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Der Wandel vom Austragungsort der Automesse IAA zum Eurobike-Standort ist ein passendes Sinnbild für die Verkehrswende in Frankfurt. Diese steht spätestens seit dem Stadtratsbeschluss zur Fahrradstadt auf der Tagesordnung. Erste Erfolge sind bereits sichtbar, der Pendlerstadt steht aber noch ein langer Weg bevor. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Der Radentscheid sammelte 2018 40.000 Unterschriften. Er wurde zwar formell abgelehnt, einen Stadtverordnetenbeschluss zur Fahrradstadt Frankfurt gab es trotzdem.

Dass gesellschaftliche Rückendeckung für die Verkehrswende in Frankfurt besteht, bewiesen die Bewohner*innen im August 2018, als der Stadt ein 40.000-fach unterschriebener Radentscheid übergeben wurde. Mitte des darauffolgenden Jahres wurde er zwar abgelehnt, weil nötige gesetzliche Voraussetzungen für ein Bürgerbegehren laut dem Liegenschaftsdezernenten nicht erfüllt worden seien, die Stadt begann aber, in acht Sitzungen mit der Interessensgemeinschaft Radentscheid zu verhandeln. Zwei Monate später wurden die wesentlichen Forderungen des Radentscheids in den Maßnahmenkatalog Fahrradstadt Frankfurt am Main übernommen und um weitere Schritte ergänzt. Die Stadtverordnetenversammlung stimmte diesem Ende 2019 zu. Seitdem ist in Frankfurt einiges in Bewegung geraten.
Das Maßnahmenpaket fokussiert zunächst Hauptverkehrsstraßen, auf denen noch keine Radwege existieren. Dort werden teilweise auch Fahrspuren für Autos entnommen und umgewidmet. So zum Beispiel bei der Friedberger Landstraße, wo den Radfahrenden nun größtenteils 2,30 Meter breite, rot markierte Fahrradspuren zur Verfügung stehen. Auch anderenorts wurde ummarkiert, auch wenn die Wunschbreite gerade noch nicht erreicht wird. „Dieser breite, rote Radfahrstreifen, der ist symbolisch für die neuen Aktivitäten hier in Frankfurt. Wenn die rot eingefärbt sind, ist die Infrastruktur deutlich besser wahrnehmbar, wir haben auch nicht so viele Falschparker, die sich daraufstellen“, so Stefan Lüdecke. Er ist Referent des Dezernenten für Mobilität und Leiter der Stabsstelle Radverkehr. Wo möglich, wird auch mit Protektionselementen gearbeitet, wenn es keine seitlichen Parkplätze oder Ausfahrten gibt. Im August 2021 gab die Stadt bekannt, dass seit dem Fahrradstadt-Beschluss 28 Kilometer Radwege rot markiert wurden, 6,1 Kilometer neue Radwege an Hauptstraßen und fast 6000 neue Fahrradstellplätze entstanden. „Wenn eine Straße komplett grunderneuert werden muss, dann ist das Ziel, dass wir tatsächlich auch bauliche Radwege schaffen von mindestens 2,30 Metern Breite und vom MIV baulich getrennt“, verspricht Lüdecke.

Der Frankfurter Mainkai war schon mal für den Autoverkehr gesperrt und soll es in Zukunft wieder sein. Bei der Fahrradmesse Eurobike diente er als publikums-wirksame Außenfläche.
Der Oeder Weg ist die erste von elf Nebenstraßen, die nach dem Konzept Frankfurter Fahrradstraße des Radentscheids umgebaut werden.

Nebenstraßen werden fahrradfreundlich

Beschlossen wurde auch der Umbau von elf Straßenzügen zu sogenannten fahrradfreundlichen Nebenstraßen. Die Macherinnen des Radentscheides haben hierfür das Konzept Frankfurter Fahrradstraße entwickelt, das zügiges, konfliktfreies und sicheres Fahren ermöglichen soll. Die erste fahrradfreundliche Nebenstraße, der Oeder Weg, ist bereits erkennbar umgebaut und mit Autobarrieren als Modalfilter ausgestattet worden. Der Oeder Weg ist jetzt eine Fahrradstraße und hat neue Fahrradbügel und rot markierte Kreuzungsbereiche bekommen. Auch Abstellanlagen für E-Scooter sind Teil des Konzepts. Folgen sollen circa 40 große Pflanzenbeete, außerdem Sitzmobiliar und sogenannte Parklets, modulare Elemente aus Holz, die aus Parkplätzen Aufenthaltsraum machen. „Wir haben natürlich auch an die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum gedacht. Wir haben viele Parkbuchten rausgenommen, dort, wo sich Cafés und Restaurants befinden, die Interesse hatten, ihre Außengastronomie dort aufzustellen“, betont Stefan Lüdecke. Begleitet werden die Veränderungsprozesse von einem Forschungsprojekt der Radverkehrsprofessur, die das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur an der Frankfurt University of Applied Sciences fördert. Diese hat Prof. Dr.-Ing. Dennis Knese seit Beginn des letzten Jahres inne. Bei den Nebenstraßen untersuchen die Forschenden, wie sie wirken und wahrgenommen werden. In Zukunft sollen die Forscherinnen dazu die Situation vor der Umgestaltung dokumentieren, um nach den Umbauten Vergleiche ziehen zu können. Dafür sprechen sie auch mit Gewerbetreibenden vor Ort, die vielfach Umsatzeinbußen durch den fernbleibenden Kfz-Verkehr befürchten – trotz gegenläufiger wissenschaftlicher Erkenntnisse aus anderen Orten. Die Stadt unterstützt die Untersuchungen mit Verkehrszählungen, sodass Verkehrsverlagerungen quantifiziert werden. Die Begleitforschung ist auch deshalb notwendig, weil die Maßnahmen zunächst reversibel sein werden, sodass sie wieder zurückgebaut werden können, falls die gewünschten Effekte ausbleiben sollten.

Innenstadt im Mittelpunkt

In der »Fahrradstadt Frankfurt« pa-trouilliert seit 2019 eine zehnköpfige Fahrradstaffel der städtischen Verkehrspolizei, die etwa das Falschparken auf Fahrradwegen kontrolliert. Susanne Neumann, Vorständin des ADFC-Kreisverbands Frankfurt kritisiert deren Fokus auf die Innenstadt. Verschiedene Parteien hätten mehrfach darum gebeten, die Staffel auch in den Außenbezirken einzusetzen. Dieses Ersuchen habe der Verkehrsdezernent abgelehnt, laut Neumann dadurch begründet, dass es den Erfolg in der Innenstadt gefährde.
Der Fokus auf die Innenstadt sei symptomatisch für die Verkehrswende in Frankfurt. Hiervon sei auch das Nahverkehrsangebot betroffen. Neumann wartet auf Verkehrskonzepte für westliche und südliche Stadtteile, die Anfang letzten Jahres in Auftrag gegeben wurden. Sie sollten Ende 2021 vorliegen. „Was da jetzt rausgekommen ist, weiß ich immer noch nicht“, stellt sie ernüchtert fest. Im September soll das Radverkehrskonzept für Frankfurt West zunächst dem Ortsbeirat vorgestellt werden.
Dass in jüngster Zeit dann doch einiges für den Radverkehr getan wurde, bestätigte 2020 der ADFC-Fahrradklimatest. Zumindest im Vergleich zu anderen Städten der gleichen Größe lag die Benotung zu dieser Aussage mit der Schulnote 2,9 knapp eine Note über dem Durchschnitt. Auch die Möglichkeiten zur Fahrradmitnahme im Nahverkehr wurden deutlich besser beurteilt als im Mittel. Insgesamt liegt Frankfurt mit der Note 3,7 unter den Städten mit mehr als einer halben Million Einwohner auf Platz drei.

„Das Fahrrad geht als großer Gewinner aus der Pandemie heraus“

Prof. Dr.-Ing. Dennis Knese,Frankfurt University of Applied Sciences

Universitätsprofessor Dr.-Ing. Dennis Knese (oben) und Susanne Neumann vom ADFC (unten) setzen sich für besseren Radverkehr in Frankfurt ein. Auch privat sind sie gerne mit dem Fahrrad unterwegs.

Viele Ansprechpartner für Radverkehr

Die vergleichsweise guten Ergebnisse beim Radklimatest dürften noch nicht von den relativ neuen Beschlüssen herrühren. Auch vor dem Radentscheid und dem Beschluss zur Fahrradstadt Frankfurt gab es bereits Ambitionen, den Radverkehr in Frankfurt zu fördern. Die Stadt hat dafür 2009 personell aufgestockt und gründete ein eigenes Radfahrbüro. Aus den damals vier Angestellten sind mittlerweile acht geworden. Hinzu kommen Einzelpersonen im Verkehrsdezernat, Straßenverkehrsamt sowie dem Amt für Erschließung und Straßenbau. Überall dort gibt es eigene Ansprechpartner für den Radverkehr, die in engem Austausch miteinander stehen.
Nicht nur städtische Angestellte sind dabei involviert. Der verkehrspolitische Sprecher des ADFC bespricht aktuelle Planungen in monatlichen Treffen mit der Stadt, weitere Details werden auf dem kurzen Dienstweg geklärt. Das Thema Radverkehr scheint in Frankfurts Öffentlichkeit angekommen zu sein. Die Resonanz auf ihr Engagement beim ADFC habe in den letzten Jahren zugenommen, erklärt Neumann.
Auch die Fahrrad-Professur werde wahrgenommen, beobachtet Dennis Knese. Der Uni-Standort Frankfurt spielt in seiner Arbeit natürlich eine große Rolle. „Wir sind sehr eng im Kontakt mit verschiedenen Akteuren in Frankfurt, sei es die Stadt, seien es aber auch Wirtschaftsunternehmen, Verbände und Akteure aus allen möglichen Bereichen.“ Insgesamt zeigt sich Knese mit dem Tempo der Verkehrswende nicht unzufrieden. Gerade im Hinblick auf die Ziele Luftqualität und Klimaschutz müsse es aber noch schneller gehen.

Verbesserte Datenlage

Der Radverkehrsprofessor ist auch an der Erstellung neuer Verkehrsmodelle beteiligt, mit denen die Stadt den Radverkehr grundsätzlicher verstehen will. Es geht dabei um die Frage, warum die Radfahrenden bestimmte Routen und Verkehrsmittel benutzen. Dauerzählstellen von Hessen Mobil stellen massenhaft Daten zur Verfügung. Normalerweise erstellt die Stadt alle zwei Jahre eine Stadtrandzählung, die aufgrund der Pandemie zuletzt ausgesetzt wurde. Die Ergebnisse der letzten Zählung in Zusammenarbeit mit der TU Dresden attestieren Frankfurt eine Steigerung von fast 60 Prozent beim Radverkehrsanteil. Lag dieser 2013 noch bei 12,5 Prozent, waren es 2018 19,8 Prozent.
Gerade die Dynamik im Radverkehrsanteil könnte laut dem Radverkehrsprofessor bestehen bleiben. „Das Fahrrad geht als großer Gewinner aus der Pandemie heraus“, glaubt Knese. Im Hinblick auf eine Zeit nach der Covid-19-Pandemie gaben die Menschen an, häufiger Fahrrad fahren zu wollen.
Auch Lastenräder, so Knese, könnten in Frankfurt am Main eine große Zukunft haben. Die Stadt fördert private Lastenräder ohne oder mit Elektroantrieb mit 500 beziehungsweise 1000 Euro. Die Fördermittel von 200.000 Euro für 2022 waren im Fe-bruar dieses Jahres schnell ausgeschöpft und sollen im nächsten Jahr erneut zur Verfügung stehen. Auch das Leihsystem Main-Lastenrad wird sehr gut genutzt. 16 Lastenräder können im Stadtgebiet kostenlos bis zu drei Mal pro Monat ausgeliehen werden.
Die Stadt erarbeitet zurzeit einen Masterplan Mobilität, der Klarheit in die Entwicklungsrichtung Frankfurts bringen soll. Susanne Neumann hofft, dass das Anrecht aller Menschen auf Mobilität durch diesen wahrnehmbar wird. Für die Zukunft sieht sie, genau wie Dennis Knese, eine reduzierte Regelgeschwindigkeit als geeignetes Mittel, um dieses Ziel voranzutreiben. Die Chancen für Tempo 30 stehen nicht schlecht, sollten die Städte den Ermessensspielraum erhalten. Der Initiative Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten, die diesen Spielraum einfordert, hat sich Frankfurt längst angeschlossen.
Dass die Menschen in Frankfurt aktive Mobilität nicht generell scheuen, beweist auch der hohe Fußgängeranteil am Modal Split. Etwa ein Drittel ihrer Strecken legen die Frankfur-ter*innen zu Fuß zurück. Die Studie Mobilität in Deutschland stellte 2017 für keine untersuchte Stadt einen höheren Wert fest. Hierbei dürften die kurzen Wege, Frankfurt ist auf einer kleinen Grundfläche gebaut und das ganze Zentrum ist relativ gut zu Fuß erreichbar, ihre Stärken ausspielen.

„Unsere größte Herausforderung als Stadt Frankfurt ist ja, tagtäglich mit den Pendlerinnen und Pendlern zurechtzukommen“

Stefan Lüdecke, Referent des Dezernenten für Mobilität & Leiter der Stabsstelle Radverkehr

Frankfurt ist Pendlerstadt

Was für den Fußverkehr förderlich ist, sorgt für Probleme für die Vielzahl an Menschen, die aus der dicht gestrickten Metropolregionen täglich ihren Weg ins Zentrum finden müssen. „Unsere größte Herausforderung als Stadt Frankfurt ist ja, tagtäglich mit den Pendlerinnen und Pendlern zurechtzukommen“, erklärt Stefan Lüdecke ein. Das bestimmt dann manchmal, ob man Platz für eine Fahrradspur wegnehmen kann oder nicht. „Ich hoffe, dass das mit dem Homeoffice auch weiter so bleiben wird, dass wir nicht wieder zu diesen ganz hohen Zahlen kommen werden und dass vielleicht auch Leute aus der Region auf das Rad umsteigen werden.“
Der Pendelverkehr sorgt außerdem dafür, dass die vielen zusätzlichen Autos den eigentlich guten Modal Split verwässern. In diesem wird nämlich nur die Wohnbevölkerung erfasst. Um dem Problem zu begegnen, bräuchte es einen Ausbau der Park-and-Ride-Parkplätze in den außerhalb gelegenen Kommunen. Außerdem könnte ein Radschnellwegenetz helfen, das sternförmig in das Frankfurter Umland führt. Neun solcher Routen wurden bereits geplant und sind, zumindest außerhalb des Frankfurter Stadtgebiets, auch schon teilweise im Bau. Weitere sternförmige Verbindungen ins Umland sieht Lüdecke als Großprojekt der nächsten Jahre. Auch am Radschnellwegenetz lässt sich Kritik üben. Dessen Trassenführung laufe teilweise mitten durch Ortschaften hindurch, anstatt an diesen vorbeizuführen, so Susanne Neumann.

Das privat geführte Fahrradparkhaus am Bahnhof ist fast leer. Seit die Werkstatt im Eingangsbereich geschlossen wurde, ist es noch einfacher, dort Fahrräder zu entwenden.

Problemzone Bahnhof

Neumann erkennt in der Stadt weitere Herausforderungen, etwa in der Bahnhofsregion. „Der Bahnhof ist ein absolutes Lowlight für Frankfurter Radfahrende, ganz einfach, weil es da null Radinfrastruktur gibt.“ Die Radfahrerinnen sind gezwungen, im 50 km/h schnellen Autoverkehr mitzuschwimmen, obwohl es sich auch für sie um eine Hauptverkehrsachse handelt. Ausbaufähig ist auch die Abstellsituation, eine wichtige Voraussetzung für intermodale Reiseketten. Es gibt zwar eine Fahrradebene im Untergeschoss eines privat geführten Autoparkhauses, dieses ist allerdings nicht ausgeschildert. Zudem wird eine der Hauptfunktionen sicherer Abstellanlagen – die Sicherheit – nicht erfüllt. Es gibt keine Überwachungsfunktion bis auf ein kleines Drehkreuz. Neumann berichtet von Fällen, wo dieses einfach übersprungen und Fahrräder entwendet wurden. Der private Betreiber hatte zunächst eine Fahrradwerkstatt im Eingangsbereich betrieben, die aber eingestellt wurde. Hinzu kommt der Omnibus-Verkehr, der die Anfahrt erschwert. Pläne für ein Fahrradparkhaus auf der gegenüberliegenden Bahnhofsseite sind unlängst geplatzt. Probleme wie diese sorgen für Unmut. Damit Planungsprozesse transparent und verständlich sind, führt die Stadt Partizipationsverfahren durch. Gegenseitiges Verständnis bringen die verschiedenen Verkehrsgruppen in Frankfurt nicht immer füreinander auf, zum Beispiel in den Chats dieser Online-Veranstaltungen. „Klar gab es auch gute und sachliche Kommentare, aber teilweise wird die Debatte eben sehr emotional geführt und wenig nüchtern“, ordnet Knese ein. Ein Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lässt noch tiefer blicken. Darin berichtet die Autorin, wie ein Stadtteilpolitiker im traditionell eher konservativen Westend sich für den Umbau einer Straße einsetzte und dafür beschimpft wurde und Morddrohungen erhielt. Solche Widerstände zeigen, dass die Verkehrswende in Frankfurt nicht unumstößlich ist. Das aktuelle Tempo der Maßnahmen und die jüngere Geschichte des Radentscheides sorgen unterm Strich aber für viel Hoffnung, dass sich die Perspektive der Frankfurterinnen vom Autoverkehr wegbewegt. So ist es auch bei Dennis Knese. „Es setzt sich immer stärker auch der Gedanke durch, dass man mit attraktiven Alternativen und der Reduzierung des motorisierten Verkehrs gerade in den Städten eben auch eine bessere Lebensqualität hervorrufen kann.“
Ein Erlebnis, von dem Susanne Neumann berichtet, zeigt, wie einzelne Maßnahmen das gegenseitige Verständnis steigern können. Ein Taxifahrer, mit dem Neumann für einen Beitrag des Hessischen Rundfunks zusammengebracht wurde, schätzt die Bedeutung der roten Radwegmarkierung für sie völlig unerwartet ein. „Wenn ich einen rot eingefärbten Radweg hab, da darf ich mich als Taxifahrer nicht draufstellen. Aber bei allen anderen darf ich das“, soll er gesagt haben.


