Am 19. Mai fand die Micromobility Expo auf dem Messegelände in Hannover statt. Die eintägige Veranstaltung bot neben den Austauschmöglichkeiten mit den Ausstellern ein vielfältiges und prominent besetztes Konferenzprogramm. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Die Micromobility Expo versammelte rund 30 Aussteller. Die hochkarätigen Sprecher*innen, etwa Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay oder Prof Dr. Stephan Rammler, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, behandelten die Frage, wie der Mobilitätswandel flexibel, kosteneffizient und ressourcenschonend vonstattengehen kann. Eine große Rolle spielte die Vernetzung mit dem ÖPNV, den das diverse Angebot an Mikromobilitätslösungen von E-Scootern über Mono-Wheels und elektrischen Skateboards bis hin zu Sharing-Fahrrädern, ergänzen kann.

Viel Anklang für Katja Diehl

Nach der kurzen Eröffnung durch Michael Rose, den Protokollleiter der Deutschen Messe, setzte Katja Diehl (oben rechts) mit ihrer Keynote ein Leitbild. Die Autorin des Bestsellers „Autokorrektur“ entlarvte, wie eine verschobene Wahrnehmung die Abkehr vom Auto erschwert und forderte, dass Diversität Kernkompetenz der Verkehrs- und Mobilitätswende werden müsse. Dieser Einstieg, in dem sie auch aktuelle Ereignisse wie den Ukraine-Krieg oder das Neun-Euro-Ticket in die Mobilitätsdebatte einordnete, zog sich spürbar durch den Rest der Veranstaltung. Viele weitere Redner*in-nen nahmen Bezug auf die Keynote.

Während im Inneren des Hannoveraner Messepavillons die Zukunft der Mikromobilität besprochen wurde, konnte sie im Außengelände angefasst und getestet werden.

Mikromobilität mehr als E-Scooter

Von den verschiedenen Mobilitätslösungen, die auf der Expo ausgestellt und besprochen werden, genießen in erster Linie die viel kritisierten E-Kickscooter gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Bei diesen hat sich viel getan. Die Akkus sind mittlerweile meist wechselbar und viele der Sharing-Anbieter, etwa Voi und Bird, stehen im engen Austausch mit den Kommunen. Besonders gut funktioniere das zum Beispiel in Düsseldorf oder Paris. Apropos Frankreich: Dort ist der E-Scooter im Gegensatz zum deutschen Markt für weniger Menschen ein Sharing-Vehikel, über 900.000 Privat-Scooter wurden 2021 verkauft.
Dass viele Fahrzeugtypen im Schatten von E-Scootern, E-Bikes und elektrischen Rollern stehen, hemmt ihre Verbreitung und den potenziellen Beitrag, den sie zur Mobilitätswende leisten können. Markus Emmert vom Bundesverband eMobilität e.V. forderte deshalb, systemoffener zu denken und die diversen elektrischen Leichtfahrzeuge der Klassen L1e bis L7e mit einer individuellen Förderung zu stärken.
Die Veranstalter der Expo nahmen den Tag als erfolgreich wahr. „Ich bin beeindruckt, wie intensiv sich die ausstellenden Unternehmen, die Gäste und die Sprecher*innen untereinander vernetzt und damit einen Mehrwert gegeben haben. Da sind echt tolle und sehr konstruktive Gespräche entstanden“, so das Resümee von Projektleiter Florian Eisenbach am späten Nachmittag, an dem der Konferenztag mit dreiminütigen Projekt- und Produkt-Pitches einen lockeren Abschluss fand. „Ich war positiv überrascht von den sehr deutlich formulierten Forderungen und der Fülle an vorhandenen Lösungsmöglichkeiten, die klar gezeigt haben, dass eine Mobilitätswende machbar ist und dass Mikromobile und Leichtfahrzeuge einen wesentlichen Beitrag dazu leisten können.“ Das sonnige Wetter sorgte zudem dafür, dass die Testmöglichkeiten für die verschiedensten Mikromobile gut angenommen wurden.
Es bleiben noch einige Fragen übrig, die geklärt werden müssen, etwa wie die digitale Vernetzung der verschiedenen Verkehrsträger optimal vonstattengeht. Mikromobilität hat zudem viele Gesichter. Im Zweifel muss jede Variante bei Verteilungsfragen zu Wort kommen und in der Stadtplanung berücksichtigt werden. Diese Aufgabe scheint nicht einfach zu sein, ist aber wichtig, vor allem, da die Mikromobile Hand in Hand mit dem ÖPNV zum Zuge kommen. Auch im nächsten Jahr soll die Veranstaltung deshalb dem Thema Mikromobilität weiter Vorschub leisten. „Bei der Fülle des Angebotes und dem breiten Spektrum an Themen planen wir für das nächste Jahr wieder eine Zwei-Tages-Veranstaltung, die wieder Ende Mai oder Anfang Juni sein wird“, so Eisenbach.


Bilder: Micromobility Expo

Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) zeigt in einer neuen Studie, wie groß das Einsparpotenzial ist, wenn Autos durch elektrische Leichtfahrzeuge ersetzt werden. Die vielen verschiedenen Fahrzeugtypen meistern viele Anwendungsszenarien sehr energieeffizient. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Wer bei jedem täglichen Weg das Auto nutzt, schießt in vielen Fällen mit Kanonen auf Spatzen. Angemessener wären oftmals elektrische Leichtfahrzeuge (Light Electric Vehicle – LEV). Die Modellrechnung, die das DLR im März veröffentlichte, attestiert den diversen Vehikeln ein großes Potenzial dafür, die bei Pkw-Fahrten verursachten Emissionen zu vermeiden. Für die Modellierung griffen die Macherin-nen der Studie auf eine ganze Bandbreite an Fahrzeugen zurück (siehe Kasten), die allesamt bereits auf dem Markt waren oder zumindest in Pilotprojekten getestet wurden. Um zu wissen, welche Fahrten überhaupt ersetzt werden können, nutzte das DLR statistische Daten der Studie Mobilität in Deutschland von 2017. Zur Berechnung der eingesparten Treibhausgase gingen die Forscherin-nen für jede ersetzbare Autofahrt davon aus, dass jeweils das optimale LEV im Hinblick auf Emissionen im Lebenszyklus als Alternative genutzt wurde. Der Bedarf unterscheidet sich im Alltag schließlich auch, je nachdem wie viele Menschen und wie viel Gepäck mitgenommen werden und wie viel Strecke zurückgelegt werden soll.
76 Prozent der Autofahrten könnten laut der Studie durch LEVs ersetzt werden. In Bezug auf die gefahrene Strecke könnten Autos dadurch in Zukunft nur noch die Hälfte der jetzigen Kilometer zurücklegen. Im Schnitt sparen die LEVs gegenüber den Autos 88 Prozent der Treibhausgas-Emissionen ein. Pro Jahr könnten in Deutschland so 57 Millionen Tonnen CO2, 44 Prozent der durch Autos verursachten Emissionen, eingespart werden. Als entscheidenden Faktor, wie groß der Fußabdruck der elektrischen Fahrzeuge ist, identifizierten die Macher*innen der Studie die Größe und Kapazität der Batterie.
Nicht nur bei den Emissionen sind die LEVs überlegen. Weil sie etwa weniger Platz zum Parken benötigen, belegen sie auch weniger öffentlichen Raum. Das Potenzial der Leichtfahrzeuge ist laut den Studienergebnissen insgesamt sehr groß. Um es zu nutzen, müssen die Regulierung verändert und die Infrastruktur angepasst werden. Auch finanzielle Anreize und die Internalisierung externer Kosten müssen thematisiert werden.

Genutzte Fahrzeugtypen im Modell:

– E-Scooter
– Pedelecs
– S-Pedelecs
– Mopeds
– Motorroller
– Microcars bis 45/90/125 km/h


Bild: stock.adobe.com – Achim Wagner

Radwege statt Parkplätze: Nirgendwo sonst in München hat der Verteilungskampf zwischen Autofahrern und Radlern so hohe Wellen geschlagen. Hat sich der Ärger in der Fraunhoferstraße inzwischen gelegt? Nicht wirklich – es kommen sogar unerwartete Probleme hinzu. Andreas Schubert, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, berichtet aus der bayerischen Landeshauptstadt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022


Ein Getränkelieferant steht am Straßenrand und entlädt Palette für Palette seinen Laster. Mehrere Paketdienst-Mitarbeiter tun es ihm gleich. Zwei Handwerker stehen mit ihrem Wagen vor dem „Bergwolf“ und essen Currywurst aus Pappschälchen. Ein Januar-Nachmittag in der Fraunhoferstraße: Es geht geschäftig zu in diesem Teil der Isarvorstadt. Bei Sonnenschein und milden Temperaturen sind viele Passanten unterwegs in einer Gegend, die noch immer von außergewöhnlichen Läden geprägt ist, wie man sie in der Fußgängerzone nicht mehr findet. Hier bekommt man Antiquitäten oder Comics, Nippes jedweder Art, Fahrräder, natürlich auch Kleidung und was man eben sonst so zum Leben braucht oder auch nicht.
An abwechslungsreicher Gastronomie mangelt es auch nicht: Das Wirtshaus Fraunhofer ist eine Institution für Schweinsbraten- und Kulturfreunde gleichermaßen, es gibt unter anderem einen Koreaner, den obligatorischen Italiener und einen Laden, vor dem sich die gesundheitsbewussten Glockenbach- und Gärtnerplatzviertler für Smoothies und Bowls die Beine in den Bauch stehen. Und in besseren Zeiten ohne Sperrstunde abends um zehn kann man bis in die Morgenstunden im „Flaschenöffner“ bestens versumpfen. Nur um die Fraunhofer Schoppenstube, die man ausnahmsweise als legendär bezeichnen kann und die 2013 zugemacht hat, trauern Nachtschwärmer noch heute.
Irgendwann landet jeder und jede hier, es ist immer was los in der Fraunhoferstraße, auch wenn sie sich in den vergangenen Jahren gewandelt hat. Die Postfiliale ist dicht, wo früher ein Drogeriemarkt war, ist heute der Stützpunkt des Lieferservice Gorillas, und manch kleiner Laden ist verschwunden, weil sich die Betreiber die hohen Mieten nicht mehr leisten konnten.
Die stärkste Veränderung aber kam vor zweieinhalb Jahren, als die Stadt alle 120  Parkplätze in der Straße strich und durch einen rot markierten Fahrradstreifen ersetzte. Seither ist die 500 Meter lange Achse zwischen Müllerstraße und Isar ein Politikum, wie es wohl keine andere der rund 30 Fraunhoferstraßen in diesem Land sein dürfte. Für Kraftfahrzeuge gibt es hier keinen Halt mehr. Anwohner müssen in Nebenstraßen parken, für Handwerker oder Kuriere gibt es dort – und nur dort – Lieferzonen. Von Beginn an war die neue Verkehrsregel Geschäftsleuten und vielen (aber nicht allen) Nachbarn ein Dorn im Auge.

Schanigarten oder Radweg?

Beppi Bachmaier, Wirt des Fraunhofer, grantelte über den „Radl-Highway“, nicht zuletzt, weil andere Gas-tronomen im Viertel sich schöne Freisitze auf umgewidmeten Autoparkplätzen vor der Haustür bauen durften. Doch mangels Parkplätzen, die man in der Fraunhoferstraße zu Schanigärten hätte umwandeln können, gingen Bachmaier und die anderen Wirte mit dieser Adresse leer aus. Immerhin gab es vergangenen Sommer mit dem Fraunhofer Isarflimmern einen Pop-up-Biergarten nahe der Reichenbachbrücke.

Wahlkampthema „RADikal-Politik“

Die CSU griff das Parkplatzthema im Kommunalwahlkampf auf, wetterte gegen die rot-grüne „RADikal-Politik“ und trommelte für Pressetermine Geschäftsleute zusammen, die dann auch schimpfen durften (s. a. VELOPLAN 4/19). Auch nach der Wahl, seit der die Christsozialen im Rathaus wieder in der Opposition sind, hielten sie sich mit Kritik nicht zurück – aber erfolglos. Denn Wirten und Geschäftsleuten bleibt das Lieferproblem erhalten, der Radweg wird bleiben, die Stellplätze kommen nicht wieder. Für Georg Dunkel, den Mobilitätsreferenten der Stadt, ist die Straße ein Paradebeispiel für den Wandel einer Stadt. Dass die öffentlichen Flächen umverteilt werden sollen zugunsten von Radlern und Fußgängern, ist die eindeutige Linie der derzeitigen Rathauspolitik.
Der Kompromissvorschlag der Familie Kilian, die einen Schlüsseldienst an der Ecke Müllerstraße betreibt, ist aus Sicht der Verwaltung nicht umsetzbar. Sie hatten von einem Architekten einen Plan mit Lieferzonen und Bäumen direkt in der Fraunhoferstraße zeichnen lassen. Doch das Mobilitätsreferat erteilte diesem Entwurf im Dezember eine Absage. Die Rad- und Fußwege wären dadurch zu schmal geworden, den 3500 Fußgängern und 2800  Radlern, die tagsüber die Straße passieren, will die Stadt keinen Platz wegnehmen. Bäume können überdies wegen der Leitungen im Untergrund nicht gepflanzt werden.

Für die Münchner Verkehrsplaner war der Umbau der Fraunhoferstraße durch die intensive Verkehrsnutzung und den begrenzten Raum ein schwieriger Fall.

