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Der 8. Nationale Radverkehrskongress hat in Frankfurt von der Verzahnung mit der Eurobike profitiert. Rund 700 Radverkehrsakteur*innen kamen ins Kap Europa. Der gastgebende Verkehrsminister Dr. Volker Wissing begrüßte sie allerdings nur digital. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


„Es ist nicht immer einfach, aber es lohnt sich“, fasste Frankfurts Bürgermeister Mike Josef die Arbeit der Radverkehrsplanung beim Eröffnungsplenum des NRVK zusammen. Die gastgebende Stadt sei auf dem Weg zur Fahrradstadt bereits mit großen Schritten vorangekommen, dennoch bleibe besonders im Gebäude- und Verkehrssektor viel zu tun. Das betrifft vor allem die Politik, die den Planer*innen Rückendeckung geben muss. In dieser Hinsicht wurden besonders Aussagen hinsichtlich des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) beziehungsweise der ihr nachge-
lagerten Straßenverkehrsordnung (StVO) vom rund 700-köpfigen Plenum mit Applaus untermalt. MdB Mathias Stein von der SPD betonte in einer Diskussion des Parlamentskreises Fahrrad, dass die kommende StVG-Novelle das Präventionsprinzip beinhalten sollte, nach dem Schutzmaßnahmen auch ohne bereits geschehene Unfälle leichter angebracht werden sollen. Der Parlamentskreis wurde in der letzten Wahlperiode gegründet, um parteiübergreifend Querschnittsthemen wie Industrie oder Tourismus zu besprechen.

Mehr Handlungsspielraum für Kommunen

Der parlamentarische Staatssekretär Oliver Luksic freute sich über die Frankfurter Woche des Radverkehrs und kündigte an, dass es zeitnah einen Gesetzesentwurf geben soll. Zu erwarten ist in diesem, dass gemäß dem Subsidiaritätsprinzip mehr Handlungsspielraum für Kommunen entsteht. „Das Thema des Kongresses ist gut gewählt – schneller mehr, besserer und sichererer Radverkehr. Denn die schnelle Umsetzung von Maßnahmen ist das Gebot der Stunde. Die Fördermittel für den Radverkehr stehen im Haushalt des Bundes bereit. Wir haben in dieser Legislatur Finanzierungs‐ und Planungssicherheit für die Kommunen geschaffen. Wir fördern den Radverkehr mit zahlreichen Programmen und unterstützen die zuständigen Länder und Kommunen unter anderem dabei, ihre Radinfrastruktur sicherer und komfortabler zu machen“, so Luksic. Er plädierte außerdem dafür, die Mittel zu nutzen, die der Bund zur Verfügung stellt. Luksic vertrat den Minister Volker Wissing als Gastgeber. Wissing sei in Berlin im Rahmen der deutsch-chinesischen Konsultationen vom Bundeskanzler einbestellt worden. Neben Luksic und Josef trat der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir als Eröffnungsredner auf: „Besonders freut es mich, dass der Nationale Radverkehrskongress erstmals im Zusammenhang mit der Eurobike durchgeführt wird. Das zeigt die wirtschaftliche Bedeutung des Radverkehrs und verstärkt den Austausch zwischen den unterschiedlichen Akteuren.“ Al-Wazir plädierte dafür, die positive Wirkung des Radverkehrs auf die Lebensqualität zu kommunizieren. „Die Kopie ist die höchste Form der Anerkennung“, zitierte er weiterhin Oscar Wilde. Das Land Hessen fördert aktuell zum Beispiel Nahmobilitätskoordinatoren und -koordinatorinnen, die kleinen Kommunen beratend zur Seite stehen.

Frankfurts Oberbürgermeister Mike Josef war zum NRVK gerade noch frisch im Amt, hier bei der Radtour zur Eurobike mit Hessens Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir und PStS Oliver Luksic.

Branchenverbände zeigen Präsenz

Nachdem die zweijährlich stattfindende Veranstaltung 2021 digital durchgeführt wurde, war sie 2023 zum ersten Mal an die Eurobike angegliedert. Auch die Fahrradbranche war auf dem NRVK durchaus präsent. Der Zweirad-Industrie-Verband, der Verbund Service und Fahrrad sowie Zukunft Fahrrad suchten an ihren Ständen den Austausch und waren inhaltlich in das Vortragsprogramm involviert. Die zwei Kongresstage boten 16 Fachforen, sieben Side-Events und 14 Exkursionen. Im Zentrum steht, den Nationalen Radverkehrsplan 3.0 umzusetzen. Auf der großen Bühne kamen namhafte Experten und Expertinnen zu Wort, darunter Patrick Döring von Wertgarantie, die Paracycling-Weltmeisterin Denise Schindler und Fairnamic-Chef Stefan Reisinger sowie Madeleine Brüse, Geschäftsführerin des Fahrradherstellers Müsing Bikes. Am zweiten Konferenztag fanden elf Exkursionen statt, die interessante Beispiele für Infrastruktur, Kampagnen und Projekte in Frankfurt und anderen Orten in Hessen besuchten. Auch Führungen über das Eurobike-Gelände waren Teil des Programms.
Die Sieger des Deutschen Fahrradpreises wurden in Frankfurt ebenfalls geehrt. In der Kategorie Infrastruktur konnte sich die Stadt Münster mit der Kanalpromenade durchsetzen. Auf einem Betriebsweg entstanden dort 27 Kilometer kreuzungsfreier Radweg. In der Rubrik Service & Kommunikation übergab Christine Fuchs von der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e.V. den 1. Preis an die Kölner Verkehrsbetriebe. Im dortigen Pilotprojekt können ÖPNV-Nutzer*innen kostenlos Lastenräder ausleihen. Zur fahrradfreundlichsten Persönlichkeit wurde in diesem Jahr nicht ein Mensch, sondern mit dem Freiburger SC gleich ein ganzer Verein ernannt.


Bilder: Bernd Roselieb, Dirk Michael Deckbar

Ist die Umsetzung der Verkehrswende nur eine Frage der Zeit oder ist noch gar nicht entschieden, wohin die Reise rund um die Mobilität in Deutschland überhaupt geht? In den letzten Jahren hatten viele den Eindruck, dass mehr über das „Wie“ einer Verkehrswende als über das „Ob“ gestritten wurde. Doch inzwischen scheint es, als habe sich der Wind grundlegend gedreht. Tatsächlich kommt die Verkehrswende zumindest auf Bundesebene kaum voran. Die Gegner jedweder Veränderungen im Verkehrsbereich werden zunehmend selbstbewusster und offensiver. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Dass im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien Ende 2021 das Wort „Verkehrswende“ kein einziges Mal vorkommt, hatte bereits hellhörig gemacht. Es hätte politisch ja gar nichts gekostet, den Begriff aufzunehmen, schließlich wäre er für alle Partner jederzeit interpretationsfähig geblieben. Von einer Antriebswende bis hin zu einer substanziellen Neuausrichtung deutscher Verkehrspolitik über die Elektrifizierung hinaus wäre hier alles drin gewesen. Stattdessen: Nicht mal das.
Mittlerweile ist die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Verkehrswende voll entbrannt. Jetzt rächt sich auch, dass nicht eindeutig diskutiert wurde, warum die Verkehrswende notwendig ist. Viele Menschen verbinden das Thema ausschließlich mit dem Klimaschutz. Andere denken dabei in größeren Kategorien, über das Klima hinaus: Schließlich ist auch der Wandel zu lebenswerten, inklusiven und menschengerechten Aufenthaltsräumen in unseren Städten und Dörfern erstrebenswert. Die Schaffung von Begegnungsräumen für Jung und Alt und auch der Lärmschutz durch weniger Autoverkehr sind ohne eine strukturelle Neugestaltung unseres Verkehrs kaum möglich. Fast überflüssig hier zu sagen, dass hierbei der Radverkehr eine tragende Rolle spielen kann und auch der Fußverkehr gestärkt werden muss.

„Bayern ist Autoland und die CSU bleibt auch Autopartei.“

Markus Söder

Autofahrer als Opfer der aktuellen Verkehrspolitik? Wahlslogan einer rechts-populistischen Partei.

Stumme Wirtschaft

Die Fahrradwirtschaft selbst ist in dieser Debatte wenig sichtbar. Das ist bedauerlich, denn die Rolle des Fahrrads als Wirtschaftsfaktor in Deutschland kann nur sie authentisch darstellen. Der Politikwissenschaftler und Soziologe Prof. Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) mahnt: „Die Branche insgesamt muss sich bewusst werden, dass Erfolge insgesamt nur durch politische Lobbyarbeit funktionieren.“ Das Auto konnte nur deshalb so erfolgreich sein, weil die frühen Automobilisten viel dafür geworben hätten, dass die Regeln geändert werden, dass es mehr Platz und mehr Geld für Autos gibt. „Und die Fahrradindustrie glaubt immer, das fiele vom Himmel.“
Das Thema Verkehrswende sollte auch nicht ausschließlich unter dem Aspekt der Klimakatastrophe diskutiert werden, das würde zu kurz greifen. Bereits der Begriff „Verkehrswende“ ist unglücklich gewählt. „Mobilitätswandel“ wäre treffender, weil der Mobilitätsbegriff umfassender ist. Jede Wende, jede Veränderung macht Menschen Angst, wie der Kommunikationsexperte Michael Adler feststellt, „weil die unter archaischen Gesichtspunkten immer mit Bedrohung verbunden war“. Daher ist es auch besser von „Wandel“ zu sprechen, denn Wandel kommt von innen, er wird von vielen mitgestaltet, ist häufig ein gesellschaftlicher Prozess.
Solche Spitzfindigkeiten sind all denen egal, die heute für die Kontinuität der Dominanz des Automobils kämpfen. Dass die AfD das Auto in Deutschland als „bedrohte Art“ sieht, überrascht nicht, „Rettet den Diesel“ wurde zum Schlachtruf. Als dann die FDP den Verbrenner mit dem Argument klimaneutraler E-Fuels vor der Verbannung durch die EU schützen wollte, wurde deutlich, dass das Thema offensichtlich auch für den Wahlkampf taugt. Aus dieser Überzeugung schöpft auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, der Anfang Mai vor großem Publikum erklärte „Bayern ist Autoland und die CSU bleibt auch Autopartei“. Er fügt noch an, dass der ländliche Raum das Auto eben braucht und deshalb auch die Autobahnen weiter ausgebaut werden müssen. Es scheint, als stünden wir wieder ganz am Anfang der Debatte über den Sinn oder Unsinn einer Verkehrswende in Deutschland. Weit her ist es dabei mit dem Niveau vieler Äußerungen zu dieser Auseinandersetzung nicht, besonders wenn man in die digitalen Medien schaut. Die Verkehrswende wird Teil eines Kulturkampfes.
Dabei ist gar nicht so entscheidend, was da gesagt wird, sondern wie etwas vorgebracht wird. So sagte der im April noch designierte Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, man werde nicht „gegen den Willen vieler Anwohner 2,30 Meter breite Fahrradwege fertigstellen, die am Ende kaum einer nutzt“. Er sagte das in einem Ton, als wären 2,30 Meter breite Radwege eine absurde Idee. Dabei entspricht diese Breite dem seit 2018 geltenden Berliner Mobilitätsgesetz. Dieses soll jetzt auch vom neuen, CDU-geführten Senat „weiterentwickelt“, sprich: autofreundlicher verändert werden. Kai Wegner wollte aber auch auf den „Klassiker“ der politischen Polemik nicht verzichten: Es ginge den Anhängern von mehr Radverkehr wohl mehr um Ideologie als um Lösungen. Die anderen wollten mit dem „Kopf durch die Wand“.
Ja, der gute alte Ideologie-Vorwurf. Merke: Man selbst lässt sich grundsätzlich nur von sachlichen Fakten, von pragmatischer Vernunft und gesundem Menschenverstand leiten. „Alle anderen sind ja immer Ideologen“, sagt Prof. Andreas Knie. Ideologie als abqualifizierendes Schimpfwort. Zwar stammt der Begriff aus dem Griechischen und bedeutet eigentlich etwas Positives, nämlich die „Lehre von den Ideen“. Aber im gängigen politischen Sprachgebrauch steht die Ideologie heute meist für starre und totalitäre Weltanschauungen. Ein Totschlag-Vorwurf also.
Der Riss zum Thema Verkehrswende geht nicht nur durch die Parteilandschaft, sondern auch durch die Wählerschaft innerhalb ein und derselben Stadt. Das zeigt sich vielerorts an den Wahlergebnissen der Stadtteile und Bezirke. Meist sind die Bewohner*innen des Stadtkerns tendenziell eher Befürworter der Verkehrswende, während in den Außenbezirken eher konservativ und autofreundlich gewählt wird.

Widerstände gegen Veränderungen gehören dazu, selbst wenn es um Dinge geht, die wir heute für selbstverständlich halten, wie etwa die Einführung der Gurtpflicht 1975.

Vergiftete Atmosphäre

Die verkehrspolitische Auseinandersetzung ist in Deutschland heutzutage oft schon so vergiftet und emotional aufgeladen, dass ein vernünftiger gesellschaftlicher Diskurs über sinnvolle Ziele für die Verkehrsentwicklung fast unmöglich scheint. Dabei entzündet sich der häufigste Streit am Ausbau von Radverkehrsinfrastruktur. Meist geht es hier um die Konkurrenz beim begrenzten Verkehrsraum, insbesondere dann, wenn dem Automobil Platz weggenommen und die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs (MIV) eingeschränkt werden soll. Dann wird auch nicht mehr von Kritikern gesprochen, sondern von „Autohassern“. Neben der Pathologisierung einer anderen Meinung wird die Gegenseite auch gern bewusst missverstanden. Bei der Forderung nach „weniger Verkehrsbelastung“ wird gleich unterstellt, das Auto solle komplett abgeschafft werden. Gegnerinnen jeglicher Veränderungen entdecken dann auch gern ihr soziales Herz: Wo soll der Pflegedienst denn parken? Wie soll die Oma zum Arzt kommen? Und der kleine Handwerks-Familienbetrieb, wie soll der die Kundschaft erreichen? Und ja, natürlich: Ein Tempolimit bedroht grundsätzlich das hohe Gut der Freiheit. Wir stecken also mitten in einer Auseinandersetzung, in der die wahren Motive der Protagonistinnen meist geschönt sind. Auch handfeste wirtschaftliche Interessen werden verschleiert. Offensichtliche Lobbyisten sind klug genug, nicht offen aufzutreten und lieber Dritte „soziale“ Argumente vorbringen zu lassen. Auch die interessierte Politik sorgt sich um den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ und fordert deshalb, man müsse bei jeder Veränderung „die Menschen mitnehmen“. Das klingt nett und ist im Kern auch richtig, wird aber einseitig interpretiert. Denn die Politik muss sich natürlich fragen lassen, was sie dafür getan hat, „die Menschen“ auf notwendige gesellschaftliche Veränderungen rechtzeitig offen und ehrlich vorzubereiten. Maßnahmen gegen die Klimakrise beispielsweise sind Handlungen zur gesellschaftlichen Gefahrenabwehr, um noch viel größere Schäden für die Spezies Mensch abzuwenden. Das ist nicht ideologisch, sondern schlicht eine Güterabwägung. Über die darf sicher gestritten werden, doch das geschieht bei uns nicht mit „offenem Visier“. Der Debatte fehlt es häufig an der Redlichkeit ihrer Akteur*innen. So kann ein gesellschaftlicher Dialog nicht gelingen.

