Wie ist der Einfluss geschützter Radfahrstreifen auf das Fahrgefühl und das Fahrverhalten von Radfahrern? Dieser Frage haben sich Forscher der TU Braunschweig in einer Studie angenommen. Nicht im echten Verkehr, sondern mit einem Radfahrsimulator, der auch für andere Zwecke genutzt werden kann. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


In der kürzlich durchgeführten Studie haben sich Susanne Grüner und Mark Vollrath von der Technische Universität Braunschweig, Lehrstuhl für Ingenieur- und Verkehrspsychologie, intensiv mit dem Thema geschützter Radfahrstreifen (Protected Bikelanes) befasst. Dabei folgten die beiden Wissenschaftler der Fragestellung, inwieweit sich das Fahr- und Blickverhalten im Vergleich zur Nutzung eines ungeschützten Radfahrstreifens unterscheiden. Grundlegend für die Motivation zur Untersuchung war dabei die wissenschaftlich gesicherte Annahme, dass ein gutes Gefühl beim Fahren, also empfundene Effizienz, Komfort und Sicherheit, dazu beitragen kann, die Bereitschaft zum Radfahren zu erhöhen.

Der Radfahrsimulator kann auch für andere Untersuchungen genutzt werden.

Ziel: Erkenntnisgewinn bei Kosten und Nutzen

Auf die häufig genannten Hinderungsgründe gegen die Nutzung des Fahrrads, eine als unsicher empfundene Radfahrinfrastruktur und hohe Verkehrsdichten des motorisierten Verkehrs, wird an einigen Stellen in Deutschland mit geschützten Radfahrstreifen reagiert. Ein Beispiel ist in Berlin Hasenheide zu sehen mit einer größeren Breite, grüner Oberflächenkennzeichnung und einer baulichen Trennung zur Straße. Bislang war, so Susanne Grüner im Gespräch, „allerdings unklar, ob dieser das Fahrverhalten verändert, tatsächlich zu einer entsprechenden Verbesserung des Fahr-gefühls führt und den Investitionsbedarf rechtfertigt“. Um das zu prüfen, entwickelten die Wissenschaftler auf Grundlage der Protected Bikelane in Berlin ein Tool, um das Verhalten von Radfahrern quasi unter Laborbedingungen genauer zu untersuchen. „Als experimentelle Psychologin freut es mich, dass wir den Radfahrsimulator nutzen können, um den Effekt von Veränderungen in der Radfahrinfrastruktur zu untersuchen“, so Susanne Grüner.

Deutliche Verbesserung des Fahrgefühls

Die Studie im Fahrradsimulator wurde mit 48 Probanden, davon 23 Frauen durchgeführt. Das Durchschnittsalter betrug 30 Jahre. In einem „2 x 2-Versuchsplan mit Messwiederholung“ fuhren die Probanden die gleiche virtuelle Stadtstrecke auf einem regulären Radfahrstreifen und einem geschützten Radfahrstreifen – jeweils mit einer niedrigen und einer hohen Verkehrsdichte des überholenden Autoverkehrs. Die Ergebnisse zeigten nach den Machern der Studie, dass Fahrten auf dem geschützten Radfahrstreifen als „sicherer, komfortabler und effizienter“ bewertet werden als Fahrten auf einem regulären Radfahrstreifen. Ein weiteres positives Ergebnis: Der motorisierte Verkehr störte die Probanden zudem weniger, da die Nähe und die Gefahr geringer eingeschätzt wurden. Auch die Querung von Kreuzungen und das eigene Überholen anderer Radfahrender wurden von den Probanden als sicherer bewertet.

Weniger Schulterblicke

Zudem wurden keine deutlichen Unterschiede im Fahrverhalten in Bezug auf die Geschwindigkeit und die Position auf dem Radstreifen gefunden. Auffällig sei, dass auf dem geschützten Radfahrstreifen weniger Schulterblicke vor einem Überholvorgang gemacht wurden. Die geringere Zahl an Absicherungsblicken mache das Fahren zwar zusätzlich komfortabler. Nach Meinung der Forscher sollte aber weiter untersucht werden, ob dies ein neues Risikopotenzial für Radfahrer-Radfahrer-Interaktionen berge.

Design der Studie

  • Stationärer Radfahrsimulator
  • 180-Grad-Sichtfeld durch sechs Monitore
  • Schulterblickerfassung mithilfe einer Eyetracking-Brille
Szenarien:
  • Gerade Streckenabschnitte
  • Einmündungen (abbiegende Fahrzeuge)
  • Überholvorgang (langsamer Radfahrer)

Bilder: Forschungsteam TU Braunschweig

Bewegungsräume im urbanen Umfeld werden immer wichtiger für unsere bewegungsarme Gesellschaft. Sie sind heute auch Wegbereiter für die Mobilitätswende, vor allem, was die Flächen für Kinder und Jugendliche betrifft. Ein Erfahrungsüberblick über Bedürfnisse, Chancen und Möglichkeiten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Urbane Bewegungsräume werden oft unterschätzt oder missverstanden. Besonders Flächen, auf denen Kinder und Jugendliche sich in verschiedenen Sportarten austoben können, sind in vielerlei Hinsicht wichtig für die Gesellschaft und deren Gesundheit. Mittelbar sogar auch für die Mobilitätswende, wie noch zu sehen sein wird. Daher fordern Experten mehr solche urbanen Areas wie Skateparks oder Pumptracks oder die Kombinationen von möglichen Formen. Im September 2022 veranstaltete das Mountainbike-Tourismus-Forum zu diesem Thema ein digitales Fachpanel „Biken Urban“, um den Blick für die Zusammenhänge zu schärfen, ihre Chancen und Möglichkeiten auszuloten und Praxis-erfahrungen zu teilen. Dabei waren Vertreterinnen von Wissenschaft und Planungsbüros sowie Entschei-derinnen und Planer*innen aus Gemeindeämtern sowie der Chefredakteur von Veloplan, Markus Fritsch. Die eingebrachten Expertisen und Erfahrungen konnten wir als Grundlage für diesen Beitrag nutzen.

Ein Skateplatz ist ein niederschwelliges Bewegungsangebot. Kinder und Jugendliche müssen keinem Verein beitreten oder sich anmelden, um sich hier sportlich auszutoben.

Warum sind Pumptracks wichtig?

Für den Veranstalter Mountainbike-Tourismus-Forum war es naheliegend, sich mit Urban Biking zu beschäftigen. „78 Prozent der deutschen Bevölkerung leben in Städten. Menschen müssen sich aber wohnortnah erholen können, was diese Bewegungsräume ermöglichen. Auch soziale Aspekte sind aber nicht zu vernachlässigen. Pumptrack und Co. stellen für junge Menschen sozial gerechte Möglichkeiten dar, sich zu entwickeln, denn mit ihnen sind Kinder und Jugendliche von Vereinsstrukturen unabhängig“, erklärt Nico Graaff, Geschäftsführer des Forums. „Für uns ist es ein wichtiges Anliegen, zu zeigen, was diese Bewegungsräume können und wie die Kommunen sie realisieren können.“
Dass Bewegung an sich ein wesentlicher Grundpfeiler unseres Lebens und der Gesellschaft ist, ist unbestritten. Bewegung unterstützt die körperliche wie mentale Gesundheit und ermöglicht, wie schon vor Jahrzehnten bestätigt, auch schon in jungen Jahren erhöhte Lern- und Aufnahmefähigkeit. Ganz wesentlich ist aber auch, dass diese Bewegungsräume für junge Menschen soziale Fähigkeiten trainieren. Pumptracks, Skater- und Rollparks sind Orte, an denen Spaß gemeinsam erlebt wird, an denen aber auch Social Skills wie gegenseitiger Respekt und Rücksichtnahme praktisch erlernt werden.
Und der Bezug zur Mobilitätswende? „Spaß am Fahrradfahren und Mobilitätswende sind verknüpft“, erklärt Markus Fritsch von Veloplan. „Wer als Kind oder Jugendlicher mit dem Rad aufwächst, wird auch als Erwachsener eher das Fahrrad nutzen.“ Dazu kommt: Heute bekämen Kinder das Radfahren als bedrohlich vermittelt. Wer jedoch durch den Fahrspaß auf dem Pumptrack oder anderen Rad-Parcours sein Fahrrad spielerisch beherrscht, der oder die lernt dadurch auch für die sichere und selbstbewusste Radbeherrschung auch im Straßenverkehr.
Dass es nötig ist, Kinder nicht nur ans Radfahren zu führen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, dabeizubleiben, erklärt Ulrich Fillies, Gründer und Beiratsvorsitzender der Aktion Fahrrad, die sich um mehr Radfahr-Initiativen in den weiterführenden Schulen bemüht. Die Kinder machten in der Grundschule den Fahrradführerschein, „doch dann verschwindet das Fahrrad wieder aus dem Blickfeld“. Wie auch die Schulen das Fahrrad in den Unterricht implementieren können, ohne auf diese Areale zurückgreifen zu können, dafür hat er als Gründer der Aktion Fahrrad jede Menge Tipps für Lehrer. Der Verein hat die Schulmeisterschaften aufgebaut, aber auch Geschicklichkeitswettbewerbe lassen sich gut an Schulen organisieren. Und mit den Klimatouren regt Aktion Fahrrad zum Fahrradpendeln zur Schule an, bei dem Kilometer gesammelt und in CO2-Ersparnis umgerechnet werden.

Herausforderung Realisation

Doch warum ist es so schwer, Bewegungsräume zu planen und einzurichten? Oft sind die Bedürfnisse den Entscheiderinnen in den Gemeinden gar nicht bewusst, weiß Stephan Schlüter aus eigener Anschauung. Er ist Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr in Kempten. Schließlich haben die Youngster kaum eine Lobby, ganz im Gegensatz zu den Fußball- oder sonstigen Vereinen anderer Sportarten. Hier fehlt die Vertretung, und daher auch langjährige Erfahrung der Menschen in den Ämtern, die mit ihnen zu tun haben. Welcher Bedarf bei den jungen Menschen da ist, muss erst kommuniziert werden (s. Kasten), und dazu fehlen derzeit feste Strukturen. Umgekehrt helfen beispielsweise auch Rennradvereine nicht weiter, wenn es um Pumptracks geht. Auch in diesen Vereinen kennt man die Bedürfnisse der jungen Radfahrer und Radfahrerinnen nicht, die jenseits von schmalen Rennradreifen unterwegs sind und Radsport eher als spielerische Artistik erleben, wie auf dem BMX-Rad. Auch Jan Kähler, Leiter der Sportentwicklungsplanung und Bereichsleiter Sport der Landeshauptstadt Hannover meint, „die Bedürfnisse der einzelnen Gruppen sind bei den Gemeindeämtern unbekannt“. Sie wissen nicht, wie viele Menschen Rad fahren oder Radsport betreiben. Das Thema Bewegung zu platzieren, sei immer schwierig. Schlüter hat viel Erfahrung mit diesen Herausforderungen und fordert Entscheiderinnen und Planer*innen auf: „Bezieht die Menschen mit ein, macht Öffentlichkeitsarbeit, geht raus auf die Straße und lasst euch sagen, was die Leute wirklich brauchen.“
Noch ein Widerstand, wenn auch diesmal ein innerer, steht den Bewegungsräumen entgegen: Während den Sportvereinen meist eindeutige Entscheidungs- und Planungsabteilungen in den Gemeinden zugeordnet sind, sieht das bei genannten Projekten, die meist auch ungewohnt und fremd für die Administration sind, anders aus. Hier hilft „die gleiche Kaffeemaschine auf dem Flur“, so Schlüter: der vor allem in kleineren Behörden einfache, direkte Dienstweg und die aktive Vernetzung.

„Wir sollten nicht nur die Sportstätte promoten, sondern vor allem auch die Bewegungsflächen“

Stephan Schlüter, Stadt Kempten

Der Skatepark in Gersthofen wurde im Zuge der Sanierung einer existierenden Anlage als langlebige Ortbetonanlage errichtet. Statt aufgestellter Elemente werden Tables & Co. dabei mit dem Untergrund in Betonbauweise modelliert.