Baulicher Radweg würde Kosten sprengen

Im Frühjahr will der Stadtrat über die endgültige Gestaltung der Straße entscheiden. Und wie es aussieht, wird es wohl bei der derzeitigen Lösung bleiben. Denn die Bürgersteige ließen sich auch nur minimal verbreitern, was aber nach Einschätzung der Verwaltung unverhältnismäßig teuer käme, ebenso wie ein baulicher Radweg. Stattdessen prüft die Stadt weitere Lieferzonen in den Seitenstraßen, die bestehenden sollen deutlicher gekennzeichnet werden. Denn die sind oft zugeparkt, wie sich beobachten lässt: Manche Autofahrer übersehen die Schilder einfach und lösen sogar noch einen Parkschein.
Zudem sind die Zonen aus Sicht der Händler schlicht zu weit von ihren Läden entfernt. Radek Bogacki steht am Beratungstresen seines Ladens Raab-Einrahmungen, den er vor sieben Jahren übernommen hat. Er war früher selbst Kurierfahrer, kennt also die Nöte seiner früheren Kollegen, die unter ständigem Zeitdruck stehen. Bogacki stellt auch richtig große Einfassungen her, die dann gerade mal noch durch seine Ladentür passen. Er zückt sein Handy und zeigt ein Foto eines riesigen Rahmens mit Glasscheibe. „Der wiegt 50 Kilo, tragen Sie den mal in die Lieferzone“, sagt er. Also halten die Kuriere auch direkt vor seinem Geschäft, laden kurz ein oder aus und fahren dann weiter.
Ähnlich hält es auch Ralf Brey, seit 17 Jahren Inhaber des Fahrradladens Riesenhuber. Schon von Berufs wegen hat er nichts gegen Radwege in der Stadt. Je mehr Leute radeln, desto besser ist das fürs Geschäft, auch wenn die Hersteller wegen des Radlbooms und fehlender Teile Schwierigkeiten haben, ausreichend viele Räder zu liefern. „Wir stehen seit Monaten ohne Trekking-Bikes da“, klagt Brey. Über den roten Radweg vor der Ladentür und die fehlenden Parkplätze hätten sich viele Kunden und Nachbarn anfangs ganz schön aufgeregt. „Aber mittlerweile hört man gar nichts mehr.“ Er selbst hatte auch große Bedenken, als die Stadt damals die Radstreifen markierte. Wer, so fragte er sich damals, werde ihn denn künftig überhaupt noch beliefern? Die nächste Lieferzone sei einfach zu weit weg und obendrein oft besetzt. „Das ist gut gedacht, aber falsch gemacht“, sagt Brey. Doch die befürchteten Probleme blieben aus. Eigentlich habe sich die Situation im Vergleich zu früher sogar verbessert, erzählt er nun. Weil die Fraunhoferstraße immer zugeparkt war, hielten die Lieferanten damals einfach in zweiter Reihe auf der Fahrbahn und standen so auch der Tram im Weg. Jetzt wird eben schnell am Straßenrand entladen, einen Strafzettel habe es bisher noch nicht gegeben.

Mehr freie Sicht, weniger Unfälle

Statt Parkplätzen gibt es jetzt freie Sicht über die gesamte Straße. Das hat auch dazu geführt, dass die Zahl der Verkehrsunfälle, an denen Radler beteiligt waren, zurückgegangen ist. Kein einziger dieser Unfälle wurde durch eine aufgestoßene Autotür verursacht oder dadurch, dass ein Radler ins Tramgleis kam. Nun gilt für ein Jahr zudem Tempo 30, die Stadt überlegt, ob und wo sie eine stationäre Überwachungsanlage aufstellen kann.
Im Einrichtungsladen Wohnpalette trifft man Beate Leichtle zwischen Lampen, Tassen, Spiegeln und allerlei anderen bunten Wohnaccessoires. Sie arbeitet hier und wohnt seit knapp 35 Jahren direkt gegenüber im vierten Stock. Als sie auf die nicht mehr ganz so neue Verkehrssituation angesprochen wird, sprudelt es förmlich aus ihr heraus: „Seit der Radweg da ist, ist die Straße viel lauter“, erklärt sie. Früher, sagt sie, hätten die parkenden Autos für die Anwohner auch als Schallschutz gedient. Heute pralle der Schall direkt an die Häuser und werde so reflektiert, dass es auch in den oberen Stockwerken zuweilen unerträglich werde, zum Beispiel, wenn die Feuerwehr mit Sirenengeheul durch die Straße fährt. Und das tut sie oft: Die Feuerwache 1 der Berufsfeuerwehr ist nur einen Steinwurf entfernt, die Fraunhoferstraße dient als Ausfallschneise Richtung Isar. Und auch die Nachtschwärmer erscheinen ohne die parkenden Schalldämpfer lauter. „Wenn sich die Leute früher an der U-Bahn verabschiedet haben, habe ich sie gehört“, sagt Leichtle. „Heute kann ich sie verstehen.“
Dass aktuell Tempo 30 gilt, habe sich unter Autofahrern wohl noch nicht herumgesprochen, glaubt Leichtle. In der Tat braust ein Wagen nach dem anderen vorbei, gefühlt deutlich zu schnell. Kein Wunder: Seit die Straße deutlich breiter wirkt, mag es zwar weniger Unfälle geben. Doch zugleich lädt sie viele erst recht zum Rasen ein. Leichtle selbst hat ihr Auto schon vor längerer Zeit abgeschafft, sie geht zu Fuß oder fährt mit den Öffentlichen.

Die Zahl der Unfälle mit Radfahrern ist in der Fraunhoferstraße seit dem Umbau um rund zwei Drittel zurückgegangen. Die Zahl der erfassten Unfälle durch aufgestoßene Autotüren oder durch die Tramgleise ging im beobachteten Zeitraum auf null zurück.

Stereotypen über Rad- und Scooter-Fahrer

Nicht nur auf rasende Automobilisten, sondern auch auf viele Radler ist Leichtle nicht so gut zu sprechen. Die einen nutzten die neue Breite des Radwegs und ihre 21  Gänge voll aus und heizten die Straße mit einem Affenzahn entlang. Andere wichen auf die Fußwege aus, wenn Autos oder Baustellen den Radweg blockierten. Erst vor Kurzem habe sie ein Radler direkt vor dem Laden auf dem Gehweg gestreift, wovon sie blaue Flecken am Arm davongetragen habe. Eine Entschuldigung des Radlers? Im Gegenteil, er habe sie sogar noch beschimpft. Die Gehwege sind in der Fraunhoferstraße wirklich nicht besonders breit. 2,70 Meter mag nach viel klingen, aber wenn sich mehrere Menschen begegnen, vielleicht noch ein Vater oder eine Mutter mit Kinderwagen aneinander vorbei wollen und dann auch noch ein Lieferwagen die Hälfte des Trottoirs blockiert, wird es ziemlich eng.
Ein weiteres Hindernis sind aus Leichtles Sicht die E-Scooter, die auf dem Bürgersteig abgestellt werden – oft so rücksichtslos, dass man schon mal darüber stolpern kann. „Scooter-Misere“ nennt die Anwohnerin das. „Die braucht doch in der hervorragend mit dem MVV angebundenen Innenstadt niemand, das sind reine Fun-Fahrzeuge.“ Leichtles Fazit: „Die Fraunhoferstraße ist richtig hässlich. Sie war früher schon nicht schön, aber sie hatte wenigstens Charme.“
Pierre Schmoock ist Inhaber des Ladens „Sams and Son“. Dort gibt es ein buntes Sortiment aus alten und neuen Sachen – Koffern, Taschen, Kerzen und anderen hübschen Dingen. Schmoock steht hinter dem Kassentresen, vor und hinter sich eine ganze Familie aus Kokeshi-Puppen in verschiedenen Größen – aus Obstbaumhölzern gefertigte Glücksbringer aus Japan. Seit 30  Jahren betreibt Schmoock sein Geschäft schon, früher hatte er auch größere Möbel im Sortiment. Die Wohnungsauflöser, von denen er diese bezog, wollten ihn aber nicht mehr beliefern, seit sie in der Straße nicht mehr legal stehen bleiben können. Schmoock nimmt die neue Situation aber gelassen. Wenn Geschäftsleute über die neue Situation jammern, könne er das nicht verstehen. „Früher war früher, jetzt ist jetzt“, sagt er. Er habe eben sein Sortiment angepasst: „Ich bin Vollkaufmann.“
Eigentlich sei er mit der Verkehrspolitik der Stadt ganz zufrieden, sagt Schmoock. Das Konzept für die Fraunhoferstraße sei aber nicht ganz durchdacht gewesen, meint er. Was ihn wirklich nerve, sei das ständige Gegeneinander – und die Aggression, mit der sich Radler, Autofahrer und Fußgänger zuweilen begegnen. „Ganz schlimm ist das.“ Dabei sei ein Miteinander gefragt. Ganz am Anfang, als das Halteverbot eingeführt wurde und der Radweg frisch markiert war, seien Polizei und die Verkehrsüberwachung der Stadt sofort da gewesen, sobald sich ein Kunde auch nur kurz vor den Laden gestellt habe, erzählt er. Jetzt sähen die Knöllchenschreiber die Sache ein wenig lockerer. Dazu fällt ihm eine kleine Anekdote ein: Als er selbst mal kurz vor dem Laden mit dem Auto hielt, kam eine Verkehrsüberwacherin und wollte ihn aufschreiben. Als er ihr das gerade habe ausreden wollen, sei ein Radfahrer angebraust gekommen, habe ihn beschimpft und „500 Euro!“ geschrien. Der Radler brauste weiter bis zur nächsten Ampel, die gerade rot war. „Ich hab dann zu der Politesse gesagt, wenn er jetzt stehen bleibt, zahl ich.“ Schmoock kam ohne Bußgeld davon.
Ob die Verkehrsüberwacher auch weiterhin ein Auge zudrücken, ist offen. Die Stadt hat intensive Verkehrskontrollen sowohl in der Fraunhoferstraße als auch in den Seitenstraßen angekündigt. Und laut dem neuen Bußgeldkatalog ist Falschparken keine so lässliche Verkehrssünde mehr wie einst. Jetzt werden statt 15 bis zu 50 Euro fällig. Bier und Pakete vor dem Haus abzuladen ist also nicht nur verboten, sondern inzwischen auch richtig teuer. Hätte die Verkehrsüberwachung die Handwerker während ihrer Brotzeit ertappt – es wäre vermutlich die teuerste Currywurst ihres Lebens geworden.


Bilder: Stephan Rumpf, Stadt München

Während viele Entscheider*innen aus Verwaltung und Politik noch über mehr Radverkehr oder weniger Autos nachdenken, überholen die hochdynamischen Entwicklungen alte Realitäten. Vieles spricht dafür, dass verschiedenste Formen von Mikromobilität und Mobility as a Service (MaaS) dabei sind, unsere Gewohnheiten und Routinen und auch Märkte gründlich zu verschieben.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, Sept. 2021)


Selbst in hochkarätig besetzten Diskussionspanels geht es meist um die gleichen Themen. Verkürzt gesprochen: Wie kann man Verkehr (meist gemeint: Autoverkehr) flüssiger und umweltfreundlicher gestalten, wie lässt sich Radverkehr störungsfrei und einigermaßen sicher in diese Strukturen integrieren und wie kann der ÖPNV dazu beitragen, Straßen vom Autoverkehr zu entlasten?

Mikromobilität bei Entscheidern unterschätzt


Wie wenig bislang neue Mobilitätsformen mitgedacht werden, zeigte exemplarisch kürzlich eine Runde der Bundesregierung zum Thema „Mobilität der Zukunft“ und die Antworten auf die Frage, warum auf der einen Seite private Elektroautos und mutmaßlich eher umweltschädliche Hy-brid-Fahrzeuge gefördert und auf der anderen Seite deutlich umweltschonendere Mikromobilität ausgespart würde. Die Antwort: Erst Ratlosigkeit, ausgerechnet aus dem Bundesumweltministerium, und dann die Ergänzung einer Vorständin von Continental, dass man ja wisse, welche Pro-bleme mit den Tretrollern verbunden wären und dass diese gerne in Gewässer geworfen würden. „Die Unkenntnis und Ignoranz der Politik beim Thema Mikromobilität ist ein absoluter Skandal“, sagt dazu der Experte Dr. Hans-Peter Kleebinder, der mit den Schwerpunkten Mobilität, Smart Cities, strategische Markenführung sowie Innovationsmanagement unter anderem als Lehrbeauftragter der Universität St. Gallen und als freier Berater tätig ist.

Mikromobilität ist viel mehr als nur E-Kick-scooter. Marktreife Pkw-Alternativen stehen bereit zum Kauf, als Miet-Abo oder als Sharing-Fahrzeuge.

Bereits die Reduktion auf das Thema E-Tretroller spricht wohl dafür, dass das Thema entweder nicht verstanden oder bewusst in eine bestimmte Ecke gedrängt wird. Harsche Kritik kommt von ihm auch zur Verteilung der Fördermittel: „Die Förderpraxis ist absurd und die Umweltprämie de facto reine Wirtschaftsförderung. Das meine ich als Bürger und Beirat bei Microlino“ (red. Anm.: neues Microcar, Kategorie Light Electric Vehicle LEV).

E-Kickscooter als „Feindbild“?


Viele neue Technologien und Produkte bleiben nicht ohne Risiken, Nebenwirkungen oder handfeste Pro-bleme. Vor allem in der Anfangsphase. Neben berechtigter Kritik gibt es zudem oftmals aber auch eine Reihe von Vorurteilen, die sich, bewusst oder unbewusst mit verschiedenen Motiven und Ängsten vermischen – in der Steigerung bis hin zu Ächtungs- und Verbots-Szenarien.

Perfekte Basis für multimodale Mobilität. Alternative Angebote werden, wie bei Free Now (ehemals MyTaxi), direkt in die App integriert.

Mit Blick auf die im Grunde ja eher harmlosen E-Kick-scooter stellt man schnell fest, dass es inzwischen fast schon zum guten Ton gehört, sie samt den Nutzerinnen pauschal abzuwerten oder zu verdammen. Zu den Vorwürfen gehören sowohl das Fehlverhalten, sicher auch bedingt durch mangelnde Fahrfertigkeiten und sonstige Kenntnisse der Nutzerinnen, wie auch allgemeine gesellschaftliche Phänomene wie Vandalismus, Formen von unsozialem oder ignoranten Verhalten oder ganz simpel Platzprobleme. Was hilft, ist eine differenzierte Sichtweise und sicher auch ein Blick in die Vergangenheit. Denn Ähnliches hat man schon zu Karl von Drais‘ Erfindung, der Draisine gesagt, zu den folgenden „Hochrädern“ und den deutlich sichereren „Niederrädern“, dem E-Bike oder den „unsportlichen“ E-Mountainbikes. Auch Autos und ihren Fahrer*innen stand man lange skeptisch gegenüber. Teils musste sogar ein Mensch mit roter Flagge als Warnung vorauslaufen. Jede Menge Kritik kennt man auch mit Blick auf Skifahrerinnen, den Snowboard-Trend, Skateboarder etc. Was die Sichtweise mit Blick auf E-Kickscooter betrifft, kann man immer wieder feststellen, dass hier viele Fragen in den Fokus gerückt werden, die man umgekehrt bei Autos oder Motorrädern so nur selten oder gar nicht stellt: Werden sie eher als Freizeitfahrzeuge oder echte Transportmittel genutzt? Wo sollen sie bloß parken? Wie sieht es mit der Umweltfreundlichkeit aus? Wie mit der Sicherheit? Was ist mit der Befolgung der StVO? (…)
Beim Thema Parken kann man sich beispielsweise fragen, warum von offiziellen Stellen in Diskussionen einerseits beklagt wird, dass Städte „mit E-Scootern vollgemüllt“ würden, während andererseits Autos großflächig auf Fußwegen geduldet werden und in der Politik um jeden (Auto-)Parkplatz, der umgewidmet werden soll, gerungen wird.