„Wir müssen viel mehr sagen, wo die Reise hingeht, in fünf oder zehn Jahren, auf welche Vorteile wir zusteuern.“

Michael Adler

Widerstände überwinden

„Die Menschen mitnehmen“ ist eine nette Floskel, besonders wenn der Ausspruch unterstellt, man müsse alle Menschen überzeugen können. Ein Blick zurück zeigt, dass es gegen gesellschaftliche Veränderungen immer lautstarke und emotional gezeigte Widerstände gab, auch gegen solche, die heute gewiss niemand wieder rückgängig machen will. Drei Beispiele genügen, um das zu belegen: Die Einführung von Fußgängerzonen in den 1950ern (Widerstand der ansässigen Kaufleute), die zwangsweise Einführung des Sicherheitsgurts beim Auto in den 1970er- Jahren und das Rauchverbot in Gaststätten 2008. Immer wurden die Debatten erbittert und oft auch mit fadenscheinigen und vorgeschobenen Argumenten geführt. Doch am Ende war die Zustimmung überwältigend.
Redlichkeit in der Debatte ist ein wichtiges Stichwort. Wenn sie fehlt, ist einer fruchtbaren Diskussion die Grundlage entzogen. Beim Klimaschutzgesetz spielt aber auch die Bundesregierung selbst eine zwielichtige Rolle. Der Staat erwartet von seinen Bürgerinnen und Bürgern zu Recht Gesetzestreue, aber das muss auch umgekehrt gelten dürfen. Es war schon grenzwertig genug, dass erst das Bundesverfassungsgericht 2021 die Bundesregierung zwingen musste, ihr Klimaschutzgesetz wirkungsvoll nachzuschärfen. Aber gut. Dann stellt die Bundesregierung fest, dass der Verkehrsbereich die gesetzlichen Klimaziele deutlich verfehlt und bei unveränderter Verkehrspolitik auch weiter verfehlen wird. Doch anstatt nun entsprechende Maßnahmen aufzusetzen, beschließt die Regierung die künftige Aufweichung der Sektorenziele, um nicht weiter gegen das Gesetz zu verstoßen. Eine „Insolvenzanmeldung“ nennt das Prof. Andreas Knie: Die Regierung sage damit, „Wir wollen uns nicht ändern, weil wir glauben, wir können uns nicht ändern“. Dieser Winkelzug der Bundesregierung, das Klimaschutzgesetz jetzt anzupassen, um sich aus der Schusslinie zu nehmen, hat in der Bevölkerung viel Vertrauen gekostet. Das führt zu einer weiteren Verhärtung.
Anders als bei der Corona-Pandemie, als sich die politischen Entscheider*innen intensiv von der Wissenschaft beraten ließen, scheint die Bundesregierung und allen voran Bundesverkehrsminister Volker Wissing völlig taub gegen jede fachliche Kritik. Die kommt ja nicht nur von den „üblichen Verdächtigen“, sondern praktisch von allen Seiten, auch von Sachverständigen aus dem eigenen Haus.

„Viele Chancen (…) wurden nicht genutzt, andere (…) werden nur langsam realisiert.“

OECD-Bericht über Deutschland

Verkehrsblockaden sind kein neues Phänomen, aber selten war die politische Bewertung so kritisch wie gegenwärtig gegen die Klimaproteste.

Resistenz gegen Kritik

Die auf die Klimakrise bezogene Kritik an der Verkehrspolitik der Bundesregierung ist so eindeutig, dass diese Resistenz schon beispiellos ist. Zuletzt hat Anfang Mai die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem Wirtschaftsbericht für Deutschland eine Verdreifachung des Tempos bei den Klimaschutzmaßnahmen und mehr Entschlossenheit bei der Verkehrswende angemahnt: „Anstelle von Einzelmaßnahmen, die in erster Linie umweltfreundlichere Autos auf die Straße bringen sollen, braucht es eine ganzheitliche Strategie für nachhaltige Mobilität.“ Die OECD gibt auch Hinweise, welche Instrumente Deutschland nutzen könnte: „Viele Chancen, wie zum Beispiel ein breiterer Einsatz von Tempolimits, Mautgebühren für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge oder City-Mauten, wurden nicht genutzt; andere, beispielsweise die Anhebung der Parkgebühren, werden nur langsam realisiert.“
Vor diesem Hintergrund, wo Worte und die Demonstrationen der Fridays-for-Future-Bewegung offenbar wenig nützen, kann es nicht verwundern, dass sich radikalere Formen des Widerstands bilden. Alle wissen, dass die Zeit wirkungsvoller Maßnahmen gegen die Klimakrise extrem begrenzt ist. Besonders betroffen von dieser Situation sind jüngere Menschen, die sich zuletzt mit verschiedenen spektakulären Aktionen (in Museen) oder Verkehrsblockaden in die Schlagzeilen gebracht haben. Aktivisten der „Letzten Generation“ sorgen mit ihren Aktionsformen für Aufmerksamkeit.
Besonders die Verkehrsblockaden erregen die Gemüter. Hier scheint ein Nerv getroffen zu sein, der Bürger wie Politik maximal emotionalisiert. Von „Klimaterroristen“ ist die Rede und die „Bild“-Zeitung heizt die Stimmung weiter an. Die politische Debatte verlagert sich in dieser Phase weg von den Defiziten der Klimapolitik der Regierung hin zu einem Streit über die Aktionsformen. Einigen dürfte das durchaus entgegenkommen. Es wird der Vorwurf formuliert, die „Klimakleber“ schadeten dem Klimaschutz mehr, als dass sie nutzten. Prof. Andreas Knie hält dagegen: „Nur durch die Regelübertretung passiert etwas. Ende Gelände, Extinction Rebellion und die Letzte Generation sind solche Regelbrecher und nur durch Regelbrecher wird ein gesellschaftliches Bewusstsein wach.“
Verkehrsblockaden sind übrigens keine Erfindung der „Klima-Kleber“. Es gab auch zuvor schon massive Blockaden in Deutschland und auch anderswo durch protestierende Landwirte. Und letztlich ist jeder Bahnstreik eine Einschränkung der persönlichen Freiheit all derer, die mit der Bahn mobil sein wollen. Doch das scheint im kollektiven Bewusstsein anders abgespeichert zu sein. Es scheint im Rechtsverständnis für viele akzeptabler zu sein, wenn Straßenblockaden wegen materieller Forderungen einzelner Gruppen durchgeführt werden, als wenn es um das Gemeininteresse Klimaschutz geht.

„Die Branche insgesamt muss sich bewusst werden, dass Erfolge insgesamt nur durch politische Lobbyarbeit funktionieren.“

Prof. Andreas Knie

Bahnstreiks sind gesellschaftlich akzeptiert, Blockaden durch Trecker von Landwirten ebenfalls, die Verkehrsblockaden der „Letzten Generation“ aber nicht?

Emotionale Sprengkraft

Die Verkehrsblockaden der „Letzten Generation“ besitzen eine solche emotionale Sprengkraft, dass sie sogar die Grundfeste unserer Demokratie erschüttern. Bundesfinanzminister Christian Lindner erklärte beim FDP-Bundesparteitag im April, Straßenblockaden seien „nichts anderes als physische Gewalt“. Und Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) sagte angesichts der immer häufigeren Gewaltaktionen durch blockierte Autofahrende, Gewalttaten und Selbstjustiz gegen Klimaaktivisten müssten „leider dann eben auch zur Rechenschaft gezogen werden“. Leider. Aha. Rechtsstaat sieht anders aus. In diesem Klima langte zuletzt auch die Polizei ordentlich hin. Videos von unverhältnismäßiger Polizeigewalt mit sogenannten Schmerzgriffen lösten bei vielen Empörung aus. Hier läuft offenkundig etwas aus dem Ruder. Alles deutet auf eine weitere Eskalation des Protests hin, was für unser Gemeinwesen nicht ungefährlich ist.
Angesichts der verfahrenen Situation stellt sich die Frage, wie es mit der Entwicklung hin zu einer gesellschaftlich breit getragenen Mobilitätswende voran gehen kann. „Wir müssen positiv über eine veränderte Zukunft reden“, sagt Kommunikationsexperte Adler. „Der sprachliche und visuelle Rahmen, der um ein Thema gesetzt wird, bestimmt auch die Gefühle, die mit dem Thema verbunden werden.“ So etwas braucht natürlich Zeit, bevor es seine Wirkung entfalten kann. Anders gesagt: Es wäre gut gewesen, wenn wir mit der „neuen Sprache“ und den „neuen Geschichten“ schon vor vielen Jahren begonnen hätten. Michael Adler: „Wir müssen viel mehr sagen, wo die Reise hingeht, in fünf oder zehn Jahren, auf welche Vorteile wir zusteuern.“
Zum Bild einer positiven Fahrradkultur kann auch die Fahrradwirtschaft einiges beitragen. Dazu muss sie sich allerdings stärker in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Branchenverbände, deren Schwerpunkt naturgemäß die politische Lobbyarbeit sein wird. Eine Fahrradkultur setzt sich aus unzähligen kleinen Bausteinen zusammen, die in der Summe dann das Mindset der Menschen prägen. Wenn sich die Unternehmen der Fahrradwirtschaft, Hersteller wie Fachhändler vor Ort, überall auf der lokalen Ebene für eine stärkere Fahrradkultur engagieren, dann leisten sie einen wichtigen Beitrag zum Mobilitätswandel mit all seinen positiven Auswirkungen.


Bilder: stock.adobe.com – Christian Müller, BIW, Spiegel, stock.adobe.com – Countrypixel, stock.adobe.com – MiReh

Veränderungen erzeugen Ängste, sind im „archaischen Setting“ der Menschen mit Bedrohung verbunden, sagt der Kommunikationsexperte Michael Adler. Statt Ängste zu schüren, sollte über Klimathemen anders geredet werden. „Unser Leben wird gesünder, besser, sozialer, wenn wir umsteuern“, sagt Adler im Interview. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Michael Adler ist mit Nachhaltigkeits- und Mobilitätsthemen schon sein Leben lang verbunden. Der Journalist, Moderator und Kommunikationsexperte war viele Jahre Chefredakteur des VCD-Magazins „Fairkehr“. Vor elf Jahren gründete er seine Agentur Tippingpoints für nachhaltige Kommunikation mit Standorten in Berlin und Bonn. Hier arbeitet er an den kulturellen und politischen Kipppunkten, um Verhältnisse und Verhalten ändern zu können.
Das Fahrrad spielt bei Michael Adler eine große Rolle. So hat er unter anderem Vivavelo-Kongresse der Fahrradbranche moderiert und er war Mitglied im Beirat des Bundesverkehrsministeriums zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans. Auch für das Bundesumweltministerium und für das Land Baden-Württemberg hat er Kampagnen zum Radverkehr entwickelt. Klar ist aber auch: Der Radverkehr ist nur eine von vielen Facetten der Mobilitätswende. Sein Blick gilt stets dem großen Ganzen, und das mit dem Schwerpunkt auf einer Kommunikation, die Menschen nicht nur intellektuell erreicht.

Worte können die Welt verändern, weil sie unser Denken prägen. Das gilt besonders für komplexe Angelegenheiten wie die Klimakrise. In seinem 2022 erschienenen Buch „Klimaschutz ist Menschenschutz“ entwirft Michael Adler eine positive, motivierende Klimasprache. Statt von Verzicht und Kosten zu reden, erzählt er lebensfrohe Geschichten von „desirable futures“.

Die Verkehrswende in Deutschland kommt nicht voran. In der aktuellen Phase scheint es gerade so, als wäre der Rückwärtsgang eingelegt. Hat die Verkehrswende noch eine Chance?
Sie muss ja! Die Verkehrswende ist alternativlos, weil wir sonst einerseits unsere Klimaziele nicht erreichen, aber auch darüber hinaus, weil sonst der Wandel zu lebenswerten, guten, menschengerechten Aufenthaltsräumen in unseren Städten und Dörfern nicht erreichbar ist. Wir haben es gerade in der Corona-Zeit gespürt, wie wichtig eine gute Qualität von Stadt und Dorf auch direkt vor der Haustür ist. Die Mobilitätswende – eigentlich das treffendere Wort – bräuchte Rückenwind von der Bundesebene. FDP-Minister Wissing lässt aber leider noch keinen grundlegenden Kurswechsel zu seinen CSU-Vorgängern erkennen. Dadurch wird die dringend notwendige Änderung der politischen Rahmenbedingungen weiter verzögert.
Auf der anderen Seite gibt es nach meiner Wahrnehmung lokal schon eine Menge Bewegung. In der Stadt, in der ich hauptsächlich lebe, in Bonn, gibt es gerade viel Dynamik. Deshalb hat Bonn auch kürzlich beim Fahrradklimatest den 1. Platz unter den Aufholern bekommen – und das haben sie hier auch verdient. Es gibt viele Städte, die Mobilitätswende machen, und es ist klar, dass das nicht nur eine Antriebswende sein kann, es muss auch den Modal Split verändern, und zwar sehr deutlich. Ein Hauptproblem ist ja, dass alles zu groß wird, mit dem wir uns individuell motorisiert bewegen. Das muss wieder zurückwachsen, um nachhaltig tragbar zu werden.

Die Bundesregierung ist zurzeit ein Bremsfaktor bei der Umsetzung der Verkehrswende. Dennoch finden auch positive Veränderungen in etlichen Städten und Kommunen statt. Wird der Einfluss des Bundes vielleicht überschätzt?
Ja und nein. Fakt ist, dass in den Kommunen viel passiert, aber genauso ist es ein Unding, dass der Bund die Gestaltungsräume der Kommunen weiter so eng hält. Nehmen Sie nur die „Initiative für lebenswerte Städte und Gemeinden“. Über 700 Kommunen fordern hier mehr Selbstständigkeit bei der Umsetzung von Tempo 30. Wir halten doch immer unseren Föderalismus hoch und sagen, dass es richtig ist, wenn am Ort, wo Politik sich konkret auswirkt, auch die Entscheidungen getroffen werden dürfen. Aber bei so wichtigen Fragen, wie organisieren wir das Klima zwischen den Menschen, an öffentlichen Räumen und Plätzen und im Verkehr, dass der Bund da nicht zulassen will, dass die Kommunen selber bestimmen, ist ein Unding. Deshalb würde ich mir modernere, progressivere Weichenstellungen vom Bund wünschen, die dann auch mit Fördermitteln für Länder und Kommunen hinterlegt sind.

Ein Kultur der Verkehrswende entstehe, wenn viele Menschen in die gleiche Richtung denken und agieren, erklärt Michael Adler. Einfach nur eine neue Kultur zu proklamieren, genüge da nicht.

