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Radfahren wird im politischen und gesellschaftlichen Kontext vor allem als verkehrstechnische Chance und Herausforderung behandelt. Das Potenzial des Fahrrads zur Eindämmung vieler Volkskrankheiten wird hingegen in der öffentlichen Diskussion seltener beachtet. Daran ist auch das Ressortdenken in Politik und Verwaltung mitschuldig. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Das von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlene Mindestmaß an Bewegung liegt bei 150 Minuten intensiver Bewegung bei gleichzeitig zweimaligem Krafttraining pro Woche. In Deutschland erreichen nur 20 % der erwachsenen Bevölkerung dieses Ziel im Alltag. Bei Kindern und Jugendlichen sieht es kaum besser aus. Schon vor der Covid-19-Pandemie bewegten sich zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen nicht genug. Seit 2020 hat sich die Situation noch verschärft: Im vergangenen Jahr stellten verschiedene Studien fest, dass sich die Hälfte der Kinder noch weniger bewegt als vor der Pandemie, 25 % essen mehr Süßigkeiten, jedes sechste Kind leidet unter Gewichtszunahme.
Welche Konsequenzen die Bewegungsarmut der nachwachsenden Generationen für die Zukunft der Gesellschaft haben wird, ist in der Gesamtheit bisher kaum abzuschätzen. Aktuelle Studien zu den geschätzten Folgekosten oder zum volkswirtschaftlichen Nutzen von Sport und Bewegung im Allgemeinen gibt es kaum. Der „Global Status Report on Physical Activity“ der WHO von 2022 geht jedoch davon aus, dass in der aktuellen Dekade weltweit 500 Millionen Menschen unter Zivilisationskrankheiten leiden werden. Dabei geht die WHO von Folgekosten in Höhe von 27 Mrd. US-Dollar für die Behandlung unter anderem von Herz-Kreislauf-Leiden, Adipositas und Diabetes aus, welche hauptsächlich für die entwickelten Industrieländer anfallen werden. Wissenschaftler*innen mahnen schon seit Jahren, dass es eines Paradigmenwechsels hin zu mehr Bewegung bedarf.

Dienstrad-Leasing schafft nicht nur zusätzliche Anreize für Arbeitnehmer*innen, sondern zahlt positiv auch unmittelbar auf die Krankheitstage der Beschäftigen ein.

Politik und Bewegung

Verkehrspolitik sei bislang sehr technisch geprägt, sagt die Bundestagsabgeordnete Swantje Michaelsen. Die Grünen-Politikerin ist Co-Vorsitzende des Parlamentskreises Fahrrad im Bundestag und Mitglied des Verkehrsausschusses. Das Fahrrad als Querschnittsthema habe es schwer in einem von Ressortdenken geprägten System. Die engen festgelegten Zuständigkeiten erschweren eine ressortübergreifende Zusammenarbeit. Dies sehe sie auch im Gesundheitsbereich, in dem wiederum das Thema Alltagsmobilität zu kurz käme. Um in diesem politischen Koordinatensystem systemische Veränderungen zu initiieren, bedürfe es einer enormen Anstrengung. Auf Initiative einiger fahrradaffiner Gesundheitspolitiker*innen wird nun die nächste Sitzung des überparteilichen Parlamentskreises zu dem Thema „Fahrrad und Gesundheit“ ausgerichtet. Anzeichen für ein Umdenken also. Offenbar auch seitens des Bundesministers für Gesundheit – zugesagt hat auch Sabine Dittmar, parlamentarische Staatssekretärin des Ministers.

Die Sportwissenschaftlerin Susanne Tittlbach hat zusammen mit Kollegen ermittelt, dass ein per Rad zurückgelegter Arbeitsweg das Gesamtmortalitätsrisiko im Vergleich zum Gehen um mehr als das Doppelte reduziert.