Die E-Kickscooter machen hier als Vorreiter schlicht ein Problem deutlich, das auch andere Mobilitätsformen, wie 45-km/h-E-Scooter, Lastenräder, Mikromobile für Senioren oder Carsharer teilen: Platz wäre da, aber die Kapazitäten sind durch die schiere Menge an privaten Pkws faktisch längst erschöpft. Wenig hilfreich erscheinen auch Diskussionen darüber, welche Wege im Einzelnen substituiert werden, denn letztlich entscheiden die Menschen aus vielfältigen Motiven, wie, warum und wohin sie sich bewegen.

Herausforderungen für Politik und Verwaltung


Tatsächlich gibt es für die Politik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene viel zu tun, was den Rahmen und die Infrastruktur für die neuen Mobilitätsformen und den Wandel hin zu Mobility as a Service als Türöffner der Mobilitätswende angeht. Die E-Kickscooter-Anbieter setzen sich mit dafür ein und sie entwickeln die Technik in rasantem Tempo weiter. Die Scooter selbst werden immer langlebiger, sicherer und beispielsweise durch Akkuwechselsysteme und den Einsatz von Schwerlastenrädern oder Wechselstationen für den Tausch deutlich umweltfreundlicher. Auch die eingesetzte Software wird immer ausgefeilter. Mit ihr lassen sich in definierten Zonen schon heute automatisiert Park- und Fahrverbote oder Geschwindigkeitsreduzierungen umsetzen. So wird beispielsweise das Parken in der Nähe von Gewässern unmöglich, damit sie nicht von Fremden hineingeworfen werden. Auch Bildaufnahmen des ordentlich geparkten Scooters via App gehören bei vielen Anbietern inzwischen zum Standard. Möglich sind künftig noch viele weitere Anwendungen, beispielsweise, um alkoholisiertes Fahren, Mehrfach-Spaßfahrten, die Nutzung von Fußwegen oder Fahrten mit zwei Personen zu erkennen und möglichst auszuschließen. Neben den Innovationen setzen die Anbieter auch auf eine gute Zusammenarbeit mit den Städten. Einige, wie Voi, Tier oder die Ford-Tochter Spin, setzen sich dabei inzwischen öffentlich für eine stärkere Regulierung und limitierte Ausschreibungsverfahren ein. „Städte sollten sich gezielt auf einen oder einige wenige Partner einlassen und lokalspezifische Maßnahmen entwickeln“, heißt es dazu von Voi. Das sieht auch Tier so: „Ziel sollte es sein, den besten Anbieter auszuwählen, und so die höchste Qualität für Nutzer*innen sowie eine optimale Zusammenarbeit mit der Stadt sicherzustellen.“ In europäischen Metropolen habe man damit gute Erfahrungen gemacht. In Deutschland ist der Markt dagegen bislang weitgehend unreguliert. Hier sieht man Nachholbedarf, ebenso wie bei der Infrastruktur und fehlenden Stellplätzen. In einem offenen Brief fordert das Branchenbündnis „Dialog Mikromobilität“ beispielsweise mehr Stellflächen für Fahrräder und E-Kleinstfahrzeuge, Flächen für Microhubs, breitere und sichere Radwege sowie Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Innenstädten.

Türöffner für Neudefinition von Mobilität


Vor Problemen steht zunehmend auch der öffentliche Verkehr. Wie gehen die Anbieter mit der neuen Konkurrenz um? Bezieht der ÖV sie mit in sein Angebot ein oder lässt er sie links liegen? „Ohne neue Partnerschaften, die eine flexible Nutzung von E-Trotties (Schweizerisch für E-Kickscooter) bis Cargobikes ebenso inkludieren wie Taxis und Mietwagen, wird der ÖV in vielen Zielgruppen nicht erfolgreich sein“, meint der Züricher Mobilitätsexperte Prof. Dr. Thomas Sauter-Servaes mit Blick auf die Zukunft. Vorreiter in der Integration ist aktuell Google Maps.

„Ohne neue Partnerschaften wird der ÖV in vielen Zielgruppen nicht erfolgreich sein.“

Prof. Dr. Thomas Sauter-Servaes

Der Kartenanbieter integriert seit Kurzem nicht nur den öffentlichen Verkehr, sondern auch die Angebote von Mikromobilitäts-Anbietern in seiner App. So können Nutzer*innen zum Beispiel sofort entscheiden, ob sich beispielsweise der Fußweg zur Haltestelle oder das Warten auf die nächste Bahn lohnt, oder ob man lieber einen Scooter in der Nähe mietet. Auch andere Anbieter, wie die aus dem Joint-Venture zwischen BMW und Daimler hervorgegangene Marke Free Now (ehemals MyTaxi) bieten seit Kurzem eine umfassende Mobilitätspalette, vom Taxi über Ride- und Carsharing, bis hin zu E-Kickscootern oder E-Scootern der 45-km/h-Klasse.
Ungeachtet der negativen Berichte spricht aktuell vieles dafür, dass sich E-Kickscooter als tatsächlicher Türöffner oder „Enabler“ einer neuen Mobilität und Mobility as a Service entwickeln. Nach einer Schätzung des Mobility Market Outlook von Statista werden in diesem Jahr in Deutschland rund elf Millionen Menschen E-Scooter-Sharing genutzt haben. Der Umsatz wird im Jahr 2021 demnach etwa 140 Millionen Euro betragen. Damit ist Deutschland der weltweit zweitgrößte Markt für den Verleih von E-Kickscootern – vor Frankreich und nach den USA. Laut Prognose wird im Jahr 2025 in Deutschland ein Marktvolumen von 228 Millionen Euro erreicht; dies entspricht einem erwarteten jährlichen Umsatzwachstum von 13 Prozent.

Innovative Angebote und neue Geschäftsmodelle


Der Erfolg und die Wachstumsprognosen im Mikromobilitätsmarkt, den die Berater von McKinsey bereits 2019 auf 100 bis 150 Milliarden US-Dollar in Europa schätzten, lassen Investorengelder sprudeln. Absehbar werden sie in der Folge neben Wachstum in der Fläche auch eine ganze Reihe neuer Produkte, Services und innovativer Geschäftsmodelle mit sich bringen. Einige Beispiele: Der E-Kickscooter-Sharer Bird hat eigene Modellserien für den Verkauf aufgelegt, integriert inzwischen auch hochmoderne E-Bikes als Sharing-Modell und zum Verkauf in sein Programm und arbeitet aktuell an innovativen Mobilitätshilfen für Gehbehinderte und Senioren. Ein großer Trend sind Akkuwechselstationen für Schwerlasträder, zum Beispiel von Swobbee und für E-Motorroller.

In einem unregulierten Markt platzieren Sharing-Anbieter quasi über Nacht Tausende Fahrzeuge. Führende Anbieter setzen sich inzwischen für mehr Regulation in Deutschland und Ausschreibungen ein.

Bei Zweitem gehören sie, beispielsweise in Taiwan mit Anbietern wie Gogoro und Kymco, inzwischen zum Standard. Auch bei Lastenrädern stellt sich grundsätzlich die Frage, ob diese nicht vielfach besser im Rahmen von Abo- oder Sharing-Modellen genutzt werden. Für diesen Markt hat sich der spezialisierte Sharinganbieter Sigo ein System einfallen lassen und andere rücken schnell nach. Konzerne, wie die französische PSA-Gruppe mit „Free2Move“ (Mobility as a Service/Microcars), Ford mit „Spin“ (E-Kickscooter) oder die niederländische Pon-Gruppe machen sich mit VW daran, den neuen Markt zu gestalten. Die Pon-Gruppe, zu der unter anderem renommierte Fahrradmarken gehören, bietet dabei seit Kurzem unter dem Namen „Dockr“ Abo-Angebote für elektrische Transportfahrzeuge an, von E-Cargobikes über Personenwagen bis hin zu großen Lieferwagen. Was die Anbieter und Geschäftsmodelle besonders macht, ist das Bestreben, Märkte disruptiv zu verändern, sie in kurzer Zeit als Marktführer zu erobern und mit hohem Aufwand gegen Konkurrenten abzusichern und weiterzuentwickeln. Was das konkret bedeutet, ist noch nicht ausgemacht. Einige Parameter des Wandels scheinen allerdings bereits festzustehen: Sowohl die finanziellen Ressourcen, über die die Anbieter verfügen, wie auch der Konkurrenzdruck werden immer größer. Der Wandel lässt sich wohl nicht aufhalten und das Tempo nimmt weiter zu. In Frankreich haben die Verkaufszahlen der E-Kickscooter zum Beispiel bereits die der E-Bikes überholt. Mit den Technologien und Tools verändern sich auch die Nutzungsgewohnheiten. Andere Bereiche, wie die Film- und Musikbranche, haben solche Umbrüche in wenigen Jahren erlebt. Ob man in zwei, drei Jahren auf Konferenzen noch über das Thema „Fahrrad versus Auto“ spricht und ob es in zehn Jahren noch separate Automobil-, Fahrrad- und Motorrad-Industrien und MaaS-Anbieter gibt? Zweifel scheinen angebracht.


Bilder: Microlino, Bird, Dockr; Free Now (Screenshot Werbung); stock.adobe.com – Trygve; Qimby.net; Birdstock.adobe.com – hanohiki

Interview: Stefan Gelbhaar MdB, Verkehrspolitiker bei Bündnis 90/Die Grünen
und ehemaliger Sprecher für Verkehrspolitik und Radverkehr


Herr Gelbhaar, kommt es mit der Ampelkoalition zu einer Mobilitätswende?
Eins ist klar: Die Ampelkoalition muss sich unterscheiden. Darin waren wir uns in den Koalitionsgesprächen alle einig. Und wir alle sehen die Probleme und Herausforderungen. Die Verkehrswende ist nach der Energiewende mit das wichtigste Projekt, um das wir uns kompetent und intensiv kümmern müssen. Das ist nun mit dem FDP-Verkehrsministerium in beständiger Zusammenarbeit nach vorne zu entwickeln. Einfach wird das mit so unterschiedlichen Partnern natürlich nicht – aber dass es einfach wird, hat ja auch niemand gedacht.

Inwiefern wird es Unterschiede geben zur alten Bundesregierung?
Die Ziele, die sich die Bundesregierung in den vergangenen Jahren gesetzt hat, sind nicht ansatzweise erfüllt worden. Wir haben, je nachdem, wie wir es interpretieren wollen, die letzten vier, acht oder zwölf Jahre verschenkt. Das betrifft auch, aber nicht nur den Bereich Verkehr. Es ist in den Gesprächen klar geworden, dass es nicht ausreicht, nur hier und da einen Akzent zu setzen.

Welche konkreten Ziele sehen Sie mit der Ampelkoalition in Reichweite?
Im Bereich Verkehrssicherheit sind wir beispielsweise nah beieinander, was die Zielbeschreibung Vision Zero angeht. In der Vergangenheit haben sich die Hersteller erfolgreich um die Insassensicherheit in Fahrzeugen gekümmert. Vernachlässigt wurde allerdings die Umfeldsicherheit. Da gibt es ganz viele Ansatzpunkte auf der Bundes-, aber auch auf der EU-Ebene. Was die Sicherheit angeht, ist die EU ja normalerweise Treiber. Bei Technologien wie Lkw-Abbiegeassistenten kann und sollte die Bundesregierung – auch in der EU – mehr Druck machen.

Wo sehen Sie allgemeine Schwerpunkte in der Verkehrspolitik?
Viele Punkte finden sich im Koalitionspapier. Ein wichtiges Feld, das zu bearbeiten ist, ist neben der Verkehrssicherheit und der Antriebswende die Vernetzung der Mobilität. Bei der geteilten Mobilität etwa besteht die gemeinsame Einschätzung: Das ist ein großer Baustein der künftigen Mobilität. Die Zeit ist reif, die vorhandenen Angebote viel stärker zu vernetzen. Wir müssen uns generell fragen: Was haben wir schon? Was können wir wie besser nutzen?

Was braucht es konkret?
Wir brauchen bessere rechtliche Regelungen, Zuschüsse, mehr Personal, mehr Forschungsgelder und mehr Freiheiten für die Kommunen. Wir müssen ran an das Verkehrsrecht und den Bußgeldkatalog, und wir brauchen Forschungsgelder, nicht nur, wie in der Vergangenheit, für die Belange des Autos, sondern beispielsweise auch beim ÖPNV und im Bereich Mikromobilität. Natürlich brauchen wir auch mehr Radinfrastruktur, zum Beispiel entlang von Bundesstraßen, und eigenständige Radnetze. Und ganz wichtig: Wir müssen die Kommunen befreien und empowern.

Wo liegen die Herausforderungen in den Kommunen?
Alle sind sich beispielsweise über die Probleme im Klaren mit dem zunehmenden Wirtschaftsverkehr im städtischen Raum. Dazu kommt, dass wir auch die Infrastruktur schnell anpassen müssen, wenn wir mehr Radverkehr wollen. Der Bund kann beispielsweise bei der Finanzierung von Fahrradbrücken, Radparkhäusern oder beim Aufbau von zentralisiertem Know-how helfen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Förderung und der Kompetenzaufbau bei der DB für Fahrradparkhäuser an Bahnhöfen.

Wie stehen Sie als Berliner zur Zunahme der E-Kickscooter in der Stadt?
Ich denke, E-Scooter sind in der Mobilität eine gute Ergänzung, und oft habe ich das Gefühl, dass die Debatte schief ist. Wir empfinden über 1,2 Millionen zugelassene Pkw in Berlin als normal, einige Tausend E-Scooter sind dagegen ein Aufreger. Was wir aus meiner Sicht aber brauchen, ist eine gute Evaluation, aus der wir dann gezielt Maßnahmen ableiten können.

Welche Aufgaben sehen Sie in der Bundespolitik über das Verkehrsministerium hinaus?
Wir sehen aktuell beispielsweise die Versorgungsengpässe der Fahrradindus-trie. Hier könnte es eine Aufgabe des Wirtschaftsministeriums sein, dabei zu helfen, Teile der Produktion wieder nach Deutschland oder in die EU zu holen. Auch das betriebliche Mobilitätsmanagement und das Thema Mobilitätsbudget gehören mit auf die bundespolitische Agenda. Umweltfreundliche Mobilität sollte beispielsweise nicht länger steuerlich benachteiligt werden.

Was sagen Sie Kritikern, denen es nicht schnell genug geht?
Wir haben die Wahl nicht mit 51% gewonnen. Deshalb geht es darum, immer wieder Wege und auch zufriedenstellende Kompromisse mit den Ampelpartnern zu finden. Das gehört mit zur Wirklichkeit und es ist klar, dass wir da auch einen seriösen Umgang mit Konflikten finden. Mit zur Wirklichkeit gehört aber genauso: Mobilität ist nicht statisch. Das Thema ist schon aus Klimasicht enorm wichtig. Wir sind in der Pflicht. Paris, die 1,5-Grad-Grenze gelten für diese Ampelkoalition, das müssen wir gestalten – und wir werden den künftigen Verkehrsminister dabei unterstützen, den Pfad zum Klimaschutz seriös und zügig zu beschreiten.


