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Lastenräder sind oftmals das umweltschonendste und schnellste Transportmittel in der Stadt. Die Plattform E-Cargoville LJ von Bergamont bietet viele Möglichkeiten, das einspurige Lastenrad an die eigenen Bedürfnisse anzupassen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Das E-Bike bietet in zwei Längenvarianten die jeweils passende Transportkapazität. Die Load Unit 70 bietet eine 20 Zentimeter längere Ladefläche als die Load Unit 50. Beide Versionen sind 45 Zentimeter breit und erlauben eine maximale Zuladung von 90 Kilogramm bei einem zulässigen Gesamtgewicht von 220 Kilogramm.
Individuell konfigurierbar ist auch die Antriebseinheit. Kunden und Kundinnen haben die Wahl zwischen drei Varianten. Das E-Cargoville LJ Edition kombiniert den Gen.-3-Performance-Line-Motor von Bosch mit einer 10-Gang-Kettenschaltung von Shimano und dem Intuvia-Display von Bosch. Bei den Versionen Expert und Elite setzt der Hamburger Hersteller auf den Cargo-Line-Motor Gen. 4 von Bosch und die stufenlose Enviolo-Schaltung. Über diese können die Gänge des kettenbetriebenen Modells Expert manuell und die des riemenbetriebenen Modells Elite automatisch geschaltet werden. Beide Varianten sind mit dem Kiox-Bordcomputer von Bosch ausgestattet, der erweiterte Konnektivität bietet. Das Modell Elite ist durch die Vario-Sattelstütze besonders komfortabel in der Sitzhöhe verstellbar. Alle Modelle sind für ein Größenspektrum zwischen 1,60 und 1,90 Meter geeignet. Ein zweiter Akku ist optional erhältlich. Alle Modelle verzögern mithilfe der hydraulischen 4-Kolben-Bremse Magura CMe5.
Verschiedene Optionen für Aufbauten erlauben den komfortablen Transport von Kindern oder Gegenständen. Für Letztere empfiehlt sich die Alloy Box. Sie besteht aus hochwertigem, wetterfestem Aluminium, fasst je nach Ladefläche 150 oder 200 Liter Volumen und ist abschließbar. Die Box ist stoß- und wasserfest sowie auf Schwingungsdämpfern montiert und in beiden Größen kompatibel mit Euro-Boxen in den Maßen 400 x 300, in der Langversion sogar mit Euro-Boxen in 400 x 600 Millimetern Größe. Der Deckel öffnet mithilfe einer Gasfeder.


Bilder: Bergamont

Mehr Raum in den Städten und Kommunen für Bewegung, Menschen und ein gutes Leben. Wie soll das gehen? Die Stadt London hat dazu das Konzept Healthy Streets zusammen mit der inzwischen weltweit tätigen Beraterin Lucy Saunders entwickelt und in die Planung implementiert. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Der Ansatz, aktuelle Entwicklungen sorgfältig zu analysieren, in die Zukunft zu denken und langfristig gesellschaftlich wünschenswerte Richtungen vorzugeben, hört sich nach einem sinnvollen Plan an. London hat genau das gemacht und dafür zusammen mit Lucy Saunders, einer Spezialistin für öffentliche Gesundheit und Verkehr, eine neue Leitlinie entwickelt, die sich an der Gesundheit der Bewohner und nicht mehr nur an der Leistungsfähigkeit des Verkehrs orientiert. Im Jahr 2014 wurde der sogenannte Healthy Streets Approach in den ersten Gesundheitsaktionsplan der Organisation Transport for London (TfL) aufgenommen, die sich in der Stadt um alle Belange des Verkehrswesens kümmert – inklusive denen der Radfahrer und Fußgänger.

Unterschätzt: Verkehr und Gesundheit

Um den Sinn des Ansatzes verständlich zu machen, geht Lucy Saunders in ihren Vorträgen zuerst auf fünf große Faktoren ein, die im Bereich Verkehr unser Umfeld und unsere Gesundheit beeinflussen: Physische Aktivität, Verletzungen, Luftqualität, Lärm und Trennungen/Abschneiden des direkten Zugangs. Alle fünf Faktoren würden uns im Hinblick auf unseren Lebensstil, unser Wohlbefinden, unsere Leistungsfähigkeit und körperliche und seelische Erkrankungen stark beeinflussen. Dazu kommen vielfältige Wirkzusammenhänge: Ein Beispiel ist die Verletzung durch Verkehrsunfälle, die nicht nur die physische Gesundheit betrifft, sondern auch das Umfeld traumatisiert und darüber hinaus allgemeine Ängste auslöst und damit unser Verhalten mitbestimmt. Ängste seien ein wesentliches Entscheidungskriterium für die bevorzugte Art der Fortbewegung. Ein anderer im Hinblick auf die Gesundheit zentraler und trotzdem stetig unterschätzter Faktor sei der grundlegende Mangel an Bewegung. Er tauche in der Statistik zwar nachgeordnet als Ursache für Erkrankungen und vorzeitige Todesfälle auf, sei aber ursächlich mitverantwortlich für viele schwere Erkrankungen wie Fettleibigkeit, Herzkrankheiten, Schlaganfälle, hoher Blutdruck, Diabetes oder auch Depressionen. Der Mangel an körperlicher Aktivität sei derzeit die größte Bedrohung für die Gesundheit der Londoner, heißt es dazu bei Transport for London.

Britische Langzeitstudie mit 300.000 Pendlern vorgestellt

Eine kürzlich veröffentlichte, groß angelegte Langzeitstudie, die mehr als 300.000 Pendlern in England und Wales im Zeitraum von 1991 bis 2016 untersuchte, hat ergeben, dass ein aktiver Lebensstil das Risiko, schwer zu erkranken oder frühzeitig zu sterben, deutlich senken kann. Grundlage für die Untersuchungen der Wissenschaftler der Cambridge University und des Imperial College London war die Begleitung verschiedene Pendler über einen Zeitraum von 25 Jahren: 66 Prozent fuhren mit dem Auto zur Arbeit, 19 Prozent nutzten öffentliche Verkehrsmittel, 12 Prozent gingen zu Fuß und nur 3 Prozent fuhren mit dem Fahrrad. Nach den Machern der Studie ergänzen die Ergebnisse vorhandene Erkenntnisse über die positiven gesundheitlichen Auswirkungen von körperlich aktiven Pendelverkehrsmitteln, insbesondere Radfahren und Zugfahren, und legen nahe, dass alle sozioökonomischen Gruppen davon profitieren könnten. Festgestellt wurde unter anderem, dass diejenigen, die mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhren, eine um 20 Prozent geringere Rate vorzeitiger Todesfälle aufwiesen. Zudem sahen die Forscher eine um 24 Prozent reduzierte Sterblichkeitsrate bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zu denen Herzinfarkt und Schlaganfall gehören, sowie eine um 16 Prozent reduzierte Sterblichkeitsrate bei Krebs und eine um 11 Prozent reduzierte Rate bei der Krebsdiagnose. Weniger positive Auswirkungen gab es bei den Fußgängern. Die Krebsdiagnosen lagen hier aber immer noch um 7 Prozent niedriger als bei den ÖPNV- oder Autopendlern.

Mehr Informationen thelancet.com

Von der Erkenntnis zum Konzept

Wie soll man diese komplexen Probleme lösen? „Nicht mit einfachen Antworten“, so Lucy Saunders. Der Healthy Streets-Ansatz sei ein komplexes System von politischen Entscheidungen und Strategien zur Schaffung einer gesünderen, integrativeren Stadt, in der die Menschen zu Fuß gehen, Rad fahren und öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Im Wesentlichen gehe es dabei nicht nur darum, Menschen Mobilität zu ermöglichen, sondern sie einzuladen und Anreize zu schaffen für einen anderen Lebensstil. Was hierzulande zwar oft diskutiert, bislang aber nur in einem geringen Maß als Leitlinie festgeschrieben oder umgesetzt wird, ist in London längst ein von Bürgermeister und Verwaltung beschlossenes Konzept, das die Zielrichtung bis zum Jahr 2030 vorgibt. So heißt es in der Strategie von Transport for London: „Unser Zweck als integrierte Verkehrsbehörde ist es, London mobil zu halten, zu wachsen und das Leben vor Ort zu verbessern.“ Die Qualität der Gesundheit sei untrennbar verbunden mit der Form der Mobilität und den Anreizen, Wahlmöglichkeiten und Angeboten für die Art und Weise der Fortbewegung.

Zehn Indikatoren für eine gesündere Stadt

Immer wieder betont Lucy Saunders, dass Healthy Streets keine idealisierte Vision für Modellstraßen sei. Beim Konzept ginge es vielmehr um einen langfristigen Plan, um die Wahrnehmung der Bevölkerung und der Besucher zu verbessern und allen dabei zu helfen, aktiver zu sein und von den gesundheitlichen Vorteilen zu profitieren. Da 80 Prozent des Verkehrs in London auf den Straßen stattfänden, sei es wichtig Straßen zu schaffen, die angenehm, sicher und attraktiv sind. Auf der anderen Seite dürften Faktoren wie Lärm, Luftverschmutzung, schlechte Zugänglichkeit, fehlende Sitzgelegenheiten oder mangelnder Wetterschutz keine Barrieren aufbauen für Menschen und hier insbesondere die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Um die Qualität messbar zu verbessern, hat die Expertin in ihrem Konzept zehn evidenzbasierte Indikatoren dafür entwickelt, was Straßen zu attraktiven, gesunden und integrativen Orten macht. Die Arbeit in Bezug auf diese Indikatoren trage dazu bei, eine gesündere Stadt zu schaffen, in der alle Menschen einbezogen seien, gut leben könnten und in der Ungleichheiten abgebaut würden.

Milliarden-Investitionen und hoher Nutzen

Mobilitätswende in Zeiten von Corona? Wir haben Lucy Saunders, die Erfinderin des Healthy-Streets-Konzepts zu ihrer Einschätzung und Notwendigkeiten für die Zukunft befragt.

Frau Saunders, Sie sind mit Experten auf der ganzen Welt vernetzt und beobachten die Situation nicht nur in London sehr genau. Was verändert sich gerade?
Wir haben aktuell sehr viele unerfahrene und unsichere Radfahrer, die für lange Zeit nicht Rad gefahren sind, oder die jetzt damit anfangen wollen. Was jetzt in vielen Ländern dringend nötig wäre, ist, dass wirklich große Anstrengungen unternommen werden, um den Menschen genug sicheren Raum zu geben.

Vielerorts werden ja neue Räume für Radfahrer freigemacht, Stichwort Protected Bikelanes.
Was wir aktuell sehen, das sind viele kleine Lösungen in verschiedenen Städten mit ganz viel Publicity drum herum. Aber wenn wir genau hinschauen, dann sehen wir, dass es wirklich nur sehr kleine Teile der In­frastruktur sind, die jetzt für das Fahrrad freigemacht werden. Es wird bislang nicht realisiert, dass Radfahrer überall und auf jeder Straße sichere Räume brauchen. Ich sehe selbst jetzt nicht, dass das passiert. Zudem bin ich auch besorgt, dass die Menschen nach der Corona-Krise sagen, okay ihr habt doch jetzt eure Fahrrad-Infrastruktur, also seid jetzt einfach still und hört auf, immer weiter über Radfahren zu reden. Wir wollen doch jetzt zurück zum Business-as-usual.

Sehen Sie die aktuellen Entwicklungen trotzdem positiv oder gibt es hier Risiken?
Wir haben ein großes Risiko von viel mehr Autos auf den Straßen, weil den Menschen empfohlen wird, keine öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, und sie meinen, dass sie keine andere Option haben. Auf den Fußwegen ist viel zu wenig Platz und der Umstieg aufs Rad sieht für sie nicht leicht aus. Sie wissen nicht, was für ein Fahrrad sie kaufen oder welche Kleidung sie tragen sollen. Dazu brauchen sie unterstützende Informationen und vielfach auch Trainings, damit sie lernen, dass Radfahren wirklich eine Option ist als echtes Verkehrsmittel.

Was ist ihre Empfehlung in Bezug auf eine bessere Gesundheit?
In allen Ländern kann man sehen, dass nur ein Bruchteil der empfohlenen physischen Aktivität erreicht wird. Da, wo Menschen ihre Bewegung durch Sport bekommen, sehen wir einen großen Einbruch im Alter von Anfang 30, also dann, wenn andere Dinge wichtiger und zeitraubend werden, wie die Familie und der Job. Auf der anderen Seite wissen wir, dass Menschen ihren Lebensstil anpassen, wenn sie in einer bewegungsfördernden Umgebung leben, wo das Radfahren und Zufußgehen zur täglichen Routine gehört und das dann auch für ihr Leben beibehalten. Wenn wir also mehr Bewegung über das ganze Leben bis ins Alter haben wollen, dann müssen wir auf Zufußgehen und Radfahren als tägliche Aktivität setzen.

Erläuterungen zu den zehn Indikatoren für Healthy Streets

Everyone feels welcome
Straßen müssen ein einladender Ort sein, an dem jeder gehen, Zeit verbringen und sich mit anderen Menschen austauschen kann. Der beste Test dafür ist, ob die gesamte Gemeinschaft, insbesondere Kinder, ältere Menschen und Behinderte, diesen Raum gerne nutzen.

People choose to walk and cycle
Die Menschen werden zu Fuß gehen und Rad fahren, wenn dies für sie die attraktivsten Optionen sind. Das bedeutet, dass Gehen und Radfahren sowie öffentliche Verkehrsmittel bequemer, angenehmer und attraktiver sein müssen als die Nutzung des privaten Autos.

People feel relaxed
Die Straßenumgebung kann uns beunruhigen – wenn sie schmutzig und laut ist, wenn sie sich unsicher anfühlt, wir nicht genug Platz haben, oder wenn wir nicht leicht dorthin gelangen können, wo wir hinwollen. All diese Faktoren sind wichtig, um unsere Straßen einladend und attraktiv zu machen.

Easy to cross
Unsere Straßen müssen für alle leicht zu überqueren sein. Das ist wichtig, weil die Menschen es vorziehen, direkt und schnell dorthin zu gelangen, wo sie hinwollen. Wenn wir ihnen das schwermachen, werden sie frustriert aufgeben. Das hat Auswirkungen auf unsere Gesundheit, auf unsere Städte und Kommunen und lokale Unternehmen.

Clean air
Die Luftqualität wirkt sich auf die Gesundheit eines jeden Menschen aus, besonders aber auf einige der verletzlichsten und am stärksten benachteiligten Menschen – Kinder und Menschen mit gesundheitlichen Problemen.

Not too noisy
Straßenverkehrslärm beeinträchtigt unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden in vielerlei Hinsicht. Die Verringerung des Lärms schafft ein Umfeld, in dem die Menschen bereit sind, sich Zeit zu nehmen und miteinander zu interagieren.