In Ihrem Buch „Klimaschutz ist Menschenschutz“ weisen Sie auf die Bedeutung der Sprache für die emotionale Wahrnehmung von Themen hin. Hätten wir heute mehr Klimaschutz, wenn wir gleich die richtigen Worte benutzt hätten?
Was mich in meinem Buch umtreibt, ist positiv über eine veränderte Zukunft zu reden. Menschen haben vor Veränderungen Angst, weil das in unserem archaischen Setting immer auch mit Bedrohung verbunden war. Wir Menschen bleiben lieber auf unserer Scholle sitzen und sind nur begrenzt in der Lage, visionär zu denken und Routinen, die wir gewohnt sind, infrage zu stellen.
Das Ziel meines Buches ist es, über das Klimathema anders zu reden. Der sprachliche und visuelle Rahmen, der um ein Thema gesetzt wird, bestimmt auch die Gefühle, die mit dem Thema verbunden werden. Bisher herrscht beim Thema Klima der VerzichtsFrame vor. Die Politik will uns was wegnehmen, unser Leben wird freudlos. Mein Anliegen ist es, hier den Gewinn-Frame zu bedienen. Unser Leben wird gesünder, besser, sozialer, wenn wir umsteuern. So haben wir beispielsweise in Bonn mit der Verwaltung autofreie Wohnquartiere geplant und wir haben als Agentur gesagt, die dürfen wir nicht „Auto-frei“ nennen, sondern wir müssen Begriffe wählen, die beschreiben, was dort besser wird, wenn nicht mehr das Auto dominiert. Auto-frei impliziert ja, dass wir etwas wegnehmen – und das wird assoziiert mit Verzicht oder Verbot. Der Wandel zu nachhaltigen Wohnquartieren ist für die Anwohner*innen aber das Gegenteil von Verzicht. Es ist ja ein Gewinn an Freiheit für Kinder und Ältere – und damit für alle, ein Gewinn an Lebensqualität, mehr Möglichkeiten für soziale Interaktion. Sie heißen jetzt „Bönnsche Viertel – lebendige Straßen für Menschen“. Da sind dann sehr viele Dinge möglich, die den Zusammenhalt stärken. Die Mobilität spielte schließlich in der Beschreibung durch die Verwaltungsprofis eine eher untergeordnete Rolle. Es soll eine bessere ÖPNV-Anbindung geben, Mobilstationen im Viertel machen Mobilität ohne Abgase und Lärm möglich.
Das ist mein Anliegen in meinem Buch: Wir müssen viel mehr sagen, wo die Reise hingeht, in fünf oder zehn Jahren, auf welche Vorteile wir zusteuern. Stattdessen werden in der politischen Diskussion mit vernichtender Rhetorik oft die Horrorszenarien beschworen. Natürlich wird hier politisch instrumentalisiert, dass wir Menschen vor der Veränderung Angst haben. Wir sollten daher mehr über eine verheißungsvolle Zukunft sprechen. Dann kann man auch mehr Menschen mitnehmen auf diesem Weg.

„Wir Menschen bleiben lieber auf unserer Scholle sitzen und sind nur begrenzt in der Lage, visionär zu denken.“

Michael Adler

Wie entsteht eine „Kultur der Verkehrswende“? Welche Voraussetzungen braucht es dafür und was könnte die Fahrradwirtschaft dazu beitragen?
Eine Kultur ist ein komplexes Gebilde, das entsteht, wenn viele, auch unterschiedliche Menschen in eine gleiche Richtung denken und agieren. Gegenwärtig haben wir eine automobile Kultur. Die ist sehr ausgeprägt und sie wird auch von ganz unterschiedlichen Kreisen bedient: Von normalen Bürgerinnen, von Medien, von der Automobilindustrie, von Teilen der Politik. Wir haben auch eine Fleisch-Esskultur, eine Bierkultur, in manchen Gegenden eine Weinkultur, eine Karnevalskultur u.s.w. Das sind alles Dinge, die über einen sehr langen Zeitraum gewachsen sind. Vor zehn Jahren wurde in Baden-Württemberg der Begriff der Fahrradkultur aus der Taufe gehoben. Ich finde das einen guten Begriff, aber eine Kultur ist natürlich nicht dann sofort da, wenn man sie proklamiert. Jetzt geht es darum, eine Struktur zu schaffen, die mehr Radverkehr in unseren Städten und Dörfern möglich macht, die die Verhältnisse so ändert, dass der Platz anders verteilt wird, dass mehr Raum für Radverkehr aller Art entsteht. Wenn wir die Verhältnisse verändern, lässt sich auch das individuelle Verhalten leichter ändern. Es ist extrem schwer, Verhalten gegen widerspenstige Verhältnisse zu ändern. Wenn ich aber günstige Rahmenbedingungen habe und eine offene Kultur, dann gelingt das viel leichter. Und je mehr Präsenz das Fahrrad in allen möglichen Alltagssituationen hat, umso eher entsteht eine Fahrradkultur. Leider ist aktuell die Lobby für das Fahrrad, von ADFC bis ZIV, nicht sehr stark, immer noch zersplittert. Wir haben versäumt, vor dem Hintergrund des Pariser Klimaabkommens, der Debatten um Fridays for Future dem Thema noch mal einen neuen Kick zu geben. Man hat sich auf der Verbändeseite vielleicht auch ein bisschen ausgeruht, dass es ein paar neue Fördermittel auf Bundesebene gegeben hat. Wenn man eine Kultur verändern will, dann braucht man mehr als ein paar Fördermillionen – so wichtig Geld natürlich auch ist. Mir ist die Branche politisch zu abstinent und zu defensiv. Da ist noch viel Luft nach oben. Ich würde mir wünschen, dass mehr Vertreterinnen der Fahrradwirtschaft sich stärker engagieren auf der politischen Ebene und in der Lobbyarbeit, sowohl auf der Bundesebene als auch lokal vor Ort. Je besser die gebaute Infrastruktur ist, desto besser sind die Geschäfte für die Branche.


Bilder: Michael Adler, stock.adobe.com – Girts, stock.adobe.com – ARochau, stock.adobe.com – zwehren

Cargobikes eignen sich im Stadtverkehr prima als Autoersatz zum Transport von Lasten. Erste Städte und Kommunen testen das Sharing der Schwertransporter. Die Niederländer sind bereits einige Schritte weiter. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


160 elektrische Sharing-Cargobikes stehen zurzeit in den Straßen von Den Haag. Kommerzielle Anbieter wie Cargoroo und BAQME haben sie dort aufgestellt. Die Stadtregierung findet das gut. Sie will die Zahl der Räder bis 2027 sogar auf 1500 steigern. „Unser Ziel ist, in jeder Straße von Den Haag ein Cargobike aufzustellen“, sagt Rinse Gorter, zuständig für Sharing-Mobility in der Gemeinde. Die geteilten Lastenräder sollen es den 550.000 Einwohner*innen leichter machen, auf Autofahrten im Zentrum zu verzichten und die Emissionen zu senken.
Auch in deutschen Großstädten gehören Cargobikes längst zum Stadtbild. Hierzulande sind die Menschen aber vor allem auf eigenen Rädern unterwegs. Die Verkaufszahlen zeigen: Die Transporträder sind beliebt. Im vergangenen Jahr verzeichnete die Sparte Cargobike mit 37,5 Prozent das größte Wachstum in der Fahrradbranche. 212.800 Lastenräder wurden insgesamt verkauft, 165.000 von ihnen hatten einen Motor. Allerdings ist es mit den Transporträdern ähnlich wie mit den Autos: Die meiste Zeit des Tages stehen sie ungenutzt herum. Für Verkehrsforscher ist Sharing deshalb eine sinnvolle Alternative. In Berlin, Düsseldorf, Hamburg oder auch Freiburg haben die Stadtregierungen und kommerzielle Anbieter erste Flotten auf die Straßen gestellt. Allerdings sind die oft zu klein, um Autofahrten im großen Stil zu ersetzen.
Eine Ausnahme ist Berlin. Dort versucht der niederländische Sharing-Anbieter Cargoroo seit 2022 ein engmaschiges Netz aus geteilten E-Cargobikes aufzubauen. Aktuell sind 250 Cargoroos mit den auffälligen gelben Transportwannen in der Hauptstadt unterwegs. Bis zum Sommer soll die Flotte auf 350 wachsen, damit die Nutzenden an ihrem Wohnort idealerweise alle 300 Meter ein Cargoroo finden. Die Leihräder stehen an festen Stationen. Das heißt: Die Räder können nur dort ausgeliehen und zurückgegeben werden. „Das gibt unseren Kundinnen und Kunden Planungssicherheit“, sagt Alexander Czeh, Country Manager von Cargoroo Deutschland.
Außerdem bevorzugen die Bezirksregierungen in Berlin das stationsbasierte Sharing-System. Sie wollen damit die Gehwege von Sharing-Fahrzeugen freihalten. Die Cargoroo-Stationen werden in Berlin nur auf breiten Gehwegen markiert, die ausreichend Platz zum Rangieren bieten. Ansonsten werden sie auf umgewandelten Pkw-Stellplätzen eingerichtet oder an einer Jelbi-Mobilitätsstation der Berliner Verkehrsbetriebe. Nur dort kann die Ausleihe per App beendet werden.
Das stationsbasierte Modell lohnt sich auch für die Sharing-Anbieter. Die Service-Mitarbeiter müssen die Räder nicht einsammeln. Sie checken die Räder zweimal pro Woche an ihrem Standort und wechseln dann die beiden Akkus. Das senkt die Kosten. Auch die Nutzenden haben laut Czeh keine Nachteile. Schließlich sind 80 Prozent Lastenradfahrten Rundfahrten. Wer zum Discounter fährt oder zum Baumarkt, bringt seine Einkäufe anschließend heim.
Cargoroo wirbt damit, dass ihre E-Lastenräder die Verkehrswende vorantreiben. In den Niederlanden teilen sich laut Alexander Czeh rechnerisch zwischen 40 und 60 Kunden ein Cargoroo. „Eine Umfrage unter ihren Nutzerinnen und Nutzern aus Amsterdam zeigt zudem, dass 73 Prozent von ihnen mit unseren Rädern Autofahrten ersetzen“, sagt Czeh. Im kommenden Jahr rechnet er mit ähnlichen Werten für Berlin. „Dann können unsere 350 Räder 625.000 Autokilometer im Jahr ersetzen“, sagt er, und damit rund 100 Tonnen Kohlendioxid einsparen. Damit würde die Cargoroo-Flotte einen wichtigen Beitrag zur Mobilitätswende leisten.

Fahrradkeller 2.0: Die Mobilitätsstation für Lastenräder, Fahrradanhänger und Trolleys ist hell, sicher und komfortabel im Erdgeschoss des Mietshauses untergebracht.

Städte brauchen autoärmere Innenstädte

Die Klimaziele zwingen viele Städte und Gemeinden, den Verkehr in ihren Zentren nachhaltiger zu gestalten. Die bayerische Landeshauptstadt München will bis 2035 klimaneutral werden. Deshalb fördert das städtische Mobilitätsreferat klimafreundliche Alternativen zum Auto. Beim Neubau von Wohnungen können die Bauherren Stellplätze einsparen, indem sie Mobilitätskonzepte einreichen. Damit senken sie die Baukosten und ermöglichen ihren Mietern eine autoarme Mobilität.
Ein Vorreiter auf diesem Gebiet ist die städtische Wohnungsgesellschaft GWG in München. Sie hat bereits an vier Neubau-Standorten Mobilitätsstationen errichtet. Neben Autos, E-Bikes, Trolleys und Fahrradanhängern bietet die GWG auch E-Lastenräder an. Der Clou ist: Die Ausleihe der E-Cargobikes ist kostenlos. Die Mieter müssen lediglich einen Chip beantragen. Untergebracht sind die Räder in hellen Räumen mit Fenstern im Erdgeschoss der Mehrfamilienhäuser. Per Chip schwingt die Tür automatisch auf. Das macht den Fahrer*innen das Rangieren mit den Transporträdern leicht und komfortabel.
Obwohl die Hemmschwelle für die Cargobike-Ausleihe bei der GWG niedrig ist, ist ihre Nutzung kein Selbstläufer. Am Eröffnungstag der beiden Mobilitätsstation in Hardthof im Norden von München ist Steffen Knapp, Architekt und zuständig für die Projektentwicklung im Team Städtebau der GWG, zwei Stunden von Tür zu Tür gegangen und hat die Mieter über das Angebot informiert. „Ich habe sie eingeladen, die Lastenräder vor der Haustür auszuprobieren“, sagt er. Er weiß, die Probefahrt ist wichtig. Die meisten GWG-Mieter saßen noch nie auf einem Lastenrad. Sie brauchen eine Einführung und Unterstützung bei der Probefahrt. Knopps Engagement zahlt sich aus. Rund 40 Prozent der Mieterschaft hat sich fürs Sharing-Angebot registriert. Die E-Cargobikes sind laut Knopp die „Hotrunner“ im Sharing-Angebot. Sie werden am häufigsten ausgeliehen. Bis 2026 plant die GWG, rund 30 weitere Mobilitätsstationen in ihren Wohnprojekten zu etablieren.

40 bis 60

Kunden teilen sich ein
Cargoroo in Amsterdam

70 Lastenräder für Hamburg

Erste Städte beginnen, Cargobikes in das städtische Bike-Sharing-System zu integrieren. In Freiburg im Breisgau können die Kund*innen mittlerweile 20 E-Cargobikes über die städtischen Leihradflotte „Frelo“ ausleihen. In Hamburg bekam das „StadtRad“-Verleih-System bereits 2019 Zuwachs von 19 Cargobikes. Inzwischen ist ihre Zahl auf 37 gestiegen. Eigentlich sollte die Flotte längst 70 Transporträder umfassen, aber Lieferengpässe verzögern seit Monaten den Ausbau. In beiden Städten kommen die Lastenräder gut an. Laut dem Sprecher der Hamburger Verkehrsbehörde wurden sie 2022 rund 3700-mal ausgeliehen. „Im Mai lag der Spitzenwert bei 445 Ausleihen“, sagt er, im Schnitt waren die Nutzenden mit ihnen zwei Stunden unterwegs.

Das Angebot ist vielseitig an der Mobilitätsstation am Bachplätzchen. Neben E-Lastenrädern können die Anwohner*innen auch E-Autos oder E-Scooter leihen und eigene Fahrräder sicher parken.