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Das Interview mit Stefan Gelbhaar hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im November 2021 geführt. Erschienen in Ausgabe 4/21.

Bild: Stefan Kaminski

Wie vermittelt man Bilder neuer Straßen und grüner Viertel? Wie stößt man Diskussionen an? Temporäre Lösungen wie „Wanderbäume“, „Sommerstraßen“ und flexible Sitzmöbel sind schnell und kostengünstig umsetzbar. Verschiedene Initiativen, die Stadt München und Schweden testen die (Rück-)Umwandlung von Straßen in Lebensräume bereits im Alltag. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Der Platz wird in vielen Städten knapp. Seit Jahren wächst die Bevölkerung in den Zentren und die Prognosen der Expertinnen und Experten zeigen: Der Trend hält an. Allerdings wächst die Fläche nicht proportional mit ihrer Bevölkerung. Im Gegenteil. Durch Nachverdichtung teilen sich immer mehr Menschen den öffentlichen Raum. Das gilt für Straßen und Parkplätze ebenso wie für Parks und Spielplätze. Spätestens die Pandemie hat den Kommunen gezeigt, dass in vielen Innenstädten Treffpunkte für Kinder, Jugendliche und Erwachsene fehlen, die zu Fuß erreichbar sind. Initiativen wie beispielsweise die „Wanderbaumallee“ setzen sich schon lange für die Umverteilung der Flächen ein. Sie haben leicht umsetzbare Konzepte entwickelt, um auf Parkplätzen in baumlosen Straßen kleine grüne Oasen auf Zeit einzurichten. Solche Veränderungen sind notwendig, um Straßen wieder zu Lebensräumen für alle zu machen. Ergebnisse zeigen, dass es dazu mehr braucht als nur autofreie Straßen.

Die „Südliche Auffahrtsallee“ 2020. Damit der Asphaltstreifen zum Aufenthaltsraum wird, muss er mit Stadtmöbeln oder markierten Spielflächen umgestaltet werden.

„Die Anwohner brauchen ein Bild, wie ihre Straße oder der Platz vor ihrer Haustür aussehen könnte.“

Felix Lüdicke, Landschaftsarchitekt München

Straßenräume neu entdecken

Als München 2020 unter dem Titel „Sommerstraßen” zehn Straßen für Autos teilweise oder ganz sperrte, zeigte sich, dass der frei gewordene Raum gestaltet werden muss, damit die Menschen ihn nutzen. „Straßen sind reglementierte Räume mit einer klaren Zuordnung“, sagt der Münchner Landschaftsarchitekt Felix Lüdicke. Bereits die Kleinsten lernen: Der Platz der Fußgänger ist der Gehweg. Autos, Bussen, Lkw und Straßenbahnen dagegen gehört die Fahrbahn. Selbst wenn eine wenig befahrene Straße wie die „Südliche Auffahrtsallee“ im Münchner Stadtteil Neuhausen-Nymphenburg zwischen einem Park und einem Kanal gesperrt wird, braucht sie ein Angebot, damit die Anwohnerinnen und Anwohner den Asphaltstreifen überhaupt als Raum für sich entdecken. „Eine leere Straße ist nicht attraktiv“, sagt Lüdicke. Damit sie es wird, müsse sie in Zonen aufgeteilt werden. Es könnten Spielfelder angedeutet werden oder Ecken zum Klönen. „Wer sich hinsetzt, sucht einen Ort, der gemütlich ist und sicher“, betont Felix Lüdicke. Fabian Norden, Mitglied des Bezirksausschusses in Neuhausen-Nymphenburg und Beauftragter für den Fuß- und Radverkehr, weiß das. Deshalb ließen er und sein Team mit der Eröffnungsfeier von Lüdicke temporäre Markierungen auf dem Asphalt aufbringen. Es gab unter anderem Start- und Zielflächen für Wettrennen, die die Kinder auch zum Radfahren nutzten. Abends spielten die Menschen dort Federball oder trafen sich zu einer Partie Volley- oder Basketball. Obwohl auf der gesperrten Fahrbahn viel mehr Platz war, stellte Norden fest, dass viele Menschen weiterhin auf dem Fußweg spazierten. „Es ist ein Prozess, die eingetretenen Wege zu verlassen“, sagt Norden. Das Konzept „Sommerstraße“ sei ein erster Anstoß gewesen, diese Straße neu zu denken und Gewohnheiten zu verändern.“
Das hat geklappt. Laut einer nicht repräsentativen Umfrage wünschten sich dreiviertel der Anwohner eine Fortführung der Sommerstraße am Kanal. Dann aber mit erweiterten Angeboten, wie einer Boule-Bahn, Sand für Kinder oder einem Basketballkorb. Das sei aktuell aber aus rechtlichen Gründen nicht möglich, sagt Norden. In diesem Jahr hat das Baureferat jedoch Sitzgelegenheiten und über 100 Pflanzkübel mit Blumen und Palmen zur Verfügung gestellt, um die zehn Sommerstraßen zu möblieren. Für Lüdicke ist das ein Anfang. „Die Anwohner brauchen ein Bild, wie ihre Straße oder der Platz vor ihrer Haustür aussehen könnte“, sagt er. Den breiten Asphaltstreifen in einen attraktiven Ort zu verwandeln, ist gar nicht so einfach. „Selbst ein großer Blumenkübel wirkt auf einer breiten, leeren Fahrbahn schnell verloren“, so der Landschaftsarchitekt. Die Kunst liegt darin, mit wenig Angeboten attraktive Begegnungsstätten zu schaffen. Die Aktivist*innen der „Wanderbaumallee Stuttgart“ haben ein Konzept entwickelt, mit dem das gut funktioniert.

Wanderbäume in Schwäbisch Gmünd

Im Juli hat die 60.000-EinwohnerStadt Schwäbisch Gmünd als erste Kommune ihre eigene Wanderbaumallee aufgestellt. Sie ist ein Baustein des Projekts BIWAQ (Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier), das bis 2022 vom Bundesinnenministerium und dem Europäischen Sozialfonds gefördert wird. Erste Standorte waren der Johannisplatz in der Altstadt vor der romanischen Stadtkirche und kurze Zeit später wenige Hundert Meter entfernt vor dem Heilig-Kreuz Münster. Beide Plätze eignen sich im Prinzip perfekt zum Verweilen. Was bislang allerdings fehlte, waren die Sitzgelegenheiten. Die bekommen die Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner nun mit der Wanderbaumallee gleich mitgeliefert. Jedes der fünf Module wird von einer Sitzbank eingefasst. An dem Gemeinschaftsprojekt sind verschiedene BIWAQ-Partner beteiligt. Mitarbeitende einer Behindertenwerkstatt schnitten die Module zu, andere Projektteilnehmer*innen haben sie zusammengefügt und bepflanzt. Und die Mülltonnen, in die die Bäume eingepflanzt wurden, hat der regionale Abfallentsorger beigesteuert. Auch die Genehmigung der Standorte konnte so einfach und schnell erfolgen.
Nach sechs Tagen Standzeit auf dem Johannisplatz in der Altstadt war die Resonanz in der Bevölkerung groß. „Die Menschen verbringen dort ihre Mittagspause“, sagt Christine Hüttmann, Leiterin des BIWAQ-Projekts und Initiatorin der Wanderbaumallee. Einige Anrufer haben ihr bereits Pflanzen für weitere Module angeboten und die Einzelhändler möchten sie im Winter für Weihnachtsbäume vor ihren Geschäften nutzen. Allerdings gibt es auch Kritik. „Manche sehen in der Wanderbaumallee eine Scheinaktion“, sagt Christine Hüttmann. Statt kleine Bäume für kurze Zeit in die Altstadt zu bringen, fordern sie eine permanente Begrünung. Damit hat in Schwäbisch Gmünd bereits nach wenigen Tagen die öffentliche Diskussion darüber begonnen, wie die Stadt dauerhaft grüner werden soll. „Unsere Wanderbaumallee soll zeigen, dass sich temporäres Grün und Aufenthaltsqualität mit einfachen Mitteln umsetzen lassen. Die Bäume wandern im Herbst in die Stadtteile, werden dort eingepflanzt und leisten so einen Beitrag zur Stadtbegrünung“, ergänzt sie.

Mehr Informationen: biwaq-gmuend.de/wanderbaumallee-schwaebisch-gmuend

„Wanderbäume“ und mobile Parklets

Die Initiative „Wanderbaumallee“ gibt es seit 1992. Damals hat der Umweltschutzverein Green City erstmals sogenannte mobile Wanderbäume für einige Wochen in baumlose Straßen Münchens gebracht. Sie sollten für mehr Grün in der Stadt werben. 2019 haben die rund 15 Mitglieder der „Wanderbaumallee Stuttgart“ das Konzept dann übernommen und verfeinert. Sie wollten die Straßen nicht nur begrünen, sondern zeigen, dass Parkplätze auch Treffpunkte vor der eigenen Haustür werden können. Dafür haben sie verschiedene mobile Module entwickelt, die sich zum Sitzen, Bepflanzen oder beidem eignen. Mit zehn Wanderbäumen und sechs weiteren Elementen aus Grünpflanzen und Sitzgelegenheiten begrünen und verwandeln sie seitdem über die Sommermonate fünf Stuttgarter Straßen. Jeden ersten Samstag im Monat werden die Module wie Schubkarren zu ihrem neuen Standort geschoben.
Außerhalb von Pandemiezeiten verbinden sie den Standortwechsel mit einem Willkommensfest vor Ort. Das muss zurzeit ausfallen. Sämtliche Informationen über die Wanderbaumallee erhalten die Anwohnerinnen aktuell deshalb per Flyer. „Trotzdem fragen mich immer wieder Bewohner, ob sie die Bänke tatsächlich nutzen dürfen“, sagt Annika Wixler, Sprecherin der Initiative. Im Alltag wird die Nutzung dann allerdings schnell selbstverständlich. Beim Gießen der Bäume sieht die Aktivistin dort Kindergruppen, die Paninibilder tauschen, Erwachsene, die lesen, Pause machen oder etwas essen. Am Abend verabreden sich die Leute hier mit Freunden oder spielen zum Beispiel Backgammon. „Nicht jeder hat einen Balkon“, so Annika Wixler. Für manche seien die Sitzgelegenheiten eine sehr willkommene Erweiterung ihres Wohnzimmers. Das funktioniert besser, seit sie ihr Konzept verfeinert haben. „Im ersten Jahr haben wir die Module auf einer Strecke von über 400 Meter verteilt“, sagt Jesús Martínez. Inzwischen stellen sie jeweils drei bis vier Module zusammen, damit Sitzecken entstehen und die Menschen sich besser unterhalten können. In Stuttgart ist die Wanderbaumallee mittlerweile bekannt und beliebt. Rund 15 Interessierte meldeten ihre Straße Anfang 2021 bei der Initiative als potenziellen Standort. Dann ist aber auch die Nachbarschaft gefordert. Neben dem Gießen der Bäume und Pflanzen sind es zunächst einige organisatorische Punkte, die die Initiative mit einigen Anwohnerinnen erledigt. Dazu gehört, mögliche Standorte festzulegen und gemeinsam die Beiratssitzung des Bezirks zu besuchen. Denn deren Vertreter müssen die Wanderbaumallee genehmigen. Dazu brauchen sie genau gezeichnete Skizzen der späteren Standorte. Aber die Genehmigung ist in Stuttgart fast nur noch eine Formalie. Die Bezirksbeiräte unterstützten den Grundgedanken der Initiative seit 2019 und fördern sie auch finanziell.
Die Diskussion über die Verteilung des öffentlichen Raums beschäftigt viele Kommunen und auch die Menschen vor Ort. Mitglieder der Initiative sprechen über eine mögliche Umverteilung beim Willkommensfest oder zum Klön-Schnack-Treff zum Feierabend in entspannter Runde. „Es ist eine Frage der Priorität, ob Privatgegenstände wie Autos im öffentlichen Raum gelagert werden können, oder ob man Bäume und Sitzgelegenheiten für Menschen in der Stadt schaffen will“, sagt Annika Wixler. Die Meinungen dazu sind unterschiedlich. Wichtig ist für die Initiative, ins Gespräch zu kommen. In zwei Nachbarschaften hatte der vierwöchige Besuch der Wanderbaumallee bereits positive Folgen. Es wurde die dauerhafte Begrünung der Straßen beantragt und „sie wurde sogar genehmigt“, betont Annika Wixler. Mehr Tempo wäre hier sicher wünschenswert. Denn das war vor zwei Jahren und seitdem sei nichts passiert.

In verschiedenen Workshops hat man in Schweden unterschiedliche Terrassen entwickelt, die jetzt im Alltag getestet werden.

Schweden-Plan „One-Minute City“

In Deutschland hat die Diskussion über alternative Nutzungen gerade erst begonnen. In Schweden ist man bereits einige Schritte weiter. Dort wurden im vergangenen Jahr in Göteborg, Helsingborg und der Hauptstadt Stockholm Pilotprojekte umgesetzt, um Straßen für ihre Nutzerinnen künftig nachhaltiger, gesünder und lebendiger zu gestalten. Die Projekte laufen unter den Namen „Street Move“, „Framtidsgarto“ und „Smarta gator“ und sind Bausteine eines größeren nationalen Experiments. Dazu wurden verschiedene variable Holzbausätze entwickelt. Mit ihrer Hilfe werden Parkplätze, Straßen und Straßenabschnitte zu multifunktionalen Spielplätzen, Plantagen, Outdoor-Fitnessstudios, Ladestationen oder zu Stellplätzen für E-Bikes oder E-Kick-scooter. Die Idee dahinter ist, dass die Anwohnerinnen in ihrer unmittelbaren Nähe einen sozialen Treffpunkt finden, ein Fitnessstudio im Freien, städtische Gärten oder Spielplätze. Die Idee ist inspiriert von dem Stadtplanungskonzept der 15-Minuten-Stadt, die in großem Maßstab aktuell in Paris umgesetzt wird. In Schweden soll alles, was man braucht, in deutlich kleinerem Maßstab und auch schneller erreichbar sein. Schweden verfolgt die Idee der “One-Minute City“, der Stadt, in der alles in einer Minute erreichbar ist.
Das Projekt wird auch in diesem Jahr fortgeführt. Bemerkenswert ist die Vielzahl und Art der beteiligten Akteurinnen. Die schwedische Innovationsbehörde Vinnova hat die Bürgerinnen und Bürger in die Planung einbezogen, weiterhin beteiligt sind Vertreterinnen der Stadt Stockholm, des schwedischen Verkehrsamts, des Zentrums für Architektur und Design (ArkDes), Mobilitätsdienstleister wie Voi und Volvo Car Mobility, das Architektur- und Ingenieurunternehmen Sweco und weitere Innovationsunternehmen in den Bereichen Stadtplanung, Raumentwicklung, Design und Mobilität. Gemeinsam wurde in mehrstufigen Beteiligungsverfahren entwickelt, was für ein Angebot vor Ort gebraucht und gewünscht wird. Auf diese Weise wurden verschiedene Prototypen für die Stadtmöbel entwickelt. Diese werden jetzt in den Städten getestet und im regen Austausch mit allen Beteiligten weiterentwickelt.