Places to stop and rest
Regelmäßige Möglichkeiten zum Anhalten und Ausruhen und Sitzgelegenheiten sind unerlässlich, um Umgebungen zu schaffen, die für alle Menschen integrativ sind, und um Straßen zu einladenden Aufenthaltsorten zu machen.

People feel safe
Der motorisierte Straßenverkehr kann dazu führen, dass sich Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad unsicher fühlen. Die Menschen müssen sich aber auch vor unsozialem Verhalten, unerwünschter Aufmerksamkeit, Gewalt und Einschüchterung sicher fühlen.

Things to see and do
Straßenumgebungen müssen für Menschen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind, visuell ansprechend sein, sie müssen den Menschen Gründe bieten, sie zu nutzen – lokale Geschäfte und Dienstleistungen, Möglichkeiten zur Interaktion mit Kunst, Natur und anderen Menschen.

Shade and shelter
Schatten und Schutz kann es in vielen Formen geben – Bäume, Markisen, Kolonnaden – und sie sind notwendig, um sicherzustellen, dass jeder bei jedem Wetter die Straße benutzen kann. Bei heißem Wetter benötigen Menschen genauso Schutz wie bei Regen und Wind.

Lucy Saunders

ist Spezialistin für öffentliche Gesundheit, Urbanistin und Verkehrsplanerin. Sie schuf den Healthy Streets Approach, einen evidenzbasierten Rahmen für die Entscheidungsfindung auf allen Ebenen, um das Thema Gesundheit im Stadtverkehr, im öffentlichen Bereich und in der Planung zu verankern. Aufbauend auf ihrem Erfolg in London teilt sie nun ihr Fachwissen mit Städten und Regionen weltweit. Der Name Healthy Streets ist rechtlich geschützt.

Mehr Informationen unter healthystreets.com


Bilder: www.brompton.de – pd-f, Lucy Saunders

Critical Mass, die kritische Masse, steht bereits seit rund drei Jahrzehnten für eine anarchische und viel beachtete Form des Protests für eine bessere Fahrradinfrastruktur. Seit wenigen Jahren gibt es mit der Kidical Mass quasi einen Ableger, der in Deutschland und einigen anderen Ländern die Verkehrswende aus Kinder- und Familienperspektive befeuert. Der Erfolg der jungen Bewegung ist beachtlich. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


„Kinder dürfen nicht mit dem Rad zur Schule kommen“, als Line Jungbluth das Schreiben der zukünftigen Grundschule ihrer Kinder in den Händen hielt, konnte sie es kaum glauben. Jahrelang war sie mit ihren Kindern per Fahrrad und Laufrad zur Kita gefahren – auf Gehwegen oder geschützten Radwegen. Seit ihrem Umzug von Hannover zurück in ihre Heimatstadt Remscheid im Bergischen Land war das nicht mehr so einfach. In Remscheid sind Radwege Mangelware und Fußwege häufig von Autos zugeparkt. Kindern fehlt zum Radfahren oftmals der Platz. Dass es ihnen zusätzlich auch noch verboten wird, wollte die Ärztin nicht hinnehmen. Mit einer Gruppe von Eltern und Radfahrenden hat sie im Frühjahr 2022 zur ersten Kidical Mass in Remscheid aufgerufen, einer Familien-Fahrraddemo mit Kindern.
Die Remscheider Gruppe gehört zu einer weltweiten Bewegung, die ihren Namen Kidical Mass bei den Fahrradaktivisten der Critical-Mass-Bewegung angelehnt hat. An 200 Orten stiegen im vergangenen Jahr 90.000 Erwachsene, Kinder und Jugendliche aufs Rad, um für eine bessere Verkehrsinfrastruktur für Minderjährige zu demonstrieren. Die Jüngsten der Gesellschaft trifft die jahrzehntelange Verkehrsplanung pro Auto besonders – in kleinen Gemeinden ebenso wie in Großstädten. Das zeigt der Blick auf die Teilnehmenden. In Bad Boll in Baden-Württemberg (5.000 Einwohner) gingen 130 Radfahrende zur „Kidical Mass“ auf die Straße, in Remscheid 250 und in Köln 2000. Gemeinsam fordern sie ein reformiertes Straßenverkehrsrecht, das die Sicherheit von Kindern in den Mittelpunkt stellt.
„Seit Jahren wird von der Verkehrswende geredet, doch es passiert viel zu wenig. Wir passen unsere Kinder an eine Umwelt mit immer mehr Autos an und stecken sie in Warnwesten, anstatt die Infrastruktur zu verbessern und unsere Straßen an die Bedürfnisse der Kinder anzupassen“, sagt Simone Kraus. Diesen Missstand wollte sie nicht länger hinnehmen. Mit ihrem Partner Steffen Brückner war die Kölnerin 2020 eine der Mitbegründerinnen des bundesweiten Kidical-Mass-Aktionsbündnisses.

„Wir passen unsere Kinder an eine Umwelt mit immer mehr Autos an und stecken sie in Warnwesten.“

Simone Kraus, Kidical Mass Köln

Den deutschen Fahrradpreis haben Simone Kraus und Steffen Brückner für ihre Aktion „Platz da für die nächste Generation“ bekommen.

Forderung nach Pollern & Co.

Zunächst engagierten sich die beiden bei „Aufbruch Fahrrad“, der Initiative, die in Nordrhein-Westfalen das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz auf den Weg gebracht hat. Aber das reichte ihnen bald nicht mehr. „Wir begannen den Radverkehr zunehmend aus Kinderperspektive zu betrachten“, sagt Simone Kraus. Für diese Zielgruppe sei die neue Radin-frastruktur, die aktuell vielerorts gebaut werde, oft nicht sicher genug. Als Beispiel nennt sie den neuen Radweg entlang der Kölner Ringe. Dort entsteht auf einer Strecke von sieben Kilometer auf der Fahrbahn ein Radweg in Kfz-Spurbreite. „Das ist ein riesiger Erfolg“, sagt sie. Aber bevor Kinder und Jugendliche dort allein unterwegs sein könnten, sei eine bauliche Trennung vor dem Autoverkehr notwendig. Etwa in Form von Pollern, handhohen Bauelementen oder einer Art Bordstein.
Die Radinfrastruktur, die die vierfache Mutter fordert, ist in Kopenhagen seit Jahrzehnten Standard und wird auch vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) als Ideal-lösung beschrieben. Die Philosophie hinter der physischen Trennung ist: eine Radinfrastruktur für 8- bis 80-Jährige zu planen, die Fehler verzeiht und auch das Nebeneinanderfahren ermöglicht. „Wenn Kinder auf ihrem Rad allein durch die Stadt fahren können, ist die Radinfrastruktur für alle sicher“, sagt Simone Kraus. In Köln sei das bislang in keinem Quartier möglich.
Neben der fehlenden Radinfrastruktur sind auch Falschparker ein massives Problem für Kinder. „Die Autos blockieren die Gehwege, die sie zum Radfahren oder zum Zufußgehen nutzen“, sagt Simone Kraus. Sie versperrten Ladeflächen, parkten weit in die Kreuzungen hinein und gefährdeten die Kinder beim Überqueren der Straßen. „Die Stadt Köln hat das Problem zwar erkannt, aber es mangelt an Umsetzungswillen, um die Situation zu ändern“, sagt sie.

Der Anblick ist selten Remscheid: Mit lautem Klingeln radeln Kinder und Erwachsene bei der „Kidical Mass“ über die Straßen im Bergischen Land.

Gehwege freiräumen

Vielerorts ist das Problem allerdings auch hausgemacht. Etwa, wenn die Verwaltung das sogenannte aufgesetzte Parken anordnet. Das war lange in der Hans-Potyka-Straße im Stadtteil Lennep in Remscheid der Fall. Die Straße verbindet auf direktem Weg ein Neubaugebiet mit drei Schulen, zwei Kindergärten und einem Sportzentrum. Den parallel verlaufenden Gehweg konnten die Kinder auf einer Seite jedoch nicht nutzen, weil die Verwaltung ihn zum Parken freigegeben hatte. Stoßstange an Stoßstange standen dort Pkw. „Was an Platz übrig blieb, reichte für die Kinder nicht aus, noch nicht mal, wenn sie hintereinander herliefen“, sagt Line Jungbluth. Als sie auf das Problem hinwies, riet die Verwaltung, auf den gegenüberliegenden Gehweg auszuweichen. Dafür mussten die Kinder aber die Straße queren. „Das war gefährlich, weil ein Zebrastreifen oder eine Verkehrsinsel fehlt“, sagt die Ärztin. Ein Jahr lang schrieb sie Mails an die Verwaltung, um eine Lösung zu finden. Schließlich schaffte die Verwaltung das aufgesetzte Parken in der Hans-Potyka-Straße ab.
Als Kidical-Mass-Mitorganisatorin setzt sie sich nun dafür ein, dass die Gehwege für Kinder konsequent freigehalten werden und die Radinfrastruktur ausgebaut wird. „Damit die Kinder überhaupt eine Chance haben, selbstständig zur Schule oder zu ihren Freunden zu gehen oder zu fahren“, sagt sie. Als sie selbst noch in Remscheid zur Schule ging, hatten sie und ihr Freundeskreis diese Freiheit.

Schulstraßen für Autos sperren

Vor ihrer ersten Fahrraddemo im Frühjahr 2022 hat sich das Remscheider Team Tipps bei der Kidical Mass in Köln geholt. Simone Kraus und Steffen Brückner bieten regelmäßig Online-Workshops an, in denen sie über die Ziele informieren und wie eine Kidical Mass organisiert wird.
Bei ihrer ersten eigenen Familien-Fahrraddemo im Herbst 2018 in Köln hatte es in Strömen geregnet. Trotzdem kamen 100 Teilnehmende zu der Ausfahrt. Ein halbes Jahr später waren es 700 und im Herbst 2020 bereits 1500.
Achtmal sind sie im vergangenen Jahr mit Eltern und Kindern durch Köln gefahren. Mal über die Rheinbrücken, mal durch die Innenstadt. Die Ausfahrt ist für das Kidical-Mass-Team nur eine Maßnahme von vielen, um die Situation für Kinder vor Ort zu verbessern. Im Sommer 2021 hat die Initiative das Wiener Modell der „Schulstraße“ in die Stadt gebracht und im Herbst eine Woche lang mit Eltern und Lehrern an der Vincenz-Statz-Grundschule ausprobiert. Das Konzept ist einfach: Die Straße vor einer Schule wird 30 Minuten vor Unterrichtsbeginn und -ende für den motorisierten Verkehr per Baustellenbake oder Schrankenzaun komplett gesperrt. Auch Anwohner dürfen nicht passieren. „An der Vincenz-Statz-Grundschule hat die Sperrung die Situation im direkten Umfeld der Schule für Kinder, Eltern und Lehrer*innen enorm entspannt“, sagt Simone Kraus. In der Straße seien stets viele Pkw unterwegs, weil sie die Strecke als Abkürzung zwischen zwei Hauptverkehrsstraßen nutzen.

Kidical-Mass-Aktionen in Köln: Die Politik sollte die Kinder nicht unterschätzen. Sie wissen genau, wie sichere Schul- und Radwegen aussehen können

Politik gibt Rückenwind

Sieben Schulstraßen-Aktionen an sechs Grundschulen hat Kidical Mass in Köln in den vergangenen eineinhalb Jahren durchgeführt. Manche als Tagesaktion, andere im Rahmen einer Aktionswoche. Zu den Abschlussveranstaltungen luden sie die politischen Vertreterinnen und Vertreter der demokratischen Parteien des Bezirks ein, die auch kamen. „Die Rückmeldungen aus der Politik sind durchweg positiv“, sagt Simone Kraus. Verschiedene Bezirke wollen an ausgewählten Schulen oder bezirksweit nun Schulstraßen nach Wiener Vorbild einführen. Die Stadt Köln hat das Konzept aufgegriffen und wird bald erste Pilotprojekte zur Schulstraße in der Domstadt starten.
Für die Aktivistin ist das nur ein erster Schritt. Sie fordert die Stadt Köln auf, dauerhaft autofreie Schulstraßen einzuführen und ein zusammenhängendes Kinderradwegenetz. Das soll die einzelnen Schulstandorte miteinander verbinden und viele Freizeitwege der Kinder einbeziehen. Aus ihrer Sicht wäre das der Grundstein für ein lückenloses Radnetz, das alle Menschen nutzen können.
Die Kidical-Mass-Bewegung agiert lokal und bundesweit. Im vergangenen Jahr hat das Bündnis rund 87.000 Unterschriften für die Petition gesammelt „Uns gehört die Straße! Wir fordern ein kinderfreundliches Straßenverkehrsrecht“. Die Unterschriften hat Simone Kraus mit ihren Mitstreitenden sowohl dem Bundesverkehrsminister Volker Wissing übergeben als auch den Verkehrs-ministerinnen der Länder. Das zeigte Wirkung. „Wir haben es geschafft, dass ‚Mobilität von Kindern‘ ein Tagesordnungpunkt bei der Verkehrsministerkonferenz im Herbst 2022 war“, sagt sie. Die Diskussion wurde allerdings auf die nächste Sitzung im März 2023 vertagt. Dann treffen sich die Verkehrsminister und Verkehrsministerinnen in Aachen, 75 Kilometer von Köln entfernt. Simone Kraus sagt: „Wir werden dort sein, um die Politikerinnen an unsere Forderungen zu erinnern.“

Importiert aus Amerika

Die Idee zur Kidical stammt aus den USA und ist ein Ableger der Critical Mass (kritische Masse). 1992 startete die erste Critical Mass in San Francisco. Die Radfahrenden treffen sich scheinbar zufällig und unorganisiert und fahren gemeinsam durch die Stadt. Ziel ist es, auf die Radfahrenden als Verkehrsteilnehmerin-nen hinzuweisen. In Deutschland gelten Radfahrende, wenn sie mit 16 oder mehr Personen gemeinsam unterwegs sind, als Verband und dürfen zu zweit nebeneinander als Kolonne auf der Straße fahren, selbst wenn parallel ein benutzungspflichtiger Radweg verläuft. Die Critical Mass findet inzwischen weltweit statt. Vielerorts starten sie am letzten Freitagabend eines Monats. Ihr Ziel ist es, als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmerinnen wahrgenommen zu werden. Inzwischen ist daraus eine weltweite Bewegung geworden.
In der Stadt Eugene, etwa 160 Kilometer südlich von Portland, gingen 2008 erstmals Radfahrer*innen mit ihren Kindern auf die Straße. Die Idee hatte der Fahrradaktivist Shane Rhode, der in Eugene für einen Bezirk das Programm „Sichere Schulwege“ leitet. Jonathan Maus zitiert ihn auf seinem Blog „Bike Portland“ dazu: „Die Fahrradbewegung (Critical Mass) ist erwachsen geworden, und jetzt hat sie auch Kinder!“


Bilder: Amrei Kemming, verenafotografiert, Hermann Jungbluth, Stefan Flach, stock.adobe.com –Belikova Oksana

Konrad Otto-Zimmermann zählt zu den Erfindern des Konzepts der fahrradfreundlichen Stadt. Nun hat der Stadt- und Umweltplaner mit der „Feinmobilität“ eine neue Idee entwickelt, wie verschiedene Mobilitätsformen in einem zunehmend begrenzten Straßenraum in Einklang gebracht werden können. Planerinnen und Entscheiderinnen soll das Konzept ein Werkzeug an die Hand geben, um die Mobilität in der Innenstadt oder einzelnen Quartieren zu steuern. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Sie haben 1980 eines der ersten Bücher zur fahrradfreundlichen Stadt herausgegeben. Wie unterscheiden sich die damaligen Probleme und Forderungen für den Radverkehr von der aktuellen Situation?
Sie unterscheiden sich wenig. Ich arbeitete damals im Umweltbundesamt und wir haben wie heute den Flächenverbrauch und die Verkehrsplanung mit Priorität auf Autos scharf kritisiert. In den 80er-Jahren stand jedoch weniger das Weltklima im Fokus, sondern die Luftverschmutzung im Straßenraum und die Gesundheitsaspekte. Seinerzeit haben Autos noch deutlich mehr Stickstoffoxid und Partikel ausgestoßen als heute.