Mehr Grün mit Mobilitätsstationen

Erste Städte wollen mit ihrem Lastenrad-Sharing-Angebot auch die Aufenthaltsqualität in den Zentren verbessern. In Düsseldorf sind die Transporträder beispielsweise in vielen Wohnquartieren ein Bestandteil der Mobilitätsstationen. Bis 2030 soll das Startup Connected Mobility Düsseldorf GmbH (CMD) im Auftrag der Stadt Düsseldorf 100 Mobilitätsstationen im Zentrum errichten. Damit werden für die Anwohnerinnen nachhaltige Mobilitätsangebote vor Ort geschaffen. Acht Stationen sind bereits fertig. Eine von ihnen ist das Bachplätzchen im Düsseldorfer Stadtteil Unterbilk. Früher parkten 30 Autos auf dem asphaltierten Oval. Im Dezember 2022 ist aus dem Parkplatz ein begrünter Treffpunkt geworden. Zwischen Bäumen und Pflanzen haben die Anwohnerinnen dort nun ausreichend Platz zum Verweilen und zum Boule spielen. Außerdem können sie auf einen Fahrzeug-Pool aus E-Autos, drei E-Lastenrädern, E-Scootern und E-Mopeds zugreifen.
„Platz ist Luxus im Stadtzentrum“, sagt Ariane Kersting, Sprecherin der CMD. Jede Mobilitätsstation soll deshalb auch das Umfeld aufwerten. Neben dem Fuhrpark werden stets neue Grünflächen geschaffen oder Sitzgelegenheiten. Je nachdem, wie viel Platz im Wohnquartier, der ÖPNV-Station oder bei den Unternehmen zur Verfügung steht.
Das neue Mobilitätsangebot in Düsseldorf gefällt den Anwohnern. „Kaum waren die ersten Stationen fertig, riefen uns die Bürger an, und meldeten ebenfalls Bedarf an“, sagt die CMD-Sprecherin. Aber auch hier braucht das Lastenrad-Sharing Starthilfe. „Wir organisieren immer wieder Aktionstage oder Veranstaltungen im Quartier, damit die Menschen Lastenräder ausprobieren können“, sagt sie. In Nutzervideos erklären sie außerdem auf den Social-Media-Kanälen wie die Ausleihe funktioniert und worauf beim Fahren mit Last und Motor zu achten ist.
Lastenrad-Sharing zu etablieren, ist für Ariane Kersting ein Dauerlauf und kein Sprint. „Die Menschen müssen die Chance bekommen, das Angebot in ihrem Alltag auszuprobieren und nach und nach zu integrieren“, sagt sie. Erst wenn ihnen der Zugriff auf die Alternative zum Auto gesichert und komfortabel erscheint, würden sie überhaupt darüber nachdenken, auf ihren Zweitwagen zu verzichten.
Die Integration der Lastenräder an Mobilitätsstationen oder in das städtische Leihrad-System hat für Carina Heinz vom Deutschen Institut für Urbanistik einen großen Vorteil: Es sorgt für mehr soziale Gerechtigkeit in der Mobilität. „Nicht jeder kann oder will 5000 bis 8000 Euro für ein elektrisches Lastenrad ausgeben“, sagt sie. Zwar fördern einige Städte und Bundesländer den Kauf von Lastenrädern über Zuschüsse, aber die Käufer müssen dennoch mehrere Tausend Euro bezahlen. Das ist viel, wenn man das Rad nur ein oder zweimal pro Woche nutzt. Deutlich wirkungsvoller ist aus ihrer Sicht die Förderung von Lastenrad-Sharing direkt über die Kommune. „Der Hebel ist größer. Die Gemeinde erreicht mit diesem Service in kürzerer Zeit eine viel größere Bevölkerungsgruppe“, sagt sie. Im Idealfall auch die Menschen, die sich selbst mit einem Zuschuss kein eigenes Lastenrad leisten können.
Der Schritt vom Besitz zum Teilen ist entscheidend für die Mobilitätswende. Die Anbieter der Sharing-Systeme am Wohnort sind die Wegbereiter des Wandels. Im direkten Vergleich mit vielen niederländischen Städten wie Den Haag steckt das Lastenrad-Sharing in Deutschland noch vielerorts in den Kinderschuhen. Jetzt sind die Städte und Gemeinden am Zug. Sie müssen in den Stadtzentren Millionen kurzer Autofahrten ersetzen, die kürzer sind als fünf Kilometer. Lastenrad-Sharing ist dabei nur ein Baustein von vielen. Aber einer mit großer Wirkung.


Bilder: Cargoroo, GWG München – Jonas Nefzger, CMD

Über wenige Punkte ist man sich heute im Mobilitätssektor so einig wie darüber, dass der Einsatz von Lastenrädern eine wesentliche Bedingung für ein Gelingen der Verkehrswende ist. Aber welche Räder wo und wie einsetzen? Der Antwort dazu hat sich das Beratungsunternehmen Cargobike.Jetzt verschrieben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


165.000 – so viele Lastenräder mit elektrischer Unterstützung sind laut Zweirad-Industrie-Verband 2022 verkauft worden, ein Zuwachs von 37 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Jemand, den diese Zahl nicht wundert, ist Martin Seißler. „Wir bemerken das direkt bei unseren Projekten. Im privaten Bereich ist das Lastenrad ein echter Selbstläufer geworden“, sagt der Geschäftsführer der Cargobike.Jetzt GmbH. Und auch die Kommunen hätten gemerkt, dass eine Verkehrswende – oder zumindest die Entlastung der Innenstadt – nicht ohne die großflächige Nutzung von Cargobikes ginge.
Die Aufgaben von Cargobike.Jetzt drehen sich ausschließlich um Lastenräder und ihren Sinn und Zweck als Transportmittel. Entsprechend sieht sich das Unternehmen nicht einfach nur als Berater rund ums Cargobike. „Wir sind eine Verkehrswende-Agentur“, so Seißler. Und dann hebt er an zu erklären und man merkt schnell: Das ist sein Thema.

Die Cargobike Roadshow ist ein Format, mit dem Familien und andere Zielgruppen niederschwellig ein Lastenrad antesten können.

Der Glaube an das Lastenrad

Allein in Europa gibt es etwa 200 Lastenradhersteller. Doch wer bringt Ordnung in dieses riesige Angebot? Ende 2020 gründete Martin Seißler mit Arne Behrensen die heutige GmbH „mit dem Ziel, die Verkehrswende mit dem Cargobike voranzubringen“. Und zwar, indem man den Menschen in allen Bereichen hilft, sich in dem Angebot an Lastenrädern zurechtzufinden. Da geht es zunächst um den bereits angesprochenen privaten Bereich, aber auch um den
gewerblichen – Cargobikes für Unternehmen in allen möglichen Variationen – und um den öffentlichen Sektor. „Was wir damals, als wir anfingen, vor allem brauchten, war Netzwerk-Erfahrung“, erklärt Seißler, „und die hatten wir beide.“ Mittlerweile ist aus dem Duo ein Unternehmen mit zwölf Angestellten und einer Vielzahl von Projekten geworden, die sich alle ums Lastenrad und seine Nutzung drehen.
Das Unternehmen sitzt am Franz-Mehring-Platz in Berlin, im Gebäude, in dem auch die sozialistische Tageszeitung „Neues Deutschland“ untergebracht ist. Mehr großstädtisches Ambiente geht kaum, und das passt für eine Verkehrswende-Agentur. Zu Pandemie-Zeiten war hier, wie fast überall, Homeoffice angesagt. „Jetzt ist wieder viel los im Büro in Berlin“, sagt Mitarbeiterin Kirsten Havers. Wie es sich für eine moderne Agentur gehört, läuft trotzdem viel digital, und die Arbeitsplätze werden flexibel zugeteilt.
Kirsten Havers ist bei Cargobike.Jetzt für die Projektkoordination zur gewerblichen Lastenrad-Nutzung zuständig – ein Feld, das noch viel beackert werden muss, wie wir noch sehen werden. Sie hat unter anderem beim BUND zu Themen wie Güterverkehr gearbeitet und ist seit 2021 bei Cargobike.Jetzt.

Bei der Cargobike Roadshow erklären Expert*innen die verschiedenen Modelle und ihre Vor- und Nachteile und bauen damit auch viele Vorurteile ab.

Lastenrad-Streetworker

Das bekannteste Projekt des Unternehmens ist die Cargobike Road-show als Testformat für Privatkunden. Kurztitel: Drei Lastenradexpert*innen und zwölf Lastenräder erobern eine Stadt. Dieses Jahr passiert das 53-mal in Deutschland. „Und diesmal ist die Roadshow erstmals in den östlichen Bundesländern unterwegs“, erzählt Seißler.
Die Organisation der Roadshow läuft über die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundliche Städte in Nordrhein-Westfalen (AGFS). Die Kommunen können sich bei der AGFS als Station der Road-show bewerben. „Die meisten Menschen nutzen das Angebot, weil die jeweilige Stadt noch keine Händler vor Ort hat“, so Seißler. „Sie wollen oft nur kurz vorbeischauen, sind nach drei Stunden immer noch da und haben Räder getestet.“ Und oft kaufen sie kurz danach ein Rad.
„Das Gewerbe ist da viel zögerlicher“, erklärt Seißler, „75 Prozent der Lastenräder dürften heute im privaten Einsatz sein, nur 25 Prozent im gewerblichen.“ Die Hersteller stellen die Räder zur Verfügung und sind Mit-Auftraggeber. „Wir sehen uns dabei als Kuratoren, stellen einen möglichst breiten Fuhrpark zur Verfügung.“ Schließlich sind auch die Interessenten bunt gemischt: Familien mit Kindern, Menschen, die ihren Einkauf transportieren, Menschen, die mit ihrem Hund mobil sein wollen. Schöner Nebeneffekt: „Die Entscheider in den Kommunen nehmen gern teil und lassen sich auf den Lastenrädern fotografieren.“

Lastenmobilität für Unternehmen: „Flottes Gewerbe“

Ein Punkt wird betont, wenn man mit dem Team spricht: Die Beratung der Unternehmen wie der privaten Lastenrad-Interessierten ist immer herstellerneutral. „Es ist uns enorm wichtig, dass das so ist – und die Interessenten und Interessentinnen das auch so wahrnehmen. Wir wollen die Kunden so beraten, dass sie oder er das genau passende Cargobike findet, und das hat zunächst nichts mit dem Hersteller zu tun“, erklärt Seißler.
Das gilt auch bei gewerblicher Nutzung. Um den Abbau des Rückstands der Nutzung im gewerblichen Bereich kümmert sich Projektleiterin Kirsten Havers mit dem vielleicht zweitwichtigsten Projekt Flottes Gewerbe. Das ist ein Projekt, das zusammen mit Städten organisiert wird. „In der Regel wenden sich die Kommunen an uns“, erklärt Havers. „Auch die IHK, die Handwerkskammer und Kreishandwerkerschaft sind oft involviert, sodass wir viele Unternehmen hierbei erreichen können.“
Lokale Unternehmen können sich ebenfalls für einen Lastenrad-Test innerhalb ihres Unternehmens bewerben. „Wir wählen dann acht Unternehmen pro Stadt aus. Dabei achten wir auf eine möglichst breite Streuung.“ In einer offiziellen Auftaktveranstaltung bekommen die Unternehmen ihre Räder übergeben, die sie dann fünf Wochen lang testen. Am Aktionstag gibt es zudem für interessierte Unternehmen die Möglichkeit, Räder vor Ort auf einem Parcours zu testen und sich beraten zu lassen. „Ganz wesentlich sind die Beratungsgespräche. Wir lernen unglaublich viel von den Unternehmen, auf das wir wieder mit den richtigen Angeboten reagieren können – wie ist die Parksituation in der Stadt, wie die Verkehrssituation, gibt es Probleme der Unternehmen, weil ihre Auszubildenden keinen Führerschein haben et cetera.“ Außerdem wird ein Abschlussbericht erstellt und später eine Evaluierung, in der festgehalten wird, welches Unternehmen tatsächlich dann auch in ein Lastenrad investiert hat. „Die Städte haben ein starkes Interesse an weniger belastendem gewerblichen Güterverkehr“, so Havers. Daneben läuft gerade auch das Projekt „Ich entlaste Städte“ an, das – mit anderen Partnern – ähnlich funktioniert (siehe www.lastenrad-test.de). Ein Ziel des Flotten Gewerbes ist auch, über den Kontakt zu Händlern und Servicestellen Grundlagen für Wartung und Instandhaltung der Räder zu schaffen. Denn erst wenn Fragen eines Netzwerkes dafür geklärt sind, können Unternehmen Vertrauen gewinnen in eine erfolgreiche Nutzung von Lastenrädern statt Lieferwagen auf der Last Mile.
Am schwierigsten ist dabei sicher die Einbeziehung von Logistik-Unternehmen, auch wenn es dazu schon erfolgreiche Beispiele gibt – wie etwa die Dreiräder von UPS. Hier spielen vielfältige Anforderungen eine Rolle – unter anderem braucht man auch ein System von Mikrodepots. Dazu müssen viele Partner zusammenwirken.

„Wir wollen die Kunden so beraten, dass sie oder er das genau passende Cargobike findet, und das hat zunächst nichts mit dem Hersteller zu tun.“

Martin Seißler, Cargobike.Jetzt

Martin Seißler hat die Entwicklung der Lastenradnutzung in der vergangenen Dekade an vielen Stellen mitgeprägt. Als Mitgründer und Geschäftsführer von Cargobike.Jetzt will er nun dieser Fahrradgattung zu noch mehr Popularität verhelfen, denn „wir haben wenig Zeit, unsere Städte umzubauen – und es gibt so viele Gründe, auf kleinere und energieärmere Fahrzeuge umzusteigen.“

Leihen und Laden

Ein weiterer wichtiger Aufgabenbereich von Cargobike.Jetzt sind Konferenzen und Fachvorträge. Bei der zweitägigen Nationalen Radlogistik-Konferenz – 2023 am 19. und 20. September in Darmstadt – ist das Unternehmen Organisator, der Radlogistik-Verband Deutschland Schirmherr. Hier werden am ersten Tag Exkursionen zu Orten der Radlogistik veranstaltet, am zweiten Tag trifft man sich zu Workshops. Eine weitere wichtige Konferenz ist die Cargo Bike Sharing Europe in Köln. Alexander Lutz, der den Vertrieb Kommunal bei Cargobike.Jetzt leitet, arbeitete in diesem Bereich und auch er sieht sich vor allem als Netzwerker für das Thema Lastenrad. Er baut die Kontakte zu den Kommunen aus, er weiß: „Das Lastenrad bietet für alle Beteiligten viel größere Chancen, die Verkehrswende aktiv zu beschleunigen. Und es ist ein erster Schritt in die lebenswerte Stadt!“
Als besonders wichtig zum Einstieg in die Verkehrswende sieht Lutz für die Kommunen das Lastenrad-Sharing. „Das liegt uns sehr am Herzen, denn Sharing ist eigentlich so eine Art Einstiegsdroge in die Lastenradnutzung“, sagt er. „Es macht das Rad finanzierbar auch für untere Einkommen und es ist wirklich im Sinne der öffentlichen Daseinsvorsorge. In Köln fand im Mai die Cargobike Sharing Europe im Rahmen der Messe Polis Mobility statt. Lutz kann Beispiele gelungener Sharing- und Leih-Projekte herunterrasseln. Begeistert ist er vom „Stuttgarter Rössle“: Hier kann man sich für mehrere Jahre ein Lastenrad bereits ab 20 Euro (mit regionaler Ermäßigungskarte) im Monat leihen. „Damit schafft man es, den gut Situierten zumindest den Zweitwagen abspenstig zu machen“, sagt er. „Besonders wichtig“, sagt er, „ist auch die Kooperation mit dem Wohnungsbau.“ Stellplatz-Satzungen oder andere Regelungen, bei denen für Neubauten Stellplätze für Lastenräder oder allgemein alternative Mobilität mit eingeplant werden, sorgen quasi für integrierte Umstiegsvoraussetzungen in die schonende Mobilität.