„Heute zählen mehr Qualitäten als nur das Thema Einkaufsmöglichkeiten und Arbeitsplätze.“

Sascha Baron, Architektur- und Ingenieurbüro Sweco

Zeitgeist ermöglicht Veränderungen – auch in Deutschland

„Die Schweden haben mit der Umgestaltung ihres Straßenraums bereits einige Jahrzehnte vor uns begonnen“, sagt Sascha Baron, Ressortleiter Mobilitäts- und Verkehrsplanung bei Sweco in Frankfurt am Main. In Deutschland werde das Thema seit ein paar Jahren aber ebenfalls stärker diskutiert. Das hat verschiedene Gründe. Einer ist die Urbanisierung. Viele Menschen zieht es in die Städte, was eine Nachverdichtung zur Folge hat. Damit steigt der Druck auf den öffentlichen Raum. Öffentliche Flächen seien rar und es werde zunehmend die Frage gestellt, wie diese sinnvoll genutzt werden – zum Parken oder für die Freizeitgestaltung ohne Konsumzwang. Gleichzeitig verlangt der Klimawandel in den Städten nach mehr Grünflächen. „Hinzu kommt, dass wir eine sehr mündige Bevölkerung haben, die einerseits mehr Qualität wie Grünflächen einfordert, andererseits aber auch den Parkplatz vor der Haustür“, sagt Baron. Für ihn spielt aber noch ein weiterer Aspekt eine Rolle. „Wenn Sie sich heute als Stadt hervorheben wollen, zählen mehr Qualitäten als nur das Thema Einkaufsmöglichkeiten und Arbeitsplätze. Die Menschen wollen es schön haben.“ Dazu gehöre auch der Raum vor der Haustür.
Die Aufgabe der Kommunen sei es nun, den öffentlichen Raum neu zu organisieren und Prioritäten neu festzulegen. „In Deutschland hat das Auto zurzeit den höchsten Stellenwert“, so Baron. Aber der Zeitgeist ermögliche Veränderungen. Mit Blick auf die Diskussion um die Neuverteilung der Flächen helfe ein breit aufgestelltes Beteiligungsverfahren. Diese seien bei Planungsprojekten lange nicht mitgedacht worden. „Man weiß mittlerweile, dass man eine bessere Planung bekommt, wenn man die betroffenen Menschen einbezieht“, sagt er. In der Vergangenheit fehlten dafür oft die Mittel und das Personal. Die Politik sei zudem gut beraten, zunächst die Leitziele für die Stadt- und Verkehrsplanung der Zukunft zu entwickeln. Ein leitender Rahmen mit definierten Zielen sei wichtig, damit sich die Bürger und Bürgerinnen mit ihrer Ortskenntnis und ihren Bedürfnissen einbringen können. Anschließend könnten die Planerinnen dann interdisziplinär mit den Bürgerinnen entwickeln, wie die Ziele umgesetzt werden. Der Experte weiß: „Das erfordert anfangs etwas mehr Zeit, geht dann aber schneller, weil die Zustimmung in der gesamten Bevölkerung größer ist.“

NRW: Stadt-Terrassen zum Ausleihen

Das kommunale Unterstützungsnetzwerk „Zukunftsnetz Mobilität NRW“ verleiht seit Mai „Stadt-Terrassen“ an die Städte, Kreise und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen. Mit dem Angebot an vorgefertigten Ausleihmöbeln für den urbanen Raum will Nordrhein-Westfalen den Kommunen helfen, Experimente zur Umgestaltung des Straßenraums anzustoßen. Dazu stehen 15 verschiedene Stadt-Terrassen-Module zur Verfügung, die schlüsselfertig geliefert werden und nur noch montiert werden müssen. Der temporäre Charakter soll dabei signalisieren: Hier ist nichts final beschlossen, wir testen gemeinsam neue Möglichkeiten. Entwickelt wurden sie von den Architekten Wolf Krämer und Robin Lang von CityDecks für unterschiedliche Szenarien. „Die hohen Rückenlehnen schirmen die Nutzer von dem Autoverkehr ab“, sagt Robin Lang. Ein Café-Tisch macht das Arbeiten möglich und ein Stufensystem als Sitzgelegenheit soll Jugendliche ansprechen. Das neueste Element ist eine Pop-up-Radstation – mit Fahrradschlauchspender, zwei Montierstationen und einer Luftpumpe. Theo Jansen, Leiter der Geschäftsstelle des Zukunftsnetzs Mobilität NRW: „Die positiven Auswirkungen der Mobilitätswende müssen für die Menschen in den Städten und Gemeinden erlebbar gemacht werden. Experimente mit den ‚Stadt-Terrassen‘ erlauben einen Ausblick, welche positiven Veränderungen die Mobilitätswende auf das Alltagsleben der Menschen hat.“ Um qualifizierte Schlüsse ziehen zu können, wird die Nutzung der „Stadt-Terrassen“ von der Hochschule Bochum evaluiert.

Mehr Informationen: zukunftsnetz-mobilitaet.nrw.de


Bilder: Stephan Wimmer, raumzeug – Fabian Norden, Fabian Norden, Lundberg Design, Elsa Soläng – citydecks

Schwerlastfahrräder haben ein enormes Potenzial, den urbanen Wirtschaftsverkehr nachhaltig zu verändern. Mit neuen, hochbelastbaren Komponenten ausgerüstet liefern sie gute Argumente für die Ergänzung oder Umstellung des Warentransports: kompakt, flexibel, umwelt- und klimafreundlich, verlässlich und günstig in Anschaffung und Unterhalt.

Natürlich kann man nicht jede Fahrt mit dem Lkw, Sprinter oder Hochdachkombi im Wirtschaftsverkehr ersetzen. Andererseits zeigen Studien und Beispiele aus der Praxis, wie gut sich sogenannte Schwerlastfahrräder oder Heavy Cargobikes für urbane Regionen eignen und wie viele Fahrten sich damit vergleichsweise leicht und wirtschaftlich sinnvoll verlagern lassen. Schon vor Jahren schätzten Experten das Verlagerungspotenzial auf rund 20 Prozent der Fahrten. Angesichts neuer Erkenntnisse, entscheidender Verbesserungen der Fahrzeuge und einem zunehmenden Bewusstseinswandel schätzt der Radlogistik Verband Deutschland (RLVD) das Potenzial inzwischen sogar auf bis zu 30 Prozent, eine Einschätzung, die auch die Politik inzwischen teilt.

Hohe Anforderungen an die Technik erfüllt

Die Technik für Lastenräder befindet sich mittlerweile auf einem hohen technischen Niveau. Insbesondere bei Schwerlasträdern werden Komponenten wie Antrieb, Bremsen und Fahrwerk ständig weiterentwickelt, denn die Anforderungen sind extrem, vor allem im täglichen Lieferverkehr. „Schwerlastfahrräder unterscheiden sich maßgeblich von Cargobikes im privaten Sektor und müssen höchsten Beanspruchungen standhalten“, sagt Dirk Stölting, Head of Marketing & Design der Pinion GmbH aus Denkendorf bei Stuttgart. „Nutzungsintensität und Wirtschaftlichkeit erfordern entsprechende Komponenten.“ Pinion hat sich als Hersteller besonders leistungsfähiger, hochbelastbarer und gleichzeitig praktisch wartungsfreier Getriebeschaltungen seit der Gründung 2008 einen Namen in der Fahrradbranche gemacht.

Das Ziel der beiden Pinion-Gründer und ehemaligen Porsche-Ingenieure Christoph Lermen und Michael Schmitz war von Beginn an das Beste aus Automobil- und Fahrradtechnologien zu verbinden. So entstand ein am Tretlager untergebrachtes vollständig abgedichtetes High-End-Getriebe. Zusammen mit Partnern aus der Radlogistik haben die Pinion-Macher die besonderen Anforderungen im Bereich professioneller Lastenräder eingehend untersucht und so eine noch mal robustere Produktlinie mit einigen Extras für den besonderen Einsatzzweck, wie zum Beispiel einen Neutralgang entwickelt. Bei der neuen T-Linie, die für Transport steht, wurden laut Pinion sämtliche Bauteile auf sehr hohe Laufleistungen, geringen Verschleiß und maximale Beanspruchung ausgelegt. „Das Besondere am Getriebe ist, dass sich die Gänge auch bei hohen Nutzlasten in jeder Situation schalten lassen, ob im Stand oder während dem Pedalieren“, erläutert Dirk Stölting. „Bei plötzlichen Stopps oder beim Anfahren an Ampeln ist das ein enormer Vorteil.“ Dazu kommt, dass das Getriebe auf bis zu 250 Newtonmeter Eingangsdrehmoment ausgelegt ist und keinerlei Einstellung oder Justage benötigt. „Alle 10.000 Kilometer ein Ölwechsel – mehr muss man nicht tun“, so Stölting. Technisch einzigartig: Als einzige Schaltung am Markt sind Pinion T-Linien-Getriebe optional mit einem Neutralgang ausgestattet. Dieser ermöglicht ergonomisches Rückwärts-Rangieren schwerer Cargo-Fahrzeuge.

„Zudem bieten wir auch Servicekonzepte für Gewerbekunden, wie zum Beispiel eine lebenslange Verlängerung der Mobilitätsgarantie.“ Für den Pinion-Launchpartner Tricargo sind das ganz wesentliche Anforderungen, denn professionelle Fahrer*innen bringen mehr Kraft mit und haben, wie in anderen Berufszweigen, ganz andere Ansprüche an die Robustheit ihres Arbeitsgeräts. Die konkreten Herausforderungen kennt das Hamburger Unternehmen Tricargo sehr genau. Zum einen als lokaler Dienstleister für Radlogistik und zum anderen als Entwickler und Flottenhersteller des Schwerlast-Cargobikes „Lademeister“.

Innovationen aus der Garage für die Straße


Viele heutige Marktführer haben mit neuen Ansätzen und neuem Denken quasi „aus der Garage heraus“ Innovationen entwickelt, die unser Leben verändert haben und heute nicht mehr wegzudenken sind. Bemerkung am Rande: Auch Apple hat in einer Garage angefangen und dem Zitat von Steve Jobs, „Computers are like a bicycle for the mind“, folgend, sollte sein erster kommerzieller Computer nicht nach der Apfelsorte „Macintosh“, sondern schlicht „Bicycle“ heißen.

Auch Tricargo ist aus einer Garage heraus entstanden, mit dem Anspruch, genau den Service anzubieten, der im Hamburger Umfeld benötigt wird: flexible und nachhaltige Logistik per Fahrrad. Wobei die Idee nicht neu, sondern nur in Vergessenheit geraten ist. Bis zum Zweiten Weltkrieg gehörten Lastenräder für den günstigen Transport von Waren und Gütern und dem Verkauf auf der Straße nicht nur in den europäischen Städten zum alltäglichen Bild. Begonnen hat die Renaissance der Lastenräder mit der Entwicklung leistungsfähiger Lithium-Ionen-Akkus, die sich heute praktisch überall finden, und der Kombination mit entsprechend leistungsstarken Komponenten. Dazu kommen Aufbauten, die sich an den industriellen Standard-Industriemaßen von Paletten und Kisten und die einfache Beladung per Hubwagen orientieren.

„Computers are like a bicycle for the mind.“

Steve Jobs

Was in der Theorie einfach klingt, führte vor allem in der ersten Zeit zu Problemen, die aber inzwischen gelöst sind. „Die Beschaffenheit des Materials und die Verarbeitung und Stabilität der Komponenten sind enorm wichtig für die Haltbarkeit des Rades und die Sicherheit des Fahrenden“, betont Heinrich Berger von Tricargo. Das gab letztlich auch den Ausschlag zur Entwicklung eigener Lastenräder, zuerst für den Eigenbedarf, aber natürlich mit dem Ziel, auch andere davon profitieren zu lassen. So entstand der sogenannte Lademeister als robustes Nutzfahrzeug, das zuverlässig tägliche Transportaufgaben erledigt. „Im Lademeister stecken mehr als 150.000 Kilometer Praxiserfahrung aus unserer Radlogistik“, erläutert Heinrich Berger.

„Dort entwickelten und testeten wir den Lademeister für die Feinverteilung von Gütern auf der letzten Meile.“ Die Pedalkraft wird beim Lademeister mittels Pinion-Getriebe übersetzt und wirkt auf das rechte Hinterrad. Zusätzlich unterstützt ein 250-Watt- Elektromotor in der Vorderradnabe bis 25 km/h. Rechtlich ist das große zweispurige Rad damit ein Pedelec und dem Fahrrad gleichgestellt. Die Vorteile: Fahrer*innen benötigen keinen Führerschein und können überall dort fahren, wo auch einspurige Fahrräder gemäß StVO unterwegs sein dürfen. Auch das Parken auf dem Fußweg ist erlaubt. Die Geschwindigkeit reicht laut Heinrich Berger völlig aus, nur bei der zugelassenen Leistungsangabe, also der Watt-Zahl im Dauerbetrieb, würde er sich eine schnelle Änderung der EU-weit gültigen Regularien wünschen. „In Regionen wie Hamburg, Köln oder Bonn, wo sich unsere Räder im Einsatz befinden, kommen wir mit 250 Watt Motorunterstützung gut klar, aber wir müssen auch an Regionen mit anspruchsvolleren Topografien denken. Deshalb setzen wir uns, wie die Verbände, für die Anhebung der Leistungsgrenze ein.“

Dreirädrige Lastenräder mit Motor gab es schon zur Jahrhundertwende. Unterwegs: Fotograf August F.W. Vogt (1871-1922) im Jahr 1905 in Amsterdam.