Fahrradfahren als Beitrag zum Kampf gegen Bewegungsarmut

In einem demnächst erscheinenden Artikel haben sich die wissenschaftler*innen Professorin Susanne Tittlbach, Dr. Julia Lohmann und Professor Peter Kuhn mit dem Thema „Bewegung, Gesundheit und Nachhaltigkeit“ auseinandergesetzt. Sie beschäftigen sich auch mit dem Thema Fahrradmobilität als Verknüpfung von Bewegung, Gesundheit und Nachhaltigkeit. In der mit dem Fahrrad praktizierten aktiven Mobilität sehen sie eine große Chance für die Bekämpfung von Bewegungsarmut.
Sowohl aus der Perspektive der Public Health als auch der Global Health könne man auf eine Reihe positiver Faktoren verweisen. Auch wenn das Radfahren im Alltag das Krafttraining als einen Teil der WHO-Bewegungsempfehlungen nicht ersetzen kann, wäre der Aspekt der ausdauerorientierten Aktivität der WHO-Bewegungsempfehlung über die Woche allein über die Arbeitswege erreichbar, wenn an fünf Tagen ein je 15-minütiger Hin- und Rückweg zur Arbeit aktiv mit dem Rad zurückgelegt würde.
„Ein per Rad zurückgelegter Arbeitsweg senkt das Gesamtmortalitätsrisiko um mehr als das Doppelte im Vergleich zum Gehen. Zusätzlich sind weitere Präventionseffekte möglich, beispielsweise auf Diabetes- oder Krebsrisiko, auf welches ausschließliches Gehen im Alltag keine signifikanten Effekte aufweisen konnte“, heißt es in dem zuvor erwähnten Artikel. Infrastrukturelle Voraussetzungen für einen Arbeitsweg per Fahrrad zu verbessern, lohnt sich also auch aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Hinzu kommt der positive Einfluss auf die mentale Gesundheit. Laut Tittlbach, Lohmann und Kuhn zeigen sich in den wenigen vorhandenen Studien dazu „positive Assoziationen von aktiver Mobilität mit mentaler Gesundheit, kognitiven Fähigkeiten und geringer wahrgenommenem Stress“. Dies können Fahrradfahrende leicht aus eigener Erfahrung bestätigen. Mit dem Rad ließen sich also die gesellschaftlichen Folgekosten von Bewegungsarmut buchstäblich „runterfahren“.

Initiativen wie die Aktion Fahrrad wollen das Fahrrad an den Schulen nicht nur als Verkehrsmittel, sondern auch als Sportgerät stärker verankern.