Studien und Servicedienste für Cargobiker in spe

Eine weitere Aufgabe, der sich das Unternehmen widmet, sind Studien, für die Cargobike.Jetzt mit Hochschulen und anderen Partnern zusammenarbeitet. Für eine Hamburger Behörde hat man zusammen mit den Universitäten Wuppertal und Magdeburg über den Infrastruktur-Bedarf von Lastenrädern insbesondere beim Einsatz in der Last-Mile-Logistik gearbeitet. Eine andere Studie behandelte die Potenziale und Wirkungen von Mikro-Depots in Berlin.
„Cargobike.Jetzt ist nicht nur durch die Roadshow direkt für die Endverbrauchenden interessant. Auf der Homepage findet man eine ausführliche Beratung nach Ansprüchen und Nutzung von Lastenrädern und – unser beliebtester Anlaufpunkt – die Kaufprämien-Übersicht für Deutschland und Österreich“, so Lutz. Aber die Homepage ist unter dem Menüpunkt „Tipps“ ohnehin eine Fundgrube: Vom Marktüberblick über Rechtliches zum Personentransport bis hin zur Radwegnutzung von Cargobikes oder den Transport in der Bahn wird alles, was im Zusammenhang mit diesen Rädern Fragen aufwerfen kann, behandelt.
Darauf setzen auch viele, die das Cargobike publik machen und in die moderne Mobilitätsentwicklung implantieren wollen. So auch die Leitmesse der Fahrradbranche, die Eurobike 2023. Sie hat Cargobike.Jetzt als Partner für eine groß angelegte Cargo Area gewonnen.

Prominenter Beirat

Der Beirat von Cargobike.Jetzt liest sich wie ein Who-is-who der New Mobility.

Arne Behrensen

ist Mitgründer von Cargobike.Jetzt. Seit Januar dieses Jahres ist er der politische Lastenrad-Kopf bei Bundesverband Zukunft Fahrrad.

Swantje Michaelsen

ist Bundestagsabgeordnete für die Grünen. Sie bearbeitet vor allem Mobilitäts- und Verkehrsthemen.

Dr. Tom Assmann

ist Vorsitzender des Radlogistik-Verbands Deutschland und arbeitet zudem in der Erforschung und Entwicklung zu urbanen, nachhaltigen Logistiklösungen.

Johannes Reichel

ist Ressortleiter Transport bei der Zeitschrift Logistra.

Katja Diehl

hat mit „Autokorrektur“ einen Spiegel-Bestseller über die Mobilitätswende geschrieben. Sie ist dafür auch mit dem deutschen Wirtschaftsbuchpreis ausge-zeichnet worden.


Bilder: Andreas Lörcher, CBRS, Andreas Domma

Zwei aktuelle Beispiele zeigen, dass die Vorstellungen von einheitlichen Ladesteckern für E-Bikes und leichte Elektrofahrzeuge (LEV) kaum unterschiedlicher sein könnten. Schon zu der Frage, ob der Stecker am Fahrrad oder an der Infrastruktur hängen sollte, gehen die Meinungen auseinander. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


„Ein einheitlicher Ladestecker ist ein relevantes Thema, auch für die Industrie.“ Das sagt Tim Salatzki, Leiter Technik und Normung des Zweirad-Industrie-Verbands ZIV. „Der Aufhänger für so ein einheitliches System ist häufig ein öffentlicher Verleih. Aber es gibt auch immer mehr den Wunsch von Privatnutzenden, die ihr Fahrrad zum Beispiel am Supermarkt aufladen wollen oder an Radreisewegen, Gaststätten oder Hotels.“ Bei einer einheitlichen Ladelösung müssten die Nutzer und Nutzerinnen nicht mehr zwingend ein eigenes Ladegerät mitführen und hätten auch im eigenen Haushalt Vorteile. Auch andersherum haben die Besitzer von Gaststätten und Supermärkten, genauso wie die öffentliche Hand, ein Interesse daran, diesen Service anbieten zu können. Der aktuell fragmentierte Markt sei ein Problem, so Salatzki. Zudem ist die Lage etwas komplexer als beispielsweise im Smartphone-Markt, der ab Ende kommenden Jahres EU-weit einheitlich auf USB-C-Buchsen setzen muss. „Wenn ich einen Akku von einem Elektrofahrrad lade, habe ich immer eine Kommunikation zwischen Ladegerät und Batterie. Da hängt vieles ab von Variablen: Wie voll ist die Batterie und wie ist die Temperatur im Akku oder der Umgebung.“

Einer für alle? Der Stecker des Chademo-Konsortiums soll über kleine Adapter auch mit älteren Ladesystemen kompatibel sein. Derzeit ist ein Kommunikationsprotokoll in der Prototypenphase.

Stecker, Buchsen und Adapter

Bisher legen die Hersteller für sich selbst ein System aus, das sie für sicher halten. „Vonseiten der Industrie sehen wir den Wunsch, im Markt einen einheitlichen Stecker anbieten zu können.“ Dementsprechend haben sich einige Akteure aus der Industrie zusammengeschlossen, um ein Kommunikationsprotokoll zu entwickeln, das auf einen bestehenden Stecker aufsatteln soll. Stecker und Buchse sind bereits in der Vornorm ISO/TS 4210-10 aus dem Juli 2020 definiert. Diese unterstützen Spannungen bis zu 42 Volt und Leistungswerte von 800 Watt. Das Kommunikationsprotokoll entsteht im privaten Konsortium Chademo. Dieser Handelsname dürfte einigen Menschen als elektrische Schnittstelle eines Batteriemanagementsystems für Elektroautos bekannt sein und stammt aus Japan. Die Zielstellung sei auch hier eine Norm, erklärt Salatzki. Auch Marktführer Bosch habe sich dem Konsortium angeschlossen. „So ein System wird funktionieren, wenn der Größte dabei ist.“ Auch Panasonic, Yamaha und Shimano seien an Bord und das Interesse der Industrie sei insgesamt groß. „Der Charme von diesem neuen Ladesystem ist, dass ich bestehende Systeme am Markt laden kann“, so Salatzki. Das könne die Industrie über Adapter-Lösungen in der Größe einer Streichholzschachtel realisieren.
Eine generelle rechtliche Pflicht, einen bestimmten Stecker zu benutzen, hält Salatzki für realistisch: „Es ist durchaus abzusehen. Solche Regelungen sind beim Pkw vorhanden oder auch bei Tablets und Handys. Deshalb kann man schon davon ausgehen, dass die Politik sich auch Elektrofahrräder mal ansehen wird.“

„Das Laden ist eigentlich eine untergeschobene Nebenfunktion.“

Hannes Neupert, Extra Energy

Gegenmodell kommt mit Buchse an der Infrastruktur

Hannes Neupert ist Verfechter eines gänzlich anderen Modells. Er hat unter anderem den Verein ExtraEnergy e. V. mitgegründet und ist seit einigen Jahrzehnten im Bereich der Elektromobilität beratend tätig. Ein Vorstoß in Form der Norm IEC TS 61851-3-2, an dem er beteiligt war, geht das Laden grundlegend anders an und sieht vor, dass Kabel und Stecker am Fahrzeug fest installiert ist. Die Idee entstand auf einer Eurobike-Party und geht politisch auf das EU-Mandat 468 aus dem Jahr 2010 zurück. „Die Buchse ist an der Infrastruktur. Das ist ganz entscheidend, weil nur dadurch alles interoperabel ist und die Infrastruktur dann keine Weichteile hat, die leicht durch Vandalismus beschädigt werden können“,
erklärt Neupert. In verschiedenen Projekten zu öffentlicher Ladeinfrastruktur, zum Beispiel von der Deutschen Bahn in Stuttgart, habe man feststellen können, dass die dort an den Ladesäulen verbauten Kabel maximal ein Jahr halten. Spätestens dann fielen sie dem Vandalismus zum Opfer, berichtet Neupert. Die Buchse, die Neupert auch für die öffentliche Infrastruktur vorschlägt, kann drei verschiedene Stecker aufnehmen. Der kleinste der drei besitzt keinen konduktiven elektrischen Kontakt, sondern dient in erster Linie dazu, Fahrräder sicher abstellen zu können. Nebenbei können GPS-Geräte und Lichtanlagen am Fahrrad dennoch Energie abzapfen. Den mit dem Fahrrad verbundenen Stecker schließt die Buchse an der Ladesäule ab. „Der mittlere Stecker ist der, für den wir von der größten Bedeutung am Markt ausgehen. Der ist für Pedelecs und mittelgroße Elektroroller mit Batteriekapazitäten von drei bis fünf Kilowattstunden geeignet“, so Neupert. Er hält Spannungen von 60 Volt sowie Stromstärken von 60 Ampere aus und leistet bis zu 3 Kilowatt. Die maximale Spannung ist so gewählt, dass Fahrradmechatroniker und -mechatronikerinnen die Fahrzeuge noch ohne Hochvolt-Schulung warten und bearbeiten dürfen. Der größte Stecker hält bis zu 120 Volt Spannung aus und ist zum Beispiel für Motorräder gedacht. Alle Stecker erlauben den Fahrzeugen, über Near Field Communication (NFC) mit der Infrastruktur zu kommunizieren.
Dass diese neue Spezifikation für Stecker und Buchse nun existiert, macht sie nicht automatisch zu einer gesetzlichen Verpflichtung. Das soll sie allerdings durch einen Umweg über die CE-Kennzeichnung werden. „Ab September nächsten Jahres wird es gesetzlich verpflichtend werden, den Standard einzuhalten für alle neuen Produkte, die eine CE-Konformität haben wollen. Das ist die Grundlage, um überhaupt in Europa Pedelecs verkaufen zu dürfen“, so Neupert. Der Weg dahin ist durchaus komplex. Um CE-konform zu sein, muss ein Pedelec den Standard EN 15194 erfüllen. Innerhalb dieses Standards gab es bisher zwei Batterienormen, von denen eine veraltete jetzt auf einen Antrag der holländischen Regierung hin gestrichen wurde. Der übrig bleibende Batteriezellenstandard EN 50604-1, der 2017 eingeführt wurde, ist damit unumgänglich und werde um den im Februar 2023 auf Deutsch publizierten Standard IEC TS 61851-3-2 erweitert, erklärt Neupert. In diesem ist das neue Ladesystem spezifiziert.

Der mittlere Stecker dürfte der wichtigste sein, so Hannes Neupert. Alle drei Stecker passen in dieselbe Buchse, die sich statt am E-Bike an der Infrastruktur befindet.

Ausnahmen legal, aber nicht interoperabel

All das bedeutet aber nicht, dass es künftig nur noch E-Bikes mit fest inte­griertem Kabel und Stecker geben kann und wird. Der Weg, den zum Beispiel Marktführer Bosch derzeit schon geht, nennt sich herstellerspezifische Lösung (manufacturer-specific solution) und bleibt weiterhin legal. Wenn es möglich ist, die Batterie zum Laden zu entnehmen, braucht es außerdem kein fest installiertes Kabel. Interoperabel ist diese Lösung dann nicht.
Wenn Kabel und Stecker permanent mit dem Fahrrad verbunden sind, ist das ein großer Eingriff in das Design und dürfte in der Industrie nicht gut ankommen, kommentiert Tim Salatzki den Vorstoß. „Wir gehen davon aus, dass das eher weniger gewünscht ist“, sagt er. Hannes Neupert stimmt in dieser Hinsicht mit Salatzkis Ansicht überein und erwartet zunächst herstellerspezifische Lösungen, um das fest am Rad installierte Kabel zu umgehen: „Meine Erwartung ist, dass die alle vom Stuhl fallen, weil sie überhaupt nicht drauf vorbereitet sind. Ich gehe davon aus, dass es mindestens fünf Jahre braucht, bis die Industrie das halbwegs adaptiert. Ziemlich sicher werden viele einen Sonderweg gehen, weil sie damit ihr Produkt am wenigsten umkonstruieren müssen.“
Allerdings plane die Stadt Hannover beispielsweise, 30.000 Pkw-Parkplätze in Lade- und Parkstationen für E-Bikes und LEVs mit besagter Buchse umzuwandeln. Der öffentliche Druck, deren ganzen Funktionsumfang nutzen zu können oder zumindest einen Adapter bekommen zu können, so erwartet Neupert, dürfte die Indus-trie zum Umdenken bringen. Auch eine solche Station hat Neupert in einem Interreg-Projekt mit öffentlichen Geldern mitentwickelt. Sie lädt die Fahrzeuge au­tark. Solarmodule speisen einen im Boden verschweißten Akku. Noch im Juli dieses Jahres soll in Hannover eine Musterausschreibung für Stationen dieser Art erarbeitet werden. Dass zumindest im September 2024 noch nicht viele E-Bikes und LEVs auf den neuen Stecker oder eine konforme herstellerspezifische Lösung setzen werden, ist dennoch wahrscheinlich. Schließlich sind viele Produkte für diesen Lieferzeitraum bereits jetzt im Vorlauf. Die Behörden, die nicht CE-konforme Produkte zurückrufen können, dürften ebenfalls eine Weile brauchen, um die Änderungen zu implementieren.

Einheitliches Laden kann auch bedeuten, dass die Infrastruktur eine Buchse anstatt eines Steckers bietet. Ein Hauptargument für diese Grundsatzentscheidung ist, Vandalismus zu minimieren.

Bequem parken und Batteriebrände vermeiden

Auch im aktuellen Markt gäbe es bereits Produkte, die so eigentlich nicht legal seien, sagt Neupert. Dazu zählen zum Beispiel Ladekabel mit frei verkäuflichen, runden und orientierungsfreien Steckern. Unterschiedliche Ladegeräte mit demselben Stecker verursachen potenziell Gefahren. „Es geht darum, dass Batteriebrände möglichst ausgeschlossen werden. Eine große Gefahr dafür ist der Anschluss an ein nicht geeignetes Ladegerät, das zum Beispiel von der Spannungslage zu hoch ist und Sicherheitsmechanismen, die mit dem Originalgerät vorhanden sind, aushebelt“, erklärt Neupert.
Theoretisch könnten Hersteller den neuen Ladestandard auch mit Kabeln und Steckern nutzen, die sich vom Fahrrad trennen lassen. Ein großer Vorteil des Entwurfs würde dann aber nicht mehr greifen. „Das Laden ist eigentlich eine untergeschobene Nebenfunktion. Die Hauptfunktion ist, dass du dein Fahrrad oder deinen Roller genau so bequem parken kannst wie dein 150.000 Euro teures Auto.“ Braucht der Eigentümer oder die Eigentümerin das Fahrzeug wieder, sollen sie sich über verschiedene Wege als Eigentümer identifizieren und das Fahrzeug aufschließen können. Im Falle eines Diebstahls würden alle elektronischen Komponenten als gestohlen gebrandmarkt.
Sonderwege, wie den von Salatzki erwähnten Chademo-Stecker, können auch mehrere Unternehmen miteinander gehen. Wenn diese marktbeherrschend sind, muss eine solche Vereinigung aber gewisse Marktaufsichtspflichten übernehmen und Drittanbietern gewähren, kompatible Teile anbieten zu können. Das Chademo-Konsortium wird das Thema auch auf der diesjährigen Eurobike erneut aufgreifen. Wenn dieser Vorstoß die Prototypenphase verlässt und die von Neupert genannte Frist im kommenden Jahr näher rückt, dürfte die Zukunft einheitlicher Ladestecker und Buchsen sich etwas klarer präsentieren.