Profi-Lastenräder sind eine echte Alternative

Ansonsten habe man inzwischen ein sehr ausgereiftes Produkt, das sich in der harten täglichen Praxis bestens bewähre. Dafür sorgen beispielsweise ein hochstabiler Stahlrahmen, der in der Nähe von Osnabrück speziell für Tricargo gefertigt wird, sowie Räder und Scheibenbremsen aus der Motorradtechnik. Das ist wichtig, denn das zulässige Gesamtgewicht beträgt 425 kg, bei einer Nutzlast von 210 kg. Wer den Zustand der Radwege und die Vielzahl der Hindernisse wie Bordsteinkanten kennt, kann sich die Belastungen im Alltag gut vorstellen. „Auch wenn Profi-Lastenräder damit in der Anschaffung teurer werden, die hohe Qualität wirkt sich auf die Zuverlässigkeit, die Standzeiten der Komponenten und die Haltbarkeit der Räder insgesamt positiv aus“, sagt Heinrich Berger. Das mache sich vor allem mit Blick auf die Gesamtkosten, also die Total Cost of Ownership (TCO) der Lastenräder bemerkbar. Deshalb setzt Tricargo seit jeher unter anderem auch auf das Pinion-Getriebe. Als Launchpartner von Pinion nutzen die Hamburger erste Serienmodelle des neuen Lastenradgetriebes mit großer Begeisterung schon seit über 10.000 Kilometern.

„Nicht die Idee des Lastenradtransports an sich macht den Erfolg und eine Revolution im Wirtschaftsverkehr möglich, sondern die Kombination hochleistungsfähiger Komponenten“, betont Berger. „Ich bin davon überzeugt, dass wir gerade einen Durchbruch erleben. Cargobikes mit neuer Technik sind eine echte Alternative, nicht irgendwann in der Zukunft, sondern jetzt.“

Neue Geschäftsmodelle und Chancen

Auch veränderte Kundenerwartungen und neue Geschäftsideen dürften den Markt künftig weiter befeuern. Zu den Abnehmern des Tricargo Lademeisters gehört beispielsweise das im Raum Köln/Bonn tätige wertegetriebene Unternehmen „Himmel un Ääd“ – analog zum rheinischen Gericht Äpfel (Himmel) und Kartoffeln (Ääd/ Erde). Das Geschäftsmodell ruht dabei auf zwei Säulen: Radlogistik und ein Onlineshop für regionale Lebensmittel, die mit dem Lastenrad ausgeliefert werden. Ein weiterer Kunde und gleichzeitig Multiplikator ist die Memo AG. Der Spezialist für nachhaltigen Öko-Bürobedarf mit über 20.000 Produkten im Sortiment legt Wert darauf, dass Bestellungen auf der letzten Meile mit E-Lastenrädern ausgeliefert werden, die ausschließlich Ökostrom als Energie nutzen und so komplett emissionsfrei unterwegs sind. Um das zu gewährleisten stellt das Unternehmen Radlogistikern entsprechend gebrandete Räder zur Verfügung.

Generell sind die Einsatzgebiete von Profi-Cargobikes enorm vielfältig. Aktuell sind sie nicht nur technisch ausgereift, sie passen auch in die Zeit und hervorragend zu wieder lebenswerten Städten und Quartieren. Entsprechende Verbesserungen bei der Infrastruktur vorausgesetzt, zum Beispiel mit mobilen oder stationären Sammelpunkten für Pakete, sogenannten Micro-Hubs/Mikro-Depots, breiten Radwegen und ausreichend großen Park- und Halteflächen, verschiedenen Push- und Pull-Faktoren und neuen gesetzlichen Regelungen könnte hier ein völlig neuer, klimafreundlicher Multimillionen-Markt entstehen. Technologietreiber sind aktuell vor allem kleine und mittelständische Unternehmen. Sie aktiv zu fördern und neuen Entwicklungen für den nachhaltigen Lastentransport keine unnötigen Steine, wie bei der Begrenzung der Motorkraft, in den Weg zu legen, sollte mit Blick auf die Herausforderungen der Zeit eine Selbstverständlichkeit sein. Besonders wichtig für die Zukunft ist laut Experten unter anderem, dass die rechtliche Gleichstellung von Schwerlasträdern bis zu einem Gewicht von 500 kg zum Fahrrad erhalten bleibt. Eine umfangreiche Stellungnahme zum Nationalen Radverkehrsplan 3.0 mit Wünschen an die Politik hat der Radlogistik Verband Deutschland e.V. (RLVD) vorgelegt.


Steckbrief TRICARGO Lademeister

Das Schwerlastrad Lademeister von Tricargo ist optimiert für den Transport von Europaletten und allen kompatiblen Kistenformaten. Er lässt sich ergonomisch be- und entladen – auch per Gabelstapler. Die effektive Nutzlast beträgt 210 kg und das zulässige Gesamtgewicht 425 kg, bei 140 kg Leergewicht inkl. Box. Die Reichweite beträgt in der Praxis 40 bis 60 km. Für die Energie sorgt ein Greenpack-Wechselakku mit 1.456 Wh und einer Ladezeit von vier Stunden. Der Vorderradnabenmotor unterstützt mit 250 Watt und verfügt über eine Anfahr- bzw. Schiebehilfe. Die hintere Scheibenbremsanlage sowie die Laufräder kommen aus dem Motorradbau. Die optionale Transportbox hat ein Volumen von 2,17 Kubikmetern, Ladefläche in der Box 1522 × 815 × 1520 mm (L × B ×H). Weitere Konfigurationen sind optional verfügbar.
Mehr Informationen: www.lademeister.bike


Steckbrief PINION T-Linie

Mit eigens für den Schwerlastbereich entwickelten Schaltgetrieben professionalisiert Getriebehersteller Pinion den Markt der gewerblich genutzten Lastenräder. Fest steht: Komponenten müssen im Schwerlastbereich enormen Belastungen standhalten. Pinion T-Linien-Getriebe sind für den dauerhaften Einsatz von Lasten bis zu 250 Nm Eingangsdrehmoment ausgelegt. Verschleißarm und mit minimalem Wartungsaufwand sind die Getriebe kosteneffizient bei geringem TCO. Sie können als Direkt- oder Zwischengetriebe in Ein-, Zwei- und Dreispurfahrzeugen eingesetzt und mit verschiedenen Elektromotoren kombiniert werden – das bietet Herstellern höchste Flexibilität in der Entwicklungs- und Konstruktionsphase. Abgerundet wird Pinions Angebot an gewerbliche Kunden durch verlängerte Serviceintervalle und speziell angepasste Servicekonzepte.

Mehr Informationen: pinion.eu /pinion-industrial.eu

Text: Reiner Kolberg

Bilder:
Tricargo, Wikimedia Commons, Pinion

Die Probleme unserer Zeit sind komplex und das Beharrungsvermögen vielfach groß. Keine leichte Aufgabe also, Dinge zu verändern und Neues zu denken. Komplex? Ja! Aber nur, weil es komplex ist, lassen wir ja auch nicht die Astrophysik sein oder die Forschung nach Impfstoffen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Große Herausforderungen und neues Denken stehen auch im Bereich Mobilität und Verkehr an. Vor allem, wenn man sich nicht nur darauf konzentriert, Menschen möglichst schnell von A nach B und zurück zu bringen, sondern andere Dimensionen mitdenkt. Ein entschlossener Kurs Richtung Klimaneutralität gehört ebenso dazu wie die Herausforderungen der Urbanisierung, die Bewegungsarmut von Kindern, die in wenigen Jahren massiv wachsende Gruppe der Älteren (Stichwort geburtenstarke Jahrgänge) und nicht zu vergessen die sozialen Komponenten der Mobilität. Zudem braucht es verstärkt eine weibliche Perspektive, denn Mobilität, oder das, was wir darunter verstehen, wurde und wird weiterhin vor allem von Männern gedacht und geplant, wie Kritiker*innen immer wieder anmerken. Die Probleme sind bekannt und die Konzepte liegen auf dem Tisch. Vernetztes Denken und praktische Lösungen, die nicht mehr das private Auto oder den Lieferwagen in den Mittelpunkt stellen, findet man bislang allerdings vor allem in den Nachbarländern. Vielfach scheint es so, als würden wir in einem Denken, das uns über Jahre geprägt hat, feststecken. Würden wir sonst den weiteren Zuwachs von im Schnitt immer größeren und schnelleren Fahrzeugen zulassen und sogar noch fördern und auf der anderen Seite neuen, umweltfreundlichen und eher am menschlichen Maß ausgerichteten oder besser „angemessenen“ Mobilitätsformen generell erst einmal kritisch gegenüberstehen?

„Es muss den Menschen Freude machen sich anderes zu verhalten.“

Ines Imdahl, Rheingold-Salon

Umparken im Kopf

Vor zwei Jahren wurde bei einer Podiumsdiskussion zum Thema Mikromobilität zum Beispiel ernsthaft die Frage diskutiert, wohin denn die ganzen neuen Fahrzeuge sollten. Für Professor Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsforscher und Leiter des Studiengangs Verkehrssysteme an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, zeugen solche Diskussionen und „das Gemecker über den Platz, den E-Trottis (E-Tretroller in der Schweiz) verstellen“ von einer „komplett verschobenen Wahrnehmung“. „Die am Fahrbahnrand parkierten Blechlawinen werden derweil als normal wahrgenommen.“ Ihm zu widersprechen fällt schwer, wenn man mit offenen Augen durch die Städte und Quartiere geht, sich alte Bilder von Plätzen und Straßen anschaut, die noch zum Flanieren und Verweilen einluden oder sich mit statistischen Daten befasst. Wie verändern wir also unser Umfeld und die Gewohnheiten? Mit dem wiederholten Ausrufen von Zielen, wie „mehr Güter auf die Schiene“, „Deutschland wird digitaler Vorreiter“ oder „Deutschland wird Fahrradland“ wird erfahrungsgemäß noch kein Wandel angestoßen, obwohl ein öffentliches Commitment natürlich wichtig ist. Aber dann muss es auch weitergehen. Und die Zeit drängt: „Die Welt befindet sich bereits im Klimanotstand, und das Autoabhängige Verkehrssystem ist dafür ein fataler Treiber“, heißt es dazu als Fazit in unserem Buchtipp „Nachhaltige Mobilität für alle“ (S. 80). Zu wissen, wohin die Reise gehen soll, sei der erste notwendige Schritt. „Der nächste sollte sein, mit der Reise unverzüglich zu beginnen.“
Expertinnen, Politikerinnen und Verbände beschäftigen sich aktuell intensiv auf vielen Ebenen damit, die Rahmenbedingungen an die Herausforderungen der Zeit anzupassen. Reicht das? Letztlich kommt es wohl vor allem auch darauf an, die Menschen mitzunehmen und dabei auch diejenigen nicht zu vergessen, die dem erst einmal eher ablehnend gegenüberstehen. Denn sonst ist schnell das Tor geöffnet für Populisten, die gezielt auf die Ängste der Menschen setzen. Kommunikativ lässt sich eine Menge erreichen, wenn man kreativ ist und wirklich will. Viele werden sich noch an „Umparken im Kopf“ erinnern. Die groß angelegte und viel beachtete Kampagne ließ 2014 erst einmal den Absender offen und stellte sich auf eine sympathisch-humorige Art generell gegen Vorurteile und warb so für eine andere innere Einstellung. Dabei ging es weder um die Mobilitätswende noch um den Klimawandel, sondern „nur“ um einen Imagewandel bei der angestaubten Automarke Opel. Nach Brancheneinschätzung ein „Himmelfahrtskommando“, das die frisch ernannte Marketing-Chefin Tina Müller trotzdem mit Bravour und Jürgen Klopp als positiv-sympathisch Andersdenkendem glaubhaft löste. Das Rezept, aus der Not eine Tugend zu machen, ging voll auf. Lax formuliert: Wenn man es beim Opel-Image schafft umzudenken, dann sollte es doch auch bei der Mobilitätswende möglich sein mit dem Umparken im Kopf.

Oft vergessen oder ausgeblendet: Ältere, Frauen und Bürger*innen mit Migrationsgeschichte (2019: 26 %).

Die Zukunft und den Wandel umarmen

Wie bringt man auf den ersten Blick völlig unterschiedliche Bereiche wie Verkehr, Soziales, Gesundheit, Städteplanung und Umwelt-/Klimaschutz zusammen? Wie vermeidet man Endlos-Diskussionsschleifen und wie bringt man Menschen zu Verhaltensänderungen? Leadership-Experten empfehlen, die Zukunft und den Wandel zu „umarmen“, positive Bilder zu schaffen und den Menschen einen neuen Sinn, neudeutsch Purpose zu geben. „Einfach nur etwas im Kopf zu ändern, reicht nicht aus“, diagnostiziert auch die Psychologin Ines Imdahl, Mitgeschäftsführerin der auf qualitative Marktforschung, tiefenpsychologische Erkenntnisse und strategische Umsetzungen spezialisierten Agentur Rheingold-Salon. Es müsse eine Vision geben. „Wozu tun wir das? Was wollen wir bewegen?“ Das gelte universell, denn letztlich ginge es immer um die Menschen und ihre Bedürfnisse, und die seien aus dem Blickfeld geraten. „Nur wenn ich verstehe, was die Menschen davon haben, sich so zu verhalten, wie sie sich verhalten, kann ich überlegen, gibt es Alternativen? Wenn ich einfach nur sage, wir müssen das ändern, dann ist das ein Schritt zu schnell.“ Entscheidend sei die Frage nach dem Warum. Erst danach könne man sagen „wie kann ich das ändern und was sind die Hebel?“ Psychologisch gesehen sei es schlicht so, dass die Menschen zuallererst an sich dächten. Zentrale Motive seien Selbsterhalt und die Vergrößerung der eigenen Wichtigkeit. „Die enorme Kulturleistung, auch an die anderen zu denken, müssen wir tagtäglich neu leisten.“ Wichtig sei ein neuer Blick auf das große Ganze und eine Abkehr vom sogenannten Silo-Denken, also der Fixierung auf Teilausschnitte. Die Sinnfrage könne helfen, Zusammenhänge wiederherzustellen. Dazu komme eine andere wichtige Komponente: Spaß und Lustgewinn. „Es muss den Menschen Freude machen, sich anders zu verhalten. Sie müssen Spaß daran haben, die Perspektive des anderen einzunehmen, und das muss belohnt werden.“ Wichtig sei in diesem Zusammenhang auch das Thema Diversität, zum Beispiel mit Blick auf die unterschiedlichen Strategien und Denkmuster von Männern und Frauen. „Diversität hilft, andere Perspektiven einzunehmen und einen Zusammenhang herzustellen.“

„Wir müssen Männer, Frauen und Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten, mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und Erfahrungen ansprechen.“

Anna Weiß

Freude am Fahren

Lustgewinn ist also ein guter Antrieb, und so wundert es nicht, dass der Autohersteller BMW schon seit den 1970er-Jahren mit dem Motto „Freude am Fahren“ lockt. Auch die Politik hat in Deutschland viel dafür getan und tut es noch, damit der Spaß am Autofahren aktiv gefördert und möglichst wenig getrübt wird. Praktisch als gedankliches Grundrecht hat sich zudem das Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“ in vielen Köpfen etabliert, mit dem der ADAC über Jahrzehnte erfolgreich gegen ein generelles Tempolimit auf Autobahnen opponierte. Freude am Radfahren und freie Fahrt für Radfahrerinnen und Radfahrer, Junge, wie Alte, sucht man dagegen oft vergebens. Genauso erfolglos sucht man vielerorts auch nach Freude am entspannten Zufußgehen, nach der Freiheit für kleine Kinder, ungefährdet auf dem Bürgersteig Rad zu fahren, in einer ausgewiesenen „Spielstraße“ wirklich spielen zu können oder überhaupt ohne Auto mobil zu sein. Natürlich kann man in diesem Zusammenhang fragen, ob nicht die Infrastruktur grundsätzlich anders gestaltet und anders genutzt werden müsste, oder warum der in der Straßenverkehrsordnung angelegte Schutz der „Flüssigkeit des Verkehrs“ höher wiegt als die Sicherheit der Menschen. Und natürlich kann man auch fragen, ob nicht die Reduzierung der in den 1950er-Jahren eingeführten Regelgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts noch zeitgemäß ist, wenn wir doch wissen, dass sich seit 1970 sowohl der Fahrzeugbestand als auch die Fahrleistung verdreifacht hat, die Verkehrsteilnehmer immer älter werden und die Lebensqualität in den Quartieren bei geringerem Tempo deutlich zunimmt.