Das Fahrrad in der Bildung

„Bildungspolitik ist die beste Sozialpolitik. Sie ist auch die beste Wirtschaftspolitik, die beste Klimaschutzpolitik“, sagte die Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) Jutta Allmendinger jüngst im Interview. Ebenso wie Gesundheitspolitik, könnte man ergänzen. Doch gerade im Bildungsbereich hat Bewegung in Form des Sportunterrichtes eine schwache Position. Schulen haben zum Teil keine benutzbare Sporthalle, oft wird der Unterricht von fachfremden Lehrerinnen ausgeübt. Es verwundert kaum, dass sich das im gesundheitlichen Status von Kindern und Jugendlichen niederschlägt. Die Active Healthy Kids Global Alliance, eine internationale Vereinigung von Wissenschaftlerinnen, hat in der Global Matrix 4.0 den Status der körperlichen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen untersucht und konnte trotz relativ guter Voraussetzungen hinsichtlich der Rahmenbedingungen hierzulande nur die Note 4 vergeben.
Verkehrsverbände wie der VCD und der ADFC und auch einige Krankenkassen haben sich auf die Förderung aktiver Mobilität auf dem Schulweg der Kinder konzentriert. Diesen mit dem Fahrrad zu erfahren, verringert nicht nur die durch Elterntaxis verursachten Autounfälle. Positive Gesundheitswirkungen sind auch im physischen und psychosozialen Bereich nachweisbar, etwa im Hinblick auf körperliche Fitness, der kognitiven Leistungsfähigkeit und dem Sozialverhalten. Signifikant ist auch die damit einhergehende Abnahme von Verkehrsunfällen und verunfallten Kindern in der Nähe von Schulen.
Man könnte jedoch mit dem Fahrrad auch direkt in die Schule vordringen: Eine Integration des Fahrrades in den Sportunterricht würde gesundheitspolitisch ebenso wie verkehrstechnisch positive Effekte haben. Radfahren als Kulturtechnik ist ebenso wie Schwimmen enorm wichtig. Ihm komme für die Ausprägung einer Bewegungskompetenz eine große Bedeutung zu, so Professor Tittlbach im Interview. Doch das Fahrradfahren sei zwar als Wahlfach sehr beliebt, im Sportartenkanon aber nicht obligatorischer Bestandteil der Lehrerinnenausbildung. In Berlin kann man inzwischen an einigen Schulen bereits Radfahren als Abiturfach belegen. Weiteres Potenzial für die Integration des Fahrrades in den schulischen Bereich könnte auch über das Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) erschlossen werden, welches ab 2026 schrittweise rechtskräftig werden wird. In der Umsetzung stellt das Gesetz die Schulbetreiber vor enorme Herausforderungen. Ohne externe Partnerinnen wird eine hochwertige Einbindung von Bewegungskonzepten in den Ganztagsbereich kaum möglich sein. Hier sind zum einen die Radsportverbände gefragt, welche ohnehin über Nachwuchssorgen klagen. Aber auch der VCD könnte hier seine Erfahrung in der Mobilitätsbildungsarbeit einbringen, so Anika Meenken vom VCD. Die dringend nötige personelle Unterstützung könnte aber auch aus der fahrradaffinen Zivilgesellschaft kommen. Je nach geografischer Verortung ist eine Heranführung ans Mountainbike oder ans BMX auch unter dem Aspekt der Ausbildung zukünftiger Olympioniken vielversprechend. Eine Einbindung des Einrades oder von Mannschafts-Ballsportarten wie Radball oder Radpolo könnte auch der Popularität der Radsportarten nutzen. Denkbar ist auch eine Kooperation mit der Fahrradwirtschaft, immerhin ist ein Heranführen von Kindern an das Fahrrad auch für sie nicht unwichtig. E-Scooter und andere relativ neue Formen der Mikromobilität stehen ebenfalls bereit, den Kund*innen von morgen flexible Mobilität zu ermöglichen.

Projekte zur Stärkung des Fahrradfahrens für Kinder und Jugendliche

Das Projekt „Zu Fuß und mit dem Fahrrad zur Schule und zum Kindergarten“ ist eine Mitmachaktion für Kinder, die seit knapp 20 Jahren vom Deutschen Kinderhilfswerk und dem VCD durchgeführt wird. Jeden September werden Schulklassen und Kindergartengruppen zu Aktionen aufgerufen, bei denen sie lernen, den Weg zum Kindergarten oder zur Schule selbst zurückzulegen.

www.zu-fuss-zur-schule.de

„FahrRad! Fürs Klima auf Tour“ ist ein Fahrradkilometer-Wettbewerb für Jugendgruppen. Ziel ist es, gemeinsam möglichst viele Fahrradkilometer zu sammeln. Jeder geradelte Kilometer wird zusammengerechnet und ins Internet übertragen.

www.klima-tour.de

Der VCD Bildungsservice bietet umfangreiche Lehr- und Lernmaterialien rund um das Thema nachhaltige Mobilität vom Kindergarten bis zur Berufs- und Hochschule und für außerschulische Bildungseinrichtungen.

bildungsservice.org

Eine weitere Aktion ist die Kidical Mass, die zweimal jährlich von einem breiten Aktionsbündnis, dem auch ADFC und VCD angehören, organisiert wird.

kinderaufsrad.org

Außerdem gibt es die AKTIONfahrRAD , die gemeinsam mit Partnerinnen aus der Fahrradwirtschaft deutschlandweit (Schul-)Projekte wie beispielsweise die Schoolbikers umsetzt, Schulen Fahrräder zur Verfügung stellt und sich in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen engagiert.