Bilder: Chademo, Hannes Neupert

Heute oder morgen können sie geschehen: Die Akkuforschung veröffentlicht seit Jahr und Tag immer wieder neue Erfolgsmeldungen. Einige davon könnten noch für die E-Bike-Welt relevant werden. Die Frage ist wie immer, wann das der Fall sein könnte. Ein Überblick. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Über die Jahre hat man sich daran gewöhnt, dass die berichteten vermeintlichen Durchbrüche und spektakulären Leistungsdaten allzu oft vor allem geschicktes Marketing sind. Unterhalb des Sensationellen geschehen dennoch bemerkenswerte Entwicklungen, die das Zeug haben, schon bald spürbare Veränderungen zu bewirken.

Natrium-Batterien

Ein heißes Thema, das in jüngster Zeit durch die Fach- und sonstige Presse ging, sind die Fortschritte bei Na­trium-Batterien. Die Situation im Moment ist nach wie vor so, dass sie weder die Energiedichte noch die gleiche Zahl an Ladezyklen der eta-blierten Lithium-Ionen-Akkus erreichen. Ihre Haltbarkeit ist also geringer und dabei sind sie auch noch größer und schwerer. Warum also diese Begeisterung? Das sind die anderen Eigenschaften, mit denen Natrium-Batterien punkten: Zum einen lädt dieser Akkutypus enorm schnell, schneller als es mit Li-Ion-Technik möglich ist, sie sind kaum kälteempfindlich, nicht brennbar und vor allem ist es der denkbare Preis dieser Technik, der die Fantasie des Marktes anregt. Natrium ist ein überall verfügbares, enorm günstiges Element, das dementsprechend zu minimalen Kosten zu haben ist. Zumindest bei entsprechenden Fertigungszahlen würden also die Preise schnell sinken. Gesprochen wird von der Hälfte des Preises von Li-Ion-Akkus und im Automobilbereich von Fahrzeugpreisen, die deutlich unter denen von Verbrennern lägen. Zudem brauchen diese Akkus dann keine seltenen Erden oder andere kostbare Metalle, deren Abbau die Umwelt belastet und auch zu politischen Abhängigkeiten führt.
„Unter den aktuellen globalen Gesichtspunkten können wir uns die Abhängigkeit von Nickel und Kobalt nicht mehr leisten. Dies führt zu starken Änderungen in den strategischen Ausrichtungen der jeweiligen Hersteller und damit zu einer stark beschleunigten Entwicklung in unserem Bereich“, verdeutlicht etwa Matthias Behlke, Geschäftsführer des E-Bike-Ausrüsters AES Akku Energie Systeme.
Sollte diese Technologie in absehbarer Zeit in größeren Stückzahlen verfügbar werden, dann würde das ziemlich sicher auch in der Fahrradwirtschaft Folgen haben. Zu denken ist an das Einstiegssegment im E-Bike-Markt, in dem plötzlich ganz andere Preispunkte erreichbar sind.
Nun hat man vollmundige Versprechungen aus der Akku-Entwicklung schon ein paar Mal gehört, sodass Marktbeobachter*innen in der Regel bei solchen vermeintlichen Technologiesprüngen nicht mehr so schnell in Verzückung geraten. In diesem Fall könnte das mit der Serienreife mehr oder weniger weit weg sein: In China wurde ein neues Elektroauto namens Sehol E10X vorgestellt, das vor allem dadurch auffällt, dass es eben der erste Pkw mit einer Natrium-Ionen-Batterie ist. Diese soll also innerhalb von 15 Minuten auf 80 Prozent geladen werden können und auch bei minus 10 Grad Celsius noch 90 Prozent ihrer Energie zur Verfügung stellen. Noch ist der Wagen aber in der Erprobung, andere Hersteller wollen schon im zweiten Quartal 2023 nachziehen und ähnliche Akkus und Autos herstellen. Andere Quellen erwarten aber erst ab 2026 massenverfügbare Produkte. Autohersteller JAC stattete den Kleinwagen Sehol mit Natrium-Eisen-Mangan-Kupfer-Kathoden aus, der gesamte Akkupack verspricht laut den bisher bekannten Angaben eine Energiedichte von 140 Wattstunden pro Kilogramm, was noch recht weit weg ist von den hochwertigen Li-Ion-Akkus, die inzwischen nochmals deutlich darüber liegen. Allerdings liegen mit diesen Werten Lithium-Eisenphosphat-Akkus gar nicht mehr so weit über denen der Natrium-Pendants. Aber auch deren Entwicklung geht rasch voran.

„Für die ,Mi­kro­mobilität‘ wird es tatsächlich starke Veränderungen innerhalb der nächsten 12 bis 18 Monate geben.“

Matthias Behlke,

AES, Akku Energie Systeme

Lithium-Eisenphosphat-Akkus

Statt in mehr oder weniger ferner Zukunft sind Lithium-Eisenphosphat-Akkus heute schon verfügbar und gewinnen schnell an Marktanteilen, auch in der Fahrradwelt. Die Entwicklung bleibt nicht stehen, wie Batteriehersteller Matthias Behlke erklärt. „Natrium hat leider eine viel zu geringe Energiedichte. Im Moment sind die stärksten Zellen bei unter 100 Wattstunden pro Kilogramm (Wh/kg). Dies wird sich leider auch nicht zeitnah wesentlich verbessern.“ Dennoch sieht er gravierende Veränderungen an der Akkufront auf die Fahrradbranche zukommen: „Zum Thema Zukunft der Zellchemie für die ,Mikromobilitätʹ wird es tatsächlich starke Veränderungen innerhalb der nächsten 12 bis 18 Monate geben. Hier hat sich und wird sich vieles stark verändern.“ Noch vor zehn Jahren lag die Energiedichte von Lithium-Eisenphosphat-Akkus dort, wo heute Natriumzellen sind, bei 90 bis 100 Wh/kg. „Wir sind aktuell bei 150 bis 180 Wh/kg was ein enormer Fortschritt zu vor zehn Jahren ist.“ Doch das ist noch nicht die spektakuläre Nachricht: „Mit dem Verlauf dieses Jahres werden wir Energiedichten von 200 bis 220 Wh/kg erreichen“, erklärt Behlke. Damit macht diese Zellkategorie einen großen Sprung, der sich unmittelbar in der Praxis niederschlagen wird. „Dies bedeutet zum Beispiel, dass unser SuperPack und PowerPack plus dann von 1,44 kWh auf ca. 2 kWh springen werden. Dies erreichen wir überwiegend durch die Inte­gration von sogenannten Nanotubes und die Beimengung von Mangan (LiFeMnPo4).“

Lithium-Ionen-Akkus

Bei all den rasanten Entwicklungen bleiben die aktuellen Lithium-Ionen-Akkus natürlich der Gradmesser der Technik, denn auch hier steht das Rad nicht still. „Wir sind dabei, Zellen mit ca. 10 Prozent höherer Energiedichte in den Markt zu bringen. Bei einer 21700er-Zelle (TerraE 55E) springen wir von 5 auf 5,5 Amperestunden, um im gleichen Bauraum mehr Reichweite zu ermöglichen“, erklärt Ale-xander Dautfest, der bei Akkuspezialist BMZ den Bereich Innovation & Research verantwortet.

Feststoffbatterien

Sie werden als „heiliger Gral der Batterieforschung“ bezeichnet, als Game changer, die Zukunft der Elektromobilität, als Innovationschance der hiesigen Industrie und noch vieles mehr. Es geht um Feststoffbatterien, denen immer wieder Wundereigenschaften zugesprochen werden und die damit das Feld der E-Mobilität aufrollen könnten. Das Problem? Wie allen Wunderdingen gemeinsam ist, existieren diese noch nicht wirklich beziehungsweise können nur in mehr oder weniger experimentellen Kleinserien gebaut werden. Auch wenn oft so getan wird, als habe man ein fertiges Produkt, das nun in industriellem Maßstab produziert werden könne, ist das bisher nicht wirklich der Fall. Am nächsten dran schien Quantum-scape zu sein, die bisher ankündigen, ab 2024 diesen Akkutyp in großen Stückzahlen produzieren zu können. Allerdings ist das gleiche Unternehmen vor zwei Jahren zur Zielscheibe eines Shortsellers geworden, der behauptete, dass die Technologie nicht funktioniere. Diese Behauptung steht immer noch im Raum, während inzwischen auch andere Unternehmen eine Produktion für 2024 ankündigen.
Der Unterschied zu den bestehenden Lithium-Ionen-Batterien (LIB) besteht darin, dass es keinen flüssigen, brennbaren Elektrolyten mehr im Akku gibt. Sie sind damit schon prinzipiell sicherer und sollten höhere Energiedichten ermöglichen. Allerdings geben die Experten inzwischen zu bedenken, dass jedes Jahr auch die heute genutzten Li-Ion-Akkus immer besser werden. Es ist nicht klar, ob die Vorteile am Ende so groß ausfallen werden, dass Feststoffakkus die aktuellen Produkte wirklich ausstechen können.

Leistungsstarke Akkupacks finden heute vielfältige Einsatzmöglichkeiten. Im gewerblichen Einsatz kommen die größten Energiespeicher zum Einsatz.

Superkondensatoren

Eine ebenfalls aktuell sehr gehypte Technologie sind Superkondensatoren, ein Technologiefeld, auf dem Elon Musk persönlich einst eine Doktorarbeit begann, bevor er sich dazu entschied, Unternehmer zu werden. Kondensatoren sind aus dem Feld der Elektronik schon lange bekannt. Dort wirken sie beispielsweise gegen Spannungsänderungen, und als Speicher für elektrische Ladung sind sie im Kern eine Form von Batterie. Das „Super“ vor dem Namen verdienen sie sich, wenn sie besonders große Ladungsmengen besonders schnell aufnehmen können, also ihre Batteriefunktion betonen oder wenn im praktischen Einsatz besonders oft Schaltvorgänge vorkommen. Bisher kannte man die Technik am ehesten aus der Formel 1, inzwischen findet ein neuer Anlauf statt, Superkondensatoren in Alltagsprodukten einzusetzen, allen voran im Auto, aber in Zukunft auch am Fahrrad.
Das Ziel der aktuellen Entwicklungen ist es, diese Kondensatoren mit aktueller Akkutechnik zu verbinden. Im Ergebnis könnten dann auch Mi­kromobilitätsprodukte aller Art von dieser Art von Rekuperation profitieren. Ein schöner Nebeneffekt ist, dass die Akkuzellen in der Nutzung weniger strapaziert werden und höhere Zyklenzahlen erreichen könnten. Wann diese Technik dann tatsächlich in der Breite verfügbar sein wird, steht aber einmal mehr in den Sternen.
Ganz große Sprünge durch neue Zellchemien sind weiter weg, wie Ali Şahin, Teamleiter in der Gruppe Innovation & Research Projects bei BMZ erklärt: „Neue Zellchemien wie Lithium-Schwefel oder Lithium-Luft mit sehr hohen Energiedichten im Vergleich zu Lithium-Ionen-Zellen befinden sich aktuell in der Grundlagenforschung. Diese Zellchemien müssen dann im nächsten Schritt noch in großem Maßstab industrialisiert werden, sodass sie kommerziell mit den Lithium-Ionen-Zellen konkurrieren können. Natrium-Ionen-Zellen werden aufgrund ihrer niedrigeren Energiedichte im Vergleich zu Lithium-Ionen-Zellen ihre Anwendung eher im stationären Bereich finden.“

Batteriesicherheit

So wie die Reichweitenangst ist auch die Angst vor einem brennenden Akku eher ein psychologisches Pro-blem, als dass die Daten hier eine erhöhte Gefahr hergeben. Bekanntermaßen brennen zumindest am Pkw die Verbrenner deutlich häufiger als Elektrofahrzeuge, allerdings schaffen es nur Letztere regelmäßig in die regionalen und überregionalen Medien. Bei Fahrrädern ist die Situation allerdings anders, denn Fahrräder ohne Antrieb kommen bisher nicht im Entferntesten als Brandquelle in Betracht. Mit einem E-Bike hat man nun eine zusätzliche Gefahrenquelle im Haus, sei sie auch noch so gering. Nicht zuletzt deswegen steht an dieser Front die Entwicklung nicht still. So wird schon seit geraumer Zeit daran gearbeitet, das „thermische Durchgehen“, also die schließlich unkontrollierbare Erhitzung des Akkus, die am Ende zum Brand führt, in den Griff zu bekommen. Zellhersteller Farasis hat hier eine Lösung vorgestellt, die einen solchen Worst Case auf eine einzelne Zelle begrenzt. Im Falle einer Beschädigung oder eines Defekts soll künftig also nur ein kleiner Teil des Akkupacks „abrauchen“, während die umgebenden Zellen ausreichend Kühlung erhalten, um ein Durchgehen abzuwenden. Solche Lösungen werden, sobald sie verfügbar sind, sicher auch ihren Weg ans Fahrrad finden.
Überhaupt ist die reine Zelltechnologie nicht allein ausschlaggebend. Bevor ein Akkupack fertig ist, müssen noch viele andere Fragen beantwortet werden. Dazu gehört auch die nach der verwendeten Systemspannung. „Auf Produktebene sehen wir einen Trend zu 48-Volt-Technik. Dies ermöglicht es, in Kombination mit höherer Energiedichte der Zellen auch stärkere Anwendungen zu realisieren, wie zum Beispiel Lastenräder mit BMZ-Rs-Motor und BMZ-V10-13S-Akku“, erklärt BMZ-Entwickler Dautfest anschaulich.
Die Wunder, sie bleiben also selten; wenn man aber betrachtet, wo die Akkutechnik noch vor zehn oder zwanzig Jahren stand, dann ist die Entwicklung schon unglaublich. Würde man von dem Jahr 2000 aus in die heute Gegenwart schauen, dann würde sich vielleicht doch das Gefühl des Wunders einstellen. Wunder brauchen manchmal eben etwas länger.


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Cargobikes sind hip. Das Angebot ist riesig. Völlig unterschiedliche Lastenrad-Konzepte und Konstruktionen mit verschiedensten Eigenschaften und Talenten existieren nebeneinander. Eine systematische Betrachtung verschafft mehr Überblick. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Für Handwerker, Lieferdienste, im privaten Alltagseinsatz oder als Familienkutsche zum Kindertransport und Einkaufen genutzt, Fahrräder mit Transportkapazität entwickeln sich immer mehr zum idealen Allround-Fahrzeug mit vergleichsweise niedrigem ökologischem Fußabdruck.
Vielen ersetzt das Lastenrad bereits das Auto, und dies nicht nur in Ballungsräumen. Fast so vielfältig wie ihre Transportaufgaben sind Cargobikes auch im Aufbau und in ihrer Technik. Die Konzepte unterscheiden sich teils erheblich. Auch Ladekapazität, Schwerpunktlage und damit Fahrverhalten und Fahrsicherheit der Cargo-Gefährte sind sehr verschieden. Cargobikes stellen zudem andere Ansprüche an die Fahrrad-Infrastruktur als reguläre Fahrräder und E-Bikes, sowohl in Benutzung als auch beim Parken. Die Cargobike-Szene ist über viele Jahre langsam, aber kontinuierlich gewachsen. In den letzten Jahren ist sie regelrecht explodiert. Viele kleine, hoch spezialisierte Nischenanbieter, mittlerweile aber auch große, internationale Player tummeln sich auf einem expandierenden Markt. Daher existiert eine fast unüberschaubare Vielzahl völlig unterschiedlicher Ideen, Konzepte und Konstruktionen von Lastenrädern nebeneinander. Dennoch lassen sich die meisten Cargobikes nach ihrer Bauart in fünf Haupt-Kategorien einteilen.