Typisch Mann – typisch Frau

Männlichkeit sei in unseren Gesellschaften historisch sehr stark mit Unverletzlichkeit verknüpft, sagt die Soziologin Sabine Hark. Sie zeichne sich nach wie vor auch durch ein Verhalten aus, das einschließt, sich selbst und andere Risiken auszusetzen, statt sie zu vermeiden. Mit Blick auf Raser und illegale Autorennen in der Stadt – es säßen immer Männer am Steuer. Frauen würden dagegen stärker dazu erzogen, die Bedürfnisse von anderen wahrzunehmen und in das eigene Verhaltensrepertoire einzubeziehen.

Perspektiven wechseln und out of the box denken

Wie schafft man es aus dem „Silo-Denken“ herauszukommen, Perspektiven von anderen mitzudenken und neue Ansichten zu entwickeln? „Man muss die Entscheidungsträger selbst die Stadt ‚erfahren‘ lassen, in einem geführten Rahmen“, sagt die Expertin für Design Thinking Anna Weiß, die in ihrer Arbeit immer den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Dabei sollten die Bedingungen so realitätsnah wie möglich sein. „Wie fühlt es sich an, auf dem Fahrrad unterwegs zu sein, und wie zu Fuß? Wie schaut es bei schlechtem Wetter aus, wie mit Gepäck oder in Begleitung von Kindern oder einem Hund?“ Für Perspektivwechsel sorgt sie als Veranstalterin von Workshops in den Alpen zum Beispiel, indem sie Mountainbiker*innen und Wandernde die Rollen tauschen lässt. Wie fühlt es sich für eine wandernde Familie an, wenn unvermittelt ein Mountainbike von hinten vorbeischießt und wie sieht die gleiche Situation aus Sicht des Mountainbikers aus? „Bitte Rücksicht nehmen, ist leicht gesagt, aber vielen sind die Probleme gar nicht bewusst.“ Ebenso wenig präsent sei bei Entscheidern und vor allem in der Kommunikation nach außen ein realistisches Bild der Menschen und Kundengruppen. „In den Medien abgebildet werden meist junge sportlich-schlanke Models, gerade bei den Frauen. Die Menschen in der Realität sind aber messbar nicht nur älter, sondern auch viel diverser, als wir es in den Medien der Touristiker, in Fachzeitschriften, Publikumsmedien aber auch von den Verbänden sehen.“
Mit dieser verschobenen Realitätswahrnehmung sei es auch nicht verwunderlich, dass viele Entscheider Ältere, Übergewichtige oder Menschen aus anderen Kulturen weder auf dem Schirm hätten noch ihre Bedürfnisse und Probleme nachempfinden könnten. In Outdoor-Workshops nutzt Anna Weiß gern sogenannte Adipositasanzüge zur konkreten Simulation von Fettleibigkeit. „Der Aha-Effekt, der damit entsteht, schlägt jede theoretische Wissensvermittlung um Längen.“ Einen noch größeren Effekt sieht sie im Hinblick auf die stark alternde Bevölkerung in der Nutzung von sogenannten Alterssimulationsanzügen, die unter anderem das Hör- und Sehvermögen, das Gesichtsfeld und die Beweglichkeit von Kopf, Rumpf und Armen einschränken und durch Gewichte selbst einfache Bewegungen deutlich anstrengender machen. „Man muss ganz klar sagen, dass es schon für normale Radfahrerinnen und Radfahrer echt gefährlich auf den Straßen ist“, stellt Anna Weiß fest. „Wie schaut es dann erst für Kinder und Alte aus?“ Die Infrastruktur für den Radverkehr sei im Gegensatz zur Autoinfrastruktur so eingerichtet, dass sie hohe Anforderungen an die Nutzer stellt. Das müssten wir komplett umdrehen. „Wir brauchen einen Rahmen, in dem sich auch Unerfahrene und Unsichere aufs Rad trauen, einen Rahmen der Fehler verzeiht und der den Menschen vor allem wieder den Spaß an der Bewegung neu vermittelt.“ Um mehr Menschen zu motivieren, aufs Rad umzusteigen müsse man konkret auf die Menschen zugehen, sie beobachten und befragen. „Wir müssen Männer, Frauen und Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten, mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und Erfahrungen ansprechen.“

„Wir brauchen mehr Frauen als Entscheiderinnen und vor allem muss die weibliche Perspektive stärker in Betracht gezogen werden.“

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan

Chancengleichheit für „weibliche“ Mobilität

Ein nach wie vor bestehendes Problem ist Analysen zufolge, dass Mobilität weiterhin vor allem aus männlicher Sicht gedacht wird. „Wenn wir echte Veränderungen wollen, dann müssen wir uns viel stärker als bislang mit den Bedürfnissen und spezifischen Sozialisierungen und Rollen von Männern und Frauen beschäftigen“, betont Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan, Geschäftsführerin des AEM Institute. Für Kommunen, Mobilitätsanbieter, Young Professionals und NGOs bietet sie Gender- und Accessibility-Beratung und unterstützt in der Umsetzung von gerechter und umweltfreundlicher Mobilität. „Es ist wichtig, das Thema Mobilität ganzheitlicher und diverser zu betrachten.“ Ein aktuelles Problem sei beispielsweise, dass das Denken stark technologisch geprägt ist. „Es wird weniger gefragt, welche Probleme haben wir und welche Lösungen gibt es dafür, sondern was ist technisch möglich und was könnte man damit machen?“ Letzteres sei der Technikfaszination von Männern ebenso geschuldet wie den Geldmitteln der Technologie-Fonds. Frauen hätten aus ihrer Sozialisation heraus dagegen ein ganz anderes Verständnis und andere Bedürfnisse. „Frauen wollen praktische und intuitiv bedienbare Produkte und Services.“ Viele Komponenten kämen in der männlichen Erlebniswelt gar nicht vor, deshalb hätten Entscheider sie oft auch nicht auf der Liste. Ganz oben: Sicherheit. Ein Begriff der im englischen Sprachraum deutlich differenzierter und treffender sei: Safety für körperliche Unversehrtheit und der oft zu wenig betrachtete Begriff Security – also die persönliche Sicherheit vor Angriffen. Zweites spiele im Alltag von Frauen eine besondere Rolle, zum Beispiel was bestimmte Routen, Orte oder besonderen Zeiten angeht, zum Beispiel mit Blick auf Haltestellen, Parkhäuser oder menschenleere Straßen. „Allgemein gilt: Mobilität und die dazugehörigen Verkehrsmittel, die Orte und die Infrastruktur dürfen nicht für Mutige gemacht sein.“ Umgekehrt dürften die Mutigen (sozialisationsbedingt meist Männer) ihr Umfeld nicht beeinträchtigen und für Angst sorgen. „Wichtig ist ein gesamtgesellschaftliches Umdenken.“
Handlungsbedarf gibt es aber noch in vielen anderen Feldern. Das fange schon bei Umfragen und Statistiken wie der Auswertung „Mobilität in Deutschland“ an, bei denen beispielsweise Berufspendler priorisiert würden. Besonders auffällig sei das Missverhältnis zeitweise beim Thema Elektromobilität. „Umfragen müssen ja nicht zwangsweise repräsentativ sein, aber was soll man bei einem Männeranteil von 96 Prozent erwarten?“
Ein Thema, das bei Untersuchungen zudem vielfach ausgeblendet werde, sind kulturelle Unterschiede und Besonderheiten, auch im Hinblick auf die hohe Zahl der Bürger mit Migrationsgeschichte. „In einigen Kulturen gilt der Fahrradsattel zwischen den Beinen einer Frau als unschicklich und für Männer ist Radfahren Ausdruck eines niedrigen sozialen Status.“ Solche Vorurteile könne man mit gezielten Maßnahmen aber aufbrechen. Ein großes Problem sei weiterhin auch die Infrastruktur. „Frauenmobilität ist meist Alltagsmobilität. Das wird vielfach weder gesehen noch gemessen.“ Geschlechtsspezifische Studien aus San Francisco hätten beispielsweise gezeigt, dass sich die Zahl der Radfahrerinnen durch die Verbesserung der Infrastruktur verdoppelte. Wie kann die Situation künftig insgesamt besser werden? „Wir brauchen eine Chancengleichheit auf einer gemeinsamen Ebene. Wir müssen die Unterschiede adressieren. Wir brauchen mehr Frauen als Entscheiderinnen und vor allem muss die weibliche Perspektive stärker in Betracht gezogen werden.“
Es lohnt sich also, Neues zu denken. Positive Beispiele, die inspirieren und motivieren, gibt es reichlich. So, wie der elektrische Anlasser die automobile Revolution möglich gemacht hat, schicken sich heute vor allem leistungsfähige Akkus, Elektromotoren und Apps an, den Markt mit neuen Mobilitätsformen zu revolutionieren. Ein entscheidendes Kriterium: die Angemessenheit. Die Produkte, Konzepte und Best-Practice-Lösungen sind längst da und es macht Spaß, sich damit zu beschäftigen und sie auszuprobieren, wann immer sich die Gelegenheit bietet.

Problem: rapide wachsende Zahl älterer Menschen

Der Anteil der über 65-Jährigen liegt hierzulande laut Statista in diesem Jahr bei 23,1 %. 2030 sind es aufgrund der geburtenstarken Jahrgänge bereits 27,8% und 2034 dann 30 %. Ältere sind als Verkehrsteilnehmer besonders gefährdet, einen tödlichen Unfall zu erleiden. Vor allem in Innenstädten und hier zu Fuß oder mit dem Fahrrad. 2019 starben rund 43 % der innerorts im Verkehr getöteten Menschen über 65 Jahren als Fußgänger*innen. Ein Hauptgrund: die altersbedingte Schwierigkeit, das Tempo von Fahrzeugen und Lücken im Verkehr richtig einzuschätzen. Der Anteil der tödlichen Unfälle per Fahrrad/Pedelec betrug hier 32,5 %. In Frankreich werden die Themen Mobilität bzw. Mobilitätsarmut im Alter inzwischen ganzheitlich als Querschnittsfunktion betrachtet. „Das Fehlen oder die fehlende Eignung des Mobilitätsangebots kann ein ‚soziales Sterben‘ älterer Menschen bewirken“, sagt die Interministerielle Delegierte für Verkehrssicherheit, Maria Gautier-Melleray.

Quellen: Statista, DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2021


Bilder: stock.adobe.com – j-mel, www.brompton.de – pd-f, stock.adobe.com – Halfpoint – JustLife, Anna Weiß, Ines Kawgan-Kagan, DEKRA Verkehrssicherheitsreport © DEKRA

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Kommt Ihnen unser Titel „Plan-Build-Ride“ bekannt vor aus Ihrem Unternehmen, Ihrer Organisation oder Verwaltung? „Plan-Build-Run“ war viele Jahre das gelebte Mantra in der IT – und mehr oder weniger bewusst sicher auch ein gutes Stück im Verkehrssektor. Grob gesagt war diese Philosophie in erster Linie auf Sicherheit, Prozesskonformität und Effizienz ausgelegt. Innovationen bedeuten vor allem weitere Effizienzsteigerungen und Kostensenkungen, nicht mehr, nicht weniger. Damit fuhr man jahrelang gut. Mit der heutigen Realität hat das System, das Unternehmen und das Denken einer ganzen Generation prägte, aber nur noch wenig gemein. Längst fordert die enorme Geschwindigkeit der allgemeinen Veränderungen neue Ansätze. Umkehrt beschleunigen diese wiederum Veränderungen.
„Das Plan-Build-Run-Modell ist tot“, behaupteten schon vor über zehn Jahren die Technologieberater von Forrester Research. Die Zukunft sei „Agilität“. Dieser neue Ansatz hat Konzerne wie Amazon, Google oder Tesla mit hervorgebracht und tatsächlich gibt es heute kaum noch ein Unternehmen, das sich nicht intensiv mit dem Thema befasst. Allerdings ist Umfragen zufolge der Anteil der Mitarbeitenden, die damit bislang noch nicht viel anfangen können, groß. Zeit also, auch in den Bereichen Mobilität und Verkehrsplanung über Agilität als neue Basis und Zukunftsstrategie nachzudenken? Sicher ist, dass auch hier die Geschwindigkeit der Veränderungen immer weiter zunimmt. Ein Treiber ist das Ziel Klimaneutralität mit seinen Verpflichtungen, wie dem Pariser Abkommen und dem Green Deal der EU, ein anderer die Einsicht, dass sich die Städte und Kommunen beim Thema Mobilität in einer Sackgasse befinden. „Die Städte wollen die Verkehrswende“, sagte im Februar letzten Jahres der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages Helmut Dedy im VELOPLAN-Interview (online unter veloplan.de).