In Flächen-Konkurrenz zur Shopping-Mall

Schließlich ist da, vor allem in der Großstadt, auch die Flächenkonkurrenz. Ein Projekt, zu dem die Entscheider in den Ämtern wenig Bezug haben, hat es da grundsätzlich etwas schwerer, seine Fläche zur Verfügung zu bekommen. Denn womit man Erfahrung hat, das lässt sich gut einschätzen, man ist mit seinen gemachten Erfahrungen, etwa mit Turnhallen, auf der sicheren Seite. Auch hier zählt Aufklärungsarbeit in Sachen Pumptrack und Skatepark. Aber andererseits können diese Areale auch einfacher in vorhandene Strukturen eingefügt werden. Eine Möglichkeit ergibt sich, wie der Hannoveraner Kähler betont, gelegentlich in multifunktionaler Nutzung: die Schulhöfe nach Schulschluss öffentlich zugänglich machen und hier entsprechende Optionen zur Verfügung zu stellen. Doch grundsätzlich hängt auch die Wahrnehmung von solchen Möglichkeiten nach wie vor von einzelnen Personen in den Ämtern ab.
Überhaupt, so weiß auch Veloplan-Herausgeber Markus Fritsch: Manche planen und handeln sehr schnell, andere brauchen Jahre für eine Realisation. „Man hat in unterschiedlichen Städten doch auch immer unterschiedliche Ausgangssituationen, das bemerken wir auch am Feedback, dass wir von den Lesern und Leserinnen zurückbekommen.“ Die Strukturen für Entscheidungen für ein Projekt sind nie dieselben – wie eben auch die Menschen, die an den entscheidenden Positionen sitzen.

Bedenken ausräumen

Bleibt eine konkrete Herausforderung, die es Bedenkenträger*innen oft leicht macht: die Kosten. Doch Zahlen helfen da weiter, sie zu überzeugen: Kai Siebdrath vom Bauunternehmen Schneestern, das viel Erfahrung mit der Planung und Realisation von Bewegungsräumen wie Skateparks hat, rechnet vor: „Der Durchschnitts-Pumptrack hat etwa 500 Quadratmeter reine Baufläche und kostet um die 200.000 Euro.“ Ein vergleichsweise niedriger Betrag, der Projektgegnern wenige Argumente geben dürfte.
Aber auch jenseits vom Geld gibt es, nach Schneestern, überzeugende zielführende Argumente. Bei durchschnittlicher Nutzerzahl ergeben sich im Jahr unzählige Stunden, in denen die Kids nicht auf ein Handydisplay gucken und stattdessen beim Spiel Millionen von Kalorien verbrauchen, was ihrer Gesundheit zugutekommt. In größeren Städten könne man sogar mit dreimal so viel Nutzungsintensität rechnen wie in kleinen Gemeinden.

Ein Urban Sports Park, wie hier in Salem, ist ein vielseitiges Rollsportangebot für alle Altersgruppen.

Förderung derzeit einfach

Professor Robin Kähler ist Vorsitzender der IAKS (International Association for Sports and Leisure Facilities). Das ist ein internationaler Verband aus Unternehmen, Kommunen, Vereinen und Dienstleistern, die sich für Sportstätten und Bewegungsräume auf vielerlei Ebenen einsetzen. Kähler weiß: Momentan werden Sportstätten und Bewegungsräume sehr gut gefördert. Allerdings gibt es bei Letzteren mehr Erklärungsbedarf, weil, wie wir schon gesehen haben, Skateparks und Pumptracks bei den Entscheider*innen noch nicht so präsent sind.
Dabei müsste Radfahren aber als Ganzes umfassender gefördert werden, fordert Kähler. Wichtig sei es, Institutionen wie den ADFC mit einzubinden. „Ein Netzwerk hilft da weiter“, sagt er.
Ein wesentlicher Punkt in der deutschen Administration: Es gibt bislang keine einheitlichen Förderstrukturen für Skate-Anlagen, Dirtparks oder Pumptracks. Das muss aber nicht nur von Nachteil sein, meint Projektleiter Schlüter aus Kempten. „Sprecht immer mit den zuständigen Leuten“, erklärt er. Kommunikation mit den direkten Ansprechpartnern, auch jenseits der üblichen Instanzen, zählt besonders da, wo feste Förderungsstrukturen nicht vorhanden sind und Förderung davon abhängt, wie klar die Wichtigkeit des Projekts zu erkennen ist.

Städteplanung ist kein Wunschkonzert? Manchmal doch!

Wünsche können in Erfüllung gehen, auch was den städtischen Raum anbelangt: „Wir brauchen eine Jumpline für Kids!“ schrieben zwei Schulkinder in Kempten an den Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr, Stephan Schlüter. Gemeint ist dabei ein Mountainbike- oder BMX-Rad-Parcours mit Sprunghügel für Kinder. Schlüter wollte das Projekt ausführen, andere Stellen hatten Gründe dagegen. Der Oberbürgermeister der Stadt, selbst Lehrer und mit dem Bewegungsdefizit der Schülerinnen vertraut, wusste: Die jungen Menschen in Stadt brauchen einen solchen Park. Innerhalb weniger Monate wurde ein entsprechender Park mit Jumpline umgesetzt. „Das konnten wir“, erzählt der Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr, „weil wir visionär gearbeitet haben“. Soll heißen: Eine erste Planung für urbane Bike-Angebote lag im Tiefbauamt, dessen Ent-scheiderinnen einen entsprechenden Bedarf schon geahnt hatten, bereits in der Schublade und konnte den entsprechenden Gremien rasch vorgelegt werden. Dazu kommt: Schlüters Abteilung sitzt im Tiefbauamt Kempten. „Wir können vieles bereits auf dem kurzen Dienstweg klären.“

In Zukunft wird noch mehr gepumpt

„Grundsätzlich hat sich die Einstellung von Kommunen zu Anlagen wie Pumptracks und Rollsport-Flächen klar zum Positiven verändert“, erklärt Dirk Scheumann, Gründer und CEO des Unternehmens Schneestern, das Action Sports Parks plant und baut oder bei solchen Projekten unterstützt. Dass diese Bewegungsräume in den letzten Jahren einen Boom erfuhren, sieht er als logisch an, unabhängig von zeitweiligen Einflüssen wie der Corona-Pandemie. „Da sind auch ein paar technische Entwicklungen zusammengekommen“, sagt er und verweist beispielhaft auf den Scooter, mit dem die Kids ihre Tricks machen – ein Produkt, das so vielleicht zehn Jahre alt ist. Dazu kommen die verschiedensten Versionen des Fahrrads von BMX bis zum Dirt Bike. Scheumann glaubt, dass sich die positive Entwicklung zu mehr Flächen für die Jugendlichen und Kinder noch verstärken wird. Zum einen durch das wachsende allgemeine Verständnis, dass auch diese Bewegungsräume gebraucht werden, zum anderen, weil auch eine Weiterentwicklung dieser Flächen ansteht: „Heute treffen im Skatepark Biker oder Skater auf spielende Kinder“, erklärt er. „Da gibt es durchaus Konfliktpotenzial.“ Für eine breitere Nutzung müssen auch für die jüngeren Nutzerinnen bedarfsgerechtere Möglichkeiten geschaffen werden. Dazu will Schneestern schon bald ein neues Produkt vorstellen, das zusammen mit Wissenschaftlerinnen entwickelt wurde. Denn klar ist: Je jünger die Menschen sind, die den Spaß an der Bewegung erleben können, umso gesünder wird und bleibt unsere Gesellschaft. Und desto besser stehen die Chancen für ein Gelingen der Mobilitätswende.


Bilder: Matthias Schwarz, Vanessa Zeller, Janik Steiner, Matthias-Schwarz

Radfahren wird im politischen und gesellschaftlichen Kontext vor allem als verkehrstechnische Chance und Herausforderung behandelt. Das Potenzial des Fahrrads zur Eindämmung vieler Volkskrankheiten wird hingegen in der öffentlichen Diskussion seltener beachtet. Daran ist auch das Ressortdenken in Politik und Verwaltung mitschuldig. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Das von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlene Mindestmaß an Bewegung liegt bei 150 Minuten intensiver Bewegung bei gleichzeitig zweimaligem Krafttraining pro Woche. In Deutschland erreichen nur 20 % der erwachsenen Bevölkerung dieses Ziel im Alltag. Bei Kindern und Jugendlichen sieht es kaum besser aus. Schon vor der Covid-19-Pandemie bewegten sich zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen nicht genug. Seit 2020 hat sich die Situation noch verschärft: Im vergangenen Jahr stellten verschiedene Studien fest, dass sich die Hälfte der Kinder noch weniger bewegt als vor der Pandemie, 25 % essen mehr Süßigkeiten, jedes sechste Kind leidet unter Gewichtszunahme.
Welche Konsequenzen die Bewegungsarmut der nachwachsenden Generationen für die Zukunft der Gesellschaft haben wird, ist in der Gesamtheit bisher kaum abzuschätzen. Aktuelle Studien zu den geschätzten Folgekosten oder zum volkswirtschaftlichen Nutzen von Sport und Bewegung im Allgemeinen gibt es kaum. Der „Global Status Report on Physical Activity“ der WHO von 2022 geht jedoch davon aus, dass in der aktuellen Dekade weltweit 500 Millionen Menschen unter Zivilisationskrankheiten leiden werden. Dabei geht die WHO von Folgekosten in Höhe von 27 Mrd. US-Dollar für die Behandlung unter anderem von Herz-Kreislauf-Leiden, Adipositas und Diabetes aus, welche hauptsächlich für die entwickelten Industrieländer anfallen werden. Wissenschaftler*innen mahnen schon seit Jahren, dass es eines Paradigmenwechsels hin zu mehr Bewegung bedarf.

Dienstrad-Leasing schafft nicht nur zusätzliche Anreize für Arbeitnehmer*innen, sondern zahlt positiv auch unmittelbar auf die Krankheitstage der Beschäftigen ein.

Politik und Bewegung

Verkehrspolitik sei bislang sehr technisch geprägt, sagt die Bundestagsabgeordnete Swantje Michaelsen. Die Grünen-Politikerin ist Co-Vorsitzende des Parlamentskreises Fahrrad im Bundestag und Mitglied des Verkehrsausschusses. Das Fahrrad als Querschnittsthema habe es schwer in einem von Ressortdenken geprägten System. Die engen festgelegten Zuständigkeiten erschweren eine ressortübergreifende Zusammenarbeit. Dies sehe sie auch im Gesundheitsbereich, in dem wiederum das Thema Alltagsmobilität zu kurz käme. Um in diesem politischen Koordinatensystem systemische Veränderungen zu initiieren, bedürfe es einer enormen Anstrengung. Auf Initiative einiger fahrradaffiner Gesundheitspolitiker*innen wird nun die nächste Sitzung des überparteilichen Parlamentskreises zu dem Thema „Fahrrad und Gesundheit“ ausgerichtet. Anzeichen für ein Umdenken also. Offenbar auch seitens des Bundesministers für Gesundheit – zugesagt hat auch Sabine Dittmar, parlamentarische Staatssekretärin des Ministers.

Die Sportwissenschaftlerin Susanne Tittlbach hat zusammen mit Kollegen ermittelt, dass ein per Rad zurückgelegter Arbeitsweg das Gesamtmortalitätsrisiko im Vergleich zum Gehen um mehr als das Doppelte reduziert.