www.aktionfahrrad.de

Gesunde Arbeitnehmer*innen

Schon 2016 belegte eine Studie, wie sehr Radfahrende im ökonomischen Interesse von Arbeitgeberinnen liegen. Menschen, die ihren Arbeitsweg ganzjährig zu Fuß oder mit dem Rad zurücklegen, wiesen durchschnittlich zwei Krankheitstage weniger auf, haben einen niedrigeren BMI-Wert, sind zufriedener und bleiben länger arbeitsfähig. Den Grünen Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar veranlasste diese positive Bilanz zu der Forderung nach einem zusätzlichen Urlaubstag für alle, die regelmäßig mit dem Rad zur Arbeit fahren. Seine Forderung wurde damals auch aus Angst vor einer „Gesundheitspolizei“ abgewiesen. In Anbetracht einer längeren Lebensarbeitszeit und des demografischen Wandels wird das Thema Gesundheit im Arbeitskontext jedoch weiter an Bedeutung gewinnen.
Der Gesetzgeber hat in den letzten Jahren eine Reihe von steuer- und beitragsfreien Zuschüssen zur Gesundheitsförderung von Beschäftigten ins Leben gerufen. Diese Präventionsmaßnahmen und finanziellen Anreize kommen aber der Bewegungsförderung mit dem Fahrrad nicht zugute. Hier wäre ein Inspirationsschub in Richtung Fahrrad für die Politik hilfreich.
Die gängigste Maßnahme, die Arbeitgeberinnen zur Förderung des Fahrrades zur Hand haben, ist das Dienstrad-Leasing. Mit ihm wird betriebliche Mobilität ebenso wie der Verkauf hochwertiger Fahrräder gefördert. Doch nur 4 Prozent der Bevölkerung können bislang von entsprechenden Angeboten profitieren. Betrachtet man es genau, ist ein klarer Objektfokus auf das Fahrrad erkennbar; die Gesundheit der Fahrradfahrenden steht dabei nicht im Mittelpunkt. Wie oft das geleaste Rad am Ende tatsächlich bewegt wird, ist weder für den Gesetzgeber und Arbeitgeberinnen noch für die Fahrradwirtschaft entscheidend. Technisch betrachtet wäre die Erfassung der real gefahrenen Kilometer durchaus machbar und beispielsweise als Grundlage für Boni der Krankenkassen denkbar.

Ein praktischer Blick nach vorn

Für Kommunen ergäbe sich durch die Wertschätzung der bewegungsfördernden Effekte des Fahrrades eine zusätzliche Motivation und Argumentation für den Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur. Auch neue Fördertöpfe ließen sich durch einen Fokus auf den Bereich Gesundheit und Bewegungsförderung bereitstellen oder zielführend abschöpfen. Ebenso sollten strategische Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention Fahrradmobilität mit einbinden. Ein Beispiel hierfür ist der Entwicklungsplan Sport, in dem das Potenzial des Fahrrades unbedingt sichtbar sein sollte.
Die Fahrradwirtschaft hätte die Option, ihren Beitrag zur Bewegungsförderung jenseits des Verkaufens von Fahrrädern auszuweiten. Eine Möglichkeit hierfür wäre etwa eine Verstärkung des kommunalen Engagements, beispielsweise durch Aktionen pro Fahrrad in Schulen und Sportvereinen. Auch ehrenamtliches Engagement, das im Bereich „Sport und Bewegung“ auf eine lange Tradition zurückblicken kann, würde das Fahrrad als Thema stärken und Kinder bewegen. Da in den Kommunen die tatsächliche Förderung von Bewegung und der Ausbau von Radwegen geschieht, lohnt sich hier ein Kulturwandel hin zu einer aktiveren Stärkung des Themas Fahrrad absolut.
Letztendlich muss es darum gehen, die große Gruppe der potenziell Interessierten aber durch die schlechte Infrastruktur vom Radfahren abgehaltenen Menschen zur (häufigeren) Nutzung des Fahrrades zu motivieren. Unter dieser Zielsetzung sind Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und auch kreative Köpfe gefragt. Ein moralischer Zeigefinger wird niemanden auf das Rad bringen; hier braucht es eine gute Story, weiterhin einen interdisziplinären Ansatz, gute Zusammenarbeit der Stakeholder und Geld. Eine Einbeziehung des gesundheitsfördernden Aspektes in die Arbeit pro Fahrrad könnte einen Beitrag für diesen Paradigmenwechsel leisten.