Long John: der Vorreiter

Die Form des Long-John-Lastenrads, in den Niederlanden auch Bakfiets genannt, gibt es bereits seit den 20er- Jahren des vorigen Jahrhunderts. Auffällig ist der extralange Radstand, meist mit einer Federgabel und kleinem Vorderrad an der Front. Zwischen Vorderrad und Lenkermast ist eine tief platzierte Ladeplattform oder Transportbox untergebracht. Zum Kindertransport finden sich darin ein oder zwei klappbare Sitze, Gurte und darüber optional ein Regendach. Ab dem Lenker folgt der Rahmen dem konventionellen, fahrradtypischen Konzept mit tiefem Einstieg, Sitzrohr und Sattel sowie einem starren Hinterbau, meist mit 28-Zoll-Hinterrad. Als Antrieb fungiert üblicherweise ein kraftvoller Mittelmotor mit Ketten- oder Nabenschaltung. Nabenmotoren im Hinterrad findet man an günstigeren Modellen. Zum Parken bockt man den „langen Johannes“ mittels Zweibeinständer auf. Long Johns können, je nach Ausstattung, Bauart und Anzahl der Akkus, bis zu 60 Kilo Leergewicht auf die Räder bringen. Die Kaufpreise für Top-Modelle bewegen sich bis in den fünfstelligen Bereich. Relevante bauliche Unterschiede gibt es vor allem bei der Lenkung: Modelle mit Gestängelenkung sind tendenziell etwas preisgünstiger, lassen aber nur einen geringen Lenkeinschlag am Vorderrad zu. Sie sind deshalb schwieriger zu rangieren. Die deutlich aufwendigere Seilzuglenkung erlaubt einen Lenkeinschlag von über 90 Grad am Vorderrad. Solche Modelle können sogar auf der Stelle wenden.
Vorteile des Long-John-Konzepts ist der ideale, tief zwischen den Rädern liegende Systemschwerpunkt, leer sowie beladen, was gute Fahreigenschaften und unproblematisches Handling mit sich bringt. Zudem sind, je nach Konstruktion, hohe Nutzlasten und ein dementsprechend hohes zulässiges Gesamtgewicht möglich.
Nachteilig ist, dass oft das Vorderrad von Transportbox oder Ladung verdeckt wird. So kann man nicht sehen, wie der aktuelle Lenkeinschlag ist. Man muss sich an das „blinde Lenken“ erst gewöhnen. Zudem hat ein Long John aufgrund seiner Länge einen riesigen Wendekreis. Das kleine Vorderrad rollt holperiger und kann keine so hohen Stufen oder Unebenheiten überwinden wie ein großes Laufrad. Kurvenfahren und Rangieren muss man anfangs gezielt üben, bevor man mit der Fuhre sicher unterwegs sein kann. Aufgrund von Breite und Länge sind Umlaufsperren, Poller oder enge Kurven schwierig zu passieren. An Einmündungen ist das Einfahren auf Sicht wegen des überlangen Vorderbaus problematisch. Lasten müssen fest verzurrt und gesichert werden, damit sie in Kurven oder beim Bremsen nicht verrutschen können. Bei sehr langsamer Fahrt oder beim Anfahren kann es leicht kippelig werden. Das Rad zu tragen ist aufgrund der Länge und unhandlicher Dimensionen bestenfalls zu zweit möglich. Auch für einen Transport in der Bahn und auf, am oder im Auto sind Long Johns schlecht bis gar nicht geeignet.

Das Longtail ist praktisch und beliebt bei Kunden. Zudem fährt es sich fast wie ein normales Fahrrad.

Longtail: der Hippster

Die ersten Longtail-Bikes rollten Mitte der 00er-Jahre über kalifornische Straßen und haben sich seitdem vor allem unter jungen Familien einen großen Fan-Kreis erobert. Wie der Name sagt, sind Zuladung oder Passagiere bei diesem Konzept hinter dem Sattel platziert. Dazu wird der Hinterbau gestreckt und verstärkt. Der längere Abstand vom Tretlager zum angetriebenen Hinterrad bedeutet auch für die Transmission, also Kette oder Riemen, mehr Aufwand bei Verschleiß, Wartung und Pflege. Zuladung bringt man idealerweise in tief aufgehängten Seitentaschen oder auf dem langen Deck des Gepäckträgers unter. Durch den langen Hinterbau läuft ein Longtail sehr stabil und ruhig geradeaus. Enge Kurven mag ein solches Bike weniger. Ein Longtail kann mit großen Laufrädern gleicher Größe vorne und hinten aufgebaut werden, was gute Rolleigenschaften und ruhigeren Lauf auch auf unebenem Untergrund verspricht. Es gibt aber auch Modelle, die mit 20- bis 26-Zoll-Laufrädern kompakter ausfallen und wendiger sind. Durch den etwas tieferen Systemschwerpunkt lassen sich diese Modelle beladen stabiler fahren. Zudem kann über einem kleineren Vorderrad ein zusätzlicher Front-Gepäckträger installiert werden.
Vorteilig ist ein Longtail, wenn man vorwiegend einzelne, kleinere Gegenstände transportiert, die sich gut in Seitentaschen unterbringen lassen. Auch für kleine und sogar große Passagiere ist das Longtail ein angenehmes, oft sogar reizvolles Transportmittel, wenn hinten eine Sitzbank, Haltegriffe und Fußrasten angebracht sind. Abstellen und rangieren gehen leicht von der Hand. Durch die schmale Bauart unterscheiden sich Fahrverhalten und Handling nur wenig von einem normalen Fahrrad.
Nachteile: Die lange Hinterbaukonstruktion bringt höheren Antriebsverschleiß mit sich, die Wartung ist aufwendiger. Pflegeleichte Riemenantriebe sind nur schwierig zu realisieren, da Gates-Riemen nur in definierten Längen lieferbar sind. Das hohe Drehmoment eines Mittelmotors intensiviert den Verschleiß der längeren Kette. Zudem entsteht mehr Reibung im System, was den Wirkungsgrad von Motor und Akku schmälert. Schwere Lasten oder Personen, die auf dem Gepäckträger sitzen, beeinflussen durch den ungünstig hohen Schwerpunkt das Fahrverhalten negativ. Aufgrund der Hebelverhältnisse ist das Bike stärker anfällig für Torsionskräfte als ein Long John mit breiter abgestützter Rahmenkonstruktion. Das Longtail ist nur schwer alleine zu tragen und, je nach Länge, schwierig per Auto oder Bahn zu transportieren.

Optisch sehr nah am normalen Fahrrad, aber trotzdem mit einigem Talent zum Lastentransport ausgestattet, ist das Bäckerfahrrad.

Bäckerrad: fast normal

Auf einen ersten, flüchtigen Blick sieht das Bäckerrad aus wie ein ganz normales Fahrrad. Es hat vorn allerdings ein deutlich kleineres Laufrad als hinten, was Platz für einen rahmenfesten, breiten Gepäckträger schafft. Darauf lassen sich ein Korb oder eine Transportkiste befestigen, die die Zuladung aufnehmen. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts fuhren so frühmorgens Bäckerjungen Brot und Brötchen aus, daher die Gattungsbezeichnung. Wichtig ist, dass der Fronträger am Rahmen montiert ist und nicht etwa an der Gabel, wo er mitgelenkt wird. Denn das macht das Lenkverhalten schwergängig und unpräzise. Am Bäckerrad lassen sich, je nach Konstruktion, Lasten bis etwa 25 Kilo passabel transportieren.
Vorteil: Es werden nur wenige spezifische Bauteile und Komponenten benötigt, deshalb ist das Bäckerrad ein relativ preisgünstiges Konzept. Seine kompakte Form und Maße machen es unproblematisch und intuitiv fahrbar, auch Handling und Abstellen bleiben unkompliziert. Optional können viele Modelle mit einem Kindersitz hinten ausgerüstet werden.
Ein offenes Transportbehältnis vorne ist schnell und leicht zu be- und entladen.
Nachteile: geringere Ladekapazität als bei anderen Konzepten und relativ hoher Lastschwerpunkt. Die Konstruktion muss betont seitensteif ausgelegt sein, damit das Fahrverhalten nicht darunter leidet.

Ein Dreirad kann im Stand nicht umkippen und ist deshalb besonders zum Kindertransport beliebt. Doch das Fahren erfordert etwas Umgewöhnung.

Dreispurer: das Zwei(pluseins)rad

Bei zwei Vorderrädern und einem Hinterrad – oder umgekehrt – spricht man von einem Dreispurer. Die klassische Rikscha basiert ebenfalls auf diesem Prinzip. Zwischen den Rädern entsteht Platz für Zuladung, die, über der Achse oder achsnah platziert, relativ leicht lenkbar bleibt. Die Last verteilt sich auf zwei Rädern einer Achse gleichmäßiger als auf nur einem. Dafür entstehen mehr Rollwiderstand und Systemreibung. Durch ihre Breite, die in der Regel nicht viel über die übliche Breite eines Fahrradlenkers hinausgeht, lassen sich Dreispurer bei passabler Lastkapazität relativ kurz und kompakt bauen. Auch Ungeübte können sie auf Anhieb problemlos fahren und sicher beherrschen. Ein Dreirad dieser Bauart kann nicht kippen oder umfallen, sich jedoch auch nicht in Kurven legen. Dreirädrige Bikes benötigen eine Feststellbremse, die verhindert, dass das unbesetzte Rad wegrollen kann. Dreispurer sind meist mit Transportbox oder -kiste aufgebaut und werden gern zum unkomplizierten Kindertransport benutzt. Dafür sollten sie jedoch unbedingt mit Sitzbank und Gurten ausgerüstet sein. Dreispurer sind ein Cargo-Konzept, das vor allem in Dänemark eine schon etwas längere Tradition hat. Daher werden auch viele kostengünstige Modelle ohne Motor angeboten.
Vorteile: Kompaktes, wendiges und meist preisgünstiges Fahrzeug mit unproblematischen Fahreigenschaften und hoher Standsicherheit, auch bei sehr langsamer Fahrt. Gut zu rangieren.
Nachteile: Die Fahrzeugbreite schränkt an engen Stellen ein. Kurven muss man mit angepasster Geschwindigkeit durchfahren. Die Konstruktion von Rahmen und Doppelrad-Achse ist oft aufwendig, die Lenkung kann schwergängig und träge ausfallen. Insbesondere einfache Drehschemel-Konstruktionen lassen sich nur mit eingeschränktem Radius und erhöhtem Krafteinsatz lenken. Ein Dreispurer lässt sich schlecht tragen oder über Schwellen oder Treppen schieben. Nur stehend oder liegend in Autos mit Ladefläche transportierbar.

Lastenräder mit Neigetechnik lassen sich vergleichsweise dynamisch bewegen, wenn die Fahrerin oder der Fahrer sich mal an die entsprechende Fahrweise gewöhnt haben.

Mehrspurer: die Ingenieurslösung

Eine Herausforderung für Konstrukteure wie für Nutzer sind Räder mit Neigetechnik. Sie erlauben höhere Kurvengeschwindigkeiten und fahren sich deutlich eleganter, flotter und flüssiger als starre Mehrspurer. Im Stand oder bei langsamer Fahrt können sie unbeabsichtigt seitlich wegknicken und benötigen deshalb geübte Fahrer und Fahrerinnen sowie eine Blockierfunktion der Neigemechanik beim Parken. Auch eine Feststellbremse ist Pflicht, damit man das Rad sicher abstellen kann. Der höhere Aufwand bei Konstruktion und Bau schlägt sich auch in einem höheren Preis nieder. Die aufwendige Neigetechnik findet sich in vielen, sehr unterschiedlichen Cargobike-Modellen. Die sind teils zum reinen Lasten-, teils zum Transport meist begeisterter Kinder ausgestattet.
Vorteile: Neigetechnik macht eine hohe Fahrdynamik und harmonisches Fahrverhalten auch bei beladenem Bike möglich. Sie erlaubt durchgehend höheres Geschwindigkeitsniveau, speziell auch in Kurven.
Nachteile: Es gibt keine Standardteile oder Technik-Module, auf die Hersteller beim Fahrwerk zurückgreifen könnten. Neigetechnik-Konstruktionen sind deshalb immer individuell, aufwendig und vergleichsweise teuer. Anfahren und langsame Fahrt funktionieren nur nach vorherigem Training. Beim Abstellen müssen Feststellbremse und Neigungsblockade benutzt werden. Die kompliziertere Technik bringt einen höheren Wartungs- und Pflegebedarf mit sich.
Als Fazit lässt sich feststellen: Cargobikes sind gute Indikatoren für die Qualität einer bestehenden Fahrrad-Infrastruktur. Durch ihre spezifische Technik, den Formfaktor und ihr höheres Gewicht stellen sie komplexere Anforderungen an ein Verkehrssystem als regulärer Radverkehr: Durchgängig breite Fahrbahnen, weiche Kurvenradien, weniger erzwungenes Stop&Go, vom Autoverkehr getrennte Wegeführung, sichere und großzügige Abstellflächen in der Nähe von Wohnung, Arbeitsplatz und im Stadtgefüge. Daher gilt: Wo sich Lastenradlerinnen und -radler wohlfühlen, geht es allen Radfahrerinnen und -fahrern gut.


Bilder: Yuba – elmer&&jack, Tern, Bergamont, Nihola, Chike

Die letzte Meile mit dem Lastenrad ist bereits Alltag für Logistiker. Wichtiger Umschlagplatz dafür sind Mikrodepots wie das der DB am Berliner Alexanderplatz. Anbieter sowie die Nutzer DPD und CityLog sagen: Das Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft – und wollen weiter ausbauen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Das Mikrodepot dient als letzter oder erster Umschlagpunkt für Sendungen, die meist per Cargobike räumlich nah ausgeliefert werden. Diese Zustellungsform gehört zu den emissionsfreien Lösungen im Wirtschaftsverkehr und könnte langfristig sogar betriebswirtschaftlicher Kostensenkung dienen. Seit 2021 stellt die Smart City DB dafür eigene Immobilien bereit. Der Standort am Alexanderplatz liegt unter einem historischen S-Bahnbogen. Die Stromversorgung des nur 40 Quadratmeter großen Areals wird durch Solaranlagen unterstützt. Als „Multi-User-Depot“ wird es von der DPD und der CityLog gemeinsam genutzt.

Bis zu 80 Pakete können mit einer Cargobike-Ladung zugestellt werden.