Bilder: Sebastian Gengenbach, Radentscheid Frankfurt, Dennis Knese, Torsten Willner

Der urbane Verkehr ist nicht nur ein Mitverursacher der Klimakatastrophe, sondern etwa durch Abgas- und Lärmemissionen auch Auslöser von gesundheitlichen Schäden. Nachhaltige Mobilität mit dem Fahrrad hat den umgekehrten Effekt: Wer mit dem Fahrrad pendelt, lebt nachweislich gesünder. Die Mobilitätswende kann somit auch eine Gesundheitswende sein. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


2017 hat eine Studie des Beratungsunternehmens EcoLibro zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt herausgefunden, dass fahrradfahrende Mitarbeitende im Schnitt etwa ein Drittel weniger Krankheitstage aufwiesen als ihre Kollegen und Kolleginnen, die mit anderen Verkehrsmitteln zur Arbeitsstelle kamen. 3,35 Krankheitstage standen 5,3 bei den Benutzerinnen des eigenen Pkws oder öffentlicher Verkehrsmittel gegenüber. Am besten schnitten darunter wiederum jene Radfahrenden ab, die nicht nur gelegentlich, sondern das ganze Jahr über mit dem Fahrrad oder E-Bike zur Arbeit kamen. Ein weiterer interessanter Aspekt: Sie schnitten in Sachen Krankheitstage sogar besser ab als Mit-arbeiterinnen, die regelmäßig Sport treiben. Außerdem sind zwar laut EcoLibro die Krankheitstage der Rad-pendler*innen nach Unfällen rechnerisch etwas höher als bei verunfallten Autofahrenden, trotzdem waren die Krankheitstage bei der Radfahr-Gruppe insgesamt noch die geringsten. Das lässt auf einen deutlichen Zusammenhang zwischen aktiver Mobilität, wie Zufußgehen und Radfahren, und dem Gesundheitszustand der Mitglieder dieser Gruppe schließen.
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO werden viele der häufigsten Krankheiten, wie Erkältungs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Diabetes und Adipositas, von Bewegungsmangel verstärkt. Tatsächlich ist es also einfach, diese Krankheiten einzudämmen. Mehr aktive Mobilität bedeutet mehr Gesundheit.
Das gilt übrigens genauso für die mentale Gesundheit: Schon vor acht Jahren wurde in einer britischen Langzeitstudie mit 18.000 Probanden und Probandinnen an der East Anglia University in Norwich festgestellt, dass sich Menschen, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, deutlich weniger zufrieden fühlten als solche, die mit anderen Verkehrsmitteln pendelten. Das mag mit den täglichen Staus auf den Straßen zu tun haben, aber auch mit der aktiven Form des Pendelns. Ein überraschendes Ergebnis war auch, dass Zu-Fuß-Pendler und -Pendlerinnen sich zufriedener fühlten, je länger ihre Pendel-Strecke war.

Leben auch E-Bike-Nutzende gesünder?

Wie sieht das für Pedelec-Fahrer und -Fahrerinnen aus? Sie bewegen sich mit weniger Krafteinsatz als Radfahrende ohne Motor. Ernten sie daher eher weniger Zufriedenheit und Gesundheit? Das könnte man vermuten, stimmt aber nicht ganz: Eine europäische Studie mit älteren Menschen hat 2019 nachgewiesen, dass Pedelec-Nutzer und -Nutzerinnen im Schnitt etwa 35 Prozent längere Strecken zurücklegen als die Vergleichsgruppe mit normalen Fahrrädern. Die Schlussfolgerung: Zwar ist der Kraftaufwand auf dem E-Bike geringer, doch Menschen, die Pedelec fahren, bewegen sich dafür häufig mehr auf dem Fahrrad. Zudem kommen viele Menschen überhaupt erst zum Radfahren respektive Pendeln, weil ihnen E-Bike-Fahren mehr Spaß macht als Radfahren ohne Unterstützung. Sie trauen sich eine bestimmte Entfernung erst mit dem Zusatzschub durch den E-Motor zu. All diese Punkte untermauern die These: Fahrradfahren ob mit oder ohne Motor kann – und sollte – Teil eines gesellschaftlichen Gesundheitsmanagements sein.

Der VCÖ sieht einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit letaler Herz-Kreislauf-Erkrankungen und dem Anteil aktiver Mobilität am Modal Split.

Wie können Städte gesünder werden?

Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) forderte im Herbst 2020: „Mehr Gesundheit in die Städte!“ Im Institut gibt es bereits seit 2002 die Arbeitsgruppe Gesundheitsfördernde Gemeinde- und Stadtentwicklung (AGGSE), die fünf Thesen zur nachhaltigen und gesundheitsfördernden Verkehrspolitik aufgestellt hat. „Nachhaltig kommunale Gesundheitsförderung braucht eine hinreichend soziale, technische und grüne Infrastruktur“, heißt es da in These fünf. Ein wichtiger Beitrag dazu seien die Priorisierung des Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehrs und die Reduzierung des motorisierten Individual- und Güterverkehrs.

Bessere Infrastruktur – mehr gesellschaftliche Gesundheit

Was bedeutet das für den Bund und die Kommunen? Vor allem eines: für die Existenz, Sicherheit und den Komfort von Fahrrad-Infrastruktur zu sorgen. Ganz im Sinne von: Wer Radwege baut, wird Radverkehr ernten (Hans-Jochen Vogel, damals Münchner OB, prägte den Satz: „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten!“). Dazu muss das Fahrrad zunächst in den Köpfen der Entscheiderinnen und Planerin-nen als Verkehrsmittel angekommen sein – ein Vorgang, der derzeit noch im Wachsen begriffen scheint.
Heißt das, dass die komplette Infrastruktur verändert werden muss, um mehr Autofahrende auf das Fahrrad zu bekommen? Nicht unbedingt und vor allem nicht überall.
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club ADFC hat einen Leitlinien-Katalog für den Ausbau einer nachhaltigen Fahrrad-Infrastruktur herausgegeben. Darin geht es nicht nur um geschützte Radverkehrsanlagen wie Protected Bike Lanes, wie wir sie bereits aus der Corona-Zeit in Berlin kennen, sondern auch grundsätzlich um das Zusammenspiel verschiedener Verkehrsmittel. In Tempo-Dreißig-Zonen etwa könne man getrost auf Radspuren verzichten und Mischzonen schaffen, in denen alle Verkehrsmittel parallel existieren. Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch Kreuzungen und Schnittstellen. Hier wird das Plus an Gesundheit von Radfahrenden bedroht von gesteigertem Unfallrisiko. Grundsätzlich gilt allerdings: Je mehr sich die Verkehrsteilnahme vom Auto zum Fahrrad und E-Bike verschiebt, desto weniger unfallträchtig sind Letztere unterwegs. Beispiel Niederlande: In Städten mit sehr hohen Zahlen an Fahrradfahrenden gibt es eine signifikant geringere relative Verunfallung von Radlern und Radlerinnen.

Win-Win-Situation für die aktive Mobilität

Als wie weitreichend man den Zusammenhang zwischen gesunder Mobilität und gesellschaftlicher Gesundheit sehen kann, zeigt die Veröffentlichung „Gesunde Städte durch gesunde Mobilität“ des Österreichischen Verkehrsclubs VCÖ. Hier steht unter anderem ein Fakt im Vordergrund: Wenn wir unsere Mobilität auf Gesundheit der Verkehrsteilnehmenden ausrichten, gewinnen wir auch automatisch an Klima-Gesundheit, denn der Großteil der gesundheitsbelastenden Schadstoffe und Treib-hausgas-Emissionen wird vor allem von Verbrennungsmotoren verursacht, die auch die nächsten Jahre bei Weitem das Gros der Personenbeförderung bestimmen werden.
Jedenfalls führt die gesunde, weil aktive Mobilität als Konsequenz aus den angeführten Punkten erwartungsgemäß wieder zu weiterer gesellschaftlicher Gesundheit. So wie umgekehrt die Automobilität, vor allem auf die kurzen Strecken bezogen, uns bislang nicht nur aus Mangel an Bewegung krank gemacht hat, sondern auch einen Großteil der krank machenden klimatischen Veränderungen verursacht hat. Noch ein Grund mehr, auf die neue Velo-Mobilität zu setzen – und entsprechende Infrastruktur bereitzustellen.


„Gesundes Mobilitätsmanagement ist auch Arbeitgeberattraktivität“

Die Berliner Agentur für Elektromobilität eMO unterstützt kostenlos Berliner Unternehmen und Betriebe, die ihr Mobilitätsmanagement verbessern wollen. In Sachen Unternehmensmobilität informiert die eMO unter anderem über die Vorteile wie Nachhaltigkeit und Gesundheit, die zunehmend wichtigere Bedingungen für eine zeitgemäße Mobilität der Mitarbeitenden sind, und begleitet Unternehmen bei der Umsetzung.Darüber haben wir mit Luisa Arndt, Projektmanagerin in der Agentur, gesprochen.

Warum ist auch gesunde Mobilität für die Unternehmen, die Sie unterstützen, ein Thema?
Mobilität kann mit gesunder Fortbewegung verbunden sein – etwa indem immer mehr Mitarbeitende mit E-Bike oder Fahrrad zum Betrieb fahren. Gleichzeitig ist diese Mobilität umweltfreundlicher und oft wirtschaftlicher. Zudem fördert die aktive Fortbewegung die Gesundheit, was sich in weniger Krankheitstagen äußert, wie Studien belegen. Hinzu kommt: Gesunde Mobilitätsangebote wie das Dienstradleasing steigern auch die Arbeitgeberattraktivität deutlich.

Ist in den Betrieben ein Umdenken hin zu nachhaltigeren, gesünderen Formen der Mobilität bereits in Gange?
Das ist unterschiedlich. Manche Betriebe sehen, dass sie innerbetriebliche Mobilität strukturell angehen müssen. Andere wollen zunächst einfach nur Veränderungen im Detail schaffen, indem bestimmte Strecken nicht mehr mit dem Dienstauto, sondern per Dienstrad zurückgelegt werden sollen. Unsere Aufgabe ist es zunächst, den Blick des Unternehmens auf ihr eigenes Mobilitätsmanagement zu schärfen. Dazu ist eine ganzheitliche Betrachtung der Unternehmensmobilität notwendig.

Stichwort Arbeitswege-Mobilität. Wie kann der Betrieb seine Mitarbeiter motivieren, per E-Bike oder Fahrrad in die Arbeit zu kommen?
Das kann mit ganz kleinen Dingen anfangen – der Luftpumpe am Empfangstisch, das Schaffen von sicheren Abstellmöglichkeiten für E-Bikes im Betrieb, aber auch Umkleideräume im Unternehmen oder die Teilnahme an Aktionen wie „Wer radelt am meisten?“ oder „Stadtradeln“ können für Mitarbeitende motivierend wirken. Oft ist aber auch die Belegschaft vor dem Arbeitgeber sensibilisiert, wenn es etwa um die Akzeptanz des Jobradleasings im Unternehmen geht. Dusch- und Garderoberäume werden oftmals von Mitarbeitenden angeregt. Allgemein kann man sagen, es gibt beide Richtungen beim Anstoß von Veränderungsprozessen, Top-Down wie auch Bottom-Up.

Macht sich die Verkehrswende denn tatsächlich im betrieblichen Mobilitätsmanagement breit?
Jein. Es gibt ein zunehmendes Bewusstsein für nachhaltige Mobilität, sowohl von Geschäftsführenden als auch Mitarbeitenden. Oft spüren größere Betriebe mehr Druck, sich zu verändern. Hier braucht es allerdings oft Zeit, bürokratische Strukturen zu verändern. Bei kleinen Betrieben hängt Veränderung andererseits oft von einzelnen, hoch motivierten Personen ab, die diese Tätigkeiten übernehmen, dann jedoch auch schneller etwas erreichen können. Zukünftig könnte die von der EU eingeführte Berichtspflicht zur Nachhaltigkeit einen weiteren Beitrag zur Einführung von nachhaltigen Mobilitätsformen leisten.


Bilder: Georg Bleicher, VCÖ 2021, Berlin Partner

Die Zukunft der Mobilität gestalten

von Peter Eckart und Kai Vöckler (Hrsg.)

Warum brauchen wir eine Transformation der Mobilität? Wie sieht diese aus? Und welche Notwendigkeiten und Möglichkeiten gibt es mit Blick auf ihre Ausgestaltung? Der erste Band einer kommenden Buchreihe der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main (HFG) setzt sich mit Hintergründen, Anforderungen und Lösungen auseinander und stellt in einem Praxisüberblick 64 ausgewählte Projekte vor. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


„Klimawandel und Ressourcenverknappung, aber auch der stetig steigende Verkehrsaufwand machen es unabdingbar, neue Lösungen für eine umweltschonende und menschenfreundliche Mobilität zu entwickeln“, so heißt es im Klappentext des über 300 Seiten starken Fachbuchs. Aufgabe von Mobilitätsdesign sei es, zwischen Mensch und Mobilitätssystem zu vermitteln und Nutzungserfahrungen positiv zu beeinflussen, so die Herausgeber Prof. Dr. Kai Vöckler (Lehrgebiet Urban Design) und Prof. Peter Eckart (Integrierendes Design). Der flüssige und sichere Übergang von einer Mobilitätsform zur anderen, die Nutzung unterschiedlicher individueller, geteilter oder öffentlicher Verkehrsmittel auf einem Weg müsse künftig komfortabel und einfach möglich sein, um Menschen ein positives Mobilitätserlebnis zu vermitteln. Mit diesem Ansatz bildet das Buch einen Kontrapunkt zur bislang weitgehend technisch ausgerichteten Debatte über die Zukunft der Mobilität und des Verkehrssystems. Fundiert und praxisorientiert stellen die Wissenschaftler zusammen mit ihren Co-Autor*innen Konzepte und realisierte Infrastrukturprojekte vor, die die Zukunft einer nachhaltigen und vernetzten Mobilität greifbar machen. Aus den Bereichen Design, Architektur und Städtebau werden anhand von Fotos, Planzeichnungen und Kurztexten beispielhafte Lösungen vorgestellt, thematisch unterteilt in Connective Mobility, Active Mobility, Augmented Mobility und Visionary Mobility.

Band 1: Schwerpunkt Praxis

Der Auftaktband der Offenbacher Schriftenreihe zur Mobilitätsgestaltung hat den Schwerpunkt Praxis. Auf eine allgemeine Einleitung von Kai Vöckler und Peter Eckart zur Gestaltung einer nachhaltigen Mobilität der Zukunft, inklusive grundlegender Definitionen des Mobilitätsdesigns und seiner Aufgaben, werden ausgewählte Projekte mit Bildern und Beschreibungen von Markus Hieke, Christian Holl und Martina Metzner vorgestellt. Im Frühjahr 2022 soll ein zweiter Band zum Schwerpunkt Forschung folgen.


Mobility Design: Die Zukunft der Mobilität gestalten Band 1: Praxis (Offenbacher Schriftenreihe Zur Mobilitätsgestaltung, 1) | Herausgeber: Kai Vöckler und Peter Eckart | Jovis Verlag, Berlin | Dez. 2021 | 304 Seiten | 20.96 x 2.54 x 26.04 cm | ISBN 978-3868596465 | 42,00 Euro


Spezifische Branchenlösungen sind aus Business, Verwaltung und öffentlichem Dienst nicht wegzudenken. Aber bei Fahrrädern? Viele Unternehmen und Institutionen setzen inzwischen auf speziell nach ihren Anforderungen entwickelte Räder. Ihre Argumente: vergleichsweise niedrige Kosten, hoher Nutzwert, umweltfreundlich und ein ausgesprochen positives Image. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


S(treifen)-Pedelec statt Streifenwagen: In Osnabrück wurden zwei schnelle E-Bikes für die Polizei umgerüstet – mit vielen Vorteilen im Einsatz und deutlichem Zuspruch der Beamt*innen.