Fahrradfahren als Beitrag zum Kampf gegen Bewegungsarmut

In einem demnächst erscheinenden Artikel haben sich die wissenschaftler*innen Professorin Susanne Tittlbach, Dr. Julia Lohmann und Professor Peter Kuhn mit dem Thema „Bewegung, Gesundheit und Nachhaltigkeit“ auseinandergesetzt. Sie beschäftigen sich auch mit dem Thema Fahrradmobilität als Verknüpfung von Bewegung, Gesundheit und Nachhaltigkeit. In der mit dem Fahrrad praktizierten aktiven Mobilität sehen sie eine große Chance für die Bekämpfung von Bewegungsarmut.
Sowohl aus der Perspektive der Public Health als auch der Global Health könne man auf eine Reihe positiver Faktoren verweisen. Auch wenn das Radfahren im Alltag das Krafttraining als einen Teil der WHO-Bewegungsempfehlungen nicht ersetzen kann, wäre der Aspekt der ausdauerorientierten Aktivität der WHO-Bewegungsempfehlung über die Woche allein über die Arbeitswege erreichbar, wenn an fünf Tagen ein je 15-minütiger Hin- und Rückweg zur Arbeit aktiv mit dem Rad zurückgelegt würde.
„Ein per Rad zurückgelegter Arbeitsweg senkt das Gesamtmortalitätsrisiko um mehr als das Doppelte im Vergleich zum Gehen. Zusätzlich sind weitere Präventionseffekte möglich, beispielsweise auf Diabetes- oder Krebsrisiko, auf welches ausschließliches Gehen im Alltag keine signifikanten Effekte aufweisen konnte“, heißt es in dem zuvor erwähnten Artikel. Infrastrukturelle Voraussetzungen für einen Arbeitsweg per Fahrrad zu verbessern, lohnt sich also auch aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Hinzu kommt der positive Einfluss auf die mentale Gesundheit. Laut Tittlbach, Lohmann und Kuhn zeigen sich in den wenigen vorhandenen Studien dazu „positive Assoziationen von aktiver Mobilität mit mentaler Gesundheit, kognitiven Fähigkeiten und geringer wahrgenommenem Stress“. Dies können Fahrradfahrende leicht aus eigener Erfahrung bestätigen. Mit dem Rad ließen sich also die gesellschaftlichen Folgekosten von Bewegungsarmut buchstäblich „runterfahren“.

Initiativen wie die Aktion Fahrrad wollen das Fahrrad an den Schulen nicht nur als Verkehrsmittel, sondern auch als Sportgerät stärker verankern.

Das Fahrrad in der Bildung

„Bildungspolitik ist die beste Sozialpolitik. Sie ist auch die beste Wirtschaftspolitik, die beste Klimaschutzpolitik“, sagte die Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) Jutta Allmendinger jüngst im Interview. Ebenso wie Gesundheitspolitik, könnte man ergänzen. Doch gerade im Bildungsbereich hat Bewegung in Form des Sportunterrichtes eine schwache Position. Schulen haben zum Teil keine benutzbare Sporthalle, oft wird der Unterricht von fachfremden Lehrerinnen ausgeübt. Es verwundert kaum, dass sich das im gesundheitlichen Status von Kindern und Jugendlichen niederschlägt. Die Active Healthy Kids Global Alliance, eine internationale Vereinigung von Wissenschaftlerinnen, hat in der Global Matrix 4.0 den Status der körperlichen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen untersucht und konnte trotz relativ guter Voraussetzungen hinsichtlich der Rahmenbedingungen hierzulande nur die Note 4 vergeben.
Verkehrsverbände wie der VCD und der ADFC und auch einige Krankenkassen haben sich auf die Förderung aktiver Mobilität auf dem Schulweg der Kinder konzentriert. Diesen mit dem Fahrrad zu erfahren, verringert nicht nur die durch Elterntaxis verursachten Autounfälle. Positive Gesundheitswirkungen sind auch im physischen und psychosozialen Bereich nachweisbar, etwa im Hinblick auf körperliche Fitness, der kognitiven Leistungsfähigkeit und dem Sozialverhalten. Signifikant ist auch die damit einhergehende Abnahme von Verkehrsunfällen und verunfallten Kindern in der Nähe von Schulen.
Man könnte jedoch mit dem Fahrrad auch direkt in die Schule vordringen: Eine Integration des Fahrrades in den Sportunterricht würde gesundheitspolitisch ebenso wie verkehrstechnisch positive Effekte haben. Radfahren als Kulturtechnik ist ebenso wie Schwimmen enorm wichtig. Ihm komme für die Ausprägung einer Bewegungskompetenz eine große Bedeutung zu, so Professor Tittlbach im Interview. Doch das Fahrradfahren sei zwar als Wahlfach sehr beliebt, im Sportartenkanon aber nicht obligatorischer Bestandteil der Lehrerinnenausbildung. In Berlin kann man inzwischen an einigen Schulen bereits Radfahren als Abiturfach belegen. Weiteres Potenzial für die Integration des Fahrrades in den schulischen Bereich könnte auch über das Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) erschlossen werden, welches ab 2026 schrittweise rechtskräftig werden wird. In der Umsetzung stellt das Gesetz die Schulbetreiber vor enorme Herausforderungen. Ohne externe Partnerinnen wird eine hochwertige Einbindung von Bewegungskonzepten in den Ganztagsbereich kaum möglich sein. Hier sind zum einen die Radsportverbände gefragt, welche ohnehin über Nachwuchssorgen klagen. Aber auch der VCD könnte hier seine Erfahrung in der Mobilitätsbildungsarbeit einbringen, so Anika Meenken vom VCD. Die dringend nötige personelle Unterstützung könnte aber auch aus der fahrradaffinen Zivilgesellschaft kommen. Je nach geografischer Verortung ist eine Heranführung ans Mountainbike oder ans BMX auch unter dem Aspekt der Ausbildung zukünftiger Olympioniken vielversprechend. Eine Einbindung des Einrades oder von Mannschafts-Ballsportarten wie Radball oder Radpolo könnte auch der Popularität der Radsportarten nutzen. Denkbar ist auch eine Kooperation mit der Fahrradwirtschaft, immerhin ist ein Heranführen von Kindern an das Fahrrad auch für sie nicht unwichtig. E-Scooter und andere relativ neue Formen der Mikromobilität stehen ebenfalls bereit, den Kund*innen von morgen flexible Mobilität zu ermöglichen.

Projekte zur Stärkung des Fahrradfahrens für Kinder und Jugendliche

Das Projekt „Zu Fuß und mit dem Fahrrad zur Schule und zum Kindergarten“ ist eine Mitmachaktion für Kinder, die seit knapp 20 Jahren vom Deutschen Kinderhilfswerk und dem VCD durchgeführt wird. Jeden September werden Schulklassen und Kindergartengruppen zu Aktionen aufgerufen, bei denen sie lernen, den Weg zum Kindergarten oder zur Schule selbst zurückzulegen.

www.zu-fuss-zur-schule.de

„FahrRad! Fürs Klima auf Tour“ ist ein Fahrradkilometer-Wettbewerb für Jugendgruppen. Ziel ist es, gemeinsam möglichst viele Fahrradkilometer zu sammeln. Jeder geradelte Kilometer wird zusammengerechnet und ins Internet übertragen.

www.klima-tour.de

Der VCD Bildungsservice bietet umfangreiche Lehr- und Lernmaterialien rund um das Thema nachhaltige Mobilität vom Kindergarten bis zur Berufs- und Hochschule und für außerschulische Bildungseinrichtungen.

bildungsservice.org

Eine weitere Aktion ist die Kidical Mass, die zweimal jährlich von einem breiten Aktionsbündnis, dem auch ADFC und VCD angehören, organisiert wird.

kinderaufsrad.org

Außerdem gibt es die AKTIONfahrRAD , die gemeinsam mit Partnerinnen aus der Fahrradwirtschaft deutschlandweit (Schul-)Projekte wie beispielsweise die Schoolbikers umsetzt, Schulen Fahrräder zur Verfügung stellt und sich in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen engagiert.

www.aktionfahrrad.de

Gesunde Arbeitnehmer*innen

Schon 2016 belegte eine Studie, wie sehr Radfahrende im ökonomischen Interesse von Arbeitgeberinnen liegen. Menschen, die ihren Arbeitsweg ganzjährig zu Fuß oder mit dem Rad zurücklegen, wiesen durchschnittlich zwei Krankheitstage weniger auf, haben einen niedrigeren BMI-Wert, sind zufriedener und bleiben länger arbeitsfähig. Den Grünen Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar veranlasste diese positive Bilanz zu der Forderung nach einem zusätzlichen Urlaubstag für alle, die regelmäßig mit dem Rad zur Arbeit fahren. Seine Forderung wurde damals auch aus Angst vor einer „Gesundheitspolizei“ abgewiesen. In Anbetracht einer längeren Lebensarbeitszeit und des demografischen Wandels wird das Thema Gesundheit im Arbeitskontext jedoch weiter an Bedeutung gewinnen.
Der Gesetzgeber hat in den letzten Jahren eine Reihe von steuer- und beitragsfreien Zuschüssen zur Gesundheitsförderung von Beschäftigten ins Leben gerufen. Diese Präventionsmaßnahmen und finanziellen Anreize kommen aber der Bewegungsförderung mit dem Fahrrad nicht zugute. Hier wäre ein Inspirationsschub in Richtung Fahrrad für die Politik hilfreich.
Die gängigste Maßnahme, die Arbeitgeberinnen zur Förderung des Fahrrades zur Hand haben, ist das Dienstrad-Leasing. Mit ihm wird betriebliche Mobilität ebenso wie der Verkauf hochwertiger Fahrräder gefördert. Doch nur 4 Prozent der Bevölkerung können bislang von entsprechenden Angeboten profitieren. Betrachtet man es genau, ist ein klarer Objektfokus auf das Fahrrad erkennbar; die Gesundheit der Fahrradfahrenden steht dabei nicht im Mittelpunkt. Wie oft das geleaste Rad am Ende tatsächlich bewegt wird, ist weder für den Gesetzgeber und Arbeitgeberinnen noch für die Fahrradwirtschaft entscheidend. Technisch betrachtet wäre die Erfassung der real gefahrenen Kilometer durchaus machbar und beispielsweise als Grundlage für Boni der Krankenkassen denkbar.

Ein praktischer Blick nach vorn

Für Kommunen ergäbe sich durch die Wertschätzung der bewegungsfördernden Effekte des Fahrrades eine zusätzliche Motivation und Argumentation für den Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur. Auch neue Fördertöpfe ließen sich durch einen Fokus auf den Bereich Gesundheit und Bewegungsförderung bereitstellen oder zielführend abschöpfen. Ebenso sollten strategische Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention Fahrradmobilität mit einbinden. Ein Beispiel hierfür ist der Entwicklungsplan Sport, in dem das Potenzial des Fahrrades unbedingt sichtbar sein sollte.
Die Fahrradwirtschaft hätte die Option, ihren Beitrag zur Bewegungsförderung jenseits des Verkaufens von Fahrrädern auszuweiten. Eine Möglichkeit hierfür wäre etwa eine Verstärkung des kommunalen Engagements, beispielsweise durch Aktionen pro Fahrrad in Schulen und Sportvereinen. Auch ehrenamtliches Engagement, das im Bereich „Sport und Bewegung“ auf eine lange Tradition zurückblicken kann, würde das Fahrrad als Thema stärken und Kinder bewegen. Da in den Kommunen die tatsächliche Förderung von Bewegung und der Ausbau von Radwegen geschieht, lohnt sich hier ein Kulturwandel hin zu einer aktiveren Stärkung des Themas Fahrrad absolut.
Letztendlich muss es darum gehen, die große Gruppe der potenziell Interessierten aber durch die schlechte Infrastruktur vom Radfahren abgehaltenen Menschen zur (häufigeren) Nutzung des Fahrrades zu motivieren. Unter dieser Zielsetzung sind Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und auch kreative Köpfe gefragt. Ein moralischer Zeigefinger wird niemanden auf das Rad bringen; hier braucht es eine gute Story, weiterhin einen interdisziplinären Ansatz, gute Zusammenarbeit der Stakeholder und Geld. Eine Einbeziehung des gesundheitsfördernden Aspektes in die Arbeit pro Fahrrad könnte einen Beitrag für diesen Paradigmenwechsel leisten.