„Wir haben in unseren Straßen oft keinen Platz für weitere separate Spuren und müssen deshalb den Verkehr auf den Fahrbahnen sicher, stadt- und umweltverträglich organisieren.“

Welche Rolle hatte damals der Radverkehr und wieso stammen die Veröffentlichungen aus dieser Zeit ausschließlich aus dem Umweltbundesamt?
Radverkehr kam im Verkehrsministerium damals noch nicht vor. Mit dem Umweltbundesamt haben wir dafür gesorgt, dass er ernst genommen wurde. Das war damals eine besondere Zeit. Das Umweltbundesamt war erst 1974 gegründet worden und wir Mitarbeiter konnten Themen einbringen. Mein Vorschlag war, den Radverkehr zu fördern. Daraus entstand das Modellvorhaben „Fahrradfreundliche Stadt“. Über sieben Jahre haben wir im Team Projekte und Forschungsvorhaben initiiert und vergeben. Wir haben unter anderem eine Studie zum Fahrradrecht vergeben, die Rechtsanwalt Dieter Gersemann erstellt hat. Der Begriff war neu und viele konnten damit nichts anfangen. Die Studie wurde als Buch veröffentlicht und hat das Thema Fahrradrecht in der Fachwelt verankert.

Mittlerweile bauen erste Städte Protected Bikelanes, Radschnellwege und entwickeln zusammenhängende Radwegenetze. Sind Sie mit der Entwicklung zufrieden?
Auf das Gesamtbild bezogen sind diese Erfolge eher Kleinigkeiten. Entscheidend ist, ob weniger Kfz-Kilometer gefahren werden, weil die Leute aufs Rad umgestiegen sind. Es gibt sicherlich ein paar Städte oder Bezirke, die sehr weit sind bei der Radverkehrsförderung. Diese sind aber eher die Ausnahme. Die Situation für Radfahrer und Fußgänger hat sich über die Jahre in den Zentren zunehmend verschlechtert. Der Platz, der ihnen zur Verfügung steht, schwindet jedes Jahr, weil der Pkw-Bestand stetig wächst und immer mehr Straßenraum belegt. Hinzu kommt, dass die Autos mit jedem Modellwechsel wachsen, die Straßen aber nicht. Das heißt, Straßenräume sind zu Lagerräumen für aufgeblähte Stehzeuge verkommen. Das ist eine bedenkliche Entwicklung.

Nach der neuen GGG-Fahrzeugklassifizierung werden die drei S-Klassen (XXS, XS, S) als Feinmobilität definiert.
Feinmobilität ist nicht Mikromobilität. Sie schließt Elektro-Kleinstfahrzeuge, Fahrräder, Elektromobile, elektrische Leichtfahrzeuge und E-Minicars ein.

Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) passt jetzt das Bemessungsfahrzeug für Pkw und damit die Standards für Parkplätze an die stetig wachsenden Autos an. Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Weg?
Handwerklich ist das Vorgehen der FGSV sicherlich sauber. Aber die Philosophie dahinter ist meinem Erachten nach falsch. Die Forschungsgesellschaft ermittelt anhand des Fahrzeugbestands die Maße des Durchschnittsfahrzeugs, das von 85 Prozent aller Fahrzeuge nicht überschritten wird. Seine Abmessungen werden in der Praxis für den Bau von Straßen, Wendekreisen und Parkplätzen herangezogen. Weil die Fahrzeuge immer größer werden, übernimmt die FGSV unkritisch diesen Status und zementiert die Autoblähung für weitere Jahrzehnte, anstatt normativ zu denken und Anreize zum Flächensparen zu setzen. Wir sollten uns nicht vom Markt die Größe unserer Parkplätze diktieren lassen.

Wie können die Kommunen gegensteuern?
Der Stadtraum ist für Kommunen die wichtigste Stellschraube. Sie sollten entscheiden können, welchen Fahrzeugtypen sie wie viel Platz einräumen. Lassen sie in einem Straßenabschnitt wenige riesige Autos parken, oder ist es nicht flächengerechter, stattdessen mehr kleine Fahrzeuge dort parken zu lassen? Bislang fehlte den Kommunen dazu das Handwerkszeug. Mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Kassel, des VCD und der SRL (Verkehrsclub Deutschland und Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung, Anm. d. Red.) haben wir das Konzept „Feinmobilität“ entwickelt. Damit geben wir ihnen eine neue Fahrzeug-Klassifizierung nach Größe, Gewicht und Geschwindigkeit in die Hand. Wir haben eine Maßeinheit verwendet, die jeder kennt: die Kleidergröße. Wir unterscheiden sieben GGG-Klassen von XXS, XS und S über M bis zu L, XL und XXL.

„Die Situation für Radfahrer und Fußgänger hat sich über die Jahre in den Zentren zunehmend verschlechtert.“

Welche Fahrzeuge haben Sie für Ihr Konzept Feinmobilität erfasst?
Wir haben die gesamte Räderwelt vom Rollschuh über Fahrräder und elektrische Leichtfahrzeuge bis zum Geländefahrzeug betrachtet. Rund 100 Fahrzeuge wurden systematisch erfasst. Damit kommen auch all die Fahrzeuge oberhalb des Fahrrads und unterhalb des Autos mit einer sinnvollen Kategorie und einem Verkehrsraum zur Geltung. Die FGSV kennt nur ein Bemessungsfahrzeug Pkw und die Bemessungsfahrzeuge Fahrrad und Motorrad.

Der Begriff „Feinmobilität“ ist neu. Was wollen Sie damit bewirken?
Wir wollen ein Umdenken und ein Umhandeln anstoßen, eine Abrüstung im Verkehr von groben zu feineren Fahrzeugen. Feinmobile Fahrzeuge, zu denen auch leichte Elektrofahrzeuge gehören, können bis zu vier Sitzplätze haben und bis zu 120 km/h schnell fahren. Mit ihnen können Strecken bis zu 100 Kilometer Länge zurückgelegt werden und sie sind fernstraßentauglich. Damit eignen sie sich für Pendler-, Dienst- und Freizeitfahrten. Wissenschaftler vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt haben jüngst berechnet, dass leichte Elektrofahrzeuge mit bauartbedingter Höchstgeschwindigkeit bis 45 km/h rund 65 Prozent der Kfz-Wege übernehmen könnten. Das entspricht einem Drittel der Personenkilometer. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von 125 km/h sind es sogar 75 Prozent der Wege und die Hälfte der Fahrleistung. Feinmobile könnten 44 Prozent der CO2-Emissionen der Pkw reduzieren und Mobilität mit menschlichem Maß ermöglichen.

Der Architekt Jan Gehl hat den Begriff „Stadtplanung mit menschlichem Maß“ geprägt. Er stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Stadtplanung. Wo ist das menschliche Maß in der Feinmobilität?
Feinmobilität bietet für alle und für jeden Fahrtzweck die jeweils feinste, also kleinste, leichteste und wendigste Option. Sie ist nachhaltig. Sie macht keinen Lärm und produziert keine oder kaum Schadstoffe. Bei Unfällen ist der Schaden gering, weil die Fahrzeuge leicht sind und mit maßvollen Geschwindigkeiten unterwegs sind. Außerdem behindern sie nicht das Blickfeld der Menschen. Wer heute im Erdgeschoss lebt und aus dem Fenster schaut, blickt, wenn er Pech hat, nur noch auf Autoseiten.

Zurück zu den Parkplätzen. Wie könnte die Steuerung mithilfe der Größe der Fahrzeuge erfolgen?
Immer mehr Kommunen möchten Parkgebühren an die Stadtraumbeanspruchung, also die Größe der Fahrzeuge koppeln. In Freiburg ist der Preis des Anwohnerparkausweises bereits an die Länge des Fahrzeugs gebunden. Unsere Kategorisierung macht es Kommunen leicht, eine Gebührenstaffelung auf der Grundlage unserer GGG-Klassifizierung einzuführen. Indem Kommunen oder Wohnungsbaugesellschaften Parkplätze verschiedener Größen anbieten, können sie Anreize für Feinmobilität im Quartier setzen. Wenn es mehr kleinere als wenige große Parkplätze im Wohngebiet oder in Tiefgaragen gibt, überlegen sich die Menschen, welches Fahrzeug sie kaufen und nutzen.

Autonutzerinnen verzwergen sich zunehmend, indem sie sich in Fahrzeuge hüllen, die 100- oder sogar 160-mal voluminöser sind als sie selbst. Der wahre Souverän ist, wer ein Fahrrad fährt, das nur ein Zehntel des Fahrerinnen-Volumens hat.

Sie wollen die Verkehrsflächen ebenfalls neu definieren. Wie soll das aussehen?
Wir schlagen vor, statt der Vielfalt von Straßentypen und Höchstgeschwindigkeiten acht Verkehrsflächen zu definieren, die sich nach Geschwindigkeitsniveaus unterscheiden: von Gehflächen mit Schrittgeschwindigkeit bis zu Fernstraßen mit Tempo 120. Für jede dieser Verkehrsflächen wird festgelegt, welche Fahrzeuge dort unterwegs sein dürfen.

Wie unterscheidet sich Tempo 30 heute von Tempo 30 nach dem Feinmobilität-Ansatz?
Wenig. Tempo 30 ebenso wie Schrittgeschwindigkeit in verkehrsberuhigten Zonen ermöglichen bereits heute Feinmobilität. Die kleinen und leichten Fahrzeuge können im Verkehr sicher mitschwimmen. Demzufolge braucht Feinmobilität nicht unbedingt eigene Fahrspuren. Auf mehrspurigen Fahrbahnen sollte nach unserem Ansatz jedoch für den äußersten Fahrstreifen grundsätzlich 30 Stundenkilometer gelten. Wobei die örtliche Straßenverkehrsbehörde dort die Benutzung auf Feinmobile beschränken kann. Dort wären dann keine Autos mehr unterwegs, sondern nur noch Feinmobile vom Fahrrad bis zum Elektromobil, das auch ein E-Bike mit Kabine oder ein E-Motorroller sein kann. Der Vorteil ist: Sämtliche Fahrzeuge, die dort unterwegs sind, sind aufgrund ihrer Masse, ihres Gewichts und ihrer Geschwindigkeit miteinander verträglich.

Radaktivist*innen fordern schon lange, die äußerste Fahrspur für den Radverkehr freizugeben.Wo ist der Unterschied zu ihrem Ansatz?
Wir denken über das Fahrrad hinaus und blicken auf die gesamte Feinmobilität. Unser Ansatz verlangt keinen Radweg im heutigen Sinne, sondern Verkehrsflächen, auf denen Verkehrsmittel verschiedener GGG-Klassen mit einem vergleichbaren Tempo unterwegs sind. Wir haben in unseren Straßen oft keinen Platz für weitere separate Spuren und müssen deshalb den Verkehr auf den Fahrbahnen sicher, stadt- und umweltverträglich organisieren.

Wie realistisch ist es, mit Fahrrädern und Elektrokleinstfahrzeugen die Alltagsmobilität zu ersetzen?
Dass es funktioniert, haben wir 2013 im Rahmen des „EcoMobility World Festivals“ in Suwon in Südkorea gezeigt. Damals war ich Generaldirektor von ICLEI, dem Weltstädtenetzwerk für Nachhaltigkeit, und habe das EcoMobility Festival in Suwon initiiert und geleitet. Im Rahmen dessen haben wir die 4300 Bewohner eines Quartiers dazu motiviert, ihre 1.500 Autos außerhalb des Wohngebiets zu parken und sich feinmobil fortzubewegen. Zu den Parkplätzen mussten sie fünf bis zehn Minuten laufen. Als Alternative für die Mobilität im Quartier hat die Stadtverwaltung ihnen Fahrräder und eine Vielzahl von Leichtfahrzeugen angeboten. Für ältere Menschen, Behinderte und den Warentransport der Geschäftsleute wurde zudem ein Shuttledienst mit kleinen Elektrofahrzeugen eingerichtet.

Wie ging es nach der autofreien Zeit in dem Bezirk weiter?
Einige SUV-affine Anwohner und Geschäftsleute haben mit Auslaufen des Projekts um Mitternacht ihre Fahrzeuge wieder vor der Haustür abgestellt. Aber der Bürgermeister hat nach Projektende mit den Anwohnern diskutiert, wie es für sie weitergehen soll. Nach verschiedenen Treffen und Diskussionsrunden wurde beschlossen, die Geschwindigkeit in ihrem Viertel auf 20 km/h zu reduzieren und das Parken entlang der Hauptgeschäftsstraßen zu verbieten. Das Parkverbot hat die Stadt umgesetzt, allerdings musste sie die Höchstgeschwindigkeit auf Tempo 30 anheben, weil es Tempo 20 in Südkorea nicht gibt. Aber das allein reichte, um den Durchgangsverkehr aus dem Viertel praktisch auszusperren. Das hat die Lebensqualität erheblich gesteigert. Der Nachteil war, dass die Immobilienpreise ebenfalls gestiegen sind, weil das autoarme Quartier zum angesagten Viertel wurde.

Was haben Sie von dem Projekt mitgenommen?
Wir haben gezeigt: Feinmobilität funktioniert. Das Leben geht auch ohne einen großen Privatwagen vor der eigenen Haustür weiter. Man kommt mit kleineren Fahrzeugen überallhin und muss auch nicht auf zügiges Fortkommen, Lastentransport oder Wetterschutz verzichten. Im Gegenteil. Man muss auf gar nichts verzichten, sondern man beendet Verzicht.