Seit etwa einem Jahr sind Polizeibeamte der Fahrradstaffel Osnabrück mit speziell ausgerüsteten Speed-Pedelecs unterwegs. Und zwar mit großer Begeisterung: „Die Kollegen der Fahrradstaffel sind den ganzen Tag im Einsatz und haben mit den S-Pedelecs riesige Vorteile“, sagt Hendrik Große Hokamp, Leiter der Abteilung Mobilität vor Ort. Sie können ihr Ziel mit den bis zu 45 Stundenkilometer schnellen E-Bikes durch enge Straßen viel schneller erreichen als Kolleginnen im Streifenwagen oder zu Fuß. Vor allem die Flexibilität im Einsatz zählt: „Durch die Nutzung von Radwegen oder Wegen, die für Autos gesperrt sind, sind wir, etwa bei der Personenverfolgung, viel näher dran.“ Bei der Ausführung hoheitlicher Aufgaben darf die Polizei natürlich auch in Fußgängerzonen oder über gesperrtes Gelände fahren, zu dem man ansonsten keinen Zugang hätte. Die in Osnabrück genutzten Polizeiräder vom Schweizer E-Bike-Hersteller Stromer – einem der Pioniere des S-Pedelecs – kosten in der Standardausführung rund 5.500 Euro; für die Umbauten legte die Polizei noch etwa 2.000 Euro pro Fahrzeug drauf. Die umfangreichen Anpassungen wurden nicht vom Hersteller, sondern von Orange Bikes, einem Fachhändler vor Ort, ausgeführt. Hinzu kam zum Beispiel eine komplette Blaulichtanlage. Zwei Frontblitzer sind vorn am Lenker, einer jeweils seitlich des Gepäckträgers an den Zusatzboxen angebracht. Auch diese Boxen sind nachträglich hinzugekommen und tragen unverkennbar das Gewand der Polizeifahrzeuge. Darin sind die wichtigen Dinge, die man im Einsatz braucht – etwa der Alkomat, das Martinshorn oder eine Zusatzbatterie. Apropos: Die Verbrauchskosten des im Rahmen versteckten Akkus halten sich in Grenzen, sie liegen bei derzeit etwa 20 bis 30 Cent pro hundert Kilometer. Das E-Auto kostet da schon mal fünf Euro. Nicht nur, weil es den Gesetzes-hüterinnen Spaß macht, will man nach dem Projekt ein eindeutig positives Fazit an das niedersächsische Innenministerium abgeben, das dann über weitere S-Pedelecs für die Polizei entscheidet: Das Interesse sei groß – auch in der Bevölkerung, so Große Hokamp. „Das erleichtert uns natürlich auch die Kommunikation. Und wir haben zig Einsätze abarbeiten können. Darunter auch Fälle, die wir sonst nicht gelöst hätten.“ Dabei ging es um Ladendiebe, die zu Fuß oder per Auto wohl nicht gefasst hätten werden können, aber auch um eine vermisste Person, die dank des Einsatzfahrzeugs auf unwegsamem Gelände gefunden wurde. „Wenn man misst, wie erfolgreich die Einsätze bewältigt worden sind, ist das eindeutig pro S-Pedelec.“

E-Cargobike für den Notfall

Noch ein Blaulicht-E-Bike: Das Cargobike für mobile Notfall-Einsatzkräfte ist vorwiegend für größere Events und den Einsatz im engen Innenstadtbereich konzipiert. Es stammt von Urban Arrow, einem niederländischen Lastenradhersteller, der in den letzten zwei Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat. Mittlerweile hat ihn die finanzstarke und weltweit agierende Pon-Gruppe übernommen. Das hat die Möglichkeiten des Lastenradherstellers stark erweitert: Vor gut einem Jahr wurde eine Business-Abteilung bei Urban Arrow gegründet, und mit frischen finanziellen Mitteln geht man intensiv daran, auch geschäftliche Bereiche zu erschließen. Das Emergency Bike wurde von einem Geschäftspartner mit einer Box für medizinische Zwecke ausgestattet. Die Umgestaltung geht weit über das bekannte Design hinaus: Auch hier gibt es das klassische Blaulicht auf der Box, gut sichtbar nach vorn strahlend. In die Box integriert ist ein spezielles Lagersystem für die medizinische Standard-ausstattung, die für solche Einsätze vorgesehen ist. Sie ist wärmeisoliert. „Die Boxen können aber auch mit aktiver Kühlung geliefert werden“, erklärt Erik Jan Stoffel, Sales Manager für Europa beim Hersteller Urban Arrow.
Das E-Bike wird so auch im Innenstadtbereich von Paris eingesetzt. Natürlich gibt es auch ganz anders gelagerte Einsatzbereiche: „Wir haben einen Fischlieferanten, der mit einer Box mit aktivem Kühlsystem die Amsterdamer Innenstadt beliefert.“ Selbst die Autolobby steigt aufs Fahrrad: Laut Stoffel sind schon heute man-che ADAC-Pannenhelfer, sogenannte gelbe Engel, mit Lastenrädern von Urban Arrow unterwegs. Die sind dann mit der Craft Box bestückt, also einem Aufbau, der für Werkzeugausstattung optimiert ist. „Wir haben einen enormen Zuwachs bei den Verkaufszahlen im Business-Bereich“, sagt Stoffel. „Zwar ist momentan der Verkauf an private Kunden noch führend, aber das wird sich zunehmend ändern. Die Vorteile sind enorm, etwa die Möglichkeit, vollen Zugang zur Innenstadt zu haben, das Wegfallen von Park- oder Mautgebühren, die Zeitersparnis und natürlich die Möglichkeit, führerscheinfrei unterwegs zu sein. Und das alles auch noch mit einem grünen Gewissen.“ Dazu kommt der Image-Transfer: Wer geschäftlich mit dem Cargobike unterwegs ist, zeigt damit auch Nachhaltigkeitsbewusstsein. Aber die direkten praktischen Vorteile überzeugen für sich genommen viele Unternehmen ohnehin.

Nicht nur die professionelle Optik: In der Box der Zweirad-Ambulanz ist Hightech integriert, möglich ist sogar ein aktives Kühlsystem.
Gelbe Engel per E-Bike: In mehreren deutschen Städten kommt rettende Hilfe jetzt noch schneller, denn Staus spielen mit dem E-Bike keine Rolle.

Nachhaltige Logistik per Cargobike und Hub

„Wir haben das Cargobike neu interpretiert“, sagt Johannes F. D. Hill, Global Business Development Manager beim Unternehmen Rytle. Der wesentliche revolutionäre Schritt war wohl, das System selbst modular darzustellen und entsprechend mit dem eigentlichen Zustellfahrzeug, einem hoch spezialisierten E-Lastendreirad, enorme Flexibilität zu gewinnen.
Konkret sieht das so aus: Ein Hub, also eine Hauptumschlagbasis, ist die Grundlage im jeweiligen Verteilersektor. Dieser Hub ist technisch gesehen eine smarte Lkw-Brücke im 10-Fuß-Format. Sie wird morgens aufgestellt und enthält bis zu neun vorkommissionierte Boxen zur Verteilung. Deren Volumen beträgt rund 1,4 Kubikmeter pro Box. Per Rytle Movr, einem E-Dreirad mit Kabine, kann je eine Box abgeholt werden. Dazu wird der Hub über eine autarke Hydraulik abgesenkt. Die auf Rollen laufende Box kann von den Zustellerinnen herausgezogen und in den Freiraum zwischen den Hinterrädern des Movr geschoben werden. Dort wird sie fest mit dem Fahrzeug gekoppelt. So geht es auf die „letzte Meile“. Wendig im engen Berufsverkehr, mit einfachem Zugang auch zu Fußgängerzonen oder über für Kfz gesperrte Routen. Die Fahrerinnen werden von zwei E-Motoren an der Hinterachse mit bis zu 25 km/h unterstützt. Trotz des Doppelantriebs bleibt der Movr rechtlich ein Pedelec. „Heute muss man nicht mehr mit dem Sprinter in die Innenstadt fahren, der Movr und ein dezentral postierter Hub bringen die Effizienz auch auf der letzten Meile – wo traditionelle Logistiksysteme nichts verdienen.“ Erfahrungen in London etwa hätten gezeigt, dass Straßensperren für Kraftfahrzeuge in der Innenstadt sehr stark der Fahrradlogistik zugutekommen. Und natürlich ist der Movr vor allem eine Lösung, die CO2 spart und bei aller Effizienz helfen kann, die Innenstädte lebenswerter zu machen.
Die Technik des Rytle-Sytems kommt dabei vom Trailer-Spezialisten Krone Commercial Vehicle Group. Hintergrund: Rytle mit Hauptsitz in Bremen entstand als ein Joint Venture der Krone-Gruppe und der Orbitak AG, einem Beratungsunternehmen, das im Bereich Neue Mobilität unterwegs ist, sowie dem Lastenfahrradhersteller Speedliner.
2018 wurde also Rytle Movr ins Leben gerufen. „Ein großer Launch-Kunde war damals UPS. Dieses Unternehmen hatte schon vorher in dieser Richtung experimentiert“, sagt Hill. Man wollte aber noch effizienter werden. Die Wechselbox für den Movr hat nicht zufällig die Bodenmaße der Europalette. „Das ist das Maß der Dinge, und das wollen wir auch nicht ändern“, so Hill. Die Zuladung der Box beträgt satte 180 Kilogramm.
Vor allem im norddeutschen Raum ist Rytle in Großstädten gut vertreten – Hamburg, Oldenburg und Bremen sind Hochburgen. Der Stellplatz wird von der Kommune oder von privaten Unternehmen vermietet. Weltweit sind derzeit rund 500 Movr unterwegs. Der Logistik-Partner kann das Rytle-System mieten oder kaufen. „Der Movr ist besonders für die KEP-Branche (Kurier-Express-Pakete) interessant“, so Hill. „Aber wir sind breit aufgestellt.“ Einige große Logistikunternehmen sind Partner für das modulare System auf der letzten Meile, unterwegs ist man mittlerweile in zehn Ländern, Tendenz wachsend. „Wir sind noch am Anfang“, ist Hill überzeugt.

Perfekt in Logistiksysteme der großen Partner eingepasst, aber auch perfekt für die letzte Meile ohne Stress und Schadstoffe: Rytle Movr.

Bibliothek und mehr auf drei Rädern

„Es kommen immer weniger Leute in die städtischen Bibliotheken, da fährt die Bibliothek einfach zu den Leuten, nämlich auf die Plätze der Stadt“, sagt Stefan Rickmeyer. Sein Unternehmen Radkutsche baut seit 15 Jahren Cargo-bikes für schwere Lasten sowie Sonderaufbauten dafür. Radkutsche hat schon vor Jahren zwei Bücher-Bikes für die städtische Bibliothek in Oslo entwickelt. „Das bringt nicht nur wieder Interesse fürs Lesen. Die Plätze werden so stärker belebt, es gibt eine ganz andere Verweildauer, die Städte werden mit solchen Aktionen lebendiger und lebenswerter.“ Zur Ausstattung gehören auch Sitzelemente und Sonnenschirme, die rund um das Bike aufgestellt werden. Basis für den Spezialumbau ist bei Radkutsche das Modell Musketier, das größere von zwei Grundmodellen. Ein Dreirad, zwei Räder hinten, eines vorne. Die Grundkonfiguration des Fahrzeugs ist das reine Fahrgestell, ganz ohne Aufbau. Für den kann zwischen sieben Optionen ausgewählt werden, von der klassischen Pritsche über einen Gastro-Aufbau für mobile Küchen oder Kaffee-Bikes bis hin zur Rikscha für zwei Fahrgäste. Oder es planen eben Kund*innen und Radkutsche zusammen. In diesem Fall ist es Jonas Adam, der sich im Unternehmen um ein Bibliotheks-Bike auch für die Stadt Reutlingen kümmert. Diesmal wird es weniger ein Schwertransport, da die Bücher hauptsächlich digital sind: Es sollen zehn Laptops zum Bibliotheks-Bike gehören, nebst Infrastruktur wie WLAN und Ladegeräte. „Oben wird es eine Solaranlage geben“, erklärt der Leiter Umbauten bei Radkutsche. „In der Kiste selbst ist eine Präsentationsfläche für Bücher oder Flyer, darunter die Technik zu dem Ganzen. Wie beim Osloer Bike hat das Reutlinger Lastenrad eine Bestuhlung für Gäste dabei, die sich dann entspannt in Liegestühlen fläzen und auf den Tablets lesen können.
„Häufig kommen die Kommunen auf uns zu“, erzählt Radkutsche-Chef Rickmeyer. Sie haben beispielsweise ein ähnliches Rad irgendwo gesehen oder davon gehört und fanden es eine vielversprechende Idee für die eigene Stadt. „Aber wir müssten einfach noch mehr nach außen gehen. Wir müssen direkt auf die Marktplätze!“ Derzeit entfallen nur etwa ein bis zwei Prozent der Bestellungen auf Kommunen, doch die Tendenz ist steigend. Da werden dann etwa Räder für die Stadtreinigung oder das Gartenbauamt bestellt – immer mit speziellen Aufbauten für den jeweiligen Einsatz. Zum Beispiel der große „Muldenkipper“ fürs Erdreich oder die Pritsche mit Aufnahmen für Besen und Schaufeln. Auch einige große internationale Logistikunternehmen liefern mit Radkutsche-Rädern. Die französische Post etwa stellt in der Pariser Innenstadt unter anderem damit zu.

„Häufig kommen die Kommunen mit neuen Ideen auf uns zu.“

Stefan Rickmeyer, Radkutsche

Von der mobilen Bibliothek bis hin zum Pflegeservice der öffentlichen Anlagen: Die Kommunen entdecken die Möglichkeiten des E-Bikes für sich.


Bilder: Polizeidirektion Osnabrück, ECOX, ADAC, Rytle – Schoening Fotodesign, Radkutsche

Die Städte sind im Zugzwang. Sowohl die Anzahl als auch die Größe der Autos verknappen den öffentlichen Raum immer weiter. Inzwischen nutzen Planer*innen einen breiten Maßnahmen-Mix, um dringend notwendigen Platz zu schaffen. Für neue Mobilität, aber auch für überlebenswichtige neue Grünflächen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Die Mobilitätswende lässt auf sich warten. Trotz Klimaschutzdebatten und Dauerstaus auf den Straßen wächst die Zahl der Autos und der gefahrenen Pkw-Kilometer. Anfang Januar 2021 waren bundesweit 48,2 Millionen Pkw zugelassen. Das waren 14 Prozent mehr als noch zehn Jahre zuvor. Mit 575 Wagen pro 1000 Einwohner hat der Autobesitz einen neuen Höchstwert erreicht und die Fahrzeuge beanspruchen immer mehr Raum in den Kommunen. Die langjährige Taktik, Autofahrerinnen mit Anreizen zum Umstieg auf nachhaltige Verkehrsmittel zu bewegen, ist fehlgeschlagen. Politik, Stadt- und Verkehrs-planerinnen brauchen neue Strategien, wenn sie klimaresiliente Städte mit mehr Rad- und Fußverkehr wollen. Mobilitätsexperten und der Deutsche Städtetag sind sich einig: Der Autobesitz und die Zahl der Pendlerfahrzeuge in den Städten müssen drastisch sinken. Das Umweltbundesamt hat 2019 einen ehrgeizigen Zielwert genannt. Demnach soll es in der „Stadt von morgen“ maximal 150 zugelassene Pkw pro 1000 Einwohner geben. Diese Vision ist nur in einer Stadt der kurzen Wege umsetzbar. „Wir müssen unsere Städte umbauen und unser Mobilitätsverhalten verändern, um das zu schaffen“, sagt der niederländische Mobilitätsexperte Bernhard Ensink vom Beratungsunternehmen Mobycon. Sein Konzept lautet: Autoverkehr vermeiden, verlagern und verändern. Möglichst viele Autofahrten sollten demnach überflüssig werden, notwendige Fahrten auf den Umweltverbund verlagert werden und erst in letzter Instanz sollten Verbrenner durch E-Autos ersetzt werden. Vorreiter-Kommunen wie Amsterdam machen vor, wie die geparkten Autos systematisch und programmatisch aus der Innenstadt entfernt werden können.
„Die Niederlande sind eine Fahrradnation, aber wir sind auch eine Autonation“, sagt Ensink. Das gilt ebenso für die Fahrradmetropole Amsterdam. Wer dort mit einem Ausflugsboot durch die Grachten schippert, blickt zurzeit noch oft auf Motorhauben vor pittoresken Herrenhäusern. Die Politik will das ändern. Der Platz soll zurück an die Menschen gehen. Seit 2019 reduziert die Verwaltung deshalb die Zahl der Anwohnerparkausweise im Zentrum um rund 1.500 jährlich. Sobald jemand die Stadt verlässt, sein Auto aufgibt oder stirbt, werden die Ausweise nicht mehr ersetzt. Und das, obwohl die Warteliste für Parkausweise lang ist. Außerdem werden bei Umbauarbeiten und Renovierungen der Uferstraßen und Hafenkais sukzessive Parkflächen im Zentrum entfernt. Bis 2025 sollen nach den Plänen der Verwaltung so rund 11.000 Innenstadtparkplätze entfallen.

„Die Niederlande sind eine Fahrradnation, aber wir sind auch eine Autonation“

Bernhard Ensink, Mobycon

Der Umbau ist in vollem Gange. Bis 2025 sollen nach den Plänen der Amsterdamer Verwaltung rund 11.000 Innenstadtparkplätze entfallen.

Zürich: 33.000 Parkplätze reichen

Auch in Zürich hat der Rückbau von Parkplätzen Tradition. 1996 hat die Politik im sogenannten historischen Parkplatzkompromiss beschlossen, die Zahl der Parkplätze in der Innenstadt auf den Stand von 1990 zu deckeln. „Seitdem wird für jeden Parkplatz, der unterirdisch gebaut wird, oberirdisch einer entfernt“, sagt Martina Hertel, Verkehrsforscherin am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu). Das zeigt Wirkung. Mittlerweile nutzen nur noch 25 Prozent der Züricher*innen ihren Privatwagen, wenn sie sich in der Stadt bewegen. Das sind 15 Prozent weniger als noch im Jahr 2000. Allerdings bereitet der Abbau von Parkplätzen Handwerks- und Dienstleistungsunternehmen zunehmend Schwierigkeiten. Sie finden trotz Gewerbeparkausweis oft keinen Stellplatz, wenn sie ihre Kunden besuchen. Nun sucht die Politik nach Lösungen. Zurzeit wird diskutiert, 10 bis 20 Prozent der 33.000 Parkplätze im Zentrum in Gewerbeparkplätze umzuwandeln.

Parkgebühren erhöhen und eigene Garagen nutzen

Ein weiteres wirksames Mittel, um den Parkverkehr in der Innenstadt und in den Wohnvierteln zu verringern, sind Anwohnerparkgebühren. Diese Stellschraube steht deutschen Städten erst seit Juli 2021 zur Verfügung. Zu dem Zeitpunkt hat der Bund die Deckelung der Gebühren aufgehoben. Inzwischen können die Länder oder Kommunen die Höhe ihrer Parkgebühren selbst regeln. Wie effektiv das sein kann, macht die 47.000-EinwohnerStadt Landau in der Pfalz vor. Dort hat die Politik im Oktober 2021 in der Innenstadt das kostenfreie Anwohnerparken flächendeckend abgeschafft. Wer seinen Wagen jetzt auf der Straße parken will, braucht ein Tages-, Monats- oder Jahresticket. Der Effekt ist beachtlich: „Seitdem stellen viele Anwohner ihren Privatwagen nicht mehr auf der Straße ab, sondern in der eigenen Garage oder auf einem Stellplatz auf ihrem Grundstück“, sagt Verkehrsforscherin Martina Hertel. Leichter kann man wohl kaum Platz schaffen.