Bilder: stock.adobe.com – Kara, Jobrad, Stefan Dörfler, Aktion Fahrrad, Grafik Quelle: Institut für Generationenforschung

Die Verkehrserziehung ist seit vielen Jahren ein fester Teil der Schulbildung in Deutschland. Expert*innen kritisieren jedoch den darin enthaltenen Ansatz, den Kindern die Verantwortung für ihre Verkehrssicherheit in die Hände zu legen. Das noch junge Konzept der Mobilitätsbildung setzt deshalb weitergehende Aspekte, wie beispielsweise die Einbindung der Kinderperspektive bei der Verkehrsplanung. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Um die Notwendigkeit einer Verkehrswende in die breite Gesellschaft zu tragen, ist es wichtig, bereits bei den Jüngsten anzusetzen. Das Thema Verkehr ist seit Jahrzehnten in der Grundschule verankert, wurde jedoch lange auf das Erlernen von Regeln und Verhaltensweisen reduziert. Inzwischen haben einige Bundesländer, darunter Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, ein umfassenderes Verständnis entwickelt und sich Mobilitätsbildung auf die Fahnen geschrieben. In Berlin hat es Mobilitätsbildung sogar in das Mobilitätsgesetz geschafft, das 2018 verabschiedet wurde und den Umweltverbund fördern soll. Demnach soll Mobilitätsbildung alle Bewohnerin-nen dazu befähigen „ihre Mobilitätsbedürfnisse sicher, verantwortungsbewusst, selbstbestimmt, stadt-, umwelt- sowie klimaverträglich ausgestalten zu können“. Mobilitätsbildung geht weit darüber hinaus, was herkömmlich unter dem Schlagwort „Verkehrserziehung“ in der Schule behandelt wurde. Dringender Reformbedarf ergibt sich daraus auch für das Kernelement der schulischen Beschäftigung mit Verkehr: die Radfahrausbildung im vierten Schuljahr. Die Radfahrausbildung setzt sich in ganz Deutschland aus einem theoretischen sowie einem praktischen Anteil zusammen. Der Fahrradexperte Dr. Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule bezeichnet die Radfahrausbildung als ein „schulisches Highlight“, dennoch äußern er und weitere Expertinnen Kritik. Sie bemängeln den späten Zeitpunkt, die geringe Fahrpraxis, den Prüfungscharakter und bezeichnen die Ausbildung als wenig kindgerecht.

Ein Radverkehr-Check, wie er im Projekt durchgeführt wurde, könnte als Teil einer umfassenderen Mobilitätsbildung eine neue inhaltliche Dimension bewirken. Die Kinder setzen sich dabei nicht nur mit Verkehrsregeln und Verhaltensweisen
auseinander, sondern auch mit ihren Bedürfnissen und Ideen für eine fahrradfreundliche Kommune.

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen

Höchst problematisch ist zudem der Fokus auf das sichere Verhalten von Kindern, das gilt nicht nur für die Radfahrausbildung, sondern allgemein für die Verkehrssicherheitsarbeit. Von Kindern wird im Straßenverkehr ein Verhalten erwartet, das sie aufgrund ihrer noch nicht ausgereiften motorischen und kognitiven Fähigkeiten gar nicht leisten können. Die Verantwortung für Verkehrssicherheit kann somit nicht in die Hände von Kindern gelegt werden. Das verkehrssichere Kind gibt es nicht, „wohl aber die Möglichkeit, die Verkehrsinfrastruktur so zu gestalten, dass Kinder sowie alle anderen Menschen sich sicher und gerne bewegen können“, betont Oliver Schwedes, Gastprofessor für Integrierte Verkehrsplanung und -politik an der TU Berlin.
Maßnahmen zur Schulwegsicherheit sollen dafür sorgen, dass Kinder sicher und selbstständig zur Schule kommen. Dabei erhält der Radverkehr, vor allem im Grundschulbereich, bislang wenig Aufmerksamkeit. Oft wird angenommen, dass Kinder erst mit Abschluss der Radfahrausbildung in der vierten Klasse das Fahrrad als Transportmittel und nicht nur als Spielgerät nutzen. Teilweise wird ihnen die frühere Nutzung sogar explizit durch die Schulleitung untersagt. Analysen zum Mobilitätsverhalten in Deutschland zeigen, dass elf Prozent der Wege von Kindern im Alter von sechs bis neun Jahren mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. In den Niederlanden sind es hingegen rund ein Drittel – am Alter allein kann es also nicht liegen, dass nicht noch mehr Kinder Fahrrad fahren. Diese Zahlen zeigen, dass wir dringend kinderfreundlichere Radinfrastruktur benötigen. Denn Mobilitätsgewohnheiten werden früh gebildet: Wer schon als Kind das Rad nutzt, wird dies eher auch im Erwachsenenalter tun.
Die Bedürfnisse von Kindern gehen über die Bedürfnisse manch anderer Radfahrender hinaus. Komplexe Handlungsabläufe sind für sie herausfordernder. Verkehrsschilder und -regeln zu erfassen und angemessen darauf zu reagieren, braucht längere Zeit und kann überfordern. Auch die nonverbale Kommunikation, die im Straßenverkehr eine wesentliche Rolle spielt, müssen Kinder erst erlernen. Unvorhergesehene Situationen, wie ein im Weg stehendes Auto, können schnell zu viel sein. Sie eignen sich Verhaltensweisen an, indem sie Routinen in einer vertrauten Umgebung erlernen. Versperrt ein Auto ihren Weg, wissen sie unter Umständen nicht, wie sie mit dieser unerwarteten Situation umgehen sollen. Durch ihre besonderen Bedürfnisse bereitet ihnen zum Beispiel das Fahren im Mischverkehr oder auf Busspuren größere Schwierigkeiten. Stress und Unsicherheit sind die Folge. Hinzu kommt, dass sie durch ihre geringe Körpergröße leichter übersehen werden.
Für Kinder ist deshalb eine sichere, intuitive und fehlertolerante Verkehrsinfrastruktur wichtig. „Radwege müssen gut geschützt und gleichzeitig deutlich erkennbar sein, Kreuzungen übersichtlich gestaltet, Geschwindigkeiten reduziert und Verkehrsregeln klar kommuniziert werden. Sichtbeziehungen spielen eine zentrale Rolle, damit Kinder die Möglichkeit haben, den Verkehr zu überblicken, und von anderen Verkehrsteilnehmenden gesehen werden“, so Oliver Schwedes.

Für viele bedeutet die Fahrradstraße entspanntes Radfahren, doch die Grundschüler*innen sehen auch negative Aspekte. Anstelle der Querungsmöglichkeit, haben sich die Kinder einen Zebrastreifen gewünscht, damit sie sicher über die Straße kommen können. In der Schulumgebung gibt es zudem viele Straßen mit Kopfsteinpflaster.

Kindgerechte Infrastruktur durch Beteiligung

Die Einbindung von Kindern in Planungsprozesse ermöglicht, ihre Bedürfnisse stärker zu beachten. Angeregt durch die Frage, wie Mobilitätsbildung konkret umgesetzt werden kann, führen das Fachgebiet für Integrierte Verkehrsplanung der Technischen Universität Berlin sowie der Arbeitsbereich Sachunterricht und seine Didaktik der Humboldt-Universität zu Berlin seit 2020 gemeinsam ein Forschungs- und Umsetzungsprojekt zum Thema durch. Dabei wurde die Partizipation der Kinder als ein wesentliches Kernelement der Mobilitätsbildung identifiziert.
Um Praktikerinnen eine Methode an die Hand zu geben, Kinder aktiv einzubinden, wurde von den Forscherinnen ein Radverkehr-Check entwickelt. Ziel ist es dabei, die Qualität der Radverkehrsinfrastruktur aus Sicht der Kinder zu bewerten. Projekttage zum Thema Fahrrad an einer Grundschule boten die Chance, das Konzept zu testen. Ausgestattet mit Kamera, Klemmbrett und Zollstock zogen die Kinder los, um die Umgebung der Schule zu untersuchen. Besonders die neu eingerichtete Fahrradstraße direkt vor ihrer Schule erhielt ihre Aufmerksamkeit.
Zuvor gab es dort für den Radverkehr wenig Platz. Sie mussten sich mit einem schmalen Streifen neben dem Gehweg begnügen. Die Umwidmung zur Fahrradstraße wurde von Radfahrenden begrüßt: Endlich geht die Mobilitätswende voran, der Radverkehr wird ernst genommen und ihnen mehr Platz und Sichtbarkeit zugeteilt. Anlieger dürfen die Fahrradstraße weiterhin mit dem Auto befahren, allerdings nur in eine Richtung. Eine Durchfahrtsperre soll den Autoverkehr weiter reduzieren. Auf dem alten Radweg wurden Bäume gepflanzt. Die Viertklässler*innen der anliegenden Grundschule jedoch hatten gemischte Gefühle. Einige sagten, sie mochten den alten Radweg auch gerne. Dort fühlten sie sich geschützter. „Manche Kinder wollen nicht so gerne auf der Straße fahren, weil da immer noch Autos fahren. Die müssen jetzt um die Menschen auf dem Gehweg herumfahren. Da ist aber gar nicht mehr genug Platz dafür, dass man da mit dem Fahrrad fährt“, erklärte ein Mädchen. Mehrmals täglich müssen die Kinder die Straße überqueren, um Schulgebäude auf der anderen Seite zu erreichen. Deshalb hatten sie sich für einen Zebrastreifen eingesetzt. Im Zuge der Umwidmung wurde zwar eine ausgewiesene Querungsmöglichkeit eingerichtet, doch das reicht ihnen nicht. Die Radfahrenden übersehen die Kinder, halten nicht an und das Überqueren der Straße bleibt eine Herausforderung.

„Die Verkehrsinfrastruktur so gestalten, dass Kinder sowie alle anderen Menschen sich sicher und gerne bewegen können“

Prof. Dr. Oliver Schwedes, Technische Universität Berlin

Kinder als Qualitätsmaßstab

Die Gedanken der Kinder zur neuen Fahrradstraße zeigen, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse gehört werden müssen, damit kinderfreundliche Infrastruktur entstehen kann. Die Beteiligung von Kindern in Planungsprozessen stellt auch eine große Chance dar, die Ansprüche weiterer Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen. Eine Einteilung in vier verschiedene Radfahrtypen in Portland/Oregon (USA) hat ergeben, dass etwa zwei Drittel der Befragten zur Gruppe derjenigen gehört, die „interessiert, aber besorgt“ sind. Diese haben grundsätzlich Interesse am Fahrradfahren, würden gerne öfter das Rad nehmen, trauen sich aber nur auf besonders sicheren Radwegen zu fahren. Radfahrinfrastruktur, die die Bedürfnisse von Kindern berücksichtigt, wird auch den hohen Anforderungen dieses Typs gerecht. Kinder können damit der Maßstab für die Qualität der Radverkehrsanlagen sein. Wer Verkehrsinfrastruktur kindgerecht gestaltet, baut somit nicht nur für Kinder, die vermehrt auch im Erwachsenenalter das Fahrrad nutzen, sondern auch für all diejenigen, die sich heute (noch) nicht auf das Fahrrad trauen. Daher können Kinder stellvertretend für die Gruppe der „Interessierten, aber Besorgten“ sprechen, die in Beteiligungsprozessen mitunter schwer zu erreichen sind.
Um die Bedürfnisse von Kindern bei der Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur stärker in den Blick zu nehmen, bietet schulisches Mobilitätsmanagement Raum. Dabei geht es nicht nur um die Verbesserung der Verkehrssicherheit. Ziel schulischen Mobilitätsmanagements ist es auch, nachhaltiges Mobilitätsverhalten zu fördern und motorische, kognitive sowie psycho-soziale Kompetenzen der Kinder zu stärken.
Die Verkehrsplanerin Katalin Saary, die Erfahrungen in der Erarbeitung und Umsetzung von Schulmobilitätsplänen hat, bezeichnet schulisches Mobilitätsmanagement als einen wichtigen Baustein der Verkehrswende. Da Kinder noch nicht Auto fahren können, sind sie auf das Rad, den ÖPNV und das Zufußgehen angewiesen, wenn sie selbstständig unterwegs sein wollen. Das bedeutet, dass Verkehrsplanung, die sich an Kindern orientiert, immer eine Förderung des Umweltverbunds beinhaltet. Als Voraussetzung sieht sie allerdings, dass schulisches Mobilitätsmanagement als Instrument ernst genommen wird: „Damit Kinder selbstständig mobil sein können, muss der öffentliche Raum entsprechend ertüchtigt werden. Wenn die Kommunen sich dieser Aufgabe annehmen, dann wären wir bei der Verkehrswende erfolgreich. Kinder haben keine Alternative als Fuß, Rad und ÖPNV. Das heißt, ich muss eine für sie geeignete Verkehrsinfrastruktur gestalten, das Auto eingrenzen und schaffe so dann auch gleich die Voraussetzungen, dass auch alle anderen sicher unterwegs sein können.“
Planungsbüros werden beim schulischen Mobilitätsmanagement involviert, um sichere Schulwege zu planen, bestehende Konzepte an die Besonderheiten der Schulumgebung anzupassen und umzusetzen. Dieser Rahmen eignet sich gut, um Kinder in die Planung einzubeziehen. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise ein Radverkehr-Check während der Radfahrausbildung, wie er im Forschungsprojekt durchgeführt wurde. Dabei erhält einerseits die Radfahrausbildung eine neue inhaltliche Dimension. Die Kinder setzen sich nicht nur mit Verkehrsregeln und Verhaltensweisen auseinander, sondern auch mit ihren Bedürfnissen und Ideen für eine fahrradfreundliche Kommune. Idealerweise können sie erleben, wie sie durch ihre aktive Mitwirkung ihre Umgebung mitgestalten können. Dadurch kann die Radfahrausbildung im Sinne einer umfassenden Mobilitätsbildung aufgewertet werden. Auf der anderen Seite werden auf der Planungsebene wertvolle Informationen gesammelt, wie die Radinfrastruktur vor Ort gestaltet werden muss, damit sich auch die Schwächsten der Verkehrsteilnehmenden auf das Rad trauen.
Schulisches Mobilitätsmanagement hat in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebt und wird in immer mehr Bundesländern angewandt. Aktuell erarbeiten sowohl Hamburg als auch Berlin neue Konzepte für schulisches Mobilitätsmanagement. In Berlin wurde der Ansatz in das Mobilitätsgesetz aufgenommen. Darin wird hervorgehoben, dass die Perspektiven der Kinder Beachtung finden sollen. Es wird klar: Eine kindgerechte Verkehrsinfrastruktur nimmt einen immer höheren Stellenwert ein. Sie sollte nicht nur als Pflichtprogramm für die Verkehrssicherheit der Kinder gesehen werden, sondern als Chance für qualitativ hochwertige Infrastruktur, die deutlich mehr Menschen als bisher auf das Rad locken kann.