Welchen Verzicht meinen Sie genau?
Feinmobilität beendet den Verzicht auf Ruhe in den Städten, den Verzicht auf gute Luft, auf Aufenthaltsqualität, auf Übersichtlichkeit des Straßenraums und auf Spielflächen für Kinder. Feinmobilität ist ein Gewinn, ein Gewinn für die gesamte Stadt und die Stadtbewohner.

Zur Person:

Konrad Otto-Zimmermann ist Stadt- und Umweltplaner und Verwaltungswissenschaftler. Er hat beim Umweltbundesamt gearbeitet, bei der Stadt Freiburg, und ein Jahrzehnt lang das ICLEI-Weltsekretariat in Toronto/Kanada und Bonn geleitet. Fünfmal wurde er in den „Global Agenda Council on Urban Management“ des Weltwirtschaftsforums berufen. Mit seinem Büro „The Urban Idea“ setzt er von Freiburg aus weiterhin Projekte um. Dazu gehören auch die Freiburger Mobilitätsgespräche, die der Fachwelt seit Jahren innovative Mobilitätslösungen nahebringen.


Bilder: The Urban Idea, Projekt Feinmobilität, Projekt Feinmobilität

Am 22. und 23. November tagten viele Mobilitätsplaner*innen und weitere Fachleute auf der Fahrradkommunalkonferenz. In Aachen fanden sie inspirierende Praxisbeispiele vor und konnten sich zu den drängenden Themen austauschen, die Planungsvorhaben derzeit noch ausbremsen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Die Konferenz trug das Motto „Mobilitätswende umsetzen – Gute Pläne und jetzt Strecke machen“. Viele Rednerinnen nahmen Bezug auf den Leitsatz und wünschten sich eine Macher-Mentalität und mehr Geschwindigkeit dabei, die Pläne umzusetzen. Das Vortrags- und Diskussionsprogramm diente dazu, über den Tellerrand der eigenen Kommune zu blicken und sich von Projekten im ganzen Bundesgebiet, zum Beispiel aus dem Kreis Coesfeld oder Hannover, inspirieren zu lassen. Unter der Moderation von Totinia Hörner bot die Bühne einen Gesprächsraum für Menschen aus der Planung, Verbandsarbeit oder Forschung. Rund 300 Mobilitätsfachleute kamen in der Veranstaltungsstätte „Das Liebig“ in Aachen zusammen. Weitere Interessierte nutzten den Livestream. Zumindest vor Ort blieb es aber nicht bei passivem Zuhören. In zwei Slots bot die Veranstaltung je vier Arbeitsgruppen, die zu Schwerpunkten wie Radentscheiden, digitalen Planungstools und Kreuzungssituationen arbeiteten. Die gastgebende Stadt Aachen bot zudem ein Exkursionsprogramm zu wichtigen Orten und Themen der dortigen Verkehrswende an. Auf diesen Touren und am Veranstaltungsort selbst sollten die Teilnehmerinnen sich miteinander austauschen und vernetzen.
Als Flaschenhals der Radverkehrsentwicklung scheint neben dem fehlenden neuen Straßenverkehrsgesetz der Fachkräftemangel zu wirken. Ein Lösungsansatz dafür können Fachkräftekampagnen sein, wie sie die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte (AGFS) ins Leben gerufen hat. Es sei aber auch wichtig, die Fachkräfte besser zu bezahlen, um ein zu starkes Lohngefälle zum privaten Sektor zu verhindern. Steigende Kosten bei baulichen Maßnahmen kommen als weitere Schwierigkeit hinzu.

Erwartungshaltungen managen

Kommunen müssen bei Änderungen im Straßenverkehr genau verdeutlichen, warum diese von kollektivem Interesse sind, da die Vorstellungen der Zivilgesellschaft mitunter weit auseinandergehen. Auch Professorin Dr. Jana Kühl sieht das gesellschaftliche Selbstverständnis als einen Schlüsselfaktor der Verkehrswende. Derzeit würden Konflikte von der Straße auf die Fuß- und Radwege verlagert. „Man hat gelernt, zu improvisieren“, beschreibt sie das Dasein der Radfahrerinnen, die mit Mängeln umgehen müssen. Im Kfz-Verkehr gäbe es auf der anderen Seite eine tief in der Gesellschaft verwurzelte Erwartungshaltung. Ausgerichtet wurde die Fachtagung vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr und dem Mobilitätsforum Bund. Unterstützend wirkte das Deutsche Institut für Urbanistik (DIfU). Dagmar Köhler, Teamleiterin im Forschungsbereich Mobilität am DIfU sagt: „Die Konferenz in Aachen steht für Innovationskraft, Zusammenarbeit und Verstetigung für eine umweltfreundliche, gesunde Mobilität – auch wenn die Sonne mal nicht scheint. Ein besonderer Schwerpunkt war in diesem Jahr die Fokussierung auf den Menschen – und zwar nicht nur mit Blick auf Rad fahrende Bürgerinnen: Nie zuvor tauschten sich die Radverkehrsfachleute so intensiv über Organisationsstrukturen, Prozessabläufe, Changemanagement und den Umgang mit Radentscheiden der Zivilbevölkerung aus Sicht der Verwaltungen aus. Ein weiteres Fokusthema war die Gestaltung komfortabler und sicherer Radwege und Kreuzungen.“ Wie sich diese Herausforderungen und der Fokus im nächsten Jahr verändert haben werden, wird sich in Regensburg zeigen. Die Stadt an der Donau ist dann nämlich gastgebende Kommune der Fahrradkommunalkonferenz.


Bild: Doris Reichel

In den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten haben sich Städte immer wieder neu angepasst und neu erfunden: vor dem Hintergrund von technologischen und sozialen Entwicklungen, Kriegen, Epidemien, Naturkatastrophen, aber auch enormem wirtschaftlichen Wachstum, sprunghafter Bevölkerungszunahme und vielem anderen. Auch heute stehen die Städte vor einem hohen Transformationsdruck – besonders im Verkehrssektor. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Klimawandel. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Die Richtung, in die es bei der anstehenden Transformation der Städte gehen soll bzw. muss, ist in der breiten Bevölkerung noch nicht angekommen. Unter Fachleuten und zunehmend auch in der Politik und in den Verwaltungen gibt es hier jedoch inzwischen einen breiten Konsens, auch wenn über das Wie, das Wann und um die Finanzierung noch diskutiert und gestritten wird. Im Kern geht es dabei um die Notwendigkeit, Städte gleichzeitig klimaneutral zu machen und resilienter gegen die Auswirkungen des Klimawandels. Gegen große Hitzewellen mit Rekordtemperaturen und anhaltender Trockenheit, gegen Starkregen, Stürme und über die Ufer tretende Flüsse und Meere. Dazu kommt die demografische Entwicklung mit immer mehr Älteren und, nicht zu vernachlässigen, weitere wichtige Themen wie soziales Miteinander, allgemeine Lebensqualität und als Kernpunkt bezahlbare Mobilität für alle.

77 %

der Menschen in Deutschland
leben in Städten oder Ballungszentren.

Städte und Umland neu denken

Statistisch gesehen leben fast 70 Prozent aller Deutschen in Orten mit weniger als 100.000 Einwohnern. Warum also, so könnte man fragen, liegt der Fokus auch hierzulande auf den urbanen Zentren? Die Antwort liegt darin, dass im dicht besiedelten Deutschland mit 230 Menschen pro Quadratkilometer nicht klar abzugrenzen ist, wo die Stadt endet und wo das Land beginnt. 77 Prozent der Menschen leben in Städten oder Ballungsgebieten und nur 15 Prozent in Dörfern mit weniger als 5.000 Einwohnern. „Wir haben eine urbanisierte Gesellschaft. Das gilt auch für den ländlichen Raum“, sagt die Geografie-Professorin Ulrike Gerhard von der Universität Heidelberg. „Stadt und Umland gehören zusammen.“ Die Lebensweisen unterschieden sich kaum, Pendlerströme flössen in beide Richtungen. Das gilt in besonderem Maße für Kleinstädte und Dörfer in der Umgebung von Großstädten. Sie prosperieren, während anderswo ganze Regionen massiv unter Landflucht leiden. Vor diesem Hintergrund macht es sicher Sinn, sich über die Funktion von Städten und ihren Problemen Gedanken zu machen.
Einen anderen Ansatz stellen Stephan Jansen und Martha Wanat in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Bewegt Euch. Selber! Wie wir unsere Mobilität für gesunde und klimaneu-trale Städte neu erfinden können“ in den Mittelpunkt. Hier heißt es: „Städte sind die Stätten des Stresses, des Klimawandels, der Pandemien, aber eben seit ihrer Gründung auch die Orte der ganzheitlichen Gesundheit und der Innovation und Transformation für das, was wir Fort-Schritt nennen. Städte verdichten Probleme der Gesellschaft – und sind zugleich Lösungslabore dieser Probleme.“ Anknüpfend an Vordenker wie Prof. Dr. Jan Gehl (u.a. „Städte für Menschen“), Mikael Colville-Andersen (u.a. Copenhagenize) oder Prof. Dr. Carlos Moreno (Konzept 15-Minuten-Stadt) vertreten sie zudem ein Konzept, in dem die Rolle der Mobilität auf eine andere Art definiert wird. „Mobilität ist wichtig, weil sie überall verfügbar sein sollte, aber sie sollte nicht im Mittelpunkt stehen, so wie wir das mit dem Auto in den letzten 100 Jahren getan haben“, so Martha Marisa Wanat. „Im Vordergrund sollte immer das Soziale sein und immer die Lebensqualität der Bewohner*innen des Quartiers – mit Spiel- und Sportplätzen, Grünflächen, Cafés und Läden für Dinge des täglichen Bedarfs.“ Tatsächlich lässt anhand der Vergangenheit gut zeigen, wie sehr die Zunahme des Autoverkehrs dazu beigetragen hat, nachbarschaftliche Beziehungen zu zerstören, Rad- und Fußverkehr zu behindern und das Aussterben der Nahversorgung vor Ort voranzutreiben.

„Mobilität sollte nicht im Mittelpunkt stehen, so wie wir das mit dem Auto in den letzten 100 Jahren getan haben. Im Vordergrund sollte immer das Soziale sein und immer die Lebensqualität der Bewohner*innen des Quartiers.“

Martha Marisa Wanat

Gesunde Stadt der kurzen Wege

Anfang des Jahres hat AGFS-Vorständin Christine Fuchs im Veloplan-Interview (Ausgabe 01/2022) die neuen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e.V. beschrieben. „Unsere Vision ist die einer gesunden Stadt. Die Frage ist, wie vereinbaren wir die Bedürfnisse der Nahmobilität mit einer grünen Infrastruktur (…) sowie einer blauen Infrastruktur, mit der wir für eine Bewässerung sorgen und Städte besser vor Hochwasser schützen.“ Nicht zu vergessen seien neben Umweltgesichtspunkten auch Umfeldthemen, also Aufenthaltsqualität, Stadt der kurzen Wege, Bewegung, Sicherheit etc. „Wir vertreten die Auffassung, dass sich die Nahmobilität und die grüne und blaue Infrastruktur hervorragend ergänzen.“
Wie das aussehen kann, hat Carlos Moreno, Professor für komplexe Systeme und intelligente Städte an der Pariser Sorbonne ausgearbeitet und zusammen mit der Bürgermeisterin von Paris Anne Hidalgo in Teilen in der französischen Hauptstadt bereits umgesetzt. Die Stadt der Nahmobilität oder der kurzen Wege ist für ihn eine 15-Minuten-Stadt, das heißt alles, was die Menschen benötigen, ist innerhalb von einer Viertelstunde ohne Auto erreichbar – für das Umland geht er von 30 Minuten aus. Dieses Konzept beschreibt er als einen neuen, „holistischen“ Ansatz: Zum einen würde damit der nachhaltige Konsum in der Nachbarschaft gefördert und zum zweiten die Lebensqualität in den Quartieren und Stadtvierteln bleibend erhöht. Mit dem Konzept verbunden ist für ihn die Notwendigkeit, angesichts der Klimakrise unsere Gewohnheiten zu ändern. “Wir müssen einen neuen Lebensstil entwickeln“, erläutert Prof. Moreno. Die polyzentrische 15-Minuten-Stadt sei mit verschiedenen kaskadierenden Effekten dazu der richtige Weg. „Wir müssen einen neuen Weg aufzeigen, wir brauchen Transformation und wir brauchen ein Bekenntnis dazu.“

Die achtspurige Avenue des Champs Élysées zählt wohl zu den bekanntesten Stadtstraßen der Welt. Bis 2030 soll dort der Autoverkehr weitgehend verdrängt werden.

Großer Veränderungsdruck

„Die Politik und die Bevölkerung sind in Deutschland sehr träge, wenn es um Veränderungen im Verkehr geht“, sagt Lars Zimmermann vom Hamburger Büro Cities for Future. „Aber der Veränderungsdruck ist da und vielen ist klar, dass die Veränderungen viel schneller und stärker passieren müssen.“ Die Mission des Büros ist es, Städten, Gemeinden und Unternehmen zu helfen, die Klimaziele zu erreichen und damit gleichzeitig lebenswertere Städte zu gestalten. Für Lars Zimmermann, der fast ein Jahrzehnt in den Niederlanden gelebt hat, ist der Wandel möglich und machbar: „Die Zukunftsvision für Deutschland ist in den Niederlanden bereits Realität!“ Letztlich käme es auf den Willen an. „Der Wandel ist möglich, aber wir brauchen ein ganz anderes Tempo.“ Letztlich hätte die Corona-Pandemie eindeutig gezeigt, was alles machbar sei, wenn man Veränderungen wolle. Diese Erkenntnis lasse sich auch auf andere Bereiche übertragen. Dem Radverkehr müsse im Rahmen einer Gesamtstrategie eine höhere Priorität eingeräumt werden als dem Autoverkehr. Radfahren müsse als einfachste, logischste und selbstverständlichste Verkehrsart etabliert werden, die für alle den größten Benefit bietet. Insgesamt sieht er große Chancen für einen grundlegenden Wandel. „Die Ausgangsvoraussetzungen für Veränderungen waren noch nie so gut.“

Unternehmen reagieren

Den Veränderungsdruck spüren mittlerweile nicht nur Fachleute aus den Bereichen Stadtplanung und Verkehr oder Lokalpolitiker; auch die Unternehmen sehen für sich und mit Blick auf die Kundinnen und Kunden einen deutlichen Veränderungsbedarf. Bei größeren Unternehmen spielen dabei die ESG-Kriterien (Environmental Social Governance, deutsch: Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) der Vereinten Nationen bzw. die daraus resultierenden Maßnahmen der EU eine immer größere Rolle. Unternehmen müssen sich heute beispielsweise fragen, wie die Umweltbilanz ihres Fuhrparks aussieht oder wie die Mitarbeitenden ins Unternehmen kommen. Die Deutsche Telekom arbeitet beispielsweise aktuell an einer App für Mobility as a Service und will ab dem 1. Januar 2023 bei neuen Geschäftsfahrzeugen ausschließlich auf Elektromodelle setzen.
Auch der Handel sieht mehr und mehr die Notwendigkeit für kurze Wege und gute Erreichbarkeit ohne Auto. Beispiel Ikea: Statt großflächiger Häuser auf der grünen Wiese gibt es jetzt sogenannte Planungsstudios, die eine Brücke bauen zwischen dem Angebot im Internet und dem Erlebnis vor Ort. In den wenige Hundert Quadratmeter großen Geschäften wird ein ausgewähltes Sortiment gezeigt, inklusive Musteroberflächen oder -stoffen. Kunden können sich beraten lassen, planen und sich die ausgesuchte Einrichtung, alternativ zur klassischen Abholung, bequem nach Hause liefern oder auch direkt aufbauen lassen. Andere Anbieter, wie die Rewe-Gruppe, arbeiten im Lebensmittelhandel mit innovativen Filialkonzepten und speziell auf die Bedürfnisse vor Ort ausgerichteten Angeboten. Dazu gehören Mini-Shops in hochfrequentierten Lagen, wie Einkaufsstraßen, Bahnhöfen oder Tankstellen, ebenso wie Geschäfte mit einem breiten Feinkost-Sortiment und angeschlossener hochwertiger Gastronomie, die auch gut situierte Kunden zum Stöbern und Verweilen einlädt. Auch die Discounter drängen inzwischen in die Innenstädte und passen das Konzept und das Sortiment entsprechend an. Statt Großpackungen und Einkaufswagen gibt es alles für den täglichen Bedarf, Frischwaren und auch gekühlte Getränke. Dem Vernehmen nach arbeitet man sowohl bei Aldi als auch bei der Schwarz Gruppe (Lidl und Kaufland) mit Hochdruck daran, bestehende Filialen mit großen Parkflächen zu Lade- und Mobilitätsstationen auszubauen und viele kleine Filialen neu in den Vierteln und nah bei den Menschen zu eröffnen.