Mit Gebühren Trend zu großen SUVs eindämmen

„Über die Anwohnerparkgebühren können die Städte langfristig auch die Zahl und die Art der Privatwagen regulieren, die in ihrer Stadt unterwegs sind“, sagt die Verkehrsforscherin. Aus ihrer Sicht ist das überfällig. „Die Autos werden mit jeder Generation größer, schwerer und PS-stärker.“ Der Anteil der Neuzulassung von SUVs lag im Jahr 2020 bei gut 21 Prozent. Bislang können ihre Besitzerinnen sie fast überall im öffentlichen Raum abstellen. Damit sind sie privilegiert. Ein durchschnittliches Fahrzeug verbraucht rund zwölf Quadratmeter. So groß sind manche Kinderzimmer. Aber während Wohnraum immer teurer wird, bleibt Parken vielerorts weiterhin kostenfrei. „Freiburg und Tübingen, versuchen diesem Trend der immer größer und schwerer werdenden Fahrzeuge, etwas entgegenzusetzen“, sagt die Verkehrsforscherin. In Tübingen müssen Anwohnerinnen bald bis zu 180 Euro pro Jahr fürs Parken vor der Haustür zahlen und in Freiburg bis zu 480 Euro. Der Clou: Je größer das Fahrzeug, umso höher sind auch die Gebühren.

Falschparken unterbinden

Neben der Bepreisung von Parkraum ist auch das Ordnen des Parkverkehrs ein probates Mittel, um Platz zu schaffen. Über Jahrzehnte hat sich das Bordsteinparken, das Parken im Kreuzungsbereich oder in Kurven überall in den Städten eingebürgert. Bremen geht seit einiger Zeit gezielt dagegen vor. Mit Pollern oder Fahrradbügeln, die parallel zum Bordstein in Kurven oder Kreuzungsbereichen aufgestellt werden, verhindern sie das regelwidrige Abstellen der Autos. In den vergangenen Jahren haben die Bremer Verkehrsplaner im Rahmen des Forschungsprojekts „Sunrise“ außerdem die Zahl der vorhandenen Parkplätze an den tatsächlichen Bedarf angepasst. Das Konzept haben sie erstmals in dem Wohnquartier „Östliche Vorstadt“ ausprobiert. Dort ist der Platz zwischen den stuckverzierten Bürgerhäusern begrenzt. Die Gehwege sind rechts und links der Fahrbahn von Autos zugestellt. In der Mitte kann gerade noch ein Wagen fahren. Eine Zählung vor Ort zeigte, es existieren 1436 legale Parkplätze in dem Wohngebiet. „Aber es waren nur 1315 Wagen bei der Kfz-Zulassungsstelle angemeldet“, sagt Michael Glotz-Richter, Referent für nachhaltige Mobilität bei der Bremer Senatsbehörde. Den übrigen Raum belegten demnach Pendlerinnen und Besucherinnen, die zum Bummel in die Innenstadt wollten oder in das nahe gelegene Krankenhaus. Nach einer ausgiebigen Phase der Bürgerbeteiligung hat die Behörde 120 Parkplätze aus dem Viertel entfernt. Der Erfolg der Maßnahme: Kinder, Erwachsene und Menschen mit körperlichen Einschränkungen können nun wieder die freigeräumten Gehwege nutzen. Für die Bewohnerinnen ändert sich wenig, für Besucherinnen und Pendler*innen viel. Theoretisch können sie zwar immer noch in dem Viertel parken. Allerdings nur für zwei Stunden und kostenpflichtig. Alternativ können sie auf den Parkplatz des nahe gelegenen Krankenhauses ausweichen. Der ist nach einem Umbau auf mehr Parkverkehr eingerichtet und selbstverständlich ebenfalls kostenpflichtig.

Mehr Platz für alle: Der Gehweg an der TU Darmstadt wurde früher vollständig zugeparkt.

Abschied vom Auto vor der Haustür

Jetzt soll das Konzept stadtweit ausgerollt werden. Findorff, das Wohngebiet, das an den Bahnhof grenzt, ist als Nächstes an der Reihe. Die Ausgleichsfläche für das illegale Bordsteinparken vor der eigenen Haustür ist bereits gefunden. Autobesitzerinnen und Besucherinnen sollen auf eine große freie Parkfläche zwischen Bahnhof und Messegelände ausweichen. Bis zu 500 Meter müssen einige dann zu ihrem Wagen laufen. Für den Mobycon-Experten Bernhard Ensink ist das ein wichtiger Schachzug: „Solange das Auto vor der eigenen Haustür steht, ist Autofahren bequemer.“ Deshalb sei es notwendig, dass sich der Pkw-Parkplatz in ähnlicher Entfernung von der eigenen Haustür befindet wie die nächste Bus- oder Bahnhaltestelle. Was man den ÖPNV-Nutzer*innen zumutet, könne man auch von den Autofahrenden erwarten. „Das ist notwendig, damit ein Umstieg auf klimafreundliche Verkehrsmittel überhaupt in Erwägung gezogen wird“, sagt er.

Mobilitätswende ist Vielfalt

„Wir brauchen diese Kombination aus Push- und Pull-Maßnahmen, um den Druck auf die Autofahrer zu erhöhen, damit sie umsteigen“, sagt Osnabrücks Stadtbaurat Frank Otte. Er ist sich sicher: Die Menschen, die freiwillig vom Auto aufs Rad umsteigen, habe Osnabrück mit seinen Angeboten pro Fahrrad bereits erreicht. Aber die Zahl der Autos auf den Straßen wachse weiter. Otte und sein Team wollen mit einer Vielzahl von Maßnahmen den Richtungswechsel schaffen. Dazu gehört unter anderem, das Anwohnerparken zu bepreisen, Quartiersgaragen einzurichten und in Neubaugebieten den Bau neuer Parkplätze möglichst häufig durch Mobilitätskonzepte zu ersetzen. Aber der Stadtbaurat verfolgt noch eine weitere Strategie: „Wir wollen die verschiedenen Zielgruppen direkt ansprechen und individuelle Lösungen anbieten“, sagt er. Dazu sprechen die Mobilitätsexperten in Einrichtungen und Unternehmen direkt mit den Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmerinnen, um klimafreundliche Alternativen zum Privatwagen zu finden. „Natürlich wollen wir die Menschen in erster Linie aufs Rad bringen“, sagt Otte. Die Stadt sei fürs Radfahren prädestiniert. Vom Zentrum aus erreiche man alles, was man im Alltag brauche, in einem Fünf-Kilometer-Radius. „Aber die Menschen müssen verstehen, dass die Mobilitätswende vielfältig ist und nicht nur aus Radfahren besteht“, sagt Otte. „Diese Entweder-oder-Schere muss raus aus den Köpfen.“ Unternehmen könnten ihren Mitarbeitenden den Umstieg leicht machen, indem sie ihnen beispielsweise den Zugriff auf Sharing-Fahrzeuge sichern, Plattformen für Fahrgemeinschaften einrichten oder Fahrräder oder Jobtickets bezuschussen, sagt der Stadtbaurat. Mit dieser Strategie hofft er, dass Pendlerinnen kurzfristig ihren Zweitwagen abschaffen und langfristig im Idealfall auch den Erstwagen. Geht es nach ihm, werden möglichst viele dieser Maßnahmen parallel in einem Viertel umgesetzt, damit die Vorteile der Mobilitätswende für die An-wohnerinnen sichtbar werden.

„Die Mobilitätswende ist vielfältig und besteht nicht nur aus Radfahren“

Frank Otte, Stadtbaurat Osnabrück

Notwendige Aufgabe: Umbau der Städte

„Das Auto mehr und mehr aus den Städten zu vertreiben, ist kein Selbstzweck“, sagt Ensink. Die frei werdenden Flächen würden zum Beispiel gebraucht, um mehr Rad- und Fußverkehr zu realisieren. Aber es geht dabei um deutlich mehr, als nur um mehr und sichere Wege für aktive Mobilität. Damit die Zentren bei häufigerem Starkregen die Wassermassen besser aufnehmen können, müssen Flächen entsiegelt werden. Und es müssen Bäume und Sträucher gepflanzt werden, die im Sommer die Extremhitze mildern. Die Zeit drängt. 1983 wurden erstmals Temperaturen über 40 Grad in Deutschland gemessen. Seitdem wächst die Zahl der extremen Hitzetage in unseren Städten stetig an.
„Eine hohe Lebensqualität und gute Wege für Radfahrer und Fußgänger sind die Voraussetzung, um mehr nachhaltige Mobilität in unseren Städten umsetzen zu können und Autoverkehr zu vermeiden“, sagt Ensink. Er plädiert seit Jahren für das Konzept der 15-Minuten-Stadt oder auch der Stadt der kurzen Wege. Das beinhaltet: Alles, was man zum Leben braucht, kann man in 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Rad erreichen. Was manchen Menschen auf den ersten Blick als Verzicht erscheint, ist für andere längst ein Synonym für hohe Lebensqualität. Etwa in Groningen. Dort wurden bereits in den 1980er-Jahren die Autos aus dem Zentrum verbannt und die Innenstadt in vier große Quartiere unterteilt. Besucherinnen und Anwohnerinnen dürfen seitdem mit ihrem Wagen zwar in ihr Wohnviertel hineinfahren, landen dort aber in einer Sackgasse. In die angrenzenden Quartiere dürfen nur Radfahrende und Fußgänger*innen. Dieser stadtplanerische Kniff führt dazu, dass Radfahrende schneller im nächsten Viertel ankommen als Autofahrende. Das Konzept funktioniert nach Meinung vieler Experten auch in Großstädten. „Sie brauchen dann allerdings mehrere Unterzentren“, so Ensink. Gute Beispiele dafür finden sich in immer mehr europäischen Großstädten.


Bilder: Philipp Böhme, Mobycon, Qimby.net – Martin Huth

Indem sie am Tag der Bestellung liefern, können kommunale Radlogistik-Projekte sogar große Online-Händler übertrumpfen. Da die Lieferung aus dem lokalen Einzelhandel die schnellste Option ist, gibt es gute Chancen für den Einsatz gegen das Händler- und Innenstadtsterben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Fakt ist: der Online-Handel boomt. Ob es nun der Pandemie zugeschoben werden kann oder nicht, ist zweitrangig. Laut dem Bundesverband E-Commerce und Versandhandel sind die online erzielten Umsätze vieler Warengruppen innerhalb eines Jahres im zweistelligen Bereich gestiegen. Im ersten Quartal 2021 wurden online 84 Prozent mehr Lebensmittel verkauft als im Vorjahresquartal. Bei Drogerie-Produkten waren es 62 Prozent mehr, und auch Blumen, Medikamente und Haushaltswaren zogen massiv an. Der kleinste Teil dieses Wachstums dürfte dem kleinen, lokalen Einzelhandel zugutekommen. Doch gerade dieser prägt das Stadtbild, mit oft einzigartigen Ladengeschäften und lokal ansässigen Mitarbeitenden. Die kleinen Einzelhändler*innen machen zwar nur zehn Prozent des Umsatzes, aber
54 Prozent der Standorte in Innenstädten aus. Damit der Einzelhandel in der Innenstadt bestehen bleibt, gibt es immer mehr Kommunen und andere Akteure, die Logistikprojekte mit Lastenrädern ins Leben rufen.

Wichtig: zukunftsfeste Innenstädte

Vielerorts gibt es Leerstände, Handelsketten füllen viele der verbleibenden Ladenlokale. Die Stadtverwaltungen sind besorgt. Das bestätigt die Studie „Zukunftsfeste Innenstädte“, bei der unter anderem der Industrie- und Handelskammertag und der Deutsche Städtetag die Verwaltungen aller Kommunen mit mehr als 5.000 Einwohnerinnen befragten. Nach Corona wird es an Standorten mittlerer Qualität, sogenannten B-Lagen, voraussichtlich fünf Prozent mehr Leerstand geben. An den Haupteinkaufsorten, den A-Lagen, rechnen die Macherinnen der Studie mit wenig Leerstand. Im Schnitt gehen die Teil-nehmerinnen der Studie davon aus, dass es nach der Pandemie 13 bis 14 Prozent weniger Einzelhandelsbetriebe geben wird als davor. Tot sind die Innenstädte zwar nicht, aber gerade während der Pandemie begegnete die Politik dem vermeintlichen Innenstadtsterben mit Maßnahmenpaketen und Finanzspritzen. Für den Erhalt der Innenstädte, wie die Menschen sie kennen und manchmal romantisieren, scheint der Handel weiterhin ein wichtiges Standbein zu sein. 2020 zeigte eine Umfrage, dass über die Hälfte der Menschen zum Befragungszeitpunkt in der Stadt waren, weil sie etwas einkaufen wollten. Der Handel ist also wichtig für Innenstädte. Sicher ist er nicht die einzige Funktion, die ihnen zukommt, aber er belebt sie spürbar. Die Frage, die Verwaltungen sich stellen müssen, ist, wo sie die Bürgerinnen abholen wollen. Eine Strategie könnte lauten „Die Leute wollen ihre Einkäufe schnell haben und beliefert werden, also beliefern wir sie schnell.“ Eine andere wäre der Versuch, das Verhalten der Leute zu ändern und ihnen das Treiben in der Innenstadt attraktiver zu machen.
Um die Menschen in der neuen Gewohnheit der Online-Käufe abzuholen, bieten immer mehr Städte und Unternehmen die Belieferung aus der Innenstadt an. Lastenräder machen es möglich, dass diese umwelt- und umgebungsschonend ist. Sogar taggleiche Lieferungen sind möglich.

Modellprojekt Kiezkaufhaus in Bad Honnef

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mittags im Homeoffice am Schreibtisch und überlegen, was es abends Gutes zu essen geben soll. Sie entscheiden sich für eine Lieferung aus verschiedenen Fachgeschäften, wie den örtlichen Metzger, Frischfisch-, Gemüse- oder Weinhändlern. Zu einem vereinbarten Zeitpunkt kommt ein Lastenradfahrer und überreicht Ihnen eine Tasche mit Ihren Bestellungen. Ein entspannter Abend kann beginnen. In Bad Honnef funktioniert das längst mit einem virtuellen Kiezkaufhaus. Das liefert auch verderbliche Waren lokal per Lastenrad in einem Radius von bis zu 15 Kilometern.
Die Fahrerinnen des Kiezkaufhauses liefern bei Bestellungen, die vor 13 Uhr eingehen, noch am selben Tag aus. Die Lieferung kostet 2,50 Euro. An Wochentagen können die Bürgerinnen Bad Honnefs flexible Lieferzeitfenster zwischen 16 und 20 Uhr wählen. Über 30 der etwa 70 Einzelhändler der Stadt machen mit. Die Kuriere bringen die Waren zu einem Tagesdienst, wo sie kommissioniert werden. Das hat den Vorteil, dass alle, auch bei unterschiedlichen Händlern bestellten Waren, in einer Tasche geliefert werden.
Gefördert wurde die Initiative mit je 100.000 Euro vom Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt. In einem Innenstadtbüro ist das Kiezkaufhaus auch analog ansprechbar. Das stärkt die Verbindung zum Einzelhandel. Dieser setzte den anfänglichen Impuls und berichtete bei der Wirtschaftsförderung von ausbleibenden Umsätzen und einer sinkenden Besucherfrequenz. Das 2018 begonnene Projekt muss für Bad Honnef nicht wirtschaftlich sein, sondern es läuft als Wirtschaftsförderung 2.0. „Wir unterstützen den Einzelhandel dabei, sich zukunftsfähig zu machen, sich zukunftsorientiert aufzustellen.“, sagt Andrea Hauser von der Wirtschaftsförderung Bad Honnef. Abhängig vom Lieferservice seien die Händler*innen aber nicht.
Das Kiezkaufhaus müsse als kleines Rädchen eines großen Ganzen gesehen werden, so Hauser. „Wir haben ein Fahrradkonzept für die ganze Stadt entworfen. Das Thema Fahrradfahren und emissionsfreie Logistik ist wirklich ein ganz großes in unserer kleinen Stadt.“ Deshalb will Bad Honnef in diesem Jahr knapp 97.000 Euro, davon 70 Prozent Fördermittel vom Bundesministerium für Verkehr und Digitales, in eine Analyse der städtischen Logistik investieren.

Beim Kiezkaufhaus in Bad Honnef machen über 30 der rund 70 Einzelhändlerinnen der Stadt mit. Sogar frischen Fisch können die Kundinnen bestellen.

Neues Kaufverhalten mitgedacht

Das Same-Day-Konzept ist ein fester Bestandteil des Projekts. „Ich glaube, das ist sehr wichtig, weil ich gerade bei Produkten des täglichen Bedarfs sehr spontan und kurzfristig sein möchte“, erklärt Hauser. „Wir verstehen uns nicht als Konkurrenz zu den Big Playern, sondern als kleine, feine lokale Lösung, die aber durchaus in Nachbar- und anderen Kommunen denkbar ist mit den entsprechenden Voraussetzungen.“ Das Konzept Kiezkaufhaus stammt von einer Agentur und kann als Franchise lizenziert werden.
Viele Kundinnen nutzen die teilnehmenden Geschäfte dabei hybrid. Sie sind manchmal vor Ort und bestellen gelegentlich digital. Dass die Grenzen zwischen Offline- und Online-Handel immer mehr verschwimmen, beschrieb Jörg Albrecht von der Agentur Neomesh bei der 2. Nationalen Radlogistik-Konferenz, die im September des letzten Jahres in Frankfurt am Main stattfand. Die Vision: Ein Kunde sieht zum Beispiel ein Produkt online, geht dann in den Laden, um sich dort beraten zu lassen, und bestellt dann online, um es sich lokal liefern zu lassen. Was im Einzelhandel sonst als Beratungsklau bekannt ist, stellt kein Problem mehr dar, wenn der Offline-Händler auch online verfügbar ist. Die Grenzen zwischen Offline und Online zerfließen und bei jedem Schritt im Kaufprozess könnten die Kundinnen die Sphäre wechseln.