Über das Projekt

Im Forschungsprojekt „Mobilitätsbildung – Entwicklung und Umsetzung von Lehr- und Lernansätzen zur Förderung des Umweltverbundes bei Kindern und Jugendlichen und der Qualifikation von (zukünftigen) Lehrkräften und Erzieherinnen“ der Humboldt-Universität zu Berlin und der Technischen Universität Berlin werden Bildungsmaterialien und Konzepte zum Thema Mobilitätsbildung entwickelt. Außerdem wurden Interviews mit Lehrkräften, Pädagoginnen und verschiedenen Expert*innen geführt. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) aus Mitteln zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans gefördert.

Mehr Informationen finden sich auf dem Forschungsblog:
https://mobild.hypotheses.org/.


Bilder: stock.adobe.com – D. Ott, www.pd-f.de – Luka Gorjup, TU Berlin

In den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten haben sich Städte immer wieder neu angepasst und neu erfunden: vor dem Hintergrund von technologischen und sozialen Entwicklungen, Kriegen, Epidemien, Naturkatastrophen, aber auch enormem wirtschaftlichen Wachstum, sprunghafter Bevölkerungszunahme und vielem anderen. Auch heute stehen die Städte vor einem hohen Transformationsdruck – besonders im Verkehrssektor. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Klimawandel. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Die Richtung, in die es bei der anstehenden Transformation der Städte gehen soll bzw. muss, ist in der breiten Bevölkerung noch nicht angekommen. Unter Fachleuten und zunehmend auch in der Politik und in den Verwaltungen gibt es hier jedoch inzwischen einen breiten Konsens, auch wenn über das Wie, das Wann und um die Finanzierung noch diskutiert und gestritten wird. Im Kern geht es dabei um die Notwendigkeit, Städte gleichzeitig klimaneutral zu machen und resilienter gegen die Auswirkungen des Klimawandels. Gegen große Hitzewellen mit Rekordtemperaturen und anhaltender Trockenheit, gegen Starkregen, Stürme und über die Ufer tretende Flüsse und Meere. Dazu kommt die demografische Entwicklung mit immer mehr Älteren und, nicht zu vernachlässigen, weitere wichtige Themen wie soziales Miteinander, allgemeine Lebensqualität und als Kernpunkt bezahlbare Mobilität für alle.

77 %

der Menschen in Deutschland
leben in Städten oder Ballungszentren.

Städte und Umland neu denken

Statistisch gesehen leben fast 70 Prozent aller Deutschen in Orten mit weniger als 100.000 Einwohnern. Warum also, so könnte man fragen, liegt der Fokus auch hierzulande auf den urbanen Zentren? Die Antwort liegt darin, dass im dicht besiedelten Deutschland mit 230 Menschen pro Quadratkilometer nicht klar abzugrenzen ist, wo die Stadt endet und wo das Land beginnt. 77 Prozent der Menschen leben in Städten oder Ballungsgebieten und nur 15 Prozent in Dörfern mit weniger als 5.000 Einwohnern. „Wir haben eine urbanisierte Gesellschaft. Das gilt auch für den ländlichen Raum“, sagt die Geografie-Professorin Ulrike Gerhard von der Universität Heidelberg. „Stadt und Umland gehören zusammen.“ Die Lebensweisen unterschieden sich kaum, Pendlerströme flössen in beide Richtungen. Das gilt in besonderem Maße für Kleinstädte und Dörfer in der Umgebung von Großstädten. Sie prosperieren, während anderswo ganze Regionen massiv unter Landflucht leiden. Vor diesem Hintergrund macht es sicher Sinn, sich über die Funktion von Städten und ihren Problemen Gedanken zu machen.
Einen anderen Ansatz stellen Stephan Jansen und Martha Wanat in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Bewegt Euch. Selber! Wie wir unsere Mobilität für gesunde und klimaneu-trale Städte neu erfinden können“ in den Mittelpunkt. Hier heißt es: „Städte sind die Stätten des Stresses, des Klimawandels, der Pandemien, aber eben seit ihrer Gründung auch die Orte der ganzheitlichen Gesundheit und der Innovation und Transformation für das, was wir Fort-Schritt nennen. Städte verdichten Probleme der Gesellschaft – und sind zugleich Lösungslabore dieser Probleme.“ Anknüpfend an Vordenker wie Prof. Dr. Jan Gehl (u.a. „Städte für Menschen“), Mikael Colville-Andersen (u.a. Copenhagenize) oder Prof. Dr. Carlos Moreno (Konzept 15-Minuten-Stadt) vertreten sie zudem ein Konzept, in dem die Rolle der Mobilität auf eine andere Art definiert wird. „Mobilität ist wichtig, weil sie überall verfügbar sein sollte, aber sie sollte nicht im Mittelpunkt stehen, so wie wir das mit dem Auto in den letzten 100 Jahren getan haben“, so Martha Marisa Wanat. „Im Vordergrund sollte immer das Soziale sein und immer die Lebensqualität der Bewohner*innen des Quartiers – mit Spiel- und Sportplätzen, Grünflächen, Cafés und Läden für Dinge des täglichen Bedarfs.“ Tatsächlich lässt anhand der Vergangenheit gut zeigen, wie sehr die Zunahme des Autoverkehrs dazu beigetragen hat, nachbarschaftliche Beziehungen zu zerstören, Rad- und Fußverkehr zu behindern und das Aussterben der Nahversorgung vor Ort voranzutreiben.

„Mobilität sollte nicht im Mittelpunkt stehen, so wie wir das mit dem Auto in den letzten 100 Jahren getan haben. Im Vordergrund sollte immer das Soziale sein und immer die Lebensqualität der Bewohner*innen des Quartiers.“

Martha Marisa Wanat

Gesunde Stadt der kurzen Wege

Anfang des Jahres hat AGFS-Vorständin Christine Fuchs im Veloplan-Interview (Ausgabe 01/2022) die neuen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e.V. beschrieben. „Unsere Vision ist die einer gesunden Stadt. Die Frage ist, wie vereinbaren wir die Bedürfnisse der Nahmobilität mit einer grünen Infrastruktur (…) sowie einer blauen Infrastruktur, mit der wir für eine Bewässerung sorgen und Städte besser vor Hochwasser schützen.“ Nicht zu vergessen seien neben Umweltgesichtspunkten auch Umfeldthemen, also Aufenthaltsqualität, Stadt der kurzen Wege, Bewegung, Sicherheit etc. „Wir vertreten die Auffassung, dass sich die Nahmobilität und die grüne und blaue Infrastruktur hervorragend ergänzen.“
Wie das aussehen kann, hat Carlos Moreno, Professor für komplexe Systeme und intelligente Städte an der Pariser Sorbonne ausgearbeitet und zusammen mit der Bürgermeisterin von Paris Anne Hidalgo in Teilen in der französischen Hauptstadt bereits umgesetzt. Die Stadt der Nahmobilität oder der kurzen Wege ist für ihn eine 15-Minuten-Stadt, das heißt alles, was die Menschen benötigen, ist innerhalb von einer Viertelstunde ohne Auto erreichbar – für das Umland geht er von 30 Minuten aus. Dieses Konzept beschreibt er als einen neuen, „holistischen“ Ansatz: Zum einen würde damit der nachhaltige Konsum in der Nachbarschaft gefördert und zum zweiten die Lebensqualität in den Quartieren und Stadtvierteln bleibend erhöht. Mit dem Konzept verbunden ist für ihn die Notwendigkeit, angesichts der Klimakrise unsere Gewohnheiten zu ändern. “Wir müssen einen neuen Lebensstil entwickeln“, erläutert Prof. Moreno. Die polyzentrische 15-Minuten-Stadt sei mit verschiedenen kaskadierenden Effekten dazu der richtige Weg. „Wir müssen einen neuen Weg aufzeigen, wir brauchen Transformation und wir brauchen ein Bekenntnis dazu.“

Die achtspurige Avenue des Champs Élysées zählt wohl zu den bekanntesten Stadtstraßen der Welt. Bis 2030 soll dort der Autoverkehr weitgehend verdrängt werden.

Großer Veränderungsdruck

„Die Politik und die Bevölkerung sind in Deutschland sehr träge, wenn es um Veränderungen im Verkehr geht“, sagt Lars Zimmermann vom Hamburger Büro Cities for Future. „Aber der Veränderungsdruck ist da und vielen ist klar, dass die Veränderungen viel schneller und stärker passieren müssen.“ Die Mission des Büros ist es, Städten, Gemeinden und Unternehmen zu helfen, die Klimaziele zu erreichen und damit gleichzeitig lebenswertere Städte zu gestalten. Für Lars Zimmermann, der fast ein Jahrzehnt in den Niederlanden gelebt hat, ist der Wandel möglich und machbar: „Die Zukunftsvision für Deutschland ist in den Niederlanden bereits Realität!“ Letztlich käme es auf den Willen an. „Der Wandel ist möglich, aber wir brauchen ein ganz anderes Tempo.“ Letztlich hätte die Corona-Pandemie eindeutig gezeigt, was alles machbar sei, wenn man Veränderungen wolle. Diese Erkenntnis lasse sich auch auf andere Bereiche übertragen. Dem Radverkehr müsse im Rahmen einer Gesamtstrategie eine höhere Priorität eingeräumt werden als dem Autoverkehr. Radfahren müsse als einfachste, logischste und selbstverständlichste Verkehrsart etabliert werden, die für alle den größten Benefit bietet. Insgesamt sieht er große Chancen für einen grundlegenden Wandel. „Die Ausgangsvoraussetzungen für Veränderungen waren noch nie so gut.“

Unternehmen reagieren

Den Veränderungsdruck spüren mittlerweile nicht nur Fachleute aus den Bereichen Stadtplanung und Verkehr oder Lokalpolitiker; auch die Unternehmen sehen für sich und mit Blick auf die Kundinnen und Kunden einen deutlichen Veränderungsbedarf. Bei größeren Unternehmen spielen dabei die ESG-Kriterien (Environmental Social Governance, deutsch: Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) der Vereinten Nationen bzw. die daraus resultierenden Maßnahmen der EU eine immer größere Rolle. Unternehmen müssen sich heute beispielsweise fragen, wie die Umweltbilanz ihres Fuhrparks aussieht oder wie die Mitarbeitenden ins Unternehmen kommen. Die Deutsche Telekom arbeitet beispielsweise aktuell an einer App für Mobility as a Service und will ab dem 1. Januar 2023 bei neuen Geschäftsfahrzeugen ausschließlich auf Elektromodelle setzen.
Auch der Handel sieht mehr und mehr die Notwendigkeit für kurze Wege und gute Erreichbarkeit ohne Auto. Beispiel Ikea: Statt großflächiger Häuser auf der grünen Wiese gibt es jetzt sogenannte Planungsstudios, die eine Brücke bauen zwischen dem Angebot im Internet und dem Erlebnis vor Ort. In den wenige Hundert Quadratmeter großen Geschäften wird ein ausgewähltes Sortiment gezeigt, inklusive Musteroberflächen oder -stoffen. Kunden können sich beraten lassen, planen und sich die ausgesuchte Einrichtung, alternativ zur klassischen Abholung, bequem nach Hause liefern oder auch direkt aufbauen lassen. Andere Anbieter, wie die Rewe-Gruppe, arbeiten im Lebensmittelhandel mit innovativen Filialkonzepten und speziell auf die Bedürfnisse vor Ort ausgerichteten Angeboten. Dazu gehören Mini-Shops in hochfrequentierten Lagen, wie Einkaufsstraßen, Bahnhöfen oder Tankstellen, ebenso wie Geschäfte mit einem breiten Feinkost-Sortiment und angeschlossener hochwertiger Gastronomie, die auch gut situierte Kunden zum Stöbern und Verweilen einlädt. Auch die Discounter drängen inzwischen in die Innenstädte und passen das Konzept und das Sortiment entsprechend an. Statt Großpackungen und Einkaufswagen gibt es alles für den täglichen Bedarf, Frischwaren und auch gekühlte Getränke. Dem Vernehmen nach arbeitet man sowohl bei Aldi als auch bei der Schwarz Gruppe (Lidl und Kaufland) mit Hochdruck daran, bestehende Filialen mit großen Parkflächen zu Lade- und Mobilitätsstationen auszubauen und viele kleine Filialen neu in den Vierteln und nah bei den Menschen zu eröffnen.