Bilder: stock.adobe.com – Kara, Jobrad, Stefan Dörfler, Aktion Fahrrad, Grafik Quelle: Institut für Generationenforschung

Während viele Entscheider*innen aus Verwaltung und Politik noch über mehr Radverkehr oder weniger Autos nachdenken, überholen die hochdynamischen Entwicklungen alte Realitäten. Vieles spricht dafür, dass verschiedenste Formen von Mikromobilität und Mobility as a Service (MaaS) dabei sind, unsere Gewohnheiten und Routinen und auch Märkte gründlich zu verschieben.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, Sept. 2021)


Selbst in hochkarätig besetzten Diskussionspanels geht es meist um die gleichen Themen. Verkürzt gesprochen: Wie kann man Verkehr (meist gemeint: Autoverkehr) flüssiger und umweltfreundlicher gestalten, wie lässt sich Radverkehr störungsfrei und einigermaßen sicher in diese Strukturen integrieren und wie kann der ÖPNV dazu beitragen, Straßen vom Autoverkehr zu entlasten?

Mikromobilität bei Entscheidern unterschätzt


Wie wenig bislang neue Mobilitätsformen mitgedacht werden, zeigte exemplarisch kürzlich eine Runde der Bundesregierung zum Thema „Mobilität der Zukunft“ und die Antworten auf die Frage, warum auf der einen Seite private Elektroautos und mutmaßlich eher umweltschädliche Hy-brid-Fahrzeuge gefördert und auf der anderen Seite deutlich umweltschonendere Mikromobilität ausgespart würde. Die Antwort: Erst Ratlosigkeit, ausgerechnet aus dem Bundesumweltministerium, und dann die Ergänzung einer Vorständin von Continental, dass man ja wisse, welche Pro-bleme mit den Tretrollern verbunden wären und dass diese gerne in Gewässer geworfen würden. „Die Unkenntnis und Ignoranz der Politik beim Thema Mikromobilität ist ein absoluter Skandal“, sagt dazu der Experte Dr. Hans-Peter Kleebinder, der mit den Schwerpunkten Mobilität, Smart Cities, strategische Markenführung sowie Innovationsmanagement unter anderem als Lehrbeauftragter der Universität St. Gallen und als freier Berater tätig ist.

Mikromobilität ist viel mehr als nur E-Kick-scooter. Marktreife Pkw-Alternativen stehen bereit zum Kauf, als Miet-Abo oder als Sharing-Fahrzeuge.

Bereits die Reduktion auf das Thema E-Tretroller spricht wohl dafür, dass das Thema entweder nicht verstanden oder bewusst in eine bestimmte Ecke gedrängt wird. Harsche Kritik kommt von ihm auch zur Verteilung der Fördermittel: „Die Förderpraxis ist absurd und die Umweltprämie de facto reine Wirtschaftsförderung. Das meine ich als Bürger und Beirat bei Microlino“ (red. Anm.: neues Microcar, Kategorie Light Electric Vehicle LEV).

E-Kickscooter als „Feindbild“?


Viele neue Technologien und Produkte bleiben nicht ohne Risiken, Nebenwirkungen oder handfeste Pro-bleme. Vor allem in der Anfangsphase. Neben berechtigter Kritik gibt es zudem oftmals aber auch eine Reihe von Vorurteilen, die sich, bewusst oder unbewusst mit verschiedenen Motiven und Ängsten vermischen – in der Steigerung bis hin zu Ächtungs- und Verbots-Szenarien.

Perfekte Basis für multimodale Mobilität. Alternative Angebote werden, wie bei Free Now (ehemals MyTaxi), direkt in die App integriert.