Sorgenloses Shoppen in Würzburg

Ein ähnlich innovatives Projekt verfolgt die Stadt Würzburg mit WüLivery, einer Wortschöpfung aus Würzburg und Delivery. Die Firma Radboten will den Würzburgerinnen das Lästige am Shoppen, nämlich den Transport nach Hause abnehmen. Das Prinzip: Shop & Drop, also lokales Einkaufen mit nachträglicher Lieferung per Lastenrad. Die Kundinnen können aber ebenfalls gleich online lokal einkaufen. Alles, was vor 16 Uhr bestellt ist, wird vor 19 Uhr geliefert. Kostenpunkt: 4,50 Euro pro Lieferung. Um den Stein ins Rollen zu bringen, wurde der Preis zunächst mit 2,50 Euro, später mit einem Euro bezuschusst.
Inzwischen ist das Projekt etabliert und bietet gute Nebeneinkünfte für die Radboten, deren Hauptgeschäft die schnelle Lieferung von Dokumenten und Arzneimitteln ist. Initiiert wurde das Projekt von der Stadt und dem Stadtmarketing. Auch der Handelsverband Bayern steht dahinter. „Wir haben als Stadtmarketing immer gesagt: Wir dürfen nicht teurer sein als DHL oder andere Paketdienstleister“, sagt Geschäftsführer Wolfgang Weier. Im November 2020 startete WüLivery mit 35 Lieferungen pro Tag. Aktuell hat sich die Nachfrage auf 30 bis 50 Lieferungen am Tag eingependelt. Über 110 der 650 Einzelhändler*innen in Würzburgs Innenstadt machen inzwischen mit.

Die Radboten übernehmen die Logistik für das Projekt WüLivery. Auf einen eingespielten Partner zurückgreifen zu können, war ein Vorteil für das Projekt.

An einem Strang ziehen und Fördermittel nutzen

Die Beispiele haben gemeinsam, dass sie auf Kooperationen basieren. An einem Strang zu ziehen, ist laut Andrea Hauser ein Erfolgsfaktor. „Ich würde frühzeitig die beteiligten Akteure mit ins Boot nehmen, damit sie so ein Projekt als ihr eigenes und wichtiges ansehen und damit auch den Bedürfnissen des Marktes gerecht werden.“ Wenn das Projekt wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen soll, rät Wolfgang Weier zu einer Mindestgröße. „Unter 50.000 Einwohnern wird es schwierig, dass sich ein Radkurierservice lohnt.“ Wenn es schon einen Anbieter gibt, mit dem eine Kooperation denkbar ist, umso besser. Die Stadtgröße müsse ermöglichen, ein etwas profitableres Hauptgeschäft zu haben. „Man sollte sich von vorneherein die Zeit geben, die so ein Projekt braucht, um fliegen zu lernen“, ergänzt Weier.
Neben Zeit braucht ein solcher Projektstart natürlich auch Geld. Zur Unterstützung für gewerbliche Lastenrad-Projekte gibt es eine bundesweite Kaufprämie, die bis zu 2.500 Euro der Anschaffungskosten abdeckt. Dar-über hinaus gibt es verschiedene Bundesländer und Kommunen, die die Anschaffung unterstützen. Manche davon sind mit der Bundesprämie kombinierbar. Mit weniger Startkapital kommt aus, wer ein Lastenrad mietet, anstatt es zu kaufen. Das ist zum Beispiel bei Dockr möglich. Dort bekommt man im Abo ein Rundum-sorglos-Paket, inklusive Service, Reparaturen und Ersatzrad, falls eine Reparatur mehr als zwei Tage dauert.
Immer wieder gibt es außerdem Fördertöpfe, aus denen Lastenradlogistik-Projekte bedient werden können, zum Beispiel das Programm „Digitalen und stationären Einzelhandel zusammendenken“ in Nordrhein-Westfalen. Die aktuelle Einreichungsfrist ist der 30. Juni 2022. Auch städtische Verwaltungen oder das Stadtmarketing können die Lieferung per Lastenrad unterstützen. Denkbar ist eine finanzielle Unterstützung, oder aber es gibt städtische Grundstücke oder Gebäude, die für die Infrastruktur der Logistik nutzbar sind.


Bilder: Dockr – Steven van Kooijk, Kiezkaufhaus Bad Honnef, Radboten Würzburg

Während viele Entscheider*innen aus Verwaltung und Politik noch über mehr Radverkehr oder weniger Autos nachdenken, überholen die hochdynamischen Entwicklungen alte Realitäten. Vieles spricht dafür, dass verschiedenste Formen von Mikromobilität und Mobility as a Service (MaaS) dabei sind, unsere Gewohnheiten und Routinen und auch Märkte gründlich zu verschieben.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, Sept. 2021)


Selbst in hochkarätig besetzten Diskussionspanels geht es meist um die gleichen Themen. Verkürzt gesprochen: Wie kann man Verkehr (meist gemeint: Autoverkehr) flüssiger und umweltfreundlicher gestalten, wie lässt sich Radverkehr störungsfrei und einigermaßen sicher in diese Strukturen integrieren und wie kann der ÖPNV dazu beitragen, Straßen vom Autoverkehr zu entlasten?

Mikromobilität bei Entscheidern unterschätzt


Wie wenig bislang neue Mobilitätsformen mitgedacht werden, zeigte exemplarisch kürzlich eine Runde der Bundesregierung zum Thema „Mobilität der Zukunft“ und die Antworten auf die Frage, warum auf der einen Seite private Elektroautos und mutmaßlich eher umweltschädliche Hy-brid-Fahrzeuge gefördert und auf der anderen Seite deutlich umweltschonendere Mikromobilität ausgespart würde. Die Antwort: Erst Ratlosigkeit, ausgerechnet aus dem Bundesumweltministerium, und dann die Ergänzung einer Vorständin von Continental, dass man ja wisse, welche Pro-bleme mit den Tretrollern verbunden wären und dass diese gerne in Gewässer geworfen würden. „Die Unkenntnis und Ignoranz der Politik beim Thema Mikromobilität ist ein absoluter Skandal“, sagt dazu der Experte Dr. Hans-Peter Kleebinder, der mit den Schwerpunkten Mobilität, Smart Cities, strategische Markenführung sowie Innovationsmanagement unter anderem als Lehrbeauftragter der Universität St. Gallen und als freier Berater tätig ist.

Mikromobilität ist viel mehr als nur E-Kick-scooter. Marktreife Pkw-Alternativen stehen bereit zum Kauf, als Miet-Abo oder als Sharing-Fahrzeuge.

Bereits die Reduktion auf das Thema E-Tretroller spricht wohl dafür, dass das Thema entweder nicht verstanden oder bewusst in eine bestimmte Ecke gedrängt wird. Harsche Kritik kommt von ihm auch zur Verteilung der Fördermittel: „Die Förderpraxis ist absurd und die Umweltprämie de facto reine Wirtschaftsförderung. Das meine ich als Bürger und Beirat bei Microlino“ (red. Anm.: neues Microcar, Kategorie Light Electric Vehicle LEV).

E-Kickscooter als „Feindbild“?


Viele neue Technologien und Produkte bleiben nicht ohne Risiken, Nebenwirkungen oder handfeste Pro-bleme. Vor allem in der Anfangsphase. Neben berechtigter Kritik gibt es zudem oftmals aber auch eine Reihe von Vorurteilen, die sich, bewusst oder unbewusst mit verschiedenen Motiven und Ängsten vermischen – in der Steigerung bis hin zu Ächtungs- und Verbots-Szenarien.

Perfekte Basis für multimodale Mobilität. Alternative Angebote werden, wie bei Free Now (ehemals MyTaxi), direkt in die App integriert.

Mit Blick auf die im Grunde ja eher harmlosen E-Kick-scooter stellt man schnell fest, dass es inzwischen fast schon zum guten Ton gehört, sie samt den Nutzerinnen pauschal abzuwerten oder zu verdammen. Zu den Vorwürfen gehören sowohl das Fehlverhalten, sicher auch bedingt durch mangelnde Fahrfertigkeiten und sonstige Kenntnisse der Nutzerinnen, wie auch allgemeine gesellschaftliche Phänomene wie Vandalismus, Formen von unsozialem oder ignoranten Verhalten oder ganz simpel Platzprobleme. Was hilft, ist eine differenzierte Sichtweise und sicher auch ein Blick in die Vergangenheit. Denn Ähnliches hat man schon zu Karl von Drais‘ Erfindung, der Draisine gesagt, zu den folgenden „Hochrädern“ und den deutlich sichereren „Niederrädern“, dem E-Bike oder den „unsportlichen“ E-Mountainbikes. Auch Autos und ihren Fahrer*innen stand man lange skeptisch gegenüber. Teils musste sogar ein Mensch mit roter Flagge als Warnung vorauslaufen. Jede Menge Kritik kennt man auch mit Blick auf Skifahrerinnen, den Snowboard-Trend, Skateboarder etc. Was die Sichtweise mit Blick auf E-Kickscooter betrifft, kann man immer wieder feststellen, dass hier viele Fragen in den Fokus gerückt werden, die man umgekehrt bei Autos oder Motorrädern so nur selten oder gar nicht stellt: Werden sie eher als Freizeitfahrzeuge oder echte Transportmittel genutzt? Wo sollen sie bloß parken? Wie sieht es mit der Umweltfreundlichkeit aus? Wie mit der Sicherheit? Was ist mit der Befolgung der StVO? (…)
Beim Thema Parken kann man sich beispielsweise fragen, warum von offiziellen Stellen in Diskussionen einerseits beklagt wird, dass Städte „mit E-Scootern vollgemüllt“ würden, während andererseits Autos großflächig auf Fußwegen geduldet werden und in der Politik um jeden (Auto-)Parkplatz, der umgewidmet werden soll, gerungen wird.

Die E-Kickscooter machen hier als Vorreiter schlicht ein Problem deutlich, das auch andere Mobilitätsformen, wie 45-km/h-E-Scooter, Lastenräder, Mikromobile für Senioren oder Carsharer teilen: Platz wäre da, aber die Kapazitäten sind durch die schiere Menge an privaten Pkws faktisch längst erschöpft. Wenig hilfreich erscheinen auch Diskussionen darüber, welche Wege im Einzelnen substituiert werden, denn letztlich entscheiden die Menschen aus vielfältigen Motiven, wie, warum und wohin sie sich bewegen.

Herausforderungen für Politik und Verwaltung


Tatsächlich gibt es für die Politik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene viel zu tun, was den Rahmen und die Infrastruktur für die neuen Mobilitätsformen und den Wandel hin zu Mobility as a Service als Türöffner der Mobilitätswende angeht. Die E-Kickscooter-Anbieter setzen sich mit dafür ein und sie entwickeln die Technik in rasantem Tempo weiter. Die Scooter selbst werden immer langlebiger, sicherer und beispielsweise durch Akkuwechselsysteme und den Einsatz von Schwerlastenrädern oder Wechselstationen für den Tausch deutlich umweltfreundlicher. Auch die eingesetzte Software wird immer ausgefeilter. Mit ihr lassen sich in definierten Zonen schon heute automatisiert Park- und Fahrverbote oder Geschwindigkeitsreduzierungen umsetzen. So wird beispielsweise das Parken in der Nähe von Gewässern unmöglich, damit sie nicht von Fremden hineingeworfen werden. Auch Bildaufnahmen des ordentlich geparkten Scooters via App gehören bei vielen Anbietern inzwischen zum Standard. Möglich sind künftig noch viele weitere Anwendungen, beispielsweise, um alkoholisiertes Fahren, Mehrfach-Spaßfahrten, die Nutzung von Fußwegen oder Fahrten mit zwei Personen zu erkennen und möglichst auszuschließen. Neben den Innovationen setzen die Anbieter auch auf eine gute Zusammenarbeit mit den Städten. Einige, wie Voi, Tier oder die Ford-Tochter Spin, setzen sich dabei inzwischen öffentlich für eine stärkere Regulierung und limitierte Ausschreibungsverfahren ein. „Städte sollten sich gezielt auf einen oder einige wenige Partner einlassen und lokalspezifische Maßnahmen entwickeln“, heißt es dazu von Voi. Das sieht auch Tier so: „Ziel sollte es sein, den besten Anbieter auszuwählen, und so die höchste Qualität für Nutzer*innen sowie eine optimale Zusammenarbeit mit der Stadt sicherzustellen.“ In europäischen Metropolen habe man damit gute Erfahrungen gemacht. In Deutschland ist der Markt dagegen bislang weitgehend unreguliert. Hier sieht man Nachholbedarf, ebenso wie bei der Infrastruktur und fehlenden Stellplätzen. In einem offenen Brief fordert das Branchenbündnis „Dialog Mikromobilität“ beispielsweise mehr Stellflächen für Fahrräder und E-Kleinstfahrzeuge, Flächen für Microhubs, breitere und sichere Radwege sowie Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Innenstädten.

Türöffner für Neudefinition von Mobilität


Vor Problemen steht zunehmend auch der öffentliche Verkehr. Wie gehen die Anbieter mit der neuen Konkurrenz um? Bezieht der ÖV sie mit in sein Angebot ein oder lässt er sie links liegen? „Ohne neue Partnerschaften, die eine flexible Nutzung von E-Trotties (Schweizerisch für E-Kickscooter) bis Cargobikes ebenso inkludieren wie Taxis und Mietwagen, wird der ÖV in vielen Zielgruppen nicht erfolgreich sein“, meint der Züricher Mobilitätsexperte Prof. Dr. Thomas Sauter-Servaes mit Blick auf die Zukunft. Vorreiter in der Integration ist aktuell Google Maps.

„Ohne neue Partnerschaften wird der ÖV in vielen Zielgruppen nicht erfolgreich sein.“

Prof. Dr. Thomas Sauter-Servaes

Der Kartenanbieter integriert seit Kurzem nicht nur den öffentlichen Verkehr, sondern auch die Angebote von Mikromobilitäts-Anbietern in seiner App. So können Nutzer*innen zum Beispiel sofort entscheiden, ob sich beispielsweise der Fußweg zur Haltestelle oder das Warten auf die nächste Bahn lohnt, oder ob man lieber einen Scooter in der Nähe mietet. Auch andere Anbieter, wie die aus dem Joint-Venture zwischen BMW und Daimler hervorgegangene Marke Free Now (ehemals MyTaxi) bieten seit Kurzem eine umfassende Mobilitätspalette, vom Taxi über Ride- und Carsharing, bis hin zu E-Kickscootern oder E-Scootern der 45-km/h-Klasse.
Ungeachtet der negativen Berichte spricht aktuell vieles dafür, dass sich E-Kickscooter als tatsächlicher Türöffner oder „Enabler“ einer neuen Mobilität und Mobility as a Service entwickeln. Nach einer Schätzung des Mobility Market Outlook von Statista werden in diesem Jahr in Deutschland rund elf Millionen Menschen E-Scooter-Sharing genutzt haben. Der Umsatz wird im Jahr 2021 demnach etwa 140 Millionen Euro betragen. Damit ist Deutschland der weltweit zweitgrößte Markt für den Verleih von E-Kickscootern – vor Frankreich und nach den USA. Laut Prognose wird im Jahr 2025 in Deutschland ein Marktvolumen von 228 Millionen Euro erreicht; dies entspricht einem erwarteten jährlichen Umsatzwachstum von 13 Prozent.

Innovative Angebote und neue Geschäftsmodelle


Der Erfolg und die Wachstumsprognosen im Mikromobilitätsmarkt, den die Berater von McKinsey bereits 2019 auf 100 bis 150 Milliarden US-Dollar in Europa schätzten, lassen Investorengelder sprudeln. Absehbar werden sie in der Folge neben Wachstum in der Fläche auch eine ganze Reihe neuer Produkte, Services und innovativer Geschäftsmodelle mit sich bringen. Einige Beispiele: Der E-Kickscooter-Sharer Bird hat eigene Modellserien für den Verkauf aufgelegt, integriert inzwischen auch hochmoderne E-Bikes als Sharing-Modell und zum Verkauf in sein Programm und arbeitet aktuell an innovativen Mobilitätshilfen für Gehbehinderte und Senioren. Ein großer Trend sind Akkuwechselstationen für Schwerlasträder, zum Beispiel von Swobbee und für E-Motorroller.

In einem unregulierten Markt platzieren Sharing-Anbieter quasi über Nacht Tausende Fahrzeuge. Führende Anbieter setzen sich inzwischen für mehr Regulation in Deutschland und Ausschreibungen ein.

Bei Zweitem gehören sie, beispielsweise in Taiwan mit Anbietern wie Gogoro und Kymco, inzwischen zum Standard. Auch bei Lastenrädern stellt sich grundsätzlich die Frage, ob diese nicht vielfach besser im Rahmen von Abo- oder Sharing-Modellen genutzt werden. Für diesen Markt hat sich der spezialisierte Sharinganbieter Sigo ein System einfallen lassen und andere rücken schnell nach. Konzerne, wie die französische PSA-Gruppe mit „Free2Move“ (Mobility as a Service/Microcars), Ford mit „Spin“ (E-Kickscooter) oder die niederländische Pon-Gruppe machen sich mit VW daran, den neuen Markt zu gestalten. Die Pon-Gruppe, zu der unter anderem renommierte Fahrradmarken gehören, bietet dabei seit Kurzem unter dem Namen „Dockr“ Abo-Angebote für elektrische Transportfahrzeuge an, von E-Cargobikes über Personenwagen bis hin zu großen Lieferwagen. Was die Anbieter und Geschäftsmodelle besonders macht, ist das Bestreben, Märkte disruptiv zu verändern, sie in kurzer Zeit als Marktführer zu erobern und mit hohem Aufwand gegen Konkurrenten abzusichern und weiterzuentwickeln. Was das konkret bedeutet, ist noch nicht ausgemacht. Einige Parameter des Wandels scheinen allerdings bereits festzustehen: Sowohl die finanziellen Ressourcen, über die die Anbieter verfügen, wie auch der Konkurrenzdruck werden immer größer. Der Wandel lässt sich wohl nicht aufhalten und das Tempo nimmt weiter zu. In Frankreich haben die Verkaufszahlen der E-Kickscooter zum Beispiel bereits die der E-Bikes überholt. Mit den Technologien und Tools verändern sich auch die Nutzungsgewohnheiten. Andere Bereiche, wie die Film- und Musikbranche, haben solche Umbrüche in wenigen Jahren erlebt. Ob man in zwei, drei Jahren auf Konferenzen noch über das Thema „Fahrrad versus Auto“ spricht und ob es in zehn Jahren noch separate Automobil-, Fahrrad- und Motorrad-Industrien und MaaS-Anbieter gibt? Zweifel scheinen angebracht.