Die urbane Zukunft kommt

Wie sehen Städte und Stadtzentren künftig aus? Was folgt nach dem Niedergang der großen Kaufhäuser und wie gestaltet man die Transformation? Auch hier lohnt sicher ein Blick in die französische Hauptstadt. Bis 2030 zu den Olympischen Spielen in Paris 2024 soll die viel befahrene Champs-Élysées für 250 Millionen Euro komplett umgestaltet und zu dem werden, was sie einmal war: eine Prachtstraße mit viel Platz zum Flanieren und Verweilen – nicht nur für Touristen, sondern auch wieder für die Einwohner der Stadt. Wer nicht so lange warten will, kann sich auch bei der „Urban Future 2023“ informieren. Europas größtes Event für nachhaltige Städte findet im kommenden Jahr vom 21. bis 23. Juni in Stuttgart statt. Zur hochkarätigen Konferenz, auf der sich „Zukunftsmacher“ und „top-level city leaders from hundreds of cities in Germany, Europe and beyond“ treffen, werden 2.500 Gäste erwartet. Mehr unter urban-future.org


Bilder: stock.adobe.com – trattieritratti, PCA-Stream

Antwerpen ist ein Aufsteiger in den Fahrrad-Charts. Die flämische Metropole tut viel für den Radverkehr – als Ergebnis rechter Politik. Der Anteil der Radlerinnen wächst. Doch Velo-Aktivistinnen sehen die Stadt an einem kritischen Punkt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Antwerpen, größte Stadt in Belgien und Europas zweitwichtigster Hafenstandort, wurde jüngst mit dem dritten Platz unter den „The World’s Most Bicycle-Friendly Cities“ ausgezeichnet.

Die Stadt liegt in einem Fahrradland, ist flach und seit Jahrzehnten gehören Fahrräder zum Stadtbild. Doch als Vorreiter in Sachen Fahrradfreundlichkeit hat sich die belgische Hafenstadt Antwerpen in der Vergangenheit nicht aufgedrängt. Im August frohlockte jedoch der konservative Vizebürgermeister Koen Kennis auf Twitter: Die Großstadt unweit der Nordseeküste, wo Kennis unter anderem die Verkehrspolitik verantwortet, hatte soeben den dritten Platz im „The World’s Most Bicycle-Friendly Cities“-Index erreicht, publiziert von der Versicherung Luko. Zwischen den bekannten Fahrradhochburgen Utrecht, Kopenhagen, Münster und Amsterdam überraschte der Name Antwerpen dann doch. Die öffentliche Freude des Politikers rief prompt allerdings auch ein Echo bei Fahrradaktivist*innen hervor, die über die Methodik der Rangliste schimpften und allerlei offene Themen ansprachen. So sehen die Unfallstatistiken in Antwerpen nicht gerade erfreulich aus, aber es gibt viele Radläden und autofreie Aktionstage, was das Ranking positiv beeinflusste. Doch aus welchen Motiven auch immer ein Versicherungsunternehmen eine solche Übersicht veröffentlicht – für den Blick auf eine spannende Fahrradstadt bietet sie einen berechtigten Anlass.

„Ich möchte keine Stadt wie Amsterdam haben, wo sich das Zentrum nur Reiche und Touristen leisten können. Das heißt aber nicht, dass wir Autos anziehen wollen.“

Koen Kennis,
Vizebürgermeister

Mobilität als beherrschendes Thema

Wer sich an das Antwerpen der 90er-Jahre erinnert, wird bei der Fahrt ins Stadtzentrum überrascht sein. Wo es früher Schlaglöcher, graue Wände, heruntergekommene Gebäude und sehr viel lauten Autoverkehr gab, hat sich das Bild heute verändert. Autos sind immer noch viele da, aber Antwerpen ist eine helle Stadt im Wandel, in der Verkehr ganz oben auf der politischen Tagesordnung steht. Koen Kennis, der Vizebürgermeister, gehört ebenso wie das Stadtoberhaupt Bart De Wever der N-VA an, einer separatistisch-nationalistisch flämischen Gruppe, die seit 2012 regiert, aber bei der Wahl 2018 zu einer Koalition mit den Sozialisten gezwungen wurde. In Kennis‘ Ressort fällt auch die Verantwortung für die Finanzen. „Aber wenn ich mir meine Arbeitsverteilung anschaue, hat der größte Anteil mit Mobilität, Infrastruktur und Verkehr zu tun“, sagt der Politiker. Ein riesiges Projekt beherrscht seit Jahrzehnten das Geschehen: der Lückenschluss der Ringautobahn, die Antwerpen umgibt. Hier geht es inzwischen nicht mehr nur um eine mehrspurige Verbindung im Norden der Stadt. Es geht um „The Big Link“ – die große Verbindung.
Seit mehr als fünf Jahren kursiert dieser Begriff, mit dem ein gesamter Umbauprozess der Stadt gemeint ist. Denn es geht zum einen um den lange fälligen Lückenschluss der Ringstraße in der Handels- und Hafenstadt, zum anderen aber inzwischen auch um die Umgestaltung des öffentlichen Raums und der Verkehrsbeziehungen in Antwerpen. Es geht um bessere Anbindungen, mehr Parkflächen, eine unterirdische Führung des motorisierten Verkehrs – und um bessere Lebensqualität. In diesem Prozess hat die Stadtverwaltung nicht nur Experten eingebunden, sondern auch die Bürger und die Zivilgesellschaft. „Es gibt in diesem Verbund etliche Vertreter, die klar gegen Autos sind, und in diesem Projekt bleiben wir im Gespräch miteinander. Wir verfolgen das Ziel, den Modal Split in unserer Stadt zu verändern, das wird Arbeit für ein Jahrzehnt sein, aber wir brauchen einen Modal Shift, damit die Stadt für alle erreichbar bleibt“, sagt Kennis, dessen Partei im konservativen Spek-trum eher dem rechten Rand zugeordnet wird.
Sieht man die neue Rangliste oder Antwerpens positive Bewertung im Copenhagenize-Index, fährt man mit offenen Augen durch Einfallstraßen und die City, dann muss man sich schon über die Auseinandersetzungen wundern, die Kennis mit den politischen Widersachern führt. In Antwerpen fällt es nicht schwer, neu gebaute Fahrradwege, Brücken für Fußgängerinnen und Radfahrerinnen, spezielle Ampeln und weitere Infrastruktur zu finden, die man sich in vielen deutschen Städten wünschen würde. Es fällt aber auch nicht schwer, mit dem Auto überall hinzufahren, wenn man nicht im Stau steckt – bis ins Herz der Stadt und unter den Bahnhof kommt man bequem, ohne große Einschränkungen oder Kosten. Antwerpen ist eine Großstadt im Wandel, die sich in vielem von anderen Städten unter den fahrradfreundlichen Großstädten unterscheidet. Anders als im nahe gelegenen Gent, im niederländischen Musterbeispiel Amsterdam, in Münster oder anderen vergleichbaren Städten treibt keine grüne politische Gruppe den Umbau voran, gibt es keine Strafgebühren oder Abschaffung von Parkplätzen auf großer Linie. „Wahrscheinlich sind wir in der Minderheit“, sagt auch Renaat Van Hoof, der Vorsitzende des Radfahrerverbands (Fietserbond) in Antwerpen.

In Antwerpen wurde in den letzten Jahren viel Infrastruktur für den Radverkehr neu errichtet.

Investment findet Anerkennung

Die Ausgangslage ist also spannend: Eine klar konservative Bewegung verantwortet politisch die Modernisierung einer international einflussreichen, florierenden Handels- und Wissenschaftsstadt. Von den Radak-tivistinnen und der grünen Opposition wird Kennis als Autopolitiker angegriffen. Doch er sieht das anders. Das Auto gehöre eben zur Mobilität. „Wenn du die Mobilität tötest, tötest du die Stadt“, sagt Kennis, man halte Menschen aus der City, wenn man – wie beispielsweise in Oslo – die Zufahrt für Autos beschränke. „Ich möchte keine Stadt wie Amsterdam haben, wo sich das Zentrum nur Reiche und Touristen leisten können. Das heißt aber nicht, dass wir Autos anziehen wollen“, sagt der Politiker. Zugleich verweist er auf den Umbau, der tatsächlich stattfindet. Seit 2020 widmet Antwerpen Stück für Stück Straßen im historischen Stadtkern um, Parkplätze verschwinden dort, die Straßen werden zu „Wohnstraßen“ mit Tempo 20 und Vorrang für Fußgänger. Geht es um die Gesamttendenz für Radfahrerinnen, dann stützen die Praktikerinnen den Eindruck, den wir beim Besichtigen der Stadt gewinnen. „Wir haben viele Besucher aus den Niederlanden, und von denen höre ich sehr viel Gutes über die Entwicklung in Antwerpen“, sagt Gaston Truyens, der für die Organisation Antwerp By Bike sowohl Spaziergänge als auch Radtouren leitet. „Die Investitionen der vergangenen zehn Jahre haben dazu geführt, dass sich Radfahrende sicherer fühlen“, sagt der ehemalige Manager eines Golfclubs, der selbst erst spät zum Fahrradfahrer wurde. Koen Kennis, der zuständige Politiker, lässt keine Zweifel, dass Fahrräder für ihn wichtige Elemente der Verkehrswende sind. Er setzt auf drei Faktoren, um den Anteil der Nut-zerinnen zu erhöhen: Harte Faktoren, also den Bau von Infrastruktur, weiche Faktoren, also das „Nudging“ der Menschen, etwa durch gezielte Ansprache der Belegschaften in Unternehmen, und die digitale Unterstützung der modernen Mobilität, etwa durch das Verzahnen von Informationen und das Zusammenführen von ÖPNV und Mikromobilität in Apps und an Hubs in der Stadt. Es ist bemerkenswert, dass auch Kriti-kerinnen der Stadtregierung viele Erfolge einräumen. Allen voran investiert die Kommune ebenso wie die flämische Regionalregierung und die Region Antwerpen massiv ins Netzwerk der Radwege, vor allem in eine separate Infrastruktur für die Velos. „Man muss sagen, dass die neue Stadtverwaltung hier in den vergangenen zehn Jahren eine qualitativ hochwertige Infrastruktur geschaffen hat, mit breiteren Radwegen und weiteren baulichen Maßnahmen“, sagt der Bauingenieur Dirk Lauwers, der sich als Experte für urbane Mobilität einen Namen gemacht hat und an der Universität in Antwerpen lehrt. Im Rathaus verweist man darauf, dass es für Radfahrerinnen mehr Brücken gebe als in Kopenhagen – die lägen zwar nicht so attraktiv über Wasser, seien aber sehr sinnvoll für den sicheren Verkehr. Das große Leuchtturmprojekt in Sachen Radmobilität ist jedoch eines am Fluss und zugleich ein großer Zankapfel. Kennis und seine Verbündeten wollen es unbedingt haben. Es geht um eine Radbrücke über die Schelde, um Antwerpen mit den Kommunen im Westen zu verbinden. 2023 oder 2034 soll die Arbeit an dem Bau beginnen, sofern die Finanzierung geklärt und die politischen Entscheidungen getroffen werden. „Es geht darum, Hunderte von Millionen in Fahrradinfrastruktur zu investieren“, sagt Koen Kennis, „das ist wichtig, weil es weitere Effekte hervorrufen kann.“ Durch eine solche Brücke über den breiten Fluss, der hier beim international relevanten Seehafen schon ins Meer übergeht, erwartet die Politik sich nicht nur einen symbolischen Erfolg, sondern weniger Auto-pendlerinnen in den Tunneln und einen positiven Einfluss auf den Modal Shift in der Region. Koen Kennis kann in seinen Präsentationen darauf verweisen, dass der Anteil der Radfahrerinnen am Verkehr bei allen Fahrten im langfristigen Trend gewinnt – während der Pkw-Anteil hier langsam zurückgeht. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang sei auch das Bikesharing, das Antwerpen bereits 2011 einführte. Antwerpen hat hier mit „Velo“ ein eigenes System mit inzwischen 305 Stationen, an denen Kunden mit einer Mitgliedskarte die Räder leihen können. Inzwischen stehen mehr als 5.200 Leihräder zur Verfügung, in jüngster Zeit setzt die Region hier auch auf eine Kooperation mit dem E-Sharing-Bike-Anbieter Donkey Republic. „Zugleich werden immer mehr Verbindungen in die Stadt fertiggestellt, und so wird Radfahren in die Stadt immer attraktiver“, sagt Kennis.

„Das Problem ist, dass die Stadtregierung viel für Fahrräder (…) tun möchte, solange sie dafür nicht Autos Platz wegnehmen muss.“

Renaat Van Hoof, Fietserbond

Investitionen in Fahrradparkanlagen sollen dazu beitragen, den innerstädtischen Anteil des Pkw-Verkehrs auf 20 bis 15 Prozent zu drücken.