Schneller Wandel und Disruption

„Allein durch alternative Antriebe werden wir die Klimaziele im Verkehr keinesfalls erreichen“, sagt der gefragte Analyst und Mikromobilitätsexperte Horace Dediu. Weltweit steige mit dem zunehmenden Wohlstand auch die Anzahl der Pkw, ihr Gewicht und ihre Motorisierung. Den zusätzlichen Material- und Energieverbrauch könne keine Technologie auffangen. Wer sich die Statistiken anschaut, wird ihm kaum widersprechen wollen. Auch in Deutschland steigen die Pkw-Zulassungen und der Anteil an schweren SUVs weiter und die durchschnittliche PS-Zahl ist im letzten Jahr um 7 auf nun 165 gestiegen. Notwendig ist nach der Meinung von Experten wie Horace Dediu ein Umdenken auf breiter Ebene hin zu kleineren, leichteren und umweltfreundlicheren Fahrzeugen.
Mit neuen Technologien entwickeln sich heute zudem auch Geschäftsmodelle um ein Vielfaches schneller. Während vielerorts beispielsweise noch über den zunehmenden Internethandel und steigendes Paket- und Lieferaufkommen geredet (oder geschimpft) wird, sind längst Fakten geschaffen. Amazon und Zalando oder Start-ups wie Lieferando oder Flaschenpost krempeln komplette Märkte um. Schnelligkeit und maximale Verfügbarkeit werden zum Geschäftsmodell. On-Demand-Lieferdienste, wie „Gorillas“, versprechen heute Lebensmittellieferungen – dank E-Bikes – innerhalb von zehn Minuten. Was macht das mit den Kaufhäusern, dem Einzelhandel und unseren Städten? Und welche Funktionen müssen sie künftig erfüllen?
„Der Wandel verlangsamt sich nicht“, sagt der amerikanische Keynote-Speaker Scott Stratten (UnMarketing Inc.). In seinen Vorträgen macht er das anhand eingängiger Bilder deutlich: „Es hat 76 Jahre gedauert, bis sich Elektrizität in den amerikanischen Haushalten durchgesetzt hat, 43 Jahre für den Kühlschrank, 27 Jahre für die Mikrowelle, 6 Jahre für das Internet, 4 Jahre für Smartphones, 2 Jahre für Social Media. Sehen wir da ein Muster?“ Für die junge Generation der Millennials, also die ca. zwischen 1980 und 2000 Geborenen, sei „Disruption“ die einzige bekannte Erfahrung und „ein Asset für jedes Business und ein Asset für diese Welt“. Der Begriff Disruption steht dabei für Revolution statt Evolution. Eine alte, etablierte Lösung wird durch eine potenziell deutlich einfachere, schnellere oder bequemere in rasantem Tempo ersetzt. Unter dieser Perspektive kann man das schnelle Verschwinden von CDs und DVDs ebenso besser verstehen wie den sprichwörtlichen Durchmarsch der E-Scooter-Sharer. Mit enormer Geschwindigkeit bei der Innovation und Expansion, viel Investorenkapital im Rücken und dem festen Willen, Fakten zu schaffen und Konkurrenz aus dem Rennen zu schlagen, träfen die Betreiber nach Scott Stratten auf absolut unvorbereitete und völlig andersdenkende Städte und Verantwortliche. Von heute auf morgen würden einige Tausend E-Kickscooter in einer Stadt aufgestellt, verbunden mit der impliziten Botschaft „kommt damit klar“. Widerstand sei weitgehend sinnlos, denn genau das sei das Wesen von Disruption: „Wandel, ohne Zeit, ihm zu widerstehen.“

Mehr Agilität

Angesichts der enormen Herausforderungen und der Geschwindigkeit der in vielerlei Hinsicht unumkehrbaren Veränderungen wirken viele der seit Jahren andauernden Diskussionen um Fahrrad versus Auto oder Jahrzehnte alte Normen, Gesetze und Verwaltungsvorschriften wie aus der Zeit gefallen. Was will man bewegen mit Planungshorizonten von fünf oder mehr Jahren und Reformen, die ein um das andere Mal auf die nächste Legislaturperiode vertagt oder nur in homöopathischen Dosen umgesetzt werden? „Da brennt die Hütte und wir legen einen Plan auf, wie wir die Temperatur des Feuers messen und machen anschließend ein Konzept zur optimalen Temperatur des Löschwassers“, so die Meinung von Dr. Christoph Hupfer, Professor für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik an der Hochschule Karlsruhe zur Situation der Radverkehrsförderung im Rahmen einer Podiumsdiskussion im März dieses Jahres.
Auf der anderen Seite waren die Voraussetzungen für neue Mobilität noch nie so gut wie jetzt. Auf technischer Seite wächst gerade viel zusammen, mit extrem leistungsfähiger und gleichzeitig preiswerter Technik und der weltweiten Marktdurchdringung mit Smartphones. Finanzkräftige Investoren suchen nach neuen, klimafreundlichen Geschäftsfeldern und Anbieter aus allen Bereichen tun sich mit Kooperationspartnern für neue Services und Geschäftsmodelle zusammen. Auch die in den letzten Jahrzehnten dominante Vorstellung, dass Straßenräume für den motorisierten Individualverkehr, sprich Pkw, freigehalten werden müssten, bekommt immer mehr Risse. Ein großer Teil der Bevölkerung wünscht sich Veränderungen hin zu mehr umwelt-, menschen- und städteverträglichem Verkehr und mehr Lebensqualität. Und vielen geht es längst nicht schnell genug. Neuverteilung und Umgestaltung sind machbar und engagierte Bürgerinnen und Bürger wirken gerne aktiv mit. Das zeigen Beispiele aus ganz Europa, und das macht Hoffnung und Lust auf mehr. „Wenn wir jetzt die Potenziale nutzen, auch aus der Bevölkerung und den Hochschulen, dann können wir sehr viel schneller in die Pötte kommen“, so Professor Christoph Hupfer zu den Chancen für mehr Radverkehr und eine echte Mobilitätswende. Zeit also für mehr Tempo, mehr Flexibilität oder, wie Berater und Coaches wohl sagen würden, mehr Agilität.


Bild: Illustration: stock.adobe.com – j-mel

281.000 Beschäftigte generieren mehr als 37,7 Milliarden Euro Umsatz – mit stark steigender Tendenz. Die hohe Relevanz und Dynamik der Fahrradbranche zeigt eine neue wissenschaftliche Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie und dem Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


Neben detailliertem Zahlenmaterial bietet die „Branchenstudie Fahrradwirtschaft in Deutschland: Unternehmen, Erwerbstätige, Umsatz“ (Dezember 2020) auf 38 Seiten auch vielfältige Hintergrundinformationen. Nach den Auftraggebern Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF), Verbund Service und Fahrrad (VSF) und Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) handelt es sich dabei um das bislang umfassendste Kompendium zur Fahrradwirtschaft in Deutschland.
Kurz zusammengefasst: In der deutschen Fahrradwirtschaft arbeiteten im Jahr 2019 ca. 281.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und Selbstständige. Der gesamte steuerbare Umsatz lag im Jahr 2018 bei ca. 37,7 Milliarden Euro (Anm.: Aus technischen Gründen beziehen sich die Umsatzzahlen jeweils auf 2018 und die Zahl der Beschäftigten auf das Folgejahr). Allein in den drei Kernbereichen Herstellung, Handel und Dienstleistungen (Sharing/Verleih und Leasing) stieg die Zahl der Beschäftigten in fünf Jahren von 2014 bis 2019 im Mittel um 20 %, der Umsatz von 2013 bis 2018 gemittelt um 55 %. In der Summe stehen die Kernbereiche für 66.000 Arbeitsplätze und einen Umsatz von 24,2 Mrd. Euro. Starke Zahlen liefert auch der Fahrradtourismus mit 204.000 Beschäftigten und einem Umsatz von 11,59 Mrd. Euro.
Herstellung: In der Herstellung stieg der Umsatz im Zeitraum von 2013 bis 2018 um 46 % auf 6,9 Mrd. Euro. Die Gründe dafür sind vor allem im E-Bike-Boom zu finden, aber auch in der allgemeinen Bereitschaft, mehr Geld in das eigene Fahrrad oder das der Kinder zu investieren. Mehr als vier Millionen neue Fahrräder wurden 2019 in Deutschland verkauft, davon 1,36 Millionen E-Bikes. Die Verkaufszahlen der E-Bikes haben sich – ohne staatliche Förderung – damit innerhalb von zwei Jahren verdoppelt und Marktexperten sehen hier auch in Zukunft ein weiteres starkes Wachstum.
Handel: Der Handel verzeichnete aus ähnlichen Gründen ebenfalls ein sattes Umsatzplus von 55 % auf 16,7 Mrd. Euro. Neben Fahrrädern und E-Bikes spielt hier auch der wachsende Markt für Zubehör und Bekleidung eine Rolle. Besonders erfreulich ist, dass der lokale Fachhandel seine starke Position mit einem Anteil von 68 % in 2019 im Gegensatz zu vielen anderen Branchen bislang sehr gut behaupten kann. Privat- und Geschäftskunden können sich damit über eine hohe Beratungsqualität vor Ort ebenso freuen wie über Services und Werkstattleistungen.
Dienstleistungen: Besonders rasant gewachsen ist zudem der Bereich Dienstleistungen (Sharing/Verleih und Leasing) um 608 % auf 560 Millionen Euro. Umsatztreiber ist hier vor allem das Leasing. Die Anzahl der in Deutschland geleasten Fahrräder und E-Bikes hat sich nach Schätzungen des Bundesverbands Zukunft Fahrrad (BVZF) zwischen 2017 und 2019 von 53.000 auf über 200.000 vervierfacht. Für das Jahr 2020 rechnet der BVZF mit über 340.000 Stück. Das Beispiel Leasing zeigt dabei eindrucksvoll, wie gut finanzielle Anreize wirken. Das Marktwachstum wäre ohne die Gleichstellung von Fahrrädern und E-Bikes mit Dienstwagen und Elektroautos inklusive 1-Prozent-Regel bzw. seit Neuestem der 0,25-Prozent-Regel zur Versteuerung des geldwerten Vorteils einfach nicht denkbar. Über Gehaltsumwandlungen profitieren heute so immer mehr Menschen von günstigen Leasingraten ohne Eigenkapitalbindung, was gerade bei E-Cargobikes, die schnell über 5.000 Euro kosten, optimal ist. Eine aus Kundensicht weitere gute Nachricht: Mit dem Leasing wächst auch ein attraktiver Markt für gut erhaltene Secondhand-E-Bikes heran. Für alle, die angesichts der pandemiebedingten Lieferverzögerungen gesund mobil bleiben wollen, ebenfalls eine sehr gute Nachricht.

„In naher Zukunft wird jedes zweite Fahrrad ein E-Bike sein und langfristig werden zwei von drei Fahrrädern eine Motorunterstützung haben.“

Claus Fleischer, Antriebshersteller Bosch eBike Systems

Wichtiger Faktor: Fahrradtourismus

Wichtig für viele Regionen und Kommunen sind vor allem die erhobenen Zahlen aus dem Fahrradtourismus. Denn gerade in strukturschwachen Regionen kann der Radtourismus erfahrungsgemäß eine große Rolle für die regionale Wirtschaft spielen. Anhand der vorliegenden Daten ermittelt die Studie ein Äquivalent von 204.000 Beschäftigten für 2019 und einen Umsatz von 11,59 Mrd. Euro für das Jahr 2018. Zum Vergleich: Eine ältere Studie für 2009 ging hier noch von 186.000 Beschäftigten aus. Gerade angesichts des Klimawandels mit eher trockenem Wetter sowie der Corona- und Post-Corona-Zeit gibt es hier nach Meinung von Experten künftig noch hohe, in vielen Regionen und Bereichen bislang wenig genutzte Potenziale.

Oft vergessen: vor- und nachgelagerte Teilbranchen

Nicht zu unterschätzen sind auch die vor- und nachgelagerte Teilbranchen der Wertschöpfungskette. Hierzu zählen u. a. Infrastruktur, Verwaltung, Stadt- und Verkehrsplanung, Aus- und Weiterbildung, Fachmedien und Informationsarbeit sowie weitere Leistungen zum Beispiel beim Ladenbau, in der Logistik etc. Die Studie verzeichnet hier 11.000 Beschäftigte für 2019 und 1,9 Mrd. Euro Umsatz im Jahr 2018.

Fazit der Verbände

  1. Wachstumspotenzial:
    Die Studie macht deutlich, dass die Fahrradwirtschaft stark im Aufwind ist. Es steht zu erwarten, dass sich der Boom der Branche fortsetzt und dass auch die Beschäftigung in Deutschland weiter aufgebaut wird. Die Wertschöpfung und das Steigerungspotenzial der Branchen sind enorm – von Herstellung und Fachhandel bis hin zu Dienstleistungen wie Leasing oder auch Tourismus.
  2. Wirtschaftspolitische Bedeutung:
    Die Förderung des Radverkehrs liegt nicht nur in klimapolitischem, umwelt- und gesundheitspolitischem und auch nicht nur in verkehrspolitischem Interesse, sondern Fahrräder und E-Bikes haben eine erhebliche wirtschaftspolitische Bedeutung!
  3. Resilienz:
    Der Aufbau krisenfester Lieferketten ist auch für die Fahrradwirtschaft wichtig, insbesondere vor dem Hintergrund des großen Marktpotenzials und dynamischen Wachstums. Insofern erwartet die Fahrradwirtschaft eine Wirtschaftspolitik, die die Branche hierzulande als Wachstumsfaktor fördert (z. B. im Rahmen der E-Mobilität) und dabei die nationale und europäische Wertschöpfung besonders im Blick hat.
  4. Infrastruktur:
    Es stehen mittlerweile nicht unerhebliche finanzielle Mittel für die Verbesserung der Radverkehrsinfrastruktur bereit, aber es hapert nach wie vor an der Umsetzung. Die Fahrradwirtschaft fordert hier von Politik und Verwaltung eine deutlich höhere Dynamik als bisher. Know-how-Transfer und der gezielte Aufbau kommunaler Kompetenzen sind hier wichtige Schritte.
  5. Mobilitätswende:
    Radverkehrsförderung geht nicht ohne Auswirkungen auf andere Verkehrsträger. Der öffentliche Raum muss neu geordnet („Mehr Platz fürs Rad“), die Prioritäten neu gesetzt werden (Radschnellwege, Fahrradstraßen, Komfort-Radwege). Innerorts muss die Differenzgeschwindigkeit verschiedener Verkehrsträger verringert und damit die Sicherheit erhöht werden. Die Fahrradwirtschaft erwartet von den politischen Entscheidern konsequentes und wirksames Handeln, um die Mobilitätswende zügig voranzubringen. Ziel sind lebenswerte Städte mit einem leistungsfähigen und klimafreundlichen Verkehrssystem.

Studie, Zusammenfassung und Grafiken

Die vollständige „Branchenstudie Fahrradwirtschaft in Deutschland: Unternehmen, Erwerbstätige, Umsatz (2020)“ und weitere Informationen gibt es zum Download auf den Seiten der Verbände:

zukunft-fahrrad.org | vsf.de | ziv-zweirad.de


Bild: pressedienst-fahrrad, Riese & Müller