Bilder: Microlino, Bird, Dockr; Free Now (Screenshot Werbung); stock.adobe.com – Trygve; Qimby.net; Birdstock.adobe.com – hanohiki

Von Kaufprämien über Pop-up-Bikelanes bis hin zu Gesetzesänderungen und „offenen“ Straßen und Plätzen. Italien nimmt Spanien als Vorbild und setzt auf mehr Lebensqualität, nachhaltige Mobilität und das Fahrrad als neues Alltagsverkehrsmittel. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Italien – Radsportnation, Land der Motorroller und Sportwagen jenseits aller CO₂-Limits? Selbst Italiener prägten solche Bilder. Aber das war gestern. Spätestens seit Corona. Statt von einer Mobilitätswende spricht man in Italien jetzt von „Rivoluzione“. Allen voran Verkehrsminister Enrico Giovannini. „Wir stehen vor einer Revolution“, sagte der Minister mit Blick auf Anreize zur Erneuerung der Fahrzeuge in Italien gegenüber der römischen Tageszeitung „La Repubblica“ im Juni dieses Jahres. Die Regierung um den neuen Premier Mario Draghi will 41 Milliarden Euro ausgeben für Infrastruktur und Mobilität aus dem EU-Wiederaufbauprogramm „National Recovery and Resilience Plans“ (PNRR). Allein 600 Millionen Euro sollen in neue Radwege investiert werden. Schon vor der Klimakonferenz in Glasgow wurde angekündigt, ab 2040 keine Fahrzeuge mit Benzin- oder Dieselmotoren mehr neu zuzulassen. Schnell und erfolgreich umgesetzt wurden Fahrrad-Kaufprämien, Pop-up-Bikelanes sowie ein neuer Gesetzeskodex.

Niederlande oder Dänemark? Der Blick geht nach Spanien

Zur Einordnung, wie beträchtlich der Umbruch ist, muss man ihn ins Verhältnis setzen. Zwar blicken Mobilitätsevangelisten auch in Italien gerne auf nördliche Best-Practice-Spitzenreiter wie die Niederlande oder Dänemark. Mitnehmen lässt sich die italienische Gesellschaft damit aber kaum. Zu groß wird der Unterschied zwischen den nord- und südeuropäischen Ländern empfunden. So ist es Machern wie Alessandro Tursi, Präsident des italienischen Fahrradlobby-Verbands „Federazione Italiana Amici della Bicicletta“ (FIAB), sehr recht, wenn in Spanien Städte und das Land bei der Mobilitätswende, der Unfallprävention und beim Thema Tempo 30 vorlegen. „Wenn man hier mit den Niederlanden oder Dänemark kommt, winken die Leute ab und sagen: ‚Okay, das ist Dänemark.´ Deshalb ist das spanische Beispiel wichtig für uns. Spanien ist uns viel näher.“

Corona und Kaufprämien befeuern Fahrradboom

Italien war als erste europäische Nation schwer von Covid-19 betroffen. Die Pandemie gilt als Auslöser für die Wende der römischen Verkehrspolitik im Oktober 2020. Millionen von Berufspendlern sollten in den ohnehin überlasteten Metropolen nicht vom ÖPNV aufs Privatauto umsteigen. Gleichzeitig sollte der Wirtschaft mit Sonderdekreten geholfen werden. Zu den wichtigen Maßnahmen noch unter Ministerpräsident Giuseppe Conte gehörte der „Bonus Bici“. Eine Fahrradprämie in Höhe von bis zu 500 Euro – ausdrücklich auch für den Kauf von E-Bikes und E-Scootern. Dabei erhalten Bürger einmalig einen Gutschein. Fahrradhändler ziehen den Zuschuss vom Preis ab und holen ihn sich vom Staat wieder zurück. 315 Millionen Euro stellte die Regierung dafür bereit. Nach einer Untersuchung der italienischen Umweltorganisation „Legambiente“ wuchs der Fahrradbestand 2020 zum Vorjahreszeitraum enorm. Über 600.000 Fahrräder und Roller wurden neu erworben. Mit einem Plus von 48,4 Prozent katapultierte die Kaufprämie Italien im europäischen Vergleich an die Spitze der Zuwächse. Auch die Fahrradnutzung stieg 2020 drastisch. Besonders im Mai (plus 81 Prozent) und im September und Oktober (plus 73 Prozent).

Mobil per Rad: „BikeMi“ heißt das 2008 ins Leben gerufene öffentliche Fahrradverleihsystem in Mailand. Das System umfasst über 4.600 Fahrräder an 280 Stationen, darunter 1.000 E-Bikes sowie Fahrräder für Kinder.

Pop-up-Radwege und verordneter Umbau in Städten

Kombiniert wurde die Bike-Prämie mit der Erlaubnis für Kommunen, schnell und kostengünstig Pop-up-Radwegen zu schaffen. Die Umweltorganisation Legambiente errechnete über 193 Kilometer neue temporäre Radwege. Vorreiter sind die Städte Mailand (35 km) und Genua (30 km). Dahinter folgen Rom mit rund 16 Kilometern sowie Turin und Brecia mit je rund 15 Kilometern. Das mag wenig erscheinen. Angesichts der Kürze der Zeit wird der Streckenfortschritt im Dossier „Covid Lanes“ von Legambiente aber positiv gewertet. FIAB-Mann Alessandro Tursi ist sich zudem sicher, dass der quantitative Ausbau der Radinfrastruktur nach der Pandemie auch qualitativ weitergeht. „Für mehr Sicherheit werden die Pop-up-Wege später baulich vom Autoverkehr getrennt.“ Sinn ergibt der symbolträchtige Umbau vor dem Hintergrund der Forderung bzw. dem Ziel, in allen Städten auf einen zweistelligen Prozentsatz des Fahrradanteils im Modal Split zu kommen. Dabei erreichen einige Städte in Italien schon heute Amsterdamer Niveau. In Bozen, Pesaro und Ferrara überschreiten die Radverkehrsanteile teils die 30-Prozent-Marke.
Langfristig hat sich die italienische Regierung hohe Ziele gesetzt. Dazu sollen in den nächsten fünf Jahren die Radwegkilometer in italienischen Städten verdoppelt werden. Dies entspricht auch den EU-Plänen für nachhaltige urbane Mobilität (SUMP), die Städte in Italien unter dem Namen PUMP ausgestalten. Unter Androhung des Entzugs staatlicher Finanzierungen ist die PUMP seit August 2019 für alle Gemeinden mit mehr als 100.000 Einwohnern verpflichtend. Insgesamt sollen so zu den bestehenden 2.341 Radwegkilometern noch einmal 2.626 Kilometer in 22 Städten hinzukommen.

Gesetzesänderungen ermöglichen Wandel

Um die Infrastruktur zu verbessern, wurde zuerst der notwendige gesetzliche Rahmen geschaffen. Der neue Kodex beinhaltet fahrradfreundliche Änderungen der Straßenverkehrsordnung, wie man sie aus anderen europäischen Nationen und Städten kennt. Zur Verbesserung der Sicherheit wurden nicht nur Pop-up-Radwege erlaubt, sondern beispielsweise auch aufgeweitete Radaufstellstreifen (ARAS), die es Radfahrenden ermöglichen, sich an Kreuzungen und Ampeln vor den Autos aufzustellen. In Tempo- 30-Zonen können die Gemeinden nun Einbahnstraßen in Gegenrichtung für Radfahrer freigeben.

+100 %

Langfristiges Ziel:
In den nächsten fünf Jahren
sollen die Radwegkilometer
in italienischen Städten verdoppelt werden.

Starke Nachfrage bei Sharing und Mikromobilität

In Italien nutzen aktuell mehr als acht von zehn Personen private Fahrzeuge. Der öffentliche Personennahverkehr nimmt ab, gleichzeitig nimmt die geteilte Mobilität in den Städten zu. Das geht aus der ersten Ipsos-Legambiente-Umfrage zum Neustart hervor. Neben dem Boom von E-Bikes, nicht zuletzt im Zuge der Bonus-Gutscheine, spielt die Mikromobilität in Italien eine stark wachsende Rolle. Die meisten Dienste starteten nach den harten Lockdowns im Juni und September 2020. So werden nach dem jüngsten Bericht der „Sharing Mobility Observatory“ allein in 38 italienischen Provinzhauptstädten Sharing-Dienste angeboten. Am weitesten verbreitet ist das stationäre Bikesharing, gefolgt von E-Tretrollern, Free-Floating-Bikes sowie Scootern. Spitzenreiter ist Mailand mit 14 Mikromobilitäts-Sharingdiensten, gefolgt von Rom mit 11 und Turin mit 7 Diensten. Die Zahl der geteilten E-Tretroller in italienischen Städten hat sich in nur wenigen Monaten mehr als verfünffacht. Insgesamt wuchs die Fahrzeugflotte von 4.650 im Jahr 2019 auf 27.850 in 2020.

Pionierstadt Mailand: „offene Straßen und Plätze“

Norditalienische Städtchen wie Ferrara oder Cesena genießen über Italien hinaus den Ruf, Fahrradstädte zu sein. Zu den neuen fahrradfreundlichen Pionierstädten zählt die Metropole Mailand. Mit dem im April 2020 verkündeten Programm „Strade Aperte“ (offene Straßen) setzt man auf eine fahrrad- und fußgängerfreundliche Stadt. Zu den Maßnahmen gehört die Pop-up-Fahrradinfrastruktur mit 35 Kilometern neuen Radwegen. Bereits vorhandene Tempo-30-Zonen werden ausgeweitet. Die Bürgersteige wurden infolge des Abstandsgebots während der Pandemie verbreitert, vorhandene Fußgängerzonen ausgebaut. Neben den Strade Aperte gehören die „Piazze Aperte“ (offene Plätze) zur Strategie der lombardischen Metropole. Dabei geht es um nichts weniger als die Rückeroberung städtischer Räume für die Bewohner der 1,4-Millionen-Einwohner-Stadt. Nach Angaben der Kommune wurden bereits 15 Plätze umgestaltet, weitere 10 sieht der Strategieplan vor. Schon vor der Pandemie führte die Stadt eine City-Maut ein. Für die Zufahrt zur historischen Altstadt innerhalb des Stadtmauerrings ist tagsüber an Werktagen ein gebührenpflichtiges Ticket erforderlich. Die Zufahrten werden mit Kameras überwacht.
Zum umkämpften Symbol der Veränderung wurde der acht Kilometer lange Corso Buenos Aires im Stadtzentrum. Mit als Erstes wurden auf der populären Einkaufsstraße Radspuren markiert und die Fußwege verbreitert. Wie in anderen europäischen Städten gab es vor der Umgestaltung heftige Debatten. Dass sich das Bewusstsein ändert, sobald sich die Vorteile offenbaren, zeigten die Lokalwahlen Anfang Oktober 2021. Rechten Parteien gelang es nicht mehr, mit einer autozentrierten Mobilitätspolitik an den Urnen zu punkten. Darauf weist auch Fahrrad-Lobbyist Tursi hin. „Die Rechten stellten sich dagegen. Sie sagten: ‚Die Straße gehört den Leuten‘, und meinten, den Autos. Sie organisierten einen Flashmob, indem sie symbolisch die Fahrradroute zertrümmerten. Aber sie haben die Wahlen haushoch verloren.“ Dem Mailänder Bürgermeister Beppe Sala, der für die fahrradfreundliche Verkehrspolitik steht, bescherten die Wähler dagegen eine weitere Amtszeit. Und auch düstere Wirtschaftsprognosen infolge seiner Politik erwiesen sich als falsch. Die Neue Züricher Zeitung berichtet im Oktober 2021 in einem Artikel: „… den Ausbau des Radwegnetzes in Mailand, unter Salas Führung gegen heftigen Widerstand aus Rechts- und Autokreisen vorangetrieben, hat die Wirtschaft bisher anscheinend ohne Schaden überstanden.“

Bei den Lokalwahlen in Mailand im Oktober gehörte die Fahrradinfrastruktur zu den zentralen Themen. Zum umkämpften Symbol für Veränderungen wurde die Hauptverkehrsstraße Corso Buenos Aires.

Maßgaben für die Planung: Neue Radwege, Verengung auf zwei Autospuren und Tempo 30.

Autostadt Turin: Ritterschlag von Fahrradlobbyisten

Mit über 214 Radkilometern liegt die weltberühmte italienische Autostadt Turin nach der „Clean Cities“-Legambiente-Umfrage auf dem vierten Platz unter den Städten mit der höchsten Anzahl von Radwegen. Hinter Bologna, Rom und Mailand. Zählungen ergaben, dass der Fahrradverkehr 2021 sogar gegenüber dem Pandemie-Monat Mai 2020 um 50 Prozent gestiegen ist. Das darf sich auch die lokale Politik anrechnen. Entsprechend erhielt die piemontesische Hauptstadt einen kleinen Ritterschlag von der FIAB. Der Radverband kürt fahrradfreundliche Städte regelmäßig nach Kriterien wie „urbane Mobilität“, „Governance“ oder „Kommunikation“. Hervorgehoben wurde neben der Erweiterung der Tempo-30-Zonen die Umsetzung der neuen Radwege, Aufstellstreifen vor Ampeln und Kreuzungen sowie Geschwindigkeitsbegrenzungen bis auf 20 km/h quasi über Nacht.
Die Basis für eine nachhaltige Mobilität legten dabei bereits die Vorgängerregierung unter der Stadträtin für Verkehr und Infrastruktur Maria Lapietra und der „Biciplan“ (Fahrradplan) aus dem Jahr 2013. Der sieht unter anderem die Steigerung des Modal Split von 3 auf 15 Prozent sowie die Schaffung von 10 Haupt- und 4 Kreisrouten vor. Auch der frisch gewählte Bürgermeister Stefano Lo Russo setzt darauf, den immer noch hohen Anteil der städtischen Fahrten mit dem Auto von 42 Prozent durch die Förderung der Nutzung von Fahrrädern und ÖPNV zu senken. Deshalb soll der Turiner Biciplan erweitert werden. Mit einer besser vernetzten Radinfrastruktur und Ausweitung der Tempo-30-Zonen. Großes Vorbild ist dabei Frankreich. Bis Weihnachten wird die beispielhaft verkehrsberuhigte Zone im Viertel Vanchiglia fertig, in der Fußgänger und Fahrräder priorisiert werden. Das Projekt umfasst neue Fußgängerzonen, Verbreiterung der Bürgersteige, markierte Radwege, Fahrradabstellplätze sowie Begrünungen.

Vorbild Barcelona: „Piazze Aperte“ (offene Plätze) sollen auch in Mailand neue Räume schaffen für die Einwohner*innen. 15 Plätze wurden bereits umgestaltet, weitere 10 sollen noch kommen.

Bologna: „Bikemania“ und bald Tempo 30

Bologna in der Emilia-Romagna besitzt eine fahrradfreundliche Tradition. Die Zeitung La Repubblica spricht inzwischen sogar von einer regelrechten „Bikemania“. Wie in Mailand gibt es eine Verkehrsbeschränkte Umweltzone. Für die Schaffung neuer Radwege setzt die Kommune 1,8 Millionen Euro ein. „Dank solcher Ressourcen verändert die Stadt langsam ihr Gesicht“, beschreibt die Zeitung die neue Raumordnung. Auch hier knüpft der Pandemie-Schub an bestehende Projekte an. Ein Meilenstein ist die 2015 vollendete 8,4 Kilometer lange Ringroute. Beliebt vorrangig bei Pendlern und „auf bestem europäischen Niveau“ – so Stadtrat Andrea Colombo. Bereits seit zehn Jahren werden an sogenannten T-Days regelmäßig drei T-förmig aufeinander zulaufende Hauptstraßen im historischen Stadtzentrum komplett für den motorisierten Verkehr gesperrt. Der nächste Meilenstein soll die stadtweite Einführung von Tempo 30 sein. Unterstützt wird das Projekt von der Kampagne „Bologna 30“, die dafür mehr als 5.000 Unterschriften sammelte.

Veränderungen auch in Mittel- und Süditalien

Nicht verleugnen lässt sich das in vielerlei Hinsicht zu beobachtende Nord-Süd-Gefälle in Italien. Auch aufgrund klimatischer und topografischer Bedingungen wurde das Fahrrad bisher unterschiedlich stark als urbanes Verkehrsmittel genutzt. Doch selbst die Römerinnen und Römer haben das Radfahren als Verkehrsmittel in der Pandemie entdeckt. 150 Kilometer neue Radwege sind für die Kapitale zudem angekündigt. Auch Richtung Bari lohnt ein Blick. Das städtische Post-Lockdown-Projekt „Open Space“ umfasst hier die Umgestaltung öffentlicher Plätze, Ausweitung von Parkzonen und Einschränkung des motorisierten Individualverkehrs, während gleichzeitig das Angebot der E-Mikromobilität als Sharing verstärkt wird. Zusätzlich werden neue Tempobegrenzungen eingeführt. Und selbst im heißen Palermo auf Sizilien ist man auf den Geschmack gekommen und will die bestehen 48 Radkilometer auf 155 km ausbauen. Eine City-Maut gibt es dort übrigens schon länger.

Der Lockdown führte in Bari „zu einer allgemeinen Krise wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Art, mit vorhersehbaren kurz-, mittel- und langfristigen negativen Auswirkungen“. Dem begegnet die Stadt mit einem umfassenden Programm für nachhaltige Mobilität und öffentlichen Raum.