Emissionsfreie B2B-Lieferung fürs Handwerk

Wer die Anlieferung der ersten Pakete für die CityLog live erleben will, muss früh aufstehen. Deren Muttergesellschaft, die GC-Gruppe, ein Verbund europäischer Großhandelsunternehmen, bietet Waren im Bereich Sanitär, Heizung und Energie für eingetragene Handwerker. „Für unsere Kunden ist wichtig, dass wir aufgrund unserer Zustelldisposition sagen können: Der Fahrer kommt voraussichtlich 7:15 Uhr. Wenn jemand auf der Baustelle im siebzehnten Stock arbeitet, braucht er eine Weile, bis er unten ist“, erläutert Franz Hollfelder, Last-Mile-Manager. Wer am Vortag online bestellt, erhält seine Waren per Cargo Bike am nächsten Morgen. „Wir machen zuerst die Feindisposition im Softwaresystem, das optimale Touren auf das Smartphone spielt“, sagt Hollfelder. „Sie zeigen dem Zusteller Schritt für Schritt, wo er als Nächstes hinmuss.“ Weil das nicht immer mit der aktuellen Baustellenlage vor Ort übereinstimmt, kann nachjustiert werden.
Für ihre Transporte setzt das Unternehmen auf das Schwerlastenrad „Bring S“ des Augsburger Herstellers Bayk. Das dreirädrige Cargobike schafft eine Zuladung von bis zu 250 Kilo und fasst 1,4 Kubikmeter. Bayk betreibt in der Kommunikation mit CityLog die Weiterentwicklung der Fahrzeuge. „So kriegen wir zum Beispiel andere Scheiben und eine Vollfederung auf die Hinterachse. Das sind Sachen, die wir im täglichen Bedarf festgestellt haben.“ In der Praxis schaffen die Akkupakete rund 35 Kilometer. Deshalb wünscht man sich ebenso die Entwicklung leistungsfähigerer Akkus. Aber es gibt auch indirekte Wünsche an Politik und Verkehrsplaner. Hollfelder: „Innerstädtische Verkehre sind nicht überall auf fahrradgeeignete Wege ausgelegt. Es gibt Baustellen und Fahrspurverengungen. Wobei wir damit besser zurechtkommen als die Autofahrer. Und wir sind nicht alleine unterwegs: Andere Logistiker, Radfahrer, Autofahrer sowie Fußgänger teilen sich die Infrastruktur. Dass man sich die entsprechenden Freiräume und Plätze lässt, ist ein Lernprozess für alle.“
Im Durchschnitt werden etwa 1000 Stopps pro Tag angefahren. „Wenn man das hochrechnen würde, was wir sonst mit Lkws fahren, ist das schon eine signifikante Einsparung. Unabhängig davon, dass der Betrieb eines Fahrrads kostengünstiger ist als der eines Lkws.“
Die CityLog ist in zehn deutschen Städten präsent. Neben dem DB-Depot am Alexanderplatz werden sechs weitere Standorte in Berlin genutzt. Weil die Miete günstig ist, sind sie oft in den Abholexpressmärkten („Abex“) für Handwerker eingebaut. „Das Mikrodepot am Alex war ein Glücksfall“, schwärmt Hollfelder.
Elf Mitarbeiter sind in Berlin bisher beschäftigt. Zu den Herausforderungen gehört auch das Thema Fachkräftemangel. Hollfelder: „Arbeit im Freien, das merkt das Handwerk und das merken wir, ist kein sehr beliebtes Arbeitsumfeld. Mitarbeiter sind den Witterungsbedingungen ausgesetzt. Bei 30 oder 40 Stopps jedes Mal aussteigen, ob Regen, Schnee oder Hagel.“

Anton Auras, DPD-Zusteller:

„Für uns Fahrer ist das Cargobike eine absolute Erleichterung in der Berliner Innenstadt. Zum Beispiel mit den Einbahnstraßen, wie vorm Roten Rathaus, wo man vorne nicht richtig mit dem Auto reinkommt.
Ich kann über den Alexanderplatz fahren und in die kleinen Gassen. Das Lastenrad steht nicht im Weg oder in zweiter Reihe, sondern kann auf Fußgängerwegen parken. Auch die Zustellgeschwindigkeit ist in der Innenstadt besser als mit einem großen Sprinter. Und mit dem ONO habe ich sogar ein Dach überm Kopf, wenn es regnet.“

160 Privatpakete pro Lastenradtour

Etwas später trifft der DPD-Sprinter am Depot ein, der die Pakete für Privatkunden liefert. Zwischen 9 und 10 Uhr findet zügig der Umschlag statt, das Einsortieren der Pakete. Mit einer Cargobike-Ladung können im besten Fall rund 80 Pakete zugestellt werden. Zwei Mal täglich rollen zwei ONO-Bikes ab Depot zur Auslieferung los, damit die Auslieferer bei ihrer Zustellungstour auf die Menge kommen. „Dabei versuchen wir, ein maximales Gewicht von 25 Kilo einzuhalten“, erklärt Thomas Ihrke, Projektkoordinator der DPD. Pakete sollen möglichst klein sein und der so genannte Stoppfaktor, die Anzahl der Pakete je Stopp, möglichst hoch. „Es kommt vor, dass ein Fahrer 120 Stopps mit dem Lastenrad schafft. Multipliziert mit dem Stoppfaktor – mal bekommt ein Kunde auch zwei Pakete – können das an einem Tag schon mal 160 Pakete sein.“
Eine Voraussetzung bei der Suche nach neuen Mikrodepots ist, dass sie in Gebieten liegen, in denen der Privatkundenanteil hoch ist. Das Einzugsgebiet um den Alex gäbe noch ein drittes oder viertes Lastenrad her. Dabei stößt die Kapazität der geteilten Nutzung im Depot allerdings an räumliche Grenzen. Denn die Transporter werden über Nacht verschlossen, um sie vor Vandalismus zu schützen. Ihrke sagt: „Denkbar wäre die Anmietung von Stellplätzen etwa im nahen Parkhaus. Wir brauchen gute Flächen, deren Miete kostendeckend ist, sonst rechnet sich das nicht.“

Standorte hochfahren, betreiben und lernen

Mit dem zweiten Berliner Standort am Alex setzt die Smart City DB den Aufbau eines innerstädtischen Depot-Netzwerks auf eigenen, städtischen oder privaten Flächen fort. Smart-City-Mann Jan Kruska erklärt zum Vorhaben: „Wir verstehen uns als Infrastrukturunternehmen und gehen damit auf Entdeckungsreise. Wir wollen die Mikrodepots hochfahren, betreiben und lernen. Daraus wollen wir ein Betriebskonzept schreiben, das an allen Bahnhöfen eine Option darstellt.“ Hintergrund für neue Mikrodepot-Entscheidungen der Smart City bleibt auch die Unterstützung und Zusage der Kommunen.

Daniel Weiker, CityLog-Fahrer

„Ich fahre von montags bis freitags Pakete aus. Offizieller Start ist um 6:30 Uhr. Wir beladen Heizungs- und Sanitärartikel für Firmensitze oder Baustellen. Für meine Tour nutze ich die Logistik-App Connect Transport. Da klickt man sich von Stopp zu Stopp durch. Vorher plane ich die Route für Berlin am Computer, da kann ich Feinheiten für die Tour optimieren. Wir benutzen Radwege. Sind Radwege unzumutbar, dann die Straße. Das Feedback ist größtenteils positiv. Anfangs kamen sogar Leute und haben Selfies mit dem Lastenrad gemacht.“

Berliner Studie erkennt Potenziale, Logistiker preschen vor

Vielversprechend sind erste Ergebnisse der Mikrodepot-Studie des Landes Berlin, die das Fachmagazin Logistra nennt. Demnach zeigt die Analyse der Stadträume, dass Mikrodepots ein hohes Potenzial besitzen. Wichtig seien gemischte Ansätze mit Single- oder Multi-User-Konzepten wie am Alex. Hinzu kommt das Zusammenspiel von privaten und öffentlichen Playern. Gerade wo es um die Verfügbarkeit von Flächen gehe, kommen Länder und Kommunen, Groß- und Einzelhändler sowie Parkhausbetreiber ins Spiel.
Nach den ersten Erfahrungen blicken auch die Logistiker am Alex positiv in die Zukunft der Mikrodepots und setzen auf deren Ausbau. So ist CityLog mit Smart City in anderen Locations in Hamburg, Köln und Bremen präsent. Franz Hollfelder sagt: „Wir stellen bereits Fahrräder zur Verfügung, ohne dass wir eine Auslastung haben. Unser Gesellschafter ist stark dabei, uns für noch mehr Städte zu begeistern. Bis Ende 2024 wollen wir in Österreich, der Schweiz und Frankreich präsent sein. Wir sind am Anfang einer Entwicklung und werden Ende nächsten Jahres in Deutschland zwischen 60 und 80 Cargobikes auf der Straße haben.“
Die DPD will in der Hauptstadt bis 2030 emissionsfrei zustellen. „Darin ist das Thema Lastenrad Teil eines Gesamtkonzepts“, sagt Thomas Ihrke. Über Modellstufen ist man längst hinaus, versichert der Projektleiter: „Wir sind in Berlin gestartet und sind hier schon mit 29 Lastenrädern unterwegs. Und wir machen in jedem Fall weiter.“

Niedrigschwelliges Konzept

Interview mit Jan Kruska, Smart City, DB

Was sind die Pluspunkte von Mikrodepots?
Es gibt keine exklusiven Endladestationen in den Städten. Das große Fahrzeug braucht Platz zum Halten am jeweiligen Empfangsort. Die stehen oft in zweiter Reihe. Aus kommunaler Sicht haben wir damit ein Verkehrsflussproblem gelöst. Für Unternehmer, die Strafzettel erhalten, ist das ein finanzielles Thema. Mit einem Lastenrad haben sie das alles nicht: Sie können vorfahren, kleine Parkecken nutzen oder handbetrieben im Schritttempo bis zur Haustür rollen. Im hoch verdichteten Gebiet haben wir im Zustellprozess einen Zeit- und Kostenvorteil. Hinzu kommt, dass Fahrerinnen und Fahrer keinen Führerschein benötigen. Damit können neue Arbeitskräfte im Logistikbereich aufgenommen werden, die bisher nicht möglich waren. Betriebswirtschaftlich wird es immer interessanter in Richtung Vergleichsgröße des bestehenden Sprintermodells.

Welche Rolle spielt die Smart City DB bei der Einrichtung?
Bei den Depots schauen wir vermehrt auf unsere Immobilien. Das Verlockende an unserem Konzept ist, dass wir niedrigschwellig einsetzen. Baulich ist ein Depot ein sehr einfaches Konzept. Wir haben hier nur 40 Quadratmeter. In NRW bauen wir gerade an 400. Da sieht man die Spannbreite. Auch am S-Bahnhof Messe Nord, am Omnibusbahnhof ZOB, wollen wir einen Standort eröffnen. Daran merkt man, dass Begriffe wie Messegelände oder Busbahnhöfe eine gute Mischnutzung zum Thema Logistik bekommen. Wir erleben eine gewisse Renaissance des Güterbahnhofs in Verbindung mit städtischem Umfeld.
Die Umsetzung machen wir immer mit den Kommunen, die in dem Segment nicht unbedingt Fachwissen mitbringen. Fördervorhaben vom Bund und der EU kommen als „positive Störfaktoren“ hinzu. Am Ende versuchen wir, einen Plan zu erstellen. Was wir vorantreiben wollen, ist die Vernetzung, indem wir bundesweit mit allen Akteuren in den Dialog treten. Auf der städtischen wie auf der Nutzerseite. So waren die Berliner mal in Hamburg, um zu berichten, damit die nicht alles noch einmal erfinden müssen.

Waren besondere Abstimmungen am Alex nötig?
Wir haben uns im Vorfeld abgestimmt mit dem Senat und dem Bezirk Mitte. Rein praktisch auch mit dem Denkmalschutz. Der wollte das Depot nur zulassen, wenn die historische Baufläche sichtbar ist, die noch in Restfläche vorhanden ist. Sie sehen den Sandstein und den Schaufenstereffekt. Die Logistiker hätten gerne eine Milchglasfolie gehabt. Wir haben als DB gesagt: Man soll sehen, was Logistik ist. Und man soll auch die Cargobikes sehen. Gerade an einem Punkt, wo viele Touristen vorbeikommen, der auch Showcase ist.

Und wie sieht die bisherige Bilanz aus?
Seit 2021 haben wir schon eine gewisse Spielzeit am Alex. Erfahrungswert ist, dass die beiden Nutzer noch dabei sind und ihr Volumen eher gesteigert haben. Abgesehen von kleinen Veränderungen im betrieblichen Ablauf. Und wir sind sehr glücklich, dass eine Langfristperspektive eingebaut ist. Das heißt, dass die Projekte mit Ende des Förderzeitraums fortgeführt werden können. Die Chancen dafür sind größer, wenn ich mit drei, vier Jahren starte. Dann kann auch die Akzeptanz bei Bürgern und Anrainern hergestellt werden. Prinzipiell kann man sagen, dass dieser eher theoretische Ansatz, dass Ware über Nacht in die Stadt kommt, kurz gebrochen wird bei der Zustellung und dann mit einem zweiten, kleineren Fahrzeug zugestellt wird, jetzt durch verschiedene Praxisbeispiele bestätigt ist. 


Info Mikrodepot-Studie:

https://www.berlin.de/sen/uvk/mobilitaet-und-verkehr/verkehrspolitik/forschungs-und-entwicklungsprojekte/laufende-projekte/mikro-depots-1301035.php


Bilder: Wscher, Jan Kruska

Lastenräder gab es zwar auch schon, bevor Riese & Müller 2013 erstmals sein Modell Load vorstellte, doch mit der Markteinführung brachte der Premiumhersteller einige Innovationen, die das Cargo-Segment seitdem nachhaltig geprägt haben. Auf der Eurobike stellt Riese & Müller nun die bereits vierte Modellgeneration in der Variante Load 75 vor. Der Innovationsfreude sind die Hessen auch zum zehnten Load-Geburtstag treu geblieben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Mit tiefem Schwerpunkt, Cargo-Line-Motor von Bosch und voll gefedert, von Riese & Müller als Control Technology beschrieben, gibt es kaum eine Fahrsituation, die das Load4 75 selbst bei voller Zuladung mit bis zu 200 Kilogramm Gesamtgewicht aus der Ruhe zu bringen vermag. Insbesondere dann, wenn sich die Kundinnen für die Option mit einem ABS- System von Bosch und einer Cargo-spezifischen Magura-Scheibenbremse entschieden haben. Die Ziffer 75 in der Modellbezeichnung beschreibt die größere der beiden Load-Varianten. Deren variabel gestaltbarer Transportraum bietet viel Potenzial zum Beladen, entweder bei Logistikaufgaben oder beim Transport von bis zu drei Kindern, die sich über einen großzügigen Fußraum freuen. Apropos Familien: Mit wenigen, unkomplizierten Handgriffen lassen sich Lenker und Sattel für Körpergrößen von 1,50 bis 1,95 Meter anpassen. Der optionale RX Chip macht das Load4 75 zum Connected E-Bike. Die aktuelle GPS-Position des Bikes wird automatisch in der Cloud aufgezeichnet und lässt sich etwa im Fall des Diebstahls per App abrufen. Das digitale Lock-Feature informiert zudem, wenn das Load bewegt wird. Abschließen sollten Besitzerinnen es natürlich trotzdem noch mit dem integrierten Abus-Rahmenschloss. Zusätzlich kann das Bike je nach Servicepaket mit dem Premium-Versicherungsschutz und Wiederbeschaffungsservice im Diebstahlfall, aber auch auf Reisen oder bei Schäden abgesichert werden.


Bilder: Riese & Müller