Die urbane Zukunft kommt

Wie sehen Städte und Stadtzentren künftig aus? Was folgt nach dem Niedergang der großen Kaufhäuser und wie gestaltet man die Transformation? Auch hier lohnt sicher ein Blick in die französische Hauptstadt. Bis 2030 zu den Olympischen Spielen in Paris 2024 soll die viel befahrene Champs-Élysées für 250 Millionen Euro komplett umgestaltet und zu dem werden, was sie einmal war: eine Prachtstraße mit viel Platz zum Flanieren und Verweilen – nicht nur für Touristen, sondern auch wieder für die Einwohner der Stadt. Wer nicht so lange warten will, kann sich auch bei der „Urban Future 2023“ informieren. Europas größtes Event für nachhaltige Städte findet im kommenden Jahr vom 21. bis 23. Juni in Stuttgart statt. Zur hochkarätigen Konferenz, auf der sich „Zukunftsmacher“ und „top-level city leaders from hundreds of cities in Germany, Europe and beyond“ treffen, werden 2.500 Gäste erwartet. Mehr unter urban-future.org


Bilder: stock.adobe.com – trattieritratti, PCA-Stream

Fahrradhersteller mit verkehrspolitischem Engagement sind eher noch die Ausnahme als die Regel. Doch es gibt sie, wie unter anderem der Spezialrad-Anbieter Hase Bikes beweist. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Es ist nicht so, dass Unternehmen der Fahrradbranche generell verkehrspolitisch desinteressiert wären. Das beweist allein schon die große Zahl an Marktteilnehmern, die sich im Zweirad-Industrie-Verband engagieren, der nicht zuletzt, seit der ehemalige ADFC-Frontmann Burkhard Stork dort das Ruder übernommen hat, deutlich verkehrspolitischer geworden ist. Oder sie sind Mitglied im Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF), der 2019 ursprünglich vor allem als Verband der Dienstleister im Fahrradmarkt gegründet wurde und inzwischen ein breites Themenfeld etwa von der Förderung von Cargobikes über die Digitalisierung der Mobilität bis hin zur multimodalen Verkehrsmittelnutzung bearbeitet.
Manche Unternehmen gehen noch einen großen Schritt weiter und werden selbst zum Bindeglied zwischen Zweiradwirtschaft und Verkehrspolitik. Vor allem vor Ort, also im eigenen regionalen Umfeld, können Unternehmen politisch und gesellschaftlich viel bewegen, das zeigen Unternehmen wie Hase Bikes.
„Mein Ding war das schon immer – Alltagsverkehr mit dem Fahrrad“, sagt Kirsten Hase, Marketingchefin des Spezialrad-Herstellers Hase Bikes. „Und ich habe mich schon als Azubi beim Weg in die Arbeit gefragt, ‚warum hört dieser Radweg hier einfach auf?‘ oder ‚warum sind diese Radwege so kaputt? Und wie kann ich etwas dagegen machen?‘“
„Wir haben schon früh damit angefangen, die Leute nicht nur für unsere Räder, sondern für das Fahrrad im Alltagsverkehr ganz allgemein zu sensibilisieren“, so Hase. Ein publikumswirksames Projekt war 2011 „3 Wochen – 3 Klimax“: Drei Personen wurde für drei Wochen ein „Klimax 5K“ des Unternehmens zur Verfügung gestellt. Das ist ein einfach zu handhabendes S-Pedelec auf drei Rädern mit umfangreichem Regenschutz. Als „Tauschpfand“ nahm Hase Bikes den Autoschlüssel in Verwahr. Eine der Testimonials war die damalige Bürgermeisterin von Waltrop, Anne Heck-Guthe. Leider litt damals wie heute die Praxistauglichkeit von S-Pedelecs unter der fehlenden In-frastruktur für diese Fahrzeuge, sicher ein Grund dafür, dass die Bürgermeisterin doch einige Male auf ihr Dienstauto zurückgriff.
Ein ähnliches Konzept stand hinter „Pino statt PKW“. Der Fokus stand diesmal auf dem wandelbaren Tandem Pino aus gleichem Haus. Bei diesem Fahrradmodell sitzt der Passagier oder die Passagierin in einem Liegesitz vor dem Fahrenden und tritt nach vorne. Mit wenigen Handgriffen und einer großen Ladetasche ist das Rad aber auch als Lastenrad einsetzbar. 2021 sollten fünf Waltroper das Pino für drei Wochen gegen das eigene Auto ersetzten und damit dokumentieren, dass ein Auto weder für die Kita-Fahrt noch für den großen Einkauf gebraucht wird. „Es gab jede Menge Bewerbungen, fünf wurden ausgewählt“, erinnert sich Hase. Natürlich wurden die Erfahrungen dokumentiert und das ganze Konzept auch in Pressemeldungen verbreitet. Wichtig bei solchen Aktionen: der Vorher-Nachher-Effekt. Zu welchen Ergebnissen kommen die Testimonials? Und wie offen wird kommuniziert? Bei dieser Tauschaktion jedenfalls konnte ein Gastronom unter den Testimonials erklären, dass er praktisch alle Freizeit- und Alltagsfahrten begeistert mit dem Rad erledigt hatte. Lediglich beim Großeinkauf für seinen Betrieb kam das Packvolumen des Rads doch an seine Grenzen. Dass auch diese Einschränkung dokumentiert wird, ist wichtig für die Glaubwürdigkeit und letztendlich den Erfolg eines solchen Projekts.
Eine Vortrags- und Mitmachveranstaltung plant Hase in Kürze mit Lucy Saunders, die mit Healthy Streets eine Initiative für menschenfreundliche Innenstädte ins Leben gerufen hat. „Ich bin in der Veloplan auf die Verkehrs- und Gesundheitsaktivistin gestoßen, und dachte mir: ‚Die ist klasse.‘“ Und so will Hase die Frau, die sich derzeit um die verkehrspolitische Lage in London kümmert, für einen öffentlichen Workshop nach Waltrop einladen. Kontakte sind geknüpft, das Konzept wird noch ausgearbeitet. Vielleicht wird das Event mit der bekannten Aktivistin parallel zu einem Händler-Workshop stattfinden, sodass auch diese Hase-Partner davon profitieren. „Viele unserer Händler und Händlerinnen sind fahrradpolitisch sehr engagiert.“ So nutzt man den Heimvorteil auch: Platz ist vorhanden, dank neuer Produktionshalle jetzt auch wettergeschützt, und auch hier zählen die vielen Erfahrungen, die man schon mit der Durchführung von Events gemacht hat.

„Wir haben schon früh damit angefangen, die Leute nicht nur für unsere Räder, sondern für das Fahrrad im Alltagsverkehr ganz allgemein zu sensibilisieren“

Kirsten Hase, Marketingchefin des Spezialrad-Herstellers Hase Bikes

Klassiker Fahrraddemo

Kirsten Hase und ihr Ehemann, Firmengründer Marec Hase, fanden auch mit den Grünen in ihrer Stadt einen Veranstaltungspartner. „Die Partei ist sehr offen für Aktionen, die den regionalen Radverkehr stützen und auf fehlende oder marode Infrastruktur aufmerksam machen“, sagt Kirsten Kase. „Und wir standen den Grünen politisch schon immer nahe.“ So führte man in diesem und im letzten Jahr vor Ort bereits zwei Fahrraddemos gemeinsam durch, die auf fehlende und schadhafte Fahrrad-Infrastruktur hinwiesen. Dabei hat Hase Bikes weitgehend die Organisation übernommen. „Die Grünen stecken in so vielen anderen Dinge, dass sie froh sind, wenn die Orga über uns läuft. Für uns ist das keine so große Sache“, sagt Kristen Hase, die mit ihrem Marketingteam schon viele Events ans Laufen gebracht hat. Mit der Partei ist ein politisch zugkräftiger Partner an Bord, der potenziell Teilnehmenden demonstriert: Es geht hier nicht einfach um eine Werbeveranstaltung eines Unternehmens. Dass die auffälligen Spezialräder der Waltroper im Demo-Konvoi besonderes Interesse erregen und Fragen provozieren, ist natürlich trotzdem schön für den Veranstalter.


Bilder: Hase Bikes – Matthias Erfmann, Georg Bleicher

Wohl alle Radfahrenden kennen die unangenehme Situation, wenn ihnen Autos beim Überholen zu nahe kommen. Wo es früher nur Empfehlungen zum Abstand gab, wurden vor zwei Jahren verbindliche Zahlen in der Straßenverkehrsordnung ergänzt. Wird die Regelung auch kontrolliert und durchgesetzt? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022


Bei manchen Radfahrenden löst ein Auto, das ohne Sicherheitsabstand überholt, Wut aus – wilde Gesten und Beschimpfungen folgen. Andere reagieren eher verängstigt und zögern beim nächsten Mal vielleicht, überhaupt aufs Rad zu steigen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Person am Steuer des Autos unachtsam ist oder aus Groll handelt. Denn die gefühlte Bedrohung birgt immer reale Gefahren. Weicht etwa eine Radfahrerin im Moment des Überholvorgangs einem Schlagloch aus, kann es zu einer folgenschweren Kollision kommen, wenn ein Auto zu nahe ist. Seitenwind oder zappelnde Kinder als Passagiere eines Lastenradlers können ein einspuriges Fahrzeug zum Schlingern bringen. Die Unfallgefahr beschränkt sich nicht auf den Stadtverkehr. Auch auf Landstraßen ohne Radweg kommen Autos oder gar Busse Radfahrenden oft gefährlich nah.

Mindestens 1,5 Meter sind vorgeschrieben

Das Gefühl vieler Radfahrender, häufig zu eng überholt zu werden, konnten verschiedene Erhebungen bestätigen. In Berlin hatte der Tagesspiegel in dem Projekt „Radmesser“ bereits 2018 für zwei Monate 100 Radfahrerinnen mit Abstandsensoren ausgestattet. Die Messungen von fast 17.000 Überholvorgängen ergaben, dass mehr als die Hälfte aller Fahrzeugführer ohne ausreichenden Sicherheitsabstand überholten. Im Jahr 2021 führten die Stuttgarter Nachrichten ein ähnliches Projekt durch und konnten dabei sogar in drei Viertel aller Fälle zu geringe Abstände messen. In beiden Studien wurden Überholvorgänge als zu knapp gewertet, wenn der Abstand zwischen Auto und Radfahrerin kleiner als 1,5 Meter ausfiel.
Das ist der Mindestabstand, den die Straßenverkehrsordnung (StVO) seit einer Novellierung im Frühjahr 2020 vorschreibt. In Paragraf 5 heißt es: „Beim Überholen mit Kraftfahrzeugen von […] Rad Fahrenden […] beträgt der ausreichende Seitenabstand innerorts mindestens 1,5 m und außerorts mindestens 2 m.“ Zuvor war nur von „ausreichendem Seitenabstand“ die Rede. Das ist ein sogenannter unbestimmter Rechtsbegriff. Das Problem daran: Um eine Ordnungswidrigkeit zu ahnden, muss das Nichteinhalten des geforderten Mindestabstands nachweisbar sein. Das Bußgeld, das Kraftfahrer*innen droht, wenn sie überführt werden, beträgt 30 Euro.