„Es ergibt sich ein neues Bewusstsein für Fortbewegung, Gesundheit und Umwelt.“

Alessandro Tursi, FIAB

„Wie der Beginn einer Revolution“

Interview mit FIAB-Präsident Alessandro Tursi

Signore Tursi, wie verhalf die Pandemie den Italienern aufs Fahrrad?
Es ist noch gar nicht lange her, da betrachtete man das Fahrrad in Italien als Sportmaschine oder Freizeitspielzeug. Aber wir waren auch die erste Nation in Europa, die hart von der Pandemie getroffen wurde. Zwei Monate verbrachten wir zu Hause in der Wohnung. Mit harten Restriktionen. Ich habe diese Lage für ein Bild benutzt: Stellen Sie sich vor, Menschen sind daran gewöhnt, sich mit Whiskey zu betrinken. Für zwei Monate können sie keinen bekommen, fangen an Wasser zu trinken und sagen sich: „Das ist doch viel gesünder!“ Übertragen ergibt sich ein neues Bewusstsein für Fortbewegung, Gesundheit und Umwelt.

Welchen Beitrag leistete die Politik?
Regierungsinstitutionen begannen die Radinfrastruktur zu finanzieren. Mit mehr als 300 Millionen Euro zum privaten Kauf von Fahrrädern, E-Bikes und E-Kickscootern. In Rom, Mailand, Turin, Bologna, Florenz und Genua sorgten die Bürgermeister für neue Pop-up-Radwege, die einfach auf die Straße gemalt wurden. Zur gleichen Zeit änderte die Regierung die Straßenverkehrsordnung. Neben den neuen Radwegen gab man Einbahnstraßen für Radfahrer frei, erlaubte Radaufstellstreifen vor Ampeln. Italien rief 600 Millionen Euro von der Europäischen Union für den Radverkehr ab. Selbst wenn das nur zwei Prozent von dem Budget sind, das Italien von der EU wegen der Pandemie erhält. Bezogen auf die Verhältnisse hier erhielten die großen Städte auf einmal viel Geld zur Förderung der Radinfrastruktur. Alles zusammengenommen war das wie der Beginn einer Revolution.

Welche Bedeutung hat das Beispiel Mailand?
Der Corso Buenos Aires gilt als Fallstudie. Dort wurde ein Anstieg täglicher Radfahrten von 4.000 auf 10.000 registriert. Gerade hat man damit begonnen, die für Mailand symbolische Fahrradroute als getrennte Spur zu befestigen. Bei den Lokalwahlen Anfang Oktober gehörte die Fahrradinfrastruktur zu den zentralen Themen. Die Rechten stellten sich dagegen. Sie sagten: „Die Straße gehört den Leuten“ und meinten, den Autos. Sie haben die Wahlen haushoch verloren. Daher bin ich zuversichtlich, dass sich auch im rechten Spektrum die Erkenntnis durchsetzt, dass der Krieg gegen Radfahrer ein Bumerang ist.

Wie steht es aktuell um Tempo 30 in Italien?
Im Moment liegt die gesetzliche Höchstgeschwindigkeit bei 50 km/h. Wir drängen auf Gesetzesänderungen für Tempo 30 in Wohngebieten. Derzeit ist es eine freiwillige Entscheidung der Bürgermeister, die Geschwindigkeit weiter zu reduzieren. Das spanische Beispiel ist sehr wichtig für uns. Wenn man in Italien mit den Niederlanden oder Dänemark kommt, winken die Leute ab. Uns ist Spanien viel näher. Was in Spanien möglich ist, ist auch in Italien vorstellbar.

Welche Rolle spielt die Mikromobilität?
Die E-Kickscooter heißen bei uns „Monopattini“. Anders als in Deutschland kamen sie spät in Italien an, erst kurz vor Corona. Während der Pandemie wuchs das Thema gigantisch. Jetzt sind sie auch in mittelgroßen und kleinen Städten präsent. Ich lebe selbst in einer Stadt an der adriatischen Küste, Giulianova – mit nur 24.000 Einwohnern. Selbst wir haben so ein Sharing-System.

Wie nachhaltig ist die neue Radverkehrspolitik?
Während der Pandemie nutzen die Menschen lieber private Fahrzeuge als öffentliche Verkehrsmittel. Deshalb haben wir einerseits mehr Radfahrer, andererseits mehr Autofahrer. Die neu eingeführten Regeln gelten jedoch dauerhaft. Alle Kommunen können jetzt die Infrastruktur erweitern. Mit wenig Geld werden Pop-up-Radwege umgesetzt. Auch die bleiben dauerhaft. Für mehr Sicherheit werden diese Pop-up-Wege später baulich vom Autoverkehr getrennt.
Ich glaube, dass es auch in der Regierung ein neues Bewusstsein für eine andere Mobilität gibt. Verkehrsminister Enrico Giovannini hat angekündigt, für den nächsten Haushalt weitere 100 Millionen Euro für touristische Radreiserouten und für urbane Radwege bereitzustellen. Wir sind sehr optimistisch, dass die Draghi-Regierung weiter an dem fahrradfreundlichen Kurs festhält. Ich glaube, Italien verändert sich.


Bilder: stock.adobe.com – Frédéric Prochasson, Qimby.net – Markus-Fedra, Cumune di Milano, Cumune di Milano, Cristina Santoni, Comune di Bari

Cargobikes übernehmen einen immer größeren Anteil der Warenzustellungen in den Stadtzentren. Damit die Fahrerinnen und Fahrer nicht an Baustellen, Umlaufgittern oder zu hohen Bordsteinen scheitern, benötigen sie eine fahrzeuggerechte Navigation. Daran sollten Städte arbeiten. Denn bislang fehlen Anwendern die Daten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Noch spielen Lastenräder in Innenstädten für den Wirtschaftsverkehr eine relativ kleine Rolle. Nach Einschätzung von Expert*innen und der Bundesregierung ändert sich das in den kommenden Jahren aber rasant. Fast ein Drittel der Waren könnten dann laut Bundesverkehrsministerium mit sogenannten Heavy Cargobikes zum Kunden gebracht werden. Die Infrastruktur ist dafür jedoch vielfach nicht ausgelegt. Momentan bremsen Hindernisse die Fahrerinnen und Fahrer auf vielen Strecken aus. Ansätze für digitale Lösungen gibt es. Das Projekt „SmartRadL“ oder die App „Cargorocket“ helfen dabei, die Routenplanung für Lastenräder zu optimieren.

17,5 %

Weniger als ein Fünftel der vom ADAC
in einer Untersuchung
gemessenen Radwege war
mindestens 1,60 Meter breit.

Pionierarbeit bei der Cargobike-Routenplanung

Steffen Bengel ist Geograf und Projektleiter am Institut für Arbeitswissenschaften und Technologiemanagement der Universität Stuttgart im Bereich Logistik und Fahrradmobilität. Er begleitet bis 2022 in dem Projekt „SmartRadL“ die Entwicklung einer integrierten Softwareanwendung für ein intelligentes Routen- und Auftragsmanagement für Lastenradverkehre. Dafür arbeitet er mit dem Software-Entwickler FLS und dem Logistikunternehmen velocarrier zusammen. Ein primäres Ziel ist, Lastenradlogistikern eine Software an die Hand zu geben, die Hindernisse in der Stadt von starken Steigungen bis zu hohen Bordsteinkanten bei der Routenplanung berücksichtigt und damit die Effizienz und Wirtschaftlichkeit des Lastenradeinsatzes auf der letzten Meile verbessert. Dafür schaut sich Bengel die Radinfrastruktur genau an und stellt fest: „Auf den Lieferverkehr per Fahrrad sind die Kommunen überhaupt nicht vorbereitet.“ In den Städten ist es bereits heute eng auf den Radwegen. Seit dem ersten Corona-Lockdown sind rund 20 Prozent der ÖPNV-Nutzer und Nutzerinnen dauerhaft aufs Rad umgestiegen. Hinzu kommt, dass immer mehr Zusteller und Dienstleister vom Auto oder Lieferwagen aufs E-Bike oder Cargobike wechseln. Dazu gehören neben Essenszustellern wie Lieferando inzwischen auch Supermärkte wie Rewe oder Lebensmittelzusteller wie Getir, Flink oder Gorillas, die Lieferungen per E-Bike innerhalb von zehn Minuten versprechen. Allein Gorillas hat seit seiner Gründung im Jahr 2020 in neun Ländern ein Netz von 140 Lagern in großen Städten aufgebaut. „Entwicklungen wie diese verstärken den Radverkehr an den Hotspots rund um die Lager zu manchen Tageszeiten um teilweise mehr als 100 Prozent“, sagt Bengel. Es wird also immer enger auf den Radwegen. Außerdem fehlen in den Städten zusammenhängende Netze, und die Radwege, die es gibt, sind oft zu schmal. „Der Automobilclub ADAC hat 2020 in einer Untersuchung in zehn deutschen Landeshauptstädten auf 120 Strecken nachgemessen“, sagt Bengel. Das Ergebnis ist alarmierend. Gerade mal 17,5 Prozent aller gefahrenen Routen entsprachen demnach den Empfehlungen für den Radverkehr und waren mindestens 1,60 bis 2 Meter breit. An sicheres Überholen ist so kaum zu denken.

„Auf den Lieferverkehr

per Fahrrad sind die Kommunen überhaupt nicht vorbereitet.“

Steffen Bengel, Institut für Arbeitswissenschaften
und Technologiemanagement der Universität Stuttgart

Problem erkannt: Daten und Lösungen sind gefragt

In Interviews mit den Zustellern fand Bengel außerdem heraus: Poller, fehlende Bordsteinabsenkungen und Einbahnstraßen bremsen Cargobikes auf ihren Touren immer wieder aus. Aktuell kommen die Fahrerinnen und Fahrer mit den Tücken auf den Strecken klar. „Viele von ihnen sind Fahrradenthusiasten“, sagt Bengel. Sie kennen ihre Stadt, ihre Routen und Schleichwege, die sie selbst mit sperriger Ladung im Heck oder im Anhänger passieren können. Aber je mehr des Wirtschaftsverkehrs aufs Lastenrad verlegt wird, umso wichtiger wird eine zugeschnittene Tourenplanungssoftware. Denn die Hindernisse auf der Strecke sind vielfältig. Manchmal sind beispielsweise die Verkehrsinseln in der Mitte der Straße so schmal, dass die Lastenräder oder ihre Anhänger beim Stopp bis auf die Fahrbahn reichen. Auch in geöffneten Einbahnstraßen kann es für sie bei Gegenverkehr extrem eng werden. Ein Problem sind auch aktuelle Baustellen. Eine Routing-App für Lastenräder könnte diese Aspekte bei der Tourenplanung berücksichtigen. Aber dafür fehlen bislang noch die Daten. „Infrastrukturdaten von Radwegebreiten bis zu Bordsteinhöhen sind entweder gar nicht oder nur sporadisch vorhanden oder nicht frei zugänglich“, sagt Bengel. Das gelte auch für Live-Informationen zu Behinderungen wie Außenveranstaltungen, Baustellen oder Demonstrationen.
Im November 2020 schilderte Steffen Bengel beim Hackathon des Ministeriums für Verkehr Baden-Württemberg das Problem mit der Datenlücke. Unter den Expertinnen für Verkehrsgestaltung, Daten-Providern und kreativen Entwicklerinnen waren auch Alexandra Kapp, David Prenninger und Henri Chilla. Die drei kannten einander nicht, wollten aber eine Routing-App für Lastenräder entwickeln. Das Verkehrsministerium in Baden-Württemberg unterstützte ihre Idee mit 25.000 Euro. Der Student und die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen gründeten das Start-up Cargorocket und veröffentlichten im Mai 2021 den bundesweit ersten „Cargobike-Index“, der inzwischen die Lastenradtauglichkeit vieler Straßen in ganz Deutschland zeigt. Ein paar Wochen später folgte ihre App. „Beides sind keine fertigen Produkte“, betont Entwickler David Prenninger. Das Trio habe damit einen Diskurs eröffnen und zeigen wollen, welche Standards Lastenräder brauchen, um als Autoersatz in der Stadt unterwegs sein zu können, und welche Daten für ein Routing notwendig sind.

„Infrastrukturdaten für Cargobikes sind entweder gar nicht oder nur sporadisch vorhanden oder nicht frei zugänglich.“

Steffen Bengel, Universität Stuttgart

Sammeln von Daten in Heimarbeit

Auch sie erkannten schnell: Infrastrukturdaten zu sammeln, ist in Deutschland schwierig. „Die Daten, die beim Bund, den Ländern und Kommunen existieren, sind kaum zugänglich“, sagt Alexandra Kapp, die im Team für die Geodaten zuständig ist. Allein um die Höhen von Baden-Württembergs Bordsteinen zu erfahren, hätten sie in jeder, der mehr als 1.000 Kommunen nachfragen müssen. Um sich Zeit und mögliche Absagen zu ersparen, nutzten sie die freie Weltkarte OpenStreetMap (OSM). „Viele Radwege, Bordsteine, Drängelgitter oder Poller sind dort bereits gemappt“, sagt Kapp. Was fehlt, sind die Informationen zu den Radwegebreiten, wie viel Platz rechts und links der Poller verbleibt oder ob die Oberflächen der Radwege glatt sind oder Holperpisten ähneln. Kurzum, es geht um Straßentypen, Oberflächen und Barrieren. Um die fehlenden Daten zu ergänzen, organisierte das Trio im April 2021 einen sogenannten Mapathon. Das ist ein koordiniertes Mapping-Event, bei dem Freiwillige in ihrer Stadt Informationen über die Wegbeschaffenheit sammeln und zu den OpenStreetMap-Daten hinzufügen.
Das Sammeln der Daten ist bislang Handarbeit. Die Mapper*innen messen vor Ort die Breite der Radwege oder die Höhe der Bordsteine und ergänzen die Werte in der OpenStreetMap. „Für die Barrieren gibt es eigene Tags wie ‚bollard‘ (Poller) oder ‚cycle_barrier‘ (Umlaufgitter)“, sagt Kapp. Neben der Art der Barriere kann zudem die maximale Breite über „width“ oder „maxwidth:physical“ sehr genau getaggt werden. Das System von OSM sei selbsterklärend und funktioniere gut, sagt Kapp. In Ulm wurde seit dem Mapathon aus ihrer Sicht relativ viel gemappt. Für 26 Radwege wurden die Daten ergänzt. „Die Tag-Vollständigkeit ist dort von 20 auf 32 Prozent gestiegen“, sagt Kapp. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: 68 Prozent der Radwege bleiben ungemappt.

Kommunen leisten mit einer geeigneten Infrastruktur und den nötigen Daten einen wichtigen Beitrag, um den Einsatz von Cargobikes im Wirtschaftsverkehr zu erleichtern.

Vorausschauende Planung durch Kommunen nötig

Die Standards, die Cargorocket entwickelt hat, inspirieren auch Steffen Bengel und sein Team für ihre Routingsoftware. Außerdem profitieren sie von den neuen Daten in OSM, die seit dem Mapathon hinzugekommen sind. Das gilt für alle Anbieter von Tourenplanungssoftware, die OSM nutzen. Hier wünscht sich Bengel künftig deutlich mehr Unterstützung durch die Kommunen. Denn indem sie ihre Daten zur Radwegeinfrastruktur zur Verfügung stellen, machen sie den Einsatz von Cargobikes im Wirtschaftsverkehr wesentlich leichter. „Am besten werden die Daten in ein offenes, bewährtes System wie OpenStreetMap eingespeist“, sagt Bengel. Dort kann jeder auf die Daten zugreifen und weitere Tools zum Einsatz von Lastenrädern für Gewerbetreibende oder auch für Privatleute entwickeln. Neben dem Routing ist für ihn auch das Parken beim Kunden relevant. „Momentan halten die Zusteller je nach auszuliefernder Ware alle 50 Meter auf dem Gehweg“, sagt er. Erreicht die Radlogistik tatsächlich einen Marktanteil von 30 Prozent der Warenzustellung in der Innenstadt auf der letzten Meile, kann das zum Problem werden. Um das Zuparken von Gehwegen durch Zusteller*innen auf Cargobikes zu vermeiden, sollten die Kommunen jetzt Strategien entwickeln, um das Parken in der Innenstadt zu erleichtern.

Fazit und Aufgaben

Dass der Anteil von Cargobikes am Gesamtverkehr steigt, ist notwendig, absehbar und gewünscht. Auch der Boom der Logistik durch E-Commerce und neue Lieferservices wird nach Meinung der Experten weitergehen. Projekte wie SmartRadL und Cargorocket helfen Radlogistikern dabei, die Vorteile der Cargobikes auf der Kurzstrecke effektiver auszuspielen. Die Kommunen können und sollten sie unterstützen, indem sie die passende Infrastruktur für Cargobikes von Lieferdiensten und privaten Anwendern in der Planung ab sofort immer mitdenken. Das gilt für die Erhebung und Freigabe von Infrastrukturdaten ebenso wie für die Planung von ausreichend bemessenen Radwegen oder Stellflächen im gesamten Stadtgebiet.


Cargorocket:
OpenStreetMap plus X

Die meisten Straßen im Cargobike-Index basieren weiterhin ausschließlich auf OSM-Datenmaterial. Das heißt: Sämtliche Straßen von der Bundesstraße über den Fußweg bis zum Feldweg sind dort erfasst. Die App Cargorocket übersetzt mit ihrem Index jede Straßenkategorie in eine Empfehlung für Lastenräder. Die App ermittelt dann anhand dieser und der getaggten Daten die beste Strecke durch die Stadt.