Mit Blick auf die im Grunde ja eher harmlosen E-Kick-scooter stellt man schnell fest, dass es inzwischen fast schon zum guten Ton gehört, sie samt den Nutzerinnen pauschal abzuwerten oder zu verdammen. Zu den Vorwürfen gehören sowohl das Fehlverhalten, sicher auch bedingt durch mangelnde Fahrfertigkeiten und sonstige Kenntnisse der Nutzerinnen, wie auch allgemeine gesellschaftliche Phänomene wie Vandalismus, Formen von unsozialem oder ignoranten Verhalten oder ganz simpel Platzprobleme. Was hilft, ist eine differenzierte Sichtweise und sicher auch ein Blick in die Vergangenheit. Denn Ähnliches hat man schon zu Karl von Drais‘ Erfindung, der Draisine gesagt, zu den folgenden „Hochrädern“ und den deutlich sichereren „Niederrädern“, dem E-Bike oder den „unsportlichen“ E-Mountainbikes. Auch Autos und ihren Fahrer*innen stand man lange skeptisch gegenüber. Teils musste sogar ein Mensch mit roter Flagge als Warnung vorauslaufen. Jede Menge Kritik kennt man auch mit Blick auf Skifahrerinnen, den Snowboard-Trend, Skateboarder etc. Was die Sichtweise mit Blick auf E-Kickscooter betrifft, kann man immer wieder feststellen, dass hier viele Fragen in den Fokus gerückt werden, die man umgekehrt bei Autos oder Motorrädern so nur selten oder gar nicht stellt: Werden sie eher als Freizeitfahrzeuge oder echte Transportmittel genutzt? Wo sollen sie bloß parken? Wie sieht es mit der Umweltfreundlichkeit aus? Wie mit der Sicherheit? Was ist mit der Befolgung der StVO? (…)
Beim Thema Parken kann man sich beispielsweise fragen, warum von offiziellen Stellen in Diskussionen einerseits beklagt wird, dass Städte „mit E-Scootern vollgemüllt“ würden, während andererseits Autos großflächig auf Fußwegen geduldet werden und in der Politik um jeden (Auto-)Parkplatz, der umgewidmet werden soll, gerungen wird.

Die E-Kickscooter machen hier als Vorreiter schlicht ein Problem deutlich, das auch andere Mobilitätsformen, wie 45-km/h-E-Scooter, Lastenräder, Mikromobile für Senioren oder Carsharer teilen: Platz wäre da, aber die Kapazitäten sind durch die schiere Menge an privaten Pkws faktisch längst erschöpft. Wenig hilfreich erscheinen auch Diskussionen darüber, welche Wege im Einzelnen substituiert werden, denn letztlich entscheiden die Menschen aus vielfältigen Motiven, wie, warum und wohin sie sich bewegen.

Herausforderungen für Politik und Verwaltung


Tatsächlich gibt es für die Politik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene viel zu tun, was den Rahmen und die Infrastruktur für die neuen Mobilitätsformen und den Wandel hin zu Mobility as a Service als Türöffner der Mobilitätswende angeht. Die E-Kickscooter-Anbieter setzen sich mit dafür ein und sie entwickeln die Technik in rasantem Tempo weiter. Die Scooter selbst werden immer langlebiger, sicherer und beispielsweise durch Akkuwechselsysteme und den Einsatz von Schwerlastenrädern oder Wechselstationen für den Tausch deutlich umweltfreundlicher. Auch die eingesetzte Software wird immer ausgefeilter. Mit ihr lassen sich in definierten Zonen schon heute automatisiert Park- und Fahrverbote oder Geschwindigkeitsreduzierungen umsetzen. So wird beispielsweise das Parken in der Nähe von Gewässern unmöglich, damit sie nicht von Fremden hineingeworfen werden. Auch Bildaufnahmen des ordentlich geparkten Scooters via App gehören bei vielen Anbietern inzwischen zum Standard. Möglich sind künftig noch viele weitere Anwendungen, beispielsweise, um alkoholisiertes Fahren, Mehrfach-Spaßfahrten, die Nutzung von Fußwegen oder Fahrten mit zwei Personen zu erkennen und möglichst auszuschließen. Neben den Innovationen setzen die Anbieter auch auf eine gute Zusammenarbeit mit den Städten. Einige, wie Voi, Tier oder die Ford-Tochter Spin, setzen sich dabei inzwischen öffentlich für eine stärkere Regulierung und limitierte Ausschreibungsverfahren ein. „Städte sollten sich gezielt auf einen oder einige wenige Partner einlassen und lokalspezifische Maßnahmen entwickeln“, heißt es dazu von Voi. Das sieht auch Tier so: „Ziel sollte es sein, den besten Anbieter auszuwählen, und so die höchste Qualität für Nutzer*innen sowie eine optimale Zusammenarbeit mit der Stadt sicherzustellen.“ In europäischen Metropolen habe man damit gute Erfahrungen gemacht. In Deutschland ist der Markt dagegen bislang weitgehend unreguliert. Hier sieht man Nachholbedarf, ebenso wie bei der Infrastruktur und fehlenden Stellplätzen. In einem offenen Brief fordert das Branchenbündnis „Dialog Mikromobilität“ beispielsweise mehr Stellflächen für Fahrräder und E-Kleinstfahrzeuge, Flächen für Microhubs, breitere und sichere Radwege sowie Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Innenstädten.