Wer die Bedeutung dieses Schildes kennt, ist auf der Höhe der Zeit: Das Überholen von Fahrrädern und Motorrädern ist hier verboten.

Die Polizei kontrolliert

Die Herausforderung bei Kontrollen des Überholabstandes ist die Messung. Messtechnik an Fahrrädern, wie sie für die Studien in Stuttgart und Berlin verwendet wurde, kommt aus praktischen Gründen nicht infrage. Aber die Polizei kann stattdessen indirekte Messverfahren anwenden, wie Roland Huhn, Rechtsreferent des ADFC, erklärt: „Rechtssicher lässt sich das Unterschreiten des Mindestabstands bisher so nachweisen, dass man die Straßenbreite zugrunde legt und den Platzbedarf der beteiligten Fahrzeuge.“ Die Polizeidirektion Dresden setzt das bereits mithilfe von Videodokumentation um. Neben der Fahrbahnbreite wird das Bildmaterial auch nach weiteren Bezugsgrößen ausgewertet, wie zum Beispiel der Breite des betreffenden Autos. Die Breiten zugelassener Fahrzeugmodelle sind beim Kraftfahrt-Bundesamt hinreichend genau erfasst. Seit der Novellierung der StVO vor zwei Jahren wurden in Dresden nach Angaben der Stadt 111 Anzeigen bearbeitet.
Dabei sind Schwerpunktkontrollen nicht die einzige Option der Polizei. In München wurden seit Mai 2020 immerhin 58 Vorfälle im Rahmen der allgemeinen Verkehrsüberwachung im Streifendienst angezeigt. Auch die Polizeidienststellen in Berlin und Hamburg gaben auf Nachfrage an, die Abstände überholender Kraftfahrzeuge während des regulären Streifendienstes zu kontrollieren. „Insbesondere unsere Fahrradstaffeln führen regelmäßig zielgerichtete Kontrollen durch. Festgestellte Verstöße werden dabei konsequent geahndet“, so Cindy Schönfelder von der Polizei Hamburg.
Die Polizei in Baden-Baden führte im Mai 2021 eine Stichprobenkon-trolle durch. Dazu wurde auf einem Straßenabschnitt eine gelbe Hilfsmarkierung parallel zum Fahrradschutzstreifen angebracht. Das Ergebnis fiel ernüchternd aus: Über 95 Prozent der Autofahrenden überholten ohne den geforderten Seitenabstand.
An vielen Stellen braucht es keine Hilfsmarkierungen. Denn addiert man zum Sicherheitsabstand von 1,5 Meter noch eine durchschnittliche Fahrradbreite von 0,7 Meter und den empfohlenen Abstand von mindestens 0,8 Meter zum Fahrbahnrand, dann landet man mit 3 Metern oft schon am oder jenseits des Mittelstreifens. Auf mehrspurigen Straßen muss der Autofahrer dann auf die nächste Spur ausweichen und in den meisten Fällen den Gegenverkehr abwarten. Tut er das nicht und überholt innerhalb der ersten Spur, liegt ein Regelverstoß vor. Auf entsprechend schmalen, einspurigen Straßen ergibt sich daraus de facto ein Überholverbot, das sich deutlich einfacher kon-trollieren lässt. Ein Umstand, den sich die Polizei Stuttgart schon mehrfach zunutze gemacht hat. So wurden im März 2021 bei einer Schwerpunktkontrolle auf einem schmalen Straßenabschnitt innerhalb von zwei Stunden 23 Kraftfahrer*innen verwarnt und im März 2022 in anderthalb Stunden am gleichen Ort fünf Anzeigen ausgestellt. Dass bei der zweiten Kontrolle deutlich weniger regelwidrige Überholmanöver festgestellt wurden, dürfte auf ein Überholverbotsschild zurückzuführen sein, das einige Monate zuvor angebracht wurde.
Wie sich zeigt, sind die Ergänzungen in der StVO keine völlig leeren Worte in Gesetzesform. Die Polizei kontrolliert die Einhaltung des Mindestabstandes von 1,5 Meter tatsächlich, bisher allerdings nur in sehr begrenztem Umfang. Den hier genannten Stichproben gegenüber stehen zum Beispiel knapp 2,8 Millionen Geschwindigkeitsverstöße, die laut Kraftfahrt-Bundesamt allein im Jahr 2020 bei Kontrollen erfasst wurden.


Bilder: Martin Dinse

Der parlamentarische Abend Vivavelo bewies nicht zuletzt durch die Anwesenheit von Bundesverkehrsminister Wissing, welchen hohen Stellenwert das Fahrrad in Deutschland hat. Die Veranstalter*innen verwiesen aber auch auf Handlungsfelder, denen politisch und branchenintern begegnet werden muss. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Am 7. April veranstalteten der Verbund Service & Fahrrad (VSF), der Bundesverband Zukunft Fahrrad und der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) den parlamentarischen Abend Vivavelo. In der Landesvertretung Nordrhein-Westfalens in Berlin kamen hochrangige Vertreter*innen aus Industrie und Politik zusammen.
Darunter befand sich auch Bundesverkehrsminister Dr. Volker Wissing, der die wichtige Stellung des Verkehrsmittels Fahrrad in einer Keynote bestätigte. Darin erkannte er Nachholbedarf in den politischen Rahmenbedingungen an, berichtete von eigenen Erfahrungen mit fehlenden Radwegen und betonte, dass selbst eine kleine Lücke einen kilometerlangen Radweg entwerten könne.
Seitens der Gesetzgebung gibt es einiges zu tun. Ein wichtiger Treiber für die Branchenentwicklung ist das Leasing von Diensträdern. Dies müsse mit eigenständigen Gesetzen stabilisiert werden. Auch die finanziellen Förderungen von Infrastruktur müssen stetig und damit für die Planung verlässlich sein. „Damit sich der Fahrrad- und E-Bike Boom fortsetzt, wollen wir, dass die Politik die Nutzung unserer Produkte fördert, und dies tut sie am besten, indem sie Radinfrastruktur und lückenlose Radnetze fördert. Deshalb begrüßen wir das Versprechen des Bundesverkehrsministers, das Sonderprogramm Stadt & Land über 2023 hinaus zu verstetigen“, so Burkhard Stork, Geschäftsführer des ZIV.
Als weitere Herausforderung gilt fehlendes Personal in der Radverkehrsplanung, aber auch im Tiefbau, der Entwicklung von Infrastruktur und dem Fahrradhandel. Im Pressegespräch vor der Veranstaltung verwiesen die Verbände auf zwei weitere förderungswürdige Themen: intermodale Mobilität und die betriebliche Verkehrsteilnahme mit Mobilitätsbudgets.
Weitere Einblicke in Industrie, Dienstleistung und Handel wird es am 22. und 23. September beim Vivavelo-Kongresses im Langenbeck-Virchow-Haus in Berlin geben.

V. l.: Dirk Zedler (BVZF), Burkhard Stork (ZIV), Bundesverkehrsminister Dr. Volker Wissing, Staatssekretär Dr. Hendrik Schulte, Uwe Wöll (VSF)Foto © Bernd Lammel – Telef.: +49 (172) 311 4885 – DEU / Berlin / 2022 /

Bild: Bernd Lammel

Der Personalmangel in den Verwaltungen bremst vielerorts die Mobilitätswende. Zudem werden Aufgaben oft falsch verteilt. Flexible Lösungen und der Quereinstieg von Fachkräften können das Pro-blem schnell lösen. Doch diese Herangehensweise hat auch ihre Grenzen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Popup-Bikelanes wie in Berlin (links und oben rechts) oder in Stuttgart (rechts unten) wurden in den letzten zwei Jahren oft in Rekordzeit umgesetzt. Eine Voraussetzung dafür sind Teams im Hintergrund, die nicht nur mit Fach-, sondern auch mit weitreichender Entscheidungskompetenz ausgestattet sind.

Die Rahmenbedingungen für den Ausbau des Radverkehrs sind so gut wie nie. 1,4 Mrd. Euro hat die Bundesregierung für den zügigen Ausbau der Infrastruktur bereitgestellt. Aber in den Kommunen geht es dennoch vielerorts nur schleppend voran. Ein Hemmschuh ist der Fachkräftemangel. Jahrelang wurden zu wenigRadverkehrsplaner und -planerinnen ausgebildet. Jetzt fehlen diese Fachkräfte. Ein Umdenken in der Stellenbesetzung und eine breitere Aufgabenteilung in der Verwaltung könnten dabei helfen, schneller ans Ziel zu kommen.
Einen Grund für den Personalmangel sehen Expertinnen in dem engen Fokus der Jobausschreibungen. Stellen für Planer- und Projektleiterinnen werden in der Regel mit Verkehrs- oder Bauingenieurinnen besetzt. Zu einseitig, findet etwa der Verwaltungssoziologe Peter Broytman. Er arbeitete dreieinhalb Jahre als Radverkehrskoordinator in der Berliner Verkehrsverwaltung und ist jetzt in der Sozialverwaltung des Senates und als Berater tätig. Er sagt: „Wir müssen die Städte umbauen, nicht nur den Verkehr. Das ist eine innovative Aufgabe, die vielfältige Fähigkeiten wie Change-Management erfordert und nicht nur das millimetergenaue Zeichnen von Plänen.“ Broytman weiß, wovon er spricht. Er hat als Mitgründer den Volksentscheid Fahrrad und dann das Berliner Mobilitätsgesetz auf den Weg gebracht. Nicht allein, sondern im Team. Jetzt muss der Richtungswechsel in der Verkehrspolitik pro Bus-, Bahn-, Rad- und Fußverkehr in die Verwaltung getragen und umgesetzt werden. Deshalb sollten die Projekt-leiterinnen dieser Teams aus seiner Sicht vorrangig Projektmanagement beherrschen, gut kommunizieren können und netzwerken. „Das sind ganz klassisch die Aufgaben eines Referenten“, sagt Broytman. Ein Verkehrsingenieur, der sich auf so eine Projektleiterstelle bewerbe, werde keinen Plan zeichnen. Diese Erkenntnis habe sich allerdings noch nicht durchgesetzt. Die Kommunen suchten für diese Stellen bundesweit in erster Linie nach Ingenieurinnen. Das reduziere die Zahl der Fachkräfte, die für den Job infrage kommen, und zudem fehlten dann die Ingenieurinnen in den Planungsabteilungen.

„Wir müssen die Städte umbauen nicht nur den Verkehr“

Peter Broytman, Senatsverwaltung Berlin


Mehr Vielfalt im Team kann aus seiner Sicht auch den Ausbau der Radinfrastruktur beschleunigen – sowohl auf der Projektebene wie im Team der Radverkehrsplaner- und planerinnen. In Berlin verbringen laut Broytman die Radverkehrsplanerin-nen etwa 70 Prozent ihrer Zeit mit Organisation und Kommunikation. Sie bearbeiten Anfragen der Bürger und Bürgerinnen, planen Beteiligungsverfahren und akquirieren Räume für die Versammlungen. „Das frisst pro Kilometer Radweg unglaubliche Ressourcen“, sagt er. Damit sich die Planerinnen auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren können, sollten die Aufgaben spezifischer verteilt werden.
„Gerade in der ersten Planungsphase ist das mit Quereinsteigern gut möglich“, sagt Thomas Stein, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Mobilität am Deutschen Institut für Urbanistik. In diesem Stadium geht es um die Grundlagen. Erste Konzepte und Ideen werden entwickelt, die dann mit der Politik und den verschiedenen Behörden, Verbänden und Trägern öffentlicher Belange abgestimmt werden. Im nächsten Schritt starten dann die ersten Beteiligungsverfahren. „In diesem Stadium ist es hilfreich, Menschen im Team zu haben, die mit ihrer Qualifikation breiter aufgestellt sind und andere Standpunkte einnehmen können“, sagt Stein. Dazu gehören Kommunikationsexpertinnen oder auch Sozialwissenschaftlerinnen.
Die Stadt Heidelberg hat das früh erkannt. „Dort gibt es eine eigene Abteilung, die sich ausschließlich um Beteiligungsverfahren kümmert“, sagt Stein. Deren Mitarbeitenden unterstützen mit ihrem Know-how die Verkehrsingenieurinnen bei jeder Planung für den Rad- und Fußverkehr. Für Stein ist das eine gute Lösung. „Beteiligungsverfahren sind inzwischen ein zentraler Baustein jeder Verkehrsplanung“, sagt er. Sind sie passgenau auf die Belange der Teilnehmenden zugeschnitten, sei die Zustimmung am Ende meist groß. Im besten Fall beschleunigen sie den Ausbau der Radinfrastruktur. Ein erweiterter Expertenkreis kann demnach den Fachkräftemangel bei den Verkehrsingenieurinnen etwas abpuffern. Allerdings nur in der Anfangsphase. Je weiter die Planung voranschreitet, umso technischer werden die Entscheidungen. „Beim Schotter hört der Quereinstieg bei der Verkehrswende auf“, sagt Stein. Die Pläne müssen millimetergenau gezeichnet werden.