Seit 2011 gibt es in Antwerpen ein Bikesharing-Angebot mit derzeit über 5200 Leihrädern.

Ambitionierte Ziele für die Stadt

Über diesen Erfolg sind sich beinahe alle einig. Doch die Frage ist, wie man mit dem Pull-Effekt umgehen soll. Und hier ist Antwerpen ebenso spannend. Kennis nennt das Ziel für die Transportregion: Der individuelle Pkw-Verkehr soll auf 50 Prozent gedrückt werden, was für die innere Stadt wohl eher einen Anteil von 20 bis 25 Prozent bedeuten werde. „Das ist natürlich eine Herausforderung“, sagt der Politiker. Bei Arbeitspend-lerinnen waren es vor Corona noch etwas mehr als 40 Prozent, in der Freizeit immer noch zwischen 30 und 40 Prozent, die auf den Pkw zurückgriffen. Der Politiker geht aber davon aus, dass vor allem der ÖPNV verbessert werden kann, dass bereits gebaute Park-and-Ride-Flächen an Akzeptanz gewinnen und die Mikromobilität den Verkehr in der Stadt entsprechend verändern wird. Doch Beobachter wie Renaat Van Hoof und Dirk Lauwers sehen die Stadt gewissermaßen als Opfer ihres eigenen Erfolgs. „Das Problem ist, dass die Stadtregierung viel für Fahrräder und die Infrastruktur tun möchte, solange sie dafür nicht Autos Platz wegnehmen muss“, sagt Van Hoof. Dass es vor allem im Kern bei zunehmendem Verkehr von Radlern, E-Bikern, Scooter-Fahrerinnen und bestehendem Motorverkehr eng zugeht, lässt sich gut beobachten. Zumal in Antwerpen bidirektionale Radwege beiderseits entlang der großen Hauptstraßen laufen, an Kreuzungen somit viele Konflikte auftreten. „Es ist häufig sehr voll, und so herrscht auch ein bisschen das Recht des Stärkeren“, beobachtet City-Guide Troyens. Auch der motorisierte Radverkehr bringt in diesem Gemisch neue Probleme. Die Stadt reagiert, indem sie an manchen Radwegen ein 25-Stundenkilometer-Schild aufhängt. Professor Dirk Lauwers sieht den dichteren Verkehr und sagt: „Das Modell Antwerpen ist an seiner Grenze.“ Er kritisiert die Politik, für die gelte: „Parken ist die ‚heilige Kuh‘.“ Solange die Politik den An-wohnerinnen gratis Parkgenehmigungen erteile, ohne die Parkplatzstandards für Neubauprojekte oder eigene unterirdische Parkplätze für Autopendler*innen schaffe, sei das Pendeln immer noch attraktiver als Alternativen, findet Lauwers.
Kennis sieht diese Zwangsläufigkeit nicht. Er verweist auf die 662 Kilometer Radinfrastruktur in der Stadt, auf den Ausbau des Netzwerks und den Lückenschluss im System. Die Zahl ist wohl schöngerechnet, aus der Verwaltung liest man eher von 576 Kilometern faktisch vorhandener Infrastruktur. Aber auch das ist beachtlich. Hier klingt Kennis genau wie Radverkehrsplaner in anderen Städten. Aber ohne das Auto wird eben nicht gedacht. „Wir versuchen, die Autos so lange wie möglich auf den Hauptstraßen zu halten, wo es eine separate Fahrradinfrastruktur gibt“, erklärt Kennis den Ansatz. Wahrscheinlich wird der dichtere Verkehr in der Innenstadt dann auch zu manchem „Visionswechsel“ führen, sagt Kennis, etwa zum Umwandeln von normalen Straßen in Fahrradstraßen. Für ihn ist Antwerpen heute bereits eine 15-Minuten-Stadt, wo jeder Punkt innerhalb des Rings mit dem Rad in einer Viertelstunde erreichbar sei. Deswegen sieht er keinen Anlass für einen radikalen Bruch, sondern möchte den Kurs schrittweise fortsetzen.


Bilder: Andreas Dobslaff, stock.adobe.com – lantapix, Philippe Verhoeven

Im Mai trifft sich die Radverkehr-Elite zum Weltkongress VeloCity in Leipzig. Die Stadt hat sich bereits einmal grundlegend in ihrer Geschichte gewandelt. Diese Erfahrung will sie für die Mobilitätswende nutzen und teilen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Die Fahrradwelt zu Gast in Leipzig: Vier Tage lang werden auf der Messe Best-Practice-Beispiele vorgestellt und gute Lösungen fürs Radfahren in der Stadt der Zukunft diskutiert.

Einmal im Jahr trifft sich die internationale Fahrrad-Fachwelt aus Forschung und Praxis zum Erfahrungsaustausch bei der VeloCity. Nach Kopenhagen, Paris, Vancouver und Nijmegen steht im Jahr 2023 Leipzig auf dem Reiseplan der Radverkehrs-expertinnen. „Leading the Transition“ – den Übergang gestalten, ist Leipzigs Motto für den Weltkongress des Radverkehrs. Der Slogan ist auch als Appell gedacht. „Wir befinden uns in Leipzig bereits mitten in der Mobilitätswende“, sagt Tobias David, Referent des Bürgermeisters. Wie überall in Deutschland ist der Umstieg vom Auto auf klimafreundlichere Alternativen auch dort kein Selbstläufer. „Aber gesellschaftliche Transformation ist möglich“, betont David. Die Leipziger Bevölkerung wisse das. Sie hat sie bereits durchlebt, 1989, als in den Straßen ihrer Stadt die friedliche Revolution gegen das DDR-Regime startete. Nach der Wende wurden nach und nach beschädigte und zerfallene Straßen und Häuser wieder hergerichtet und das von Kohlebaggern zerfressene Umland wandelte sich zur Seenlandschaft. „Um das zu schaffen, braucht man eine Vision und Leader“, sagt David. „Menschen, die vorangehen, die andere begeistern, mitnehmen und Zeithorizonte aufzeigen, bis wann was erreicht werden kann“, sagt er. Diese Qualitäten seien jetzt wieder notwendig, um die Mobilitätswende zu gestalten. Von außen betrachtet sind die Erfolge in Leipzig beim Radverkehr eher durchschnittlich. 2018 lag der Anteil der Radfahrerinnen bei 18 Prozent am Gesamtverkehr. „In Sachsen sind wir das kleine gallische Dorf des Radverkehrs“, meint Robert Strehler, Vorstandschef beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) in Leipzig. Während im Umland der Radverkehr stagniere, nehme er in Leipzig zu. Lob verteilt der Fahrradaktivist nicht leichtfertig. Erst im Sommer hat sein Landesverband der Regierung von Michael Kretschmer schlechte Noten für den Ausbau des Radverkehrs ausgestellt. Nach zweieinhalb Jahren im Amt habe die Landesregierung gerade mal zwei von 15 Projekten zum Radverkehr in Sachsen umgesetzt, kritisierte der ADFC-Landesverband. Das sei in Leipzig anders. „Der politische Wille, den Radverkehr auszubauen, ist hier in den Ämtern angekommen“, sagt Strehler. Mehr noch: „Die Stadt baut auf Zusammenarbeit“, meint er.
Die sucht die Stadt auch mit dem ADFC, der zur Arbeitsgemeinschaft „AG Rad“ gehört. „Viele unserer Mitglieder sind Verkehrs- und Stadtplaner und bringen in dem Gremium ihre Erfahrung ein“, so Strehler. Die Vertreterinnen der Stadt akzeptierten sie als Expertinnen. „Dort findet echte Beteiligung statt“, sagt er.
Rein geografisch hat Leipzig gute Voraussetzungen, Fahrradstadt zu werden. Die Stadt ist flach, kompakt und in alle vier Himmelsrichtungen von Parks und Flüssen durchzogen, die zum Radfahren einladen. „In 20 Minuten kommt man mit dem Rad überallhin“, sagt Strehler. Schneller gehe es mit dem Auto auch nicht. Im Gegenteil. Oft dauere es sogar länger. Denn für Autos wird der Platz mittlerweile oft knapp auf der Straße. Das liegt unter anderem daran, dass Leipzig schnell wächst. In den vergangenen zehn Jahren wuchs die Stadtbevölkerung um 100.000 auf 615.000 Menschen. „50.000 brachten beim Umzug ihren Wagen mit“, sagt David. Die Verkehrsbelastung wachse spürbar – auf der Straße und bei der Parkplatzsuche.
Um mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen, baut die Stadt seit Jahren sukzessiv das Radwegenetz aus. „Zwischen 2010 und 2020 wuchs das Netz von 376 km auf 526 km“, so David. Manchmal hilft der ADFC beim Ausbau auch etwas nach. 2012 unterstützte der Verband die Klage eines Bürgers, der Radfahren auf dem Promenadenring einforderte. Seit den 1970er-Jahren war der 3,6 km lange Innenstadtring fürs Fahrrad tabu. Eine rechtliche Grundlage gab es für das Verbot nicht. Deshalb entschied das Oberverwaltungsgericht 2018, dass die Stadt dort auch für Radfahrer*innen Platz schaffen müsse.
Im Frühjahr 2022 wurde der erste Abschnitt auf einer ehemaligen Fahrspur markiert: auf 600 Meter Länge ein 2,25 Meter breiter Radstreifen mit grüner Farbe. Trotz des Urteils war und ist der Umbau kein Selbstgänger. „Im Vorfeld und danach gab es viele Diskussionen und Konfrontationen“, sagt Strehler. Noch sei Radfahren dort nicht attraktiv. Dafür sei das Teilstück zu kurz und es fehle die Anbindung ans Radnetz. Aber der Anfang ist gemacht. In den kommenden Jahren solle der Radverkehr auf dem Promenadenring nun sukzessive ausgebaut werden.

„Manche Radverkehrsplanung, die jetzt auf die Straße gebracht wird, ist bereits viele Jahre alt und überholt“

Robert Strehler,
Vorstandschef beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC), Leipzig

Tempo 30 per Lärmaktionsplan

Geht es nach der Stadtregierung, steigt der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehr bis 2030 auf 23 Prozent. Um das zu schaffen, setzt die Stadt auf einen Mix, der Autofahren einschränkt und den Umweltverbund von Bus und Bahn und den Fuß- und Radverkehr stärkt.
Dazu gehört, dass bis 2024 an rund 30 Hauptverkehrsstraßen Tempo 30 angeordnet werden soll. „Wir berufen uns dafür auf unseren Lärmaktionsplan“, sagt David. Überschreitet der Schallpegel tagsüber den Wert von 70 Dezibel und nachts von 60, können Städte das Tempo auf diesen Straßen als Schutzmaßnahme reduzieren. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass bei Straßenlärm, der im Haus einen Schallpegel von 65 Dezibel erreicht, das Risiko für Herz-Kreislauf-Störungen um 20 Prozent höher ist als bei 50 bis 55 Dezibel.
Für die Stadtfraktion ist das niedrigere Tempo ein Schlüssel, um die Situation für Radfahrerinnen, Fußgängerinnen und Anwohner*innen in den betroffenen Straßen schnell zu verbessern. Prinzipiell will die Politik Tempo 30 noch viel umfangreicher ausweisen, hinderlich sei dafür aber die aktuelle Rechtslage. „Leipzig hat im Herbst 2021 die Initiative ,Lebenswerte Städte durch angepasste Geschwindigkeit´ gestartet“, sagt David. Inzwischen sind ihr über 300 Städte und Gemeinden beigetreten. „Wir fordern die Bundesregierung auf, die Straßenverkehrsordnung und das Straßenverkehrsrecht zu ändern“, sagt er. Ob und wann die Änderung kommt, ist nicht absehbar. Um trotzdem die Mobilitätswende voranzubringen, sucht Leipzig Wege, um Tempo 30 umzusetzen.

Umverteilung der Verkehrsflächen in Leipzig: Baubürgermeister Thomas Dienberg markiert das weiße Fahrrad-Piktogramm auf grünem Grund.

„Wer den Autoverkehr in der Innenstadt reduzieren will, muss immer auch das Umland mitdenken und besser anbinden“

Tobias David,
Referent des Bürgermeisters

Weniger Autos an S-Bahnhöfen und in der Innenstadt

„Wer den Autoverkehr in der Innenstadt reduzieren will, muss immer auch das Umland mitdenken und besser anbinden“, sagt David. Pendlerinnen und Besucherinnen bräuchten eine echte Alternative, um die Strecken zurücklegen zu können. Ein großer Schritt war 2013 die Eröffnung des Leipziger City-Tunnels. Die Bahnstrecke verbindet die Innenstadt nun über verschiedene S-Bahnlinien mit den umliegenden Regionen. „Jetzt brauchen wir sichere Abstellanlagen für Fahrräder an S-Bahn-Stationen“, sagt David. Der Handlungsbedarf ist groß. 2019 war Leipzig die Hauptstadt der Fahrraddiebe. Um die Radanreise zum Bahnhof zu erleichtern, will die Stadt zunächst an insgesamt zwölf Standorten abschließbare Fahrradabstellanlagen installieren.
Vieles, was die Stadt macht, findet der ADFC gut und richtig. Kritik gibt es dennoch: „Manche Radverkehrsplanung, die jetzt auf die Straße gebracht wird, ist bereits viele Jahre alt und überholt“, sagt Strehler. Viele der Radstreifen, die jetzt auf das Pflaster gemalt werden, sind für Cargobikes und die gewachsene Zahl an Radfahrenden viel zu schmal. Die Planungen sollten angepasst werden, auch wenn das aufwendig ist.
Mit diesem Problem ist Leipzig nicht allein. Momentan überholt die Entwicklung die Planung vielerorts mit Riesenschritten. Vielleicht finden die Expert*innen bei der VeloCity im Mai eine Antwort auf dieses Problem.


Bilder: Stadt Leipzig, Robert Strehler, Maike Rauchhaus

Der Wandel vom Austragungsort der Automesse IAA zum Eurobike-Standort ist ein passendes Sinnbild für die Verkehrswende in Frankfurt. Diese steht spätestens seit dem Stadtratsbeschluss zur Fahrradstadt auf der Tagesordnung. Erste Erfolge sind bereits sichtbar, der Pendlerstadt steht aber noch ein langer Weg bevor. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Der Radentscheid sammelte 2018 40.000 Unterschriften. Er wurde zwar formell abgelehnt, einen Stadtverordnetenbeschluss zur Fahrradstadt Frankfurt gab es trotzdem.