Türöffner für Neudefinition von Mobilität


Vor Problemen steht zunehmend auch der öffentliche Verkehr. Wie gehen die Anbieter mit der neuen Konkurrenz um? Bezieht der ÖV sie mit in sein Angebot ein oder lässt er sie links liegen? „Ohne neue Partnerschaften, die eine flexible Nutzung von E-Trotties (Schweizerisch für E-Kickscooter) bis Cargobikes ebenso inkludieren wie Taxis und Mietwagen, wird der ÖV in vielen Zielgruppen nicht erfolgreich sein“, meint der Züricher Mobilitätsexperte Prof. Dr. Thomas Sauter-Servaes mit Blick auf die Zukunft. Vorreiter in der Integration ist aktuell Google Maps.

„Ohne neue Partnerschaften wird der ÖV in vielen Zielgruppen nicht erfolgreich sein.“

Prof. Dr. Thomas Sauter-Servaes

Der Kartenanbieter integriert seit Kurzem nicht nur den öffentlichen Verkehr, sondern auch die Angebote von Mikromobilitäts-Anbietern in seiner App. So können Nutzer*innen zum Beispiel sofort entscheiden, ob sich beispielsweise der Fußweg zur Haltestelle oder das Warten auf die nächste Bahn lohnt, oder ob man lieber einen Scooter in der Nähe mietet. Auch andere Anbieter, wie die aus dem Joint-Venture zwischen BMW und Daimler hervorgegangene Marke Free Now (ehemals MyTaxi) bieten seit Kurzem eine umfassende Mobilitätspalette, vom Taxi über Ride- und Carsharing, bis hin zu E-Kickscootern oder E-Scootern der 45-km/h-Klasse.
Ungeachtet der negativen Berichte spricht aktuell vieles dafür, dass sich E-Kickscooter als tatsächlicher Türöffner oder „Enabler“ einer neuen Mobilität und Mobility as a Service entwickeln. Nach einer Schätzung des Mobility Market Outlook von Statista werden in diesem Jahr in Deutschland rund elf Millionen Menschen E-Scooter-Sharing genutzt haben. Der Umsatz wird im Jahr 2021 demnach etwa 140 Millionen Euro betragen. Damit ist Deutschland der weltweit zweitgrößte Markt für den Verleih von E-Kickscootern – vor Frankreich und nach den USA. Laut Prognose wird im Jahr 2025 in Deutschland ein Marktvolumen von 228 Millionen Euro erreicht; dies entspricht einem erwarteten jährlichen Umsatzwachstum von 13 Prozent.

Innovative Angebote und neue Geschäftsmodelle


Der Erfolg und die Wachstumsprognosen im Mikromobilitätsmarkt, den die Berater von McKinsey bereits 2019 auf 100 bis 150 Milliarden US-Dollar in Europa schätzten, lassen Investorengelder sprudeln. Absehbar werden sie in der Folge neben Wachstum in der Fläche auch eine ganze Reihe neuer Produkte, Services und innovativer Geschäftsmodelle mit sich bringen. Einige Beispiele: Der E-Kickscooter-Sharer Bird hat eigene Modellserien für den Verkauf aufgelegt, integriert inzwischen auch hochmoderne E-Bikes als Sharing-Modell und zum Verkauf in sein Programm und arbeitet aktuell an innovativen Mobilitätshilfen für Gehbehinderte und Senioren. Ein großer Trend sind Akkuwechselstationen für Schwerlasträder, zum Beispiel von Swobbee und für E-Motorroller.