Mitarbeiter*innen müssen ihre Rolle verstehen

Mehr Planer und Planerinnen werden dringend benötigt. Aber neben ausreichend Personal muss auch das Zusammenspiel zwischen Politik und Verwaltung stimmen. Dazu gehört, dass jeder seine Rolle genau kennt und seine Befugnisse nutzt. Wie das im Idealfall aussieht, macht der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg vor. Dort traf der Wille zur Mobilitätswende auf eine handlungsfreudige Verwaltung. Die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann brachte im Frühjahr 2020 mit dem Leiter des Straßen- und Grünflächenamts, Felix Weisbrich, den ersten Popup-Radweg Deutschlands auf die Straße. Die Entscheidung war mutig. Das rechtliche Okay hatten sie sich zuvor bei Christian Haegele aus der Senatsverwaltung geholt. Der Verwaltungsfachwirt leitet dort die Abteilung Verkehrsmanagement und kennt die Spielräume genau, die ihm die Straßenverkehrsordnung (StVO) und das Straßenrecht bieten.
Der ersten Popup-Bikelane folgten weitere provisorische Lösungen. Etwa im April 2020 auf dem Kottbusser Damm. Auf einer Länge von 1,8 Kilometer wurde eine Fahrspur mithilfe von gelbem Klebeband und Baustellenbaken zum Radweg. Ein Jahr später war die Strecke sauber markiert und teilweise abgepollert – und so in einen geschützten Radstreifen umgewandelt. Für Berlin ist das eine Rekordzeit. Auf diese Weise schaffte der Bezirk so viele neue Radkilometer wie kein anderer in der Stadt. Dem rbb24 erklärte Weisbrich sein Beschleunigungsverfahren im Frühjahr 2022 so: „Wir haben es geschafft, kleinste Teams zu bilden, mit einer wirklich weitreichenden Entscheidungskompetenz. Wir müssen also nicht ständig von Pontius zu Pilatus laufen, sondern bekommen per Telefon und Mail schnelle Rückmeldungen von den Senatsverwaltungen und anderen Beteiligten – man muss nicht immer Akten hin und her schicken, das dauert viel zu lange.“ Broytman dazu: „So bringt man die Mobilitätswende auf die Straße. Die Experten haben ihre Rolle verstanden, die Planung gemacht und gesagt: Wir ziehen das jetzt durch.“

„Gerade in der ersten Planungsphase ist ein Quereinstieg gut möglich.“

Thomas Stein,Deutsches Institut für Urbanistik

Engpässe in der Verwaltung gibt es auch in den Niederlanden. Dort wird dieses Problem jedoch mitunter flexibler gelöst, indem Fachkräfte für die Planung zeitweise von Beraterfirmen zugekauft werden.

Planung umsetzen, Gegenwind aushalten

„Dazu gehört auch, dass eine einmal beschlossene Planung umgesetzt wird und Politik und Verwaltung gegebenenfalls auch den Gegenwind aushalten“, sagt der Difu-Experte Stein. Das ist nicht selbstverständlich. „Ich habe mit Verkehrsplanerinnen in Verwaltungen gesprochen, die bereits verschiedene Radverkehrskonzepte erstellt haben, von denen keines umgesetzt wurde, weil der politische Rückhalt fehlte“, sagt der niederländische Mobilitätsexperte Bernhard Ensink vom Beratungsunternehmen Mobycon. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei das frustrierend. Wenn sie bei der Umsetzung der Radverkehrsplanung immer wieder ausgebremst werden, schwinde die Motivation und die Bereitschaft, mutiger zu planen. „Engpässe bei Radverkehrspla-nerinnen gibt es auch in den Niederlanden“, sagt Ensink. Allerdings gingen die Kommunen damit flexibler um als in Deutschland. „Die Expertise für die Planung kann man sich auch einkaufen“, sagt er. Etwa über Rahmenverträge. Das sei in den Niederlanden inzwischen üblich. Beraterfirmen wie Mobycon beispielsweise vermieteten Fachkräfte an niederländische Verwaltungen über die eigens dazu gegründete Firma Mobypeople.
Allerdings ist für ihn der Fachkräftemangel in Deutschland viel inte-graler als in den Niederlanden. „Es geht nicht allein um die technische Zeichnung, also um die Planung des Radwegs“, sagt er. Die Prozesse seien viel einschneidender. Eine gute Radverkehrsplanung verändere stets das Mobilitätsverhalten aller Verkehrsteilnehmer, also auch der Autofahrer, sagt Ensink. Das solle immer mitgedacht werden.

„Engpässe bei Radverkehrsplaner*innen gibt es auch in den Niederlanden.“

Bernhard Ensink, Mobycon


Bei der Radverkehrsplanung überlassen die Niederländer nichts dem Zufall. Ob man das Auto oder das Rad nimmt und wie schnell man fährt, ist hauptsächlich eine Frage der Psychologie. Das zeigt sich beim Wechsel von einer Hauptverkehrsstraße in eine Seitenstraße. Er sollte für alle Verkehrsteilnehmerinnen haptisch spürbar sein. Um das sicherzustellen, ändert sich in den Niederlanden der Straßenbelag, sobald von einer Hauptstraße in eine Tempo-30-Zone oder eine Wohnstraße gewechselt wird. Statt glattem Asphalt sind hier Pflastersteine verlegt. Beim Abbiegen verändert sich sofort das Fahrgefühl, die Rollgeräusche nehmen deutlich zu. Um die Geschwindigkeit konsequent zu verringern, verjüngen die Planerinnen zudem die Fahrbahn in den Wohngebieten mit Bäumen oder Grünbepflanzungen, und reduzieren die Geschwindigkeit weiter auf 15 bis 20 km/h.
Diese technischen und psychologischen Elemente nutzen die Niederländer auch, wenn sie Fahrradstraßen nachträglich einrichten. „Das Aufpflastern ist dann zwar kostspielig, aber es lohnt sich“, sagt Ensink. Der Hinweis an die Autofahrerinnen sei deutlich: Ihr seid hier nur zu Gast. In Deutschland werde das schnell übersehen, wenn nur das blau-weiße Verkehrszeichen die Fahrradstraße anzeige. Diese psychologische Alltagserfahrung beim Radfahren prägen niederländische Planer. Deutschen Ver-kehrsplanerinnen, die vielleicht immer nur Autostraßen geplant haben und dann mit der Planung von Radwegen beauftragt werden, fehle dafür oftmals die Alltagserfahrung der niederländischen Kollegen. „Deutschland braucht nicht nur Ingenieure, sondern auch Transformateure“, sagt Ensink, Experten, die Veränderungsprozesse steuern könnten. Und zwar während des gesamten Prozessverlaufs. Denn je näher die Realisierung der Pläne auf der Straße rücke, umso größer werden die Einwände und Bedenken verschiedener Stakeholder, sagt Ensink. Immer wieder rückten dann die eigentlichen Ziele des Umbaus in den Hintergrund, etwa der Klimaschutz. Deshalb sei es wichtig, Leute im Team zu haben, die den Transformationsprozess stets mitdenken und während der gesamten Planungsphase im Auge behalten und ihn auch einfordern.
Die Aufgaben, die vor den Verkehrsteams liegen, sind riesig. Sie müssen die Straßen neu gestalten und den Menschen vor Ort die Mobilitätswende schmackhaft machen. Das erfordert verschiedenste Fähigkeiten und diverse Teams, die gut kommunizieren, stabile Netzwerke aufbauen und gut planen müssen. Die Mobilitätswende findet nicht nur auf der Straße statt. Sie verändert auch die Strukturen in der Verwaltung. Sie erfordert von den Kommunen, Prozesse neu zu denken und mehr Flexibilität bei der Planung und bei der Rekrutierung des Personals. Dieser Transformationsprozess hat begonnen. Jetzt gilt es, das Tempo zu steigern.


Bilder: stock.adobe.com – mhp, qimby.net – Alexander Czeh, qimby.net – Peter Broytman, qimby.net – Benedikt Glitz, changincities, qimby.net – Martin Randelhoff, qimby.net – Philipp Böhme

Am 8. April wurde in Berlin das VeloLab vorgestellt. Die mit Bundesmitteln geförderte digitale und analoge Plattform soll Innovationen im Radverkehr voranbringen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Im VeloLab sollen sich die Kommunen, die Wissenschaft, die Zivilgesellschaft und die (Fahrrad-)Industrie mit dem Ziel austauschen, das Verkehrsmittel Fahrrad in Deutschland zu stärken. Dazu sollen Produkte, Dienstleistungen sowie Infrastruktur entwickelt werden. Neben konkreten Projekten sollen Veranstaltungen und Workshops wichtige Akteure vernetzen und zwischen ihnen vermitteln. Diese werden im Laufe des Jahres in digitaler Form und an verschiedenen Orten in ganz Deutschland stattfinden. Im Rahmen des Nationalen Radverkehrsplans wurde das Projekt vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr mit 448.000 Euro gefördert.
„Das VeloLAB soll ein lebhafter Ort für alle sein, die etwas bewegen wollen und an die Kraft der Zusammenarbeit glauben. Gemeinsam erschaffen wir die Plattform für alle Mitstreiter*innen, um den Radverkehr zum Hauptverkehrsmittel für alle Wege unter 10 km in Deutschland zu machen“, so Isabell Eberlein, Geschäftsführerin der Velokonzept GmbH und Projektleiterin des VeloLab.

Event voller Innovationsgeist

Die von Projektleiterin Eberlein moderierte Eröffnung Anfang April sollte zeigen, was das Projekt künftig leisten können soll. Über 100 Gäste lauschten den Gesprächsrunden und Vorträgen im Berliner Motion.Lab.
Die Veranstaltung eröffnete der Parlamentarische Staatssekretär Oliver Luksic, der im Anschluss mit Thorsten Heckrath-Rose, dem CEO von Rose-Bikes, und Elisabeth Felberbauer, CEO von Bike Citizens, über aktuelle Herausforderungen für das Verkehrsmittel Fahrrad diskutierte. In Reverse-Pitches präsentierten Ver-treter*innen von Kommunen und Verbänden Probleme statt Lösungen, über die dann offen diskutiert wurde. User-Experience-Designerin Lieke Ypma rundete das Programm mit dem Thema „Scheitern als Mutter der Innovation“ ab.
Die Plattform hat auch eine digitale Komponente. Auf der VeloLab-Website (www.velolab.de) stehen Interessierten und potenziellen Mitgliedern künftig Informationen und Neuigkeiten aus dem VeloLab zur Verfügung. Sie dient außerdem als interne Austauschplattform für Projektbeteiligte.

Wie es mit dem Radverkehr vorangeht, diskutierten der Parlamentarische Staatssekretär Oliver Luksic (l.), Rose-CEO Thorsten Heckrath-Rose (2.v.l) und Elisabeth Felberbauer (CEO Bike Citizens, 3.v.l). Projektleiterin Isabell Eberlein (r.) moderierte das Event.

Bilder: Velokonzept