Dass gesellschaftliche Rückendeckung für die Verkehrswende in Frankfurt besteht, bewiesen die Bewohner*innen im August 2018, als der Stadt ein 40.000-fach unterschriebener Radentscheid übergeben wurde. Mitte des darauffolgenden Jahres wurde er zwar abgelehnt, weil nötige gesetzliche Voraussetzungen für ein Bürgerbegehren laut dem Liegenschaftsdezernenten nicht erfüllt worden seien, die Stadt begann aber, in acht Sitzungen mit der Interessensgemeinschaft Radentscheid zu verhandeln. Zwei Monate später wurden die wesentlichen Forderungen des Radentscheids in den Maßnahmenkatalog Fahrradstadt Frankfurt am Main übernommen und um weitere Schritte ergänzt. Die Stadtverordnetenversammlung stimmte diesem Ende 2019 zu. Seitdem ist in Frankfurt einiges in Bewegung geraten.
Das Maßnahmenpaket fokussiert zunächst Hauptverkehrsstraßen, auf denen noch keine Radwege existieren. Dort werden teilweise auch Fahrspuren für Autos entnommen und umgewidmet. So zum Beispiel bei der Friedberger Landstraße, wo den Radfahrenden nun größtenteils 2,30 Meter breite, rot markierte Fahrradspuren zur Verfügung stehen. Auch anderenorts wurde ummarkiert, auch wenn die Wunschbreite gerade noch nicht erreicht wird. „Dieser breite, rote Radfahrstreifen, der ist symbolisch für die neuen Aktivitäten hier in Frankfurt. Wenn die rot eingefärbt sind, ist die Infrastruktur deutlich besser wahrnehmbar, wir haben auch nicht so viele Falschparker, die sich daraufstellen“, so Stefan Lüdecke. Er ist Referent des Dezernenten für Mobilität und Leiter der Stabsstelle Radverkehr. Wo möglich, wird auch mit Protektionselementen gearbeitet, wenn es keine seitlichen Parkplätze oder Ausfahrten gibt. Im August 2021 gab die Stadt bekannt, dass seit dem Fahrradstadt-Beschluss 28 Kilometer Radwege rot markiert wurden, 6,1 Kilometer neue Radwege an Hauptstraßen und fast 6000 neue Fahrradstellplätze entstanden. „Wenn eine Straße komplett grunderneuert werden muss, dann ist das Ziel, dass wir tatsächlich auch bauliche Radwege schaffen von mindestens 2,30 Metern Breite und vom MIV baulich getrennt“, verspricht Lüdecke.

Der Frankfurter Mainkai war schon mal für den Autoverkehr gesperrt und soll es in Zukunft wieder sein. Bei der Fahrradmesse Eurobike diente er als publikums-wirksame Außenfläche.
Der Oeder Weg ist die erste von elf Nebenstraßen, die nach dem Konzept Frankfurter Fahrradstraße des Radentscheids umgebaut werden.

Nebenstraßen werden fahrradfreundlich

Beschlossen wurde auch der Umbau von elf Straßenzügen zu sogenannten fahrradfreundlichen Nebenstraßen. Die Macherinnen des Radentscheides haben hierfür das Konzept Frankfurter Fahrradstraße entwickelt, das zügiges, konfliktfreies und sicheres Fahren ermöglichen soll. Die erste fahrradfreundliche Nebenstraße, der Oeder Weg, ist bereits erkennbar umgebaut und mit Autobarrieren als Modalfilter ausgestattet worden. Der Oeder Weg ist jetzt eine Fahrradstraße und hat neue Fahrradbügel und rot markierte Kreuzungsbereiche bekommen. Auch Abstellanlagen für E-Scooter sind Teil des Konzepts. Folgen sollen circa 40 große Pflanzenbeete, außerdem Sitzmobiliar und sogenannte Parklets, modulare Elemente aus Holz, die aus Parkplätzen Aufenthaltsraum machen. „Wir haben natürlich auch an die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum gedacht. Wir haben viele Parkbuchten rausgenommen, dort, wo sich Cafés und Restaurants befinden, die Interesse hatten, ihre Außengastronomie dort aufzustellen“, betont Stefan Lüdecke. Begleitet werden die Veränderungsprozesse von einem Forschungsprojekt der Radverkehrsprofessur, die das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur an der Frankfurt University of Applied Sciences fördert. Diese hat Prof. Dr.-Ing. Dennis Knese seit Beginn des letzten Jahres inne. Bei den Nebenstraßen untersuchen die Forschenden, wie sie wirken und wahrgenommen werden. In Zukunft sollen die Forscherinnen dazu die Situation vor der Umgestaltung dokumentieren, um nach den Umbauten Vergleiche ziehen zu können. Dafür sprechen sie auch mit Gewerbetreibenden vor Ort, die vielfach Umsatzeinbußen durch den fernbleibenden Kfz-Verkehr befürchten – trotz gegenläufiger wissenschaftlicher Erkenntnisse aus anderen Orten. Die Stadt unterstützt die Untersuchungen mit Verkehrszählungen, sodass Verkehrsverlagerungen quantifiziert werden. Die Begleitforschung ist auch deshalb notwendig, weil die Maßnahmen zunächst reversibel sein werden, sodass sie wieder zurückgebaut werden können, falls die gewünschten Effekte ausbleiben sollten.

Innenstadt im Mittelpunkt

In der »Fahrradstadt Frankfurt« pa-trouilliert seit 2019 eine zehnköpfige Fahrradstaffel der städtischen Verkehrspolizei, die etwa das Falschparken auf Fahrradwegen kontrolliert. Susanne Neumann, Vorständin des ADFC-Kreisverbands Frankfurt kritisiert deren Fokus auf die Innenstadt. Verschiedene Parteien hätten mehrfach darum gebeten, die Staffel auch in den Außenbezirken einzusetzen. Dieses Ersuchen habe der Verkehrsdezernent abgelehnt, laut Neumann dadurch begründet, dass es den Erfolg in der Innenstadt gefährde.
Der Fokus auf die Innenstadt sei symptomatisch für die Verkehrswende in Frankfurt. Hiervon sei auch das Nahverkehrsangebot betroffen. Neumann wartet auf Verkehrskonzepte für westliche und südliche Stadtteile, die Anfang letzten Jahres in Auftrag gegeben wurden. Sie sollten Ende 2021 vorliegen. „Was da jetzt rausgekommen ist, weiß ich immer noch nicht“, stellt sie ernüchtert fest. Im September soll das Radverkehrskonzept für Frankfurt West zunächst dem Ortsbeirat vorgestellt werden.
Dass in jüngster Zeit dann doch einiges für den Radverkehr getan wurde, bestätigte 2020 der ADFC-Fahrradklimatest. Zumindest im Vergleich zu anderen Städten der gleichen Größe lag die Benotung zu dieser Aussage mit der Schulnote 2,9 knapp eine Note über dem Durchschnitt. Auch die Möglichkeiten zur Fahrradmitnahme im Nahverkehr wurden deutlich besser beurteilt als im Mittel. Insgesamt liegt Frankfurt mit der Note 3,7 unter den Städten mit mehr als einer halben Million Einwohner auf Platz drei.

„Das Fahrrad geht als großer Gewinner aus der Pandemie heraus“

Prof. Dr.-Ing. Dennis Knese,Frankfurt University of Applied Sciences

Universitätsprofessor Dr.-Ing. Dennis Knese (oben) und Susanne Neumann vom ADFC (unten) setzen sich für besseren Radverkehr in Frankfurt ein. Auch privat sind sie gerne mit dem Fahrrad unterwegs.

Viele Ansprechpartner für Radverkehr

Die vergleichsweise guten Ergebnisse beim Radklimatest dürften noch nicht von den relativ neuen Beschlüssen herrühren. Auch vor dem Radentscheid und dem Beschluss zur Fahrradstadt Frankfurt gab es bereits Ambitionen, den Radverkehr in Frankfurt zu fördern. Die Stadt hat dafür 2009 personell aufgestockt und gründete ein eigenes Radfahrbüro. Aus den damals vier Angestellten sind mittlerweile acht geworden. Hinzu kommen Einzelpersonen im Verkehrsdezernat, Straßenverkehrsamt sowie dem Amt für Erschließung und Straßenbau. Überall dort gibt es eigene Ansprechpartner für den Radverkehr, die in engem Austausch miteinander stehen.
Nicht nur städtische Angestellte sind dabei involviert. Der verkehrspolitische Sprecher des ADFC bespricht aktuelle Planungen in monatlichen Treffen mit der Stadt, weitere Details werden auf dem kurzen Dienstweg geklärt. Das Thema Radverkehr scheint in Frankfurts Öffentlichkeit angekommen zu sein. Die Resonanz auf ihr Engagement beim ADFC habe in den letzten Jahren zugenommen, erklärt Neumann.
Auch die Fahrrad-Professur werde wahrgenommen, beobachtet Dennis Knese. Der Uni-Standort Frankfurt spielt in seiner Arbeit natürlich eine große Rolle. „Wir sind sehr eng im Kontakt mit verschiedenen Akteuren in Frankfurt, sei es die Stadt, seien es aber auch Wirtschaftsunternehmen, Verbände und Akteure aus allen möglichen Bereichen.“ Insgesamt zeigt sich Knese mit dem Tempo der Verkehrswende nicht unzufrieden. Gerade im Hinblick auf die Ziele Luftqualität und Klimaschutz müsse es aber noch schneller gehen.

Verbesserte Datenlage

Der Radverkehrsprofessor ist auch an der Erstellung neuer Verkehrsmodelle beteiligt, mit denen die Stadt den Radverkehr grundsätzlicher verstehen will. Es geht dabei um die Frage, warum die Radfahrenden bestimmte Routen und Verkehrsmittel benutzen. Dauerzählstellen von Hessen Mobil stellen massenhaft Daten zur Verfügung. Normalerweise erstellt die Stadt alle zwei Jahre eine Stadtrandzählung, die aufgrund der Pandemie zuletzt ausgesetzt wurde. Die Ergebnisse der letzten Zählung in Zusammenarbeit mit der TU Dresden attestieren Frankfurt eine Steigerung von fast 60 Prozent beim Radverkehrsanteil. Lag dieser 2013 noch bei 12,5 Prozent, waren es 2018 19,8 Prozent.
Gerade die Dynamik im Radverkehrsanteil könnte laut dem Radverkehrsprofessor bestehen bleiben. „Das Fahrrad geht als großer Gewinner aus der Pandemie heraus“, glaubt Knese. Im Hinblick auf eine Zeit nach der Covid-19-Pandemie gaben die Menschen an, häufiger Fahrrad fahren zu wollen.
Auch Lastenräder, so Knese, könnten in Frankfurt am Main eine große Zukunft haben. Die Stadt fördert private Lastenräder ohne oder mit Elektroantrieb mit 500 beziehungsweise 1000 Euro. Die Fördermittel von 200.000 Euro für 2022 waren im Fe-bruar dieses Jahres schnell ausgeschöpft und sollen im nächsten Jahr erneut zur Verfügung stehen. Auch das Leihsystem Main-Lastenrad wird sehr gut genutzt. 16 Lastenräder können im Stadtgebiet kostenlos bis zu drei Mal pro Monat ausgeliehen werden.
Die Stadt erarbeitet zurzeit einen Masterplan Mobilität, der Klarheit in die Entwicklungsrichtung Frankfurts bringen soll. Susanne Neumann hofft, dass das Anrecht aller Menschen auf Mobilität durch diesen wahrnehmbar wird. Für die Zukunft sieht sie, genau wie Dennis Knese, eine reduzierte Regelgeschwindigkeit als geeignetes Mittel, um dieses Ziel voranzutreiben. Die Chancen für Tempo 30 stehen nicht schlecht, sollten die Städte den Ermessensspielraum erhalten. Der Initiative Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten, die diesen Spielraum einfordert, hat sich Frankfurt längst angeschlossen.
Dass die Menschen in Frankfurt aktive Mobilität nicht generell scheuen, beweist auch der hohe Fußgängeranteil am Modal Split. Etwa ein Drittel ihrer Strecken legen die Frankfur-ter*innen zu Fuß zurück. Die Studie Mobilität in Deutschland stellte 2017 für keine untersuchte Stadt einen höheren Wert fest. Hierbei dürften die kurzen Wege, Frankfurt ist auf einer kleinen Grundfläche gebaut und das ganze Zentrum ist relativ gut zu Fuß erreichbar, ihre Stärken ausspielen.

„Unsere größte Herausforderung als Stadt Frankfurt ist ja, tagtäglich mit den Pendlerinnen und Pendlern zurechtzukommen“

Stefan Lüdecke, Referent des Dezernenten für Mobilität & Leiter der Stabsstelle Radverkehr

Frankfurt ist Pendlerstadt

Was für den Fußverkehr förderlich ist, sorgt für Probleme für die Vielzahl an Menschen, die aus der dicht gestrickten Metropolregionen täglich ihren Weg ins Zentrum finden müssen. „Unsere größte Herausforderung als Stadt Frankfurt ist ja, tagtäglich mit den Pendlerinnen und Pendlern zurechtzukommen“, erklärt Stefan Lüdecke ein. Das bestimmt dann manchmal, ob man Platz für eine Fahrradspur wegnehmen kann oder nicht. „Ich hoffe, dass das mit dem Homeoffice auch weiter so bleiben wird, dass wir nicht wieder zu diesen ganz hohen Zahlen kommen werden und dass vielleicht auch Leute aus der Region auf das Rad umsteigen werden.“
Der Pendelverkehr sorgt außerdem dafür, dass die vielen zusätzlichen Autos den eigentlich guten Modal Split verwässern. In diesem wird nämlich nur die Wohnbevölkerung erfasst. Um dem Problem zu begegnen, bräuchte es einen Ausbau der Park-and-Ride-Parkplätze in den außerhalb gelegenen Kommunen. Außerdem könnte ein Radschnellwegenetz helfen, das sternförmig in das Frankfurter Umland führt. Neun solcher Routen wurden bereits geplant und sind, zumindest außerhalb des Frankfurter Stadtgebiets, auch schon teilweise im Bau. Weitere sternförmige Verbindungen ins Umland sieht Lüdecke als Großprojekt der nächsten Jahre. Auch am Radschnellwegenetz lässt sich Kritik üben. Dessen Trassenführung laufe teilweise mitten durch Ortschaften hindurch, anstatt an diesen vorbeizuführen, so Susanne Neumann.

Das privat geführte Fahrradparkhaus am Bahnhof ist fast leer. Seit die Werkstatt im Eingangsbereich geschlossen wurde, ist es noch einfacher, dort Fahrräder zu entwenden.

Problemzone Bahnhof

Neumann erkennt in der Stadt weitere Herausforderungen, etwa in der Bahnhofsregion. „Der Bahnhof ist ein absolutes Lowlight für Frankfurter Radfahrende, ganz einfach, weil es da null Radinfrastruktur gibt.“ Die Radfahrerinnen sind gezwungen, im 50 km/h schnellen Autoverkehr mitzuschwimmen, obwohl es sich auch für sie um eine Hauptverkehrsachse handelt. Ausbaufähig ist auch die Abstellsituation, eine wichtige Voraussetzung für intermodale Reiseketten. Es gibt zwar eine Fahrradebene im Untergeschoss eines privat geführten Autoparkhauses, dieses ist allerdings nicht ausgeschildert. Zudem wird eine der Hauptfunktionen sicherer Abstellanlagen – die Sicherheit – nicht erfüllt. Es gibt keine Überwachungsfunktion bis auf ein kleines Drehkreuz. Neumann berichtet von Fällen, wo dieses einfach übersprungen und Fahrräder entwendet wurden. Der private Betreiber hatte zunächst eine Fahrradwerkstatt im Eingangsbereich betrieben, die aber eingestellt wurde. Hinzu kommt der Omnibus-Verkehr, der die Anfahrt erschwert. Pläne für ein Fahrradparkhaus auf der gegenüberliegenden Bahnhofsseite sind unlängst geplatzt. Probleme wie diese sorgen für Unmut. Damit Planungsprozesse transparent und verständlich sind, führt die Stadt Partizipationsverfahren durch. Gegenseitiges Verständnis bringen die verschiedenen Verkehrsgruppen in Frankfurt nicht immer füreinander auf, zum Beispiel in den Chats dieser Online-Veranstaltungen. „Klar gab es auch gute und sachliche Kommentare, aber teilweise wird die Debatte eben sehr emotional geführt und wenig nüchtern“, ordnet Knese ein. Ein Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lässt noch tiefer blicken. Darin berichtet die Autorin, wie ein Stadtteilpolitiker im traditionell eher konservativen Westend sich für den Umbau einer Straße einsetzte und dafür beschimpft wurde und Morddrohungen erhielt. Solche Widerstände zeigen, dass die Verkehrswende in Frankfurt nicht unumstößlich ist. Das aktuelle Tempo der Maßnahmen und die jüngere Geschichte des Radentscheides sorgen unterm Strich aber für viel Hoffnung, dass sich die Perspektive der Frankfurterinnen vom Autoverkehr wegbewegt. So ist es auch bei Dennis Knese. „Es setzt sich immer stärker auch der Gedanke durch, dass man mit attraktiven Alternativen und der Reduzierung des motorisierten Verkehrs gerade in den Städten eben auch eine bessere Lebensqualität hervorrufen kann.“
Ein Erlebnis, von dem Susanne Neumann berichtet, zeigt, wie einzelne Maßnahmen das gegenseitige Verständnis steigern können. Ein Taxifahrer, mit dem Neumann für einen Beitrag des Hessischen Rundfunks zusammengebracht wurde, schätzt die Bedeutung der roten Radwegmarkierung für sie völlig unerwartet ein. „Wenn ich einen rot eingefärbten Radweg hab, da darf ich mich als Taxifahrer nicht draufstellen. Aber bei allen anderen darf ich das“, soll er gesagt haben.


Bilder: Sebastian Gengenbach, Radentscheid Frankfurt, Dennis Knese, Torsten Willner

Der urbane Verkehr ist nicht nur ein Mitverursacher der Klimakatastrophe, sondern etwa durch Abgas- und Lärmemissionen auch Auslöser von gesundheitlichen Schäden. Nachhaltige Mobilität mit dem Fahrrad hat den umgekehrten Effekt: Wer mit dem Fahrrad pendelt, lebt nachweislich gesünder. Die Mobilitätswende kann somit auch eine Gesundheitswende sein. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


2017 hat eine Studie des Beratungsunternehmens EcoLibro zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt herausgefunden, dass fahrradfahrende Mitarbeitende im Schnitt etwa ein Drittel weniger Krankheitstage aufwiesen als ihre Kollegen und Kolleginnen, die mit anderen Verkehrsmitteln zur Arbeitsstelle kamen. 3,35 Krankheitstage standen 5,3 bei den Benutzerinnen des eigenen Pkws oder öffentlicher Verkehrsmittel gegenüber. Am besten schnitten darunter wiederum jene Radfahrenden ab, die nicht nur gelegentlich, sondern das ganze Jahr über mit dem Fahrrad oder E-Bike zur Arbeit kamen. Ein weiterer interessanter Aspekt: Sie schnitten in Sachen Krankheitstage sogar besser ab als Mit-arbeiterinnen, die regelmäßig Sport treiben. Außerdem sind zwar laut EcoLibro die Krankheitstage der Rad-pendler*innen nach Unfällen rechnerisch etwas höher als bei verunfallten Autofahrenden, trotzdem waren die Krankheitstage bei der Radfahr-Gruppe insgesamt noch die geringsten. Das lässt auf einen deutlichen Zusammenhang zwischen aktiver Mobilität, wie Zufußgehen und Radfahren, und dem Gesundheitszustand der Mitglieder dieser Gruppe schließen.
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO werden viele der häufigsten Krankheiten, wie Erkältungs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Diabetes und Adipositas, von Bewegungsmangel verstärkt. Tatsächlich ist es also einfach, diese Krankheiten einzudämmen. Mehr aktive Mobilität bedeutet mehr Gesundheit.
Das gilt übrigens genauso für die mentale Gesundheit: Schon vor acht Jahren wurde in einer britischen Langzeitstudie mit 18.000 Probanden und Probandinnen an der East Anglia University in Norwich festgestellt, dass sich Menschen, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, deutlich weniger zufrieden fühlten als solche, die mit anderen Verkehrsmitteln pendelten. Das mag mit den täglichen Staus auf den Straßen zu tun haben, aber auch mit der aktiven Form des Pendelns. Ein überraschendes Ergebnis war auch, dass Zu-Fuß-Pendler und -Pendlerinnen sich zufriedener fühlten, je länger ihre Pendel-Strecke war.

Leben auch E-Bike-Nutzende gesünder?

Wie sieht das für Pedelec-Fahrer und -Fahrerinnen aus? Sie bewegen sich mit weniger Krafteinsatz als Radfahrende ohne Motor. Ernten sie daher eher weniger Zufriedenheit und Gesundheit? Das könnte man vermuten, stimmt aber nicht ganz: Eine europäische Studie mit älteren Menschen hat 2019 nachgewiesen, dass Pedelec-Nutzer und -Nutzerinnen im Schnitt etwa 35 Prozent längere Strecken zurücklegen als die Vergleichsgruppe mit normalen Fahrrädern. Die Schlussfolgerung: Zwar ist der Kraftaufwand auf dem E-Bike geringer, doch Menschen, die Pedelec fahren, bewegen sich dafür häufig mehr auf dem Fahrrad. Zudem kommen viele Menschen überhaupt erst zum Radfahren respektive Pendeln, weil ihnen E-Bike-Fahren mehr Spaß macht als Radfahren ohne Unterstützung. Sie trauen sich eine bestimmte Entfernung erst mit dem Zusatzschub durch den E-Motor zu. All diese Punkte untermauern die These: Fahrradfahren ob mit oder ohne Motor kann – und sollte – Teil eines gesellschaftlichen Gesundheitsmanagements sein.

Der VCÖ sieht einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit letaler Herz-Kreislauf-Erkrankungen und dem Anteil aktiver Mobilität am Modal Split.

Wie können Städte gesünder werden?

Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) forderte im Herbst 2020: „Mehr Gesundheit in die Städte!“ Im Institut gibt es bereits seit 2002 die Arbeitsgruppe Gesundheitsfördernde Gemeinde- und Stadtentwicklung (AGGSE), die fünf Thesen zur nachhaltigen und gesundheitsfördernden Verkehrspolitik aufgestellt hat. „Nachhaltig kommunale Gesundheitsförderung braucht eine hinreichend soziale, technische und grüne Infrastruktur“, heißt es da in These fünf. Ein wichtiger Beitrag dazu seien die Priorisierung des Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehrs und die Reduzierung des motorisierten Individual- und Güterverkehrs.

Bessere Infrastruktur – mehr gesellschaftliche Gesundheit

Was bedeutet das für den Bund und die Kommunen? Vor allem eines: für die Existenz, Sicherheit und den Komfort von Fahrrad-Infrastruktur zu sorgen. Ganz im Sinne von: Wer Radwege baut, wird Radverkehr ernten (Hans-Jochen Vogel, damals Münchner OB, prägte den Satz: „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten!“). Dazu muss das Fahrrad zunächst in den Köpfen der Entscheiderinnen und Planerin-nen als Verkehrsmittel angekommen sein – ein Vorgang, der derzeit noch im Wachsen begriffen scheint.
Heißt das, dass die komplette Infrastruktur verändert werden muss, um mehr Autofahrende auf das Fahrrad zu bekommen? Nicht unbedingt und vor allem nicht überall.
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club ADFC hat einen Leitlinien-Katalog für den Ausbau einer nachhaltigen Fahrrad-Infrastruktur herausgegeben. Darin geht es nicht nur um geschützte Radverkehrsanlagen wie Protected Bike Lanes, wie wir sie bereits aus der Corona-Zeit in Berlin kennen, sondern auch grundsätzlich um das Zusammenspiel verschiedener Verkehrsmittel. In Tempo-Dreißig-Zonen etwa könne man getrost auf Radspuren verzichten und Mischzonen schaffen, in denen alle Verkehrsmittel parallel existieren. Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch Kreuzungen und Schnittstellen. Hier wird das Plus an Gesundheit von Radfahrenden bedroht von gesteigertem Unfallrisiko. Grundsätzlich gilt allerdings: Je mehr sich die Verkehrsteilnahme vom Auto zum Fahrrad und E-Bike verschiebt, desto weniger unfallträchtig sind Letztere unterwegs. Beispiel Niederlande: In Städten mit sehr hohen Zahlen an Fahrradfahrenden gibt es eine signifikant geringere relative Verunfallung von Radlern und Radlerinnen.

Win-Win-Situation für die aktive Mobilität

Als wie weitreichend man den Zusammenhang zwischen gesunder Mobilität und gesellschaftlicher Gesundheit sehen kann, zeigt die Veröffentlichung „Gesunde Städte durch gesunde Mobilität“ des Österreichischen Verkehrsclubs VCÖ. Hier steht unter anderem ein Fakt im Vordergrund: Wenn wir unsere Mobilität auf Gesundheit der Verkehrsteilnehmenden ausrichten, gewinnen wir auch automatisch an Klima-Gesundheit, denn der Großteil der gesundheitsbelastenden Schadstoffe und Treib-hausgas-Emissionen wird vor allem von Verbrennungsmotoren verursacht, die auch die nächsten Jahre bei Weitem das Gros der Personenbeförderung bestimmen werden.
Jedenfalls führt die gesunde, weil aktive Mobilität als Konsequenz aus den angeführten Punkten erwartungsgemäß wieder zu weiterer gesellschaftlicher Gesundheit. So wie umgekehrt die Automobilität, vor allem auf die kurzen Strecken bezogen, uns bislang nicht nur aus Mangel an Bewegung krank gemacht hat, sondern auch einen Großteil der krank machenden klimatischen Veränderungen verursacht hat. Noch ein Grund mehr, auf die neue Velo-Mobilität zu setzen – und entsprechende Infrastruktur bereitzustellen.


„Gesundes Mobilitätsmanagement ist auch Arbeitgeberattraktivität“

Die Berliner Agentur für Elektromobilität eMO unterstützt kostenlos Berliner Unternehmen und Betriebe, die ihr Mobilitätsmanagement verbessern wollen. In Sachen Unternehmensmobilität informiert die eMO unter anderem über die Vorteile wie Nachhaltigkeit und Gesundheit, die zunehmend wichtigere Bedingungen für eine zeitgemäße Mobilität der Mitarbeitenden sind, und begleitet Unternehmen bei der Umsetzung.Darüber haben wir mit Luisa Arndt, Projektmanagerin in der Agentur, gesprochen.

Warum ist auch gesunde Mobilität für die Unternehmen, die Sie unterstützen, ein Thema?
Mobilität kann mit gesunder Fortbewegung verbunden sein – etwa indem immer mehr Mitarbeitende mit E-Bike oder Fahrrad zum Betrieb fahren. Gleichzeitig ist diese Mobilität umweltfreundlicher und oft wirtschaftlicher. Zudem fördert die aktive Fortbewegung die Gesundheit, was sich in weniger Krankheitstagen äußert, wie Studien belegen. Hinzu kommt: Gesunde Mobilitätsangebote wie das Dienstradleasing steigern auch die Arbeitgeberattraktivität deutlich.

Ist in den Betrieben ein Umdenken hin zu nachhaltigeren, gesünderen Formen der Mobilität bereits in Gange?
Das ist unterschiedlich. Manche Betriebe sehen, dass sie innerbetriebliche Mobilität strukturell angehen müssen. Andere wollen zunächst einfach nur Veränderungen im Detail schaffen, indem bestimmte Strecken nicht mehr mit dem Dienstauto, sondern per Dienstrad zurückgelegt werden sollen. Unsere Aufgabe ist es zunächst, den Blick des Unternehmens auf ihr eigenes Mobilitätsmanagement zu schärfen. Dazu ist eine ganzheitliche Betrachtung der Unternehmensmobilität notwendig.

Stichwort Arbeitswege-Mobilität. Wie kann der Betrieb seine Mitarbeiter motivieren, per E-Bike oder Fahrrad in die Arbeit zu kommen?
Das kann mit ganz kleinen Dingen anfangen – der Luftpumpe am Empfangstisch, das Schaffen von sicheren Abstellmöglichkeiten für E-Bikes im Betrieb, aber auch Umkleideräume im Unternehmen oder die Teilnahme an Aktionen wie „Wer radelt am meisten?“ oder „Stadtradeln“ können für Mitarbeitende motivierend wirken. Oft ist aber auch die Belegschaft vor dem Arbeitgeber sensibilisiert, wenn es etwa um die Akzeptanz des Jobradleasings im Unternehmen geht. Dusch- und Garderoberäume werden oftmals von Mitarbeitenden angeregt. Allgemein kann man sagen, es gibt beide Richtungen beim Anstoß von Veränderungsprozessen, Top-Down wie auch Bottom-Up.

Macht sich die Verkehrswende denn tatsächlich im betrieblichen Mobilitätsmanagement breit?
Jein. Es gibt ein zunehmendes Bewusstsein für nachhaltige Mobilität, sowohl von Geschäftsführenden als auch Mitarbeitenden. Oft spüren größere Betriebe mehr Druck, sich zu verändern. Hier braucht es allerdings oft Zeit, bürokratische Strukturen zu verändern. Bei kleinen Betrieben hängt Veränderung andererseits oft von einzelnen, hoch motivierten Personen ab, die diese Tätigkeiten übernehmen, dann jedoch auch schneller etwas erreichen können. Zukünftig könnte die von der EU eingeführte Berichtspflicht zur Nachhaltigkeit einen weiteren Beitrag zur Einführung von nachhaltigen Mobilitätsformen leisten.


Bilder: Georg Bleicher, VCÖ 2021, Berlin Partner