In einem unregulierten Markt platzieren Sharing-Anbieter quasi über Nacht Tausende Fahrzeuge. Führende Anbieter setzen sich inzwischen für mehr Regulation in Deutschland und Ausschreibungen ein.

Bei Zweitem gehören sie, beispielsweise in Taiwan mit Anbietern wie Gogoro und Kymco, inzwischen zum Standard. Auch bei Lastenrädern stellt sich grundsätzlich die Frage, ob diese nicht vielfach besser im Rahmen von Abo- oder Sharing-Modellen genutzt werden. Für diesen Markt hat sich der spezialisierte Sharinganbieter Sigo ein System einfallen lassen und andere rücken schnell nach. Konzerne, wie die französische PSA-Gruppe mit „Free2Move“ (Mobility as a Service/Microcars), Ford mit „Spin“ (E-Kickscooter) oder die niederländische Pon-Gruppe machen sich mit VW daran, den neuen Markt zu gestalten. Die Pon-Gruppe, zu der unter anderem renommierte Fahrradmarken gehören, bietet dabei seit Kurzem unter dem Namen „Dockr“ Abo-Angebote für elektrische Transportfahrzeuge an, von E-Cargobikes über Personenwagen bis hin zu großen Lieferwagen. Was die Anbieter und Geschäftsmodelle besonders macht, ist das Bestreben, Märkte disruptiv zu verändern, sie in kurzer Zeit als Marktführer zu erobern und mit hohem Aufwand gegen Konkurrenten abzusichern und weiterzuentwickeln. Was das konkret bedeutet, ist noch nicht ausgemacht. Einige Parameter des Wandels scheinen allerdings bereits festzustehen: Sowohl die finanziellen Ressourcen, über die die Anbieter verfügen, wie auch der Konkurrenzdruck werden immer größer. Der Wandel lässt sich wohl nicht aufhalten und das Tempo nimmt weiter zu. In Frankreich haben die Verkaufszahlen der E-Kickscooter zum Beispiel bereits die der E-Bikes überholt. Mit den Technologien und Tools verändern sich auch die Nutzungsgewohnheiten. Andere Bereiche, wie die Film- und Musikbranche, haben solche Umbrüche in wenigen Jahren erlebt. Ob man in zwei, drei Jahren auf Konferenzen noch über das Thema „Fahrrad versus Auto“ spricht und ob es in zehn Jahren noch separate Automobil-, Fahrrad- und Motorrad-Industrien und MaaS-Anbieter gibt? Zweifel scheinen angebracht.


Bilder: Microlino, Bird, Dockr; Free Now (Screenshot Werbung); stock.adobe.com – Trygve; Qimby.net; Birdstock.adobe.com – hanohiki

Das Verkehrsministerium geht überraschend an die FDP. Wie stehen die Chancen für eine Verkehrswende mit den Liberalen? Bislang hatte sich weder die FDP selbst noch eine(r) ihrer Kandidat*innen nach allgemeiner Einschätzung in diesem Bereich ein besonderes Renommee aufgebaut. Aber vielleicht werden die Möglichkeiten und Perspektiven für Veränderungen, die sich mit der neuen Situation ergeben, ja auch unterschätzt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Ein Bild, das durch alle Medien ging: das gemeinsame Selfie nach dem ersten Spitzengespräch zwischen FDP und Grünen. Mit Volker Wissing, Annalena Baerbock, Christian Lindner und Robert Habeck.

Nicht einmal eine Woche vor der Präsentation des Koalitionsvertrags und der Verteilung der Ministerien habe ich mit Stefan Gelbhaar, MdB und Sprecher für Verkehrspolitik und Radverkehr bei Bündnis 90/Die Grünen, ein Interview geführt. Alles deutete zu diesem Zeitpunkt darauf hin, dass das Verkehrsministerium künftig zum Ressort der Grünen werden würde. Tage vor der Vorstellung kursierten sogar vollständige Listen mit Posten von Ministerinnen und Staatssekretärinnen. Und dann am 24.11., 15.00 Uhr völlig überraschend die Nachricht: Das Verkehrsministerium geht an die FDP. Wir gehörten sicher nicht zu den Einