometern und 200 kg bzw. 1 m³ Zuladung. 69 Prozent davon sind private und 31 Prozent gewerbliche Fahrten. Private Einkaufsfahrten machen allein 40 Prozent aller verlagerbaren Fahrten aus. Die EU-Verkehrsminister haben 2015 in einer gemeinsamen Erklärung bekräftigt: „more than half of all motorized cargo trips in EU cities could be shifted to bicycles”.

Studie „cyclelogistics – moving Europe forward“ (www.cyclelogistics.eu)


Bilder: Reiner Kolberg, graphicsdeluxe stock.adobe.com, Urban Arrow

Keine weiteren Lippenbekenntnisse, sondern mehr Raum fürs Rad und zwar sofort fordert Verkehrsforscher Prof. Dr. Andreas Knie. Der Berliner Politologe und Soziologe sieht gute Chancen für eine Rad-Verkehrswende. Die Bevölkerung in den Großstädten sei hier schon viel weiter als die Politik. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Herr Professor Knie, die Länder wollen mehr Radverkehr, die Kommunen wollen es und selbst der Verkehrsminister hat sich kürzlich zum Fahrradminister erklärt. Man fragt sich also, wo gibt es eigentlich ein Problem?
Das Problem ist, dass das alles Lippenbekenntnisse sind. Wenn man mehr Fahrradverkehr haben will, dann muss man dem Rad mehr Raum einräumen. Das heißt schlicht, wenn man den Raum nicht erweitern kann, dann muss man den bestehenden Verkehrsmitteln Raum wegnehmen. Da geht es um das Automobil. Und da traut sich kein Verkehrsminister und kaum ein Bürgermeister in Deutschland ran.

Bevor man nach einer filigranen Lösung sucht, am besten einfach machen.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach grundlegend ändern?
In den letzten Jahrzehnten ist dem Auto immer mehr Platz eingeräumt worden. Und auch der unter anderem durch die StVO gesetzlich definierte Rahmen gibt dem Auto
quasi unbeschränkte Freiheit. Das muss man neu diskutieren, eine klare Position finden und diese auch in den politischen Alltag überführen. Das Fahrrad ist ein ideales Verkehrsmittel. 15 bis 20 Prozent der Wege könnten mit dem Rad oder dem E-Bike zurückgelegt werden.

Die Forderung nach weniger Raum für das Auto hört sich nicht besonders populär an. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass es hier zu Veränderungen kommt?
Es gibt unseren Erkenntnissen nach die begründete Aussicht, dass der Kampf um mehr Platz fürs Rad aussichtsreich ist und dass er gewonnen werden kann. Wir behaupten, dass zwei Drittel der Menschen in den Großstädten bereit sind, dem Auto Raum zu nehmen und dem Fahrrad mehr Raum zu geben.

Wie kommt es zur wachsenden Bereitschaft für eine Rad-­Verkehrswende?
Es ist eine Entwicklung, die schon sehr lange vor sich hin wuchert. Langsam ist das Bewusstsein immer breiter geworden, dass das Rad gut ist, dass wir mehr Rad brauchen und dass tatsächlich auch immer mehr Menschen Rad fahren. Das Fahrrad ist einfach ein ideales Verkehrsmittel. Seit ein bis zwei Jahren ist den Menschen in der Stadt klar: Die Verkehrswende muss kommen. Das Signal ist so stark, dass das Thema in den letzten Jahren auch politisch diskutiert wird.

Vor welchen Herausforderungen stehen die Verkehrsplaner und die Politik vor Ort konkret?
Zum einen muss man bereit sein, den politischen Kampf zu führen und Menschen zu überzeugen. Denn es müssen Parkplätze weggenommen und Fahrbahnen verengt werden. Im Weiteren geht es darum, Fahrradwege, Fahrradstraßen und Kreuzungen so zu führen und zu gestalten, dass sie sicher sind. Und zum Dritten muss das Problem angegangen werden, dass es auf Planerseite kapazitive Engpässe gibt. Planer und gerade Fahrradplaner sind heute selten.

Man muss bereit sein, den politischen Kampf zu führen und Menschen zu überzeugen.

Prof. Dr. Andreas Knie

Sollten die Verantwortlichen mehr auf Nachbarländer schauen und sich von ausländischen Experten beraten und unterstützen lassen?
Unbedingt! Denn das Gespräch, das wir jetzt führen, haben die Holländer zum Beispiel schon in den 1960er Jahren geführt und seitdem viel Erfahrung darin, wie es geht und was nicht geht. Holland ist das Mutterland des Radverkehrs. Hier kann man sich umschauen und Erfahrung schöpfen.

Wann sind Ihrer Meinung nach Veränderungen nötig?
Sofort! Das Klima duldet keinen Aufschub; die Probleme, die wir in den Städten haben, dulden keinen Aufschub. Es ist dringend nötig, hier sehr schnell zu agieren. Wir müssen jetzt ran an den Speck. Wir haben keine Zeit zu warten, sondern müssen dem Fahrrad jetzt den Raum geben, der diesem Verkehrsmittel auch gebührt.

Das Klima duldet keinen Aufschub; die Probleme, die wir in den Städten haben, dulden keinen Aufschub.

Prof. Dr. Andreas Knie

Verkehrsplanung dauert aber Jahre, oder?
Wir haben keine Zeit zu warten. Wir müssen das Fahrrad deshalb aus dem engen Korsett des Radwegs herausnehmen und auf die Straße stellen. Bevor man nach einer filigranen Lösung sucht, also am besten einfach machen und zum Beispiel eine Fahrspur oder Parkplätze für den Radverkehr umwidmen. Wichtig ist auch Tempo 30 in den Straßen, die keine Ausfallstraßen sind. All das lässt sich sehr schnell umsetzen.

Laut Prof. Knie sollten Kommunen „am besten einfach machen“ und zum Beispiel eine Fahrspur oder Parkplätze für den Radverkehr umwidmen.

Wie sehen Sie das Problem der vielen parkenden Autos in der Stadt?
Es gibt eine klare Flächenkonkurrenz. Dabei muss man sich klarmachen, dass das praktisch kostenlose private Abstellen des Autos im öffentlichen Raum eine politische Entscheidung war, um das Auto zu popularisieren und seine Attraktivität zu fördern. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass man diese Entscheidung jederzeit wieder ändern kann.

Wie sollten Veränderung in den Städten mit Bezug auf das Parken konkret aussehen?
Städte und Kommunen haben die Möglichkeit zu sagen, dass das Abstellen auf öffentlichem Grund nicht mehr erlaubt ist. Parkplätze können so beispielsweise problemlos in Radwege umgewandelt werden. Weitere wichtige Maßnahmen sind auch die flächendeckende Parkraumbewirtschaftung und das deutliche Anheben der Kosten für das Abstellen eines Pkws im öffentlichen Raum.

Im Regelfall ist ein Auto ja nur mit einer Person besetzt, das heißt, es sind noch vier Plätze verfügbar. Jedes private Auto kann so quasi zu einem kollektiven Bus werden.

Prof. Dr. Andreas Knie

Was sagen Sie zu den Menschen, die auf das Auto angewiesen sind? Zum Beispiel auf dem Land?
Viele haben von ihrer Biografie her nur das Auto im Kopf, wenn es um Mobilität geht. Aber auch auf dem Land kann man das Fahrrad oder für längere Strecken das E-Bike als Verkehrsmittel sehr gut nutzen, wenn man die passende Infrastruktur dafür schafft. Auf einer Bundesstraße zu fahren ist natürlich gefährlich, aber ein guter Radweg daneben schafft eine echte Mobilitätsalternative.

Intermodal und in seiner Heimat Berlin viel per „Call a Bike“-Rad unterwegs. Seinen Privat-Pkw hat Prof. Knie längst abgeschafft.

Und wenn man doch ein Auto braucht?
Die digitalen Plattformen bieten heute viele Möglichkeiten, Autos zu kollektivieren. Auch auf dem Land. Im Regelfall ist ein Auto ja nur mit einer Person besetzt, das heißt, es sind noch vier Plätze verfügbar. Jedes private Auto kann so quasi zu einem kollektiven Bus werden. Dazu kommt, dass sich im Zuge von Digitalisierung und Social Media das Verhältnis der Menschen zur Privatsphäre stark verändert hat. Mit Fremden nebeneinander im gleichen Fahrzeug zu sitzen, ist heute kein Problem mehr.

Prof. Dr. phil. Andreas Knie

Der Berliner Politik- und Sozialwissenschaftler zählt hierzulande zu den bekanntesten Verkehrsforschern. Im Jahr 2006 gründete Knie das Innovationszentrums für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) und ist heute unter anderem Leiter der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Professor für Soziologie an der TU Berlin. Bis 2016 verantwortete er als Bereichsleiter Intermodale Angebote und Geschäftsentwicklung der Deutschen Bahn AG zudem die Einführung des DB ­Carsharing und des Radverleihsystems Call a Bike.


Bilder: Reiner Kolberg (Portrait Prof. Andreas Knie) , A. Bueckert/stock.adobe.com