Bilder: stock.adobe.com – antoine-photographe, Steffen Bengel, Cargorocket

Die Mobilitätsalternativen für den ländlichen Raum sind da. Von Pedelec- und Carsharing-Systemen, neuer Mikromobilität bis hin zu Coworking-Spaces. Kommunen, Unternehmen und Bürgervereine zeigen, wie weniger Auto auf dem Land funktioniert. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Während die Mobilitätswende in der Stadt an Fahrt gewinnt, scheint das Land auf den ersten Blick abgehängt. Bleibt das Auto dort zwingend? Welche rasch umsetzbaren Alternativlösungen leben die Regionen jetzt schon vor?
Der Befund der BMWI-Mobilitätsstudie 2017 mag noch ernüchtern: 70 Prozent der Wege im ländlichen Raum werden mit dem Auto zurückgelegt. Laut IAB-Kurzbericht 10/2018 beträgt die durchschnittliche Pendlerstrecke mit ländlichem Hintergrund 13,2 km (Stadt: 8,8 km). Die muss bewältigt werden, während gleichzeitig das ÖPNV-Angebot mancherorts bis zu 80 Prozent auf Schulverkehre reduziert ist.
Doch Land ist nicht gleich Land. So weist Constantin Pitzen in einer Handreichung der Heinrich-Böll-Stiftung „Umweltfreundlich mobil im ländlichen Raum“ darauf hin, dass die Abhängigkeit vom Auto nach Siedlungstyp variiert. Da ist der Metropolen-Speckgürtel mit Pendlerströmen und lückenhafter Fahrradinfrastruktur. Zerstreute Wohn- und Gewerbegebiete mit Einkaufszentren in Randlagen verhindern dort einen wirtschaftlichen ÖPNV. In Städten ländlich geprägter Regionen über 20.000 Einwohnern werden Wege noch gut zu Fuß, mit dem Fahrrad oder Stadtbus erreicht.
Abseits größerer Verkehrsachsen leidet allerdings die Lebensqualität: Der Besuch von Freund*innen, Weiterbildungs- sowie Freizeiteinrichtungen oder Kulturveranstaltungen ist eingeschränkt. Für die ländliche Verkehrswende setzt Pitzen auf eine „integrierte Nutzung von Bahn, Bus, Fahrrad und Füßen“. Und: „Vielfach wird auch das Auto – sowohl das private als auch das geteilte – in die Wegeketten eingebaut werden müssen.“

70 %

der Wege im ländlichen Raum
werden bislang mit dem Auto zurückgelegt.

Einfache Maßnahmen, Potenziale beim Pedelec

„Die pauschale Lösung gibt es nicht“, erklärte auch ADAC-Umwelt- und Verkehrsreferent Christian Laberer auf einem digitalen Forum des ADAC Mittelrhein e.V. Dort stellte er eine Betroffenen-Befragung aus 2018 vor. Die zeigten sich zwar mehrheitlich zufrieden mit ihrer Mobilität. Aber nur solange sie mit dem eigenen Pkw unterwegs sind. Mit Blick auf Jugendabwanderung, Überalterung oder Abnahme von Versorgungseinrichtungen warnte Laberer: „Es brennt in den ländlichen Räumen. Man muss etwas tun, um sie attraktiv zu halten.“ Und zwar mit einfach umsetzbaren Mobilitätsmaßnahmen: von der Mitfahrbank über Bürgerbus, Rufbus, Anruf-Sammeltaxen bis hin zu Sharing-Modellen. Potenziale sieht er auch im Radverkehr. Besonders im Pedelec: „Damit lassen sich topografische Hürden sehr leicht überwinden. Und es ist eine weitere Mobilitätsalternative, um größere Distanzen zurückzulegen.“ Für all das brauche man einen „Kümmerer“. „Eine zentrale Stelle vor Ort. Mindestens auf Landkreisebene oder ideal auf Gemeindeebene. Der ein finanzielles Budget hat, die Situation vor Ort kennt. Der weiß, wer die Akteure sind, die man mitnehmen muss, um das Ganze den Bürgern schmackhaft zu machen.“

„Vorfahrt für Jes­berg“ – der Mobilitätsverein kümmert sich um Carsharing, Pedelecs, E-Cargobikes und Mitfahrbänke.

Beispiel Bürgerverein in Jesberg

So ein Kümmerer ist Michael Schramek aus der hessischen Gemeinde Jesberg. Vor fünf Jahren gründete er den Mobilitätsverein „Vorfahrt für Jesberg“ (s. Interview im Anschluss). Der Verein stellte Carsharing mit zwei Pkws und Kleintransportern, Pedelecs, E-Lastenräder sowie Mitfahrbänke auf die Beine. Mit dem E-Lastenrad wird ein Lieferservice vom örtlichen Supermarkt geboten oder Abholservices. Für Vereinsmitglieder ist das E-Lastenrad an einem Tag pro Woche kostenfrei. Nicht-Mitglieder zahlen 2,00 Euro je angefangene Stunde. Fürs Carsharing liegt der Tagespreis bei 22 Euro.
Für Michael Schramek ist Carsharing die größte Fahrradförderung, die es neben dem Radwegebau gibt. Menschen, die auf dem Land ein Auto besitzen, scheinen gezwungen, es zu nutzen: „Sie dürfen das Haus nicht verlassen, ohne ins Auto einzusteigen. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz“, sagt Schramek ironisch. Das ändere sich erst dann, wenn sie ein Auto weniger haben. Dafür bräuchten sie aber eine Alternative zum eigenen Auto, wenn eins gebraucht wird. Das Beispiel Jesberg zeigt auch, wie alternative Mobilität und andere Initiativen zu mehr Nachhaltigkeit und sozialer Qualität führen. Schramek: „Wir entwickeln uns gerade wieder viel dynamischer als Dorf.“

Pulsierendes Pedelec-Sharing-System

„Kümmerer“ Schramek ist insofern ein Glücksfall für die Gemeinde, als er mit dem Unternehmen EcoLibro beruflich in Sachen Mobilität berät. So arbeitet er unter anderem an dem Aufbau eines kreisweiten Pedelec-Sharing-Systems. Möglichst viele Kommunen sollen sechs bis zehn Elektrofahrräder sowie ein Lastenrad im Angebot haben. Zielgruppe sind Bewohnerinnen, insbesondere Pendlerinnen, aber auch Tourist*innen. Die E-Bikes werden flexibel für den täglichen Pendelweg genutzt, in der Station am Arbeitsort abgegeben und bis zum Feierabend von anderen Nutzern entliehen. Zur Buchung soll die Sharing-Software von „Regio.Mobil“ genutzt werden, wodurch die Räder über dieselbe Plattform verfügbar sind wie die an einigen Orten bereits eingeführten Car-Sharing-Fahrzeuge. Regio.Mobil soll sich auch um die Organisation kümmern und mithilfe örtlicher Zweiradhändler um die Wartung. Schramek resümiert: „So bekommen wir es hin, dass ich für den Arbeitsweg das Pedelec nutzen kann und es trotzdem den ganzen Tag für andere zur Verfügung steht.“ 18 hessische Kommunen haben bereits ihr Interesse bekundet.

Coworking-Space auf dem Land

Das wohlgepflegte Argument, das Auto sei auf dem Land unumgänglich für den Weg zur Arbeit, bricht dann auf, wenn die Arbeit ins Dorf kommt. Keine 13 Kilometer von Jesberg befindet sich der „Coworking-Space Schwalmstadt“ in Nähe zum Bahnhof Treysa. Seit November 2019 dienen die mietbaren Arbeitsplätze als Angebot für Arbeitnehmende wie Freiberuflerinnen zugleich als Beitrag zur Kommunalentwicklung. Das Projekt wird durch die Stadt Schwalmstadt finanziert und wurde aus dem Kommunalen Ausgleichsstock des Schwalm-Eder-Kreises sowie Mitteln der ländlichen Regionalentwicklung (LEADER) gefördert. Besitzt jede Gemeinde einen Coworking-Space, der zu Fuß oder mit dem Rad erreicht werden kann, reduzieren sich Pendlerfahrten. Und die Anbieter vernetzen sich: Im Februar 2019 ist aus der Heinrich-Böll-Stiftung heraus die „CoWorkLand“-Genossenschaft von Menschen gegründet worden, die einen Coworking-Space im ländlichen Raum gründen wollen. Inzwischen ein Netzwerk von fast 50 Genossinnen. Mitglieder werden bei der Gründung und im Betrieb von Coworking-Spaces unterstützt. Kund*innen sollen an möglichst vielen Orten auf dem Land ortsunabhängig arbeiten.

Sharing-Anbieter Tier expandiert nach dem Start in den Innenstädten in die Vororte und Kleinstädte.

E-Tretroller kein Großstadt-Phänomen mehr

Auch die bisher aus Metropolen bekannten E-Tretroller drängen aufs Land. Beispiel „Tier“: Gestartet ist das junge Unternehmen innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings. Mittlerweile liegt bis zu einem Drittel des Geschäftsgebietes außerhalb. Tier-Sprecher Florian Anders sagt: „Das ist es, wo die Reise zwei Jahre nach unserem Start hingeht: Die Vorstädte und Vororte mit den Pendlern abdecken. Gerade dort ist es wichtig, eine Ergänzung im Mobilitätsmix zu haben. Und wir machen sehr gute Erfahrungen, was die Nutzung angeht.“
Neben zahlreichen mittelgroßen Städten ist Tier in Deutschland mittlerweile auch in kleineren Städten wie Herford und Troisdorf unterwegs. „In Herford sind wir seit dem Mai 2020 aktiv und haben seitdem knapp 120.000 Fahrten mit unseren Tier-Scootern verzeichnet.“ Gemessen an 66.495 Einwohnern ein Erfolg, der zeige, dass das Angebot auch in kleineren Städten funktioniere und kein Großstadt-Phänomen sei. „Gerade dort, wo etwa der Bus seltener fährt, kann man die Leute auch mal überzeugen, auf das Fahrrad, den E-Scooter oder das E-Moped zu steigen. Ein wichtiger Hebel, um die Abhängigkeit vom Auto zu reduzieren.“ Die Wachstumsrichtung aus der Metropole Richtung Land ist klar. Anders glaubt: „Mikromobilität hat ihren Weg gefunden: Von den Großstädten zu den mittelgroßen bis zu den kleinen Städten.“ Einen ähnlichen Weg schlägt hierzulande auch die Tochter „Spin“ des amerikanischen Ford-Konzerns ein. Wachstumschancen sieht man in Deutschland vor allem in den Randgebieten der Großstädte, den kleineren Kommunen und den „Schlafstädten“. Seit Mitte 2020 ist Spin in rund 15 Klein- und Großstädten in Nordrhein-Westfalen, nahe der Heimat der Kölner Ford-Zentrale aktiv und seit Kurzem auch im Umland von Berlin.

Pop-up Sharing-station vor dem Bruchsaler Bahnhof mit Fahrrädern und E-Rollern des Start-ups Share2Move.
Die Ford-Tochter Spin konzentriert sich mit ihren E-Kickscootern auf kleinere Städte in den Einzugsgebieten der Metropolen.

E-Roller im Kleinstadt-Sharing

Um die oftmals weiteren Strecken im ländlichen Raum zu bewältigen, brachte das Start-up-Unternehmen „Share2Move“ Elektroroller-Sharing ins niedersächsische Emsland. Gründer Mirko Lühn verleiht die ab 16 Jahren fahrbaren 45-km/h-E-Roller im Retrodesign hier unter dem Markennamen „Meli“, was für die Kleinstädte Meppen und Lingen steht. Die im Vergleich zum urbanen Raum geringere Nachfrage wird durch Kooperationen mit der regionalen Wirtschaft ausgeglichen. Wie die „Welt“ 2018 berichtete, kaufte die örtliche Kreisspar-kasse Fahrzeit-Kontingente, die von Kundinnen und Mitarbeitenden genutzt werden. Weitere Unternehmen engagieren sich, indem sie Scooter sponsern. Im Gegenzug nimmt das Start-up deren Standort in sein Portfolio auf. Der Hersteller „Emco“ entwickelte extra angepasste Elektroroller, die der fehlenden Netzabdeckung auf dem Land gegensteuern: „Die Cloudbox, die die fortlaufende Kommunikation des Rollers mit dem Internet ermöglicht, musste entsprechend programmiert werden“, sagte Mirko Lühn gegenüber der „Welt“. „Auch die Handy-App, über die ein Kunde einen Roller reservieren und einschalten kann, musste optimiert werden.“ 40 Roller waren es noch 2018, inzwischen sind es nach Unternehmensangaben 98, neben den beiden Städten auch in den Kommunen Norden, Bruchsal und Goch. Rund 2.500 Kundinnen haben inzwischen mehr als 226.000 Kilometer zurückgelegt, so Share2Move.

Planbare Wege mit Mobilitäts-Apps

Dass die Fahrt über Land planbar und umweltfreundlich bleibt, dafür sorgt längst die Integration von Sharing-Angeboten in den Mobilitätssystemen des ÖPNV. Sie ermöglicht die nachhaltige Wegekette, die aus unterschiedlichen Verkehrsmitteln bestehen kann: So kooperiert Tier mit mehr als 30 verschiedenen öffentlichen Verkehrsanbietern. Buchbar über Mobilitäts-Apps wie Moovit, Citymapper, BVG Jelbi, MVG more oder HVV Switch Hamburg. Und es gibt Partnerschaften etwa mit der Ruhrbahn. Mit Ticketing-Optionen sowie Vergünstigungen für Abonnent*innen.
Michael Schramek verweist auf die neue Clever-Route-App: „Das ist ein Widget, das man auf die Anfahrtsbeschreibung einer Stadt im Landkreis auf die Homepage nehmen kann. Da kann man eingeben: Ich bin hier und will dorthin. Mit welchen Kombinationen von Verkehrsmitteln kann ich das wie schnell, wie teuer, mit welchem CO2-Ausstoß und wie gesund zurücklegen?“ Private Mitfahr-Apps wie zum Beispiel „Pendlerportal“, „TwoGo“ oder „garantiert mobil“ im Odenwaldkreis runden das Angebot ab.
Fazit: Die vorangestellten Beispiele zeigen, dass alternative Lösungen für eine nachhaltige Mobilitätswende mit weniger Auto auf dem Land längst da sind. Sie können zügig und passgenau auf die Anforderungen der jeweiligen Gemeinde umgesetzt werden und machen den ländlichen Raum attraktiver.

„Die Arbeitswelt verändert sich“

Interview mit Michael Schramek, Mobilitätsberater,
EcoLibro GmbH und Verein Vorfahrt für Jesberg e.V.

Herr Schramek, was bewegt sich in Sachen Mobilitätswende auf dem Land?
Die Arbeitswelt verändert sich. Viele Menschen fahren nicht mehr jeden Tag mit dem Auto, um zu arbeiten. Sie arbeiten zu Hause im Homeoffice. Damit steht das Auto mehr herum. Während der Pandemie zu 100 Prozent. Jetzt ist es wieder erlaubt, ins Büro zu fahren. Das heißt aber noch lange nicht, dass es alle wieder wollen. Es wird weiter Homeoffice geben. Nicht vollständig, aber vielleicht zwei, drei Tage die Woche. In einem Haushalt mit zwei Erwerbstätigen sind früher beide zur Arbeit gefahren. Jetzt fahren sie nur noch die Hälfte der Woche. Dann stellt sich plötzlich die Frage: Warum haben wir eigentlich zwei Autos?

Welche Rolle spielen hier Coworking-Spaces?
Immer zu Hause alleine zu schmoren, ist auch nichts Tolles. Wir gehen davon aus, dass das Thema Coworking-Space auf dem Land durch den Wandel zum Homeoffice große Bedeutung bekommen wird. Wir haben einen Zuschlag für ein Bundesförderprojekt im Rahmen Mobilwandel 2035 erhalten. Am Ende soll jede Gemeinde Coworking-Spaces haben, die man zu Fuß oder mit dem Rad erreichen kann. Und wir wollen das kombinieren, dass überall dort, wo es solche Coworking-Spaces gibt, auch Sharing-Stationen sind.
Zudem bilden Coworking-Spaces einen Brennpunkt für die Dorfentwicklung. Wenn ich bisher so wie in Jesberg auf dem Land wohne und immer zum Arbeiten rausfahre, was interessiert mich dieser Ort? Wenn ich viel mehr hier bin, gemeinsam mit ortsansässigen Menschen, habe ich auch mehr Zeit, mich mit dem Dorf zu beschäftigen.

So haben Sie in Jesberg selbst einen Bürgerverein initiiert …
Ich habe gesagt, ich berate in ganz Deutschland in Sachen Mobilität, ich kann mal versuchen, hier etwas in die Hand zu nehmen. So haben wir zu dritt einen IKEK-Arbeitskreis, also für ein integriertes kommunales Entwicklungskonzept gegründet. Nach einem halben Jahr haben wir den Mobilitätsverein „Vorfahrt für Jesberg“ mit 13 Leuten gestartet. Jetzt liegt er ungefähr bei 70 Mitgliedern. Damit haben wir Carsharing, Mitfahrbänke und Leih-Lastenräder inklusive Liefer- und Abholdienste auf die Beine gestellt. Der Verein hat sich entwickelt und eine größere Dimension bekommen: Unser Edeka wird zum Vermarkter von Jesberger Produkten. Selbst ich als Selbstversorger-Gärtner kann demnächst meine Überschüsse dort verkaufen. Wir widmen eine Gärtnerei für „Village Gardening“ um. Die wird damit auch ein Zentrum für die Dorfgemeinschaft. Und wir wollen einen Coworking-Space haben. Das heißt, wir beschäftigen uns mit nachhaltiger Entwicklung und entwickeln uns wieder dynamischer als Dorf. Das Thema Mobilität wird zwangsläufig mit drin sein. Bei denen, mit denen wir zusammenarbeiten, merkt man das schon: Plötzlich haben die doch ein E-Bike und fahren im Dorf nicht mehr mit dem Auto.

Wie lässt sich der Radverkehr auf dem Land voranbringen?
Die größte Fahrradförderung, die es neben Radwegebau gibt, ist Car-sharing. Menschen, die auf dem Land ein Auto besitzen, sind gezwungen, es zu nutzen. Sie dürfen das Haus nicht verlassen, ohne ins Auto einzusteigen. Das ist gewissermaßen ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich fast jeder hält. Das ändert sich erst dann, wenn die Menschen ein Auto weniger haben. Das machen sie nur, wenn es eine Alternative zum eigenen Auto gibt. Deswegen ist Carsharing die effizienteste Fördermöglichkeit, um das Fahrrad, zu Fuß gehen und die ÖPNV-Nutzung auf dem Land zu fördern.


Bilder: Share2Move, TIER-Ebikes-St-Gallen – Nik-Roth, Qimby.net – Linus Neugebauer, Carsten Arnold, Udo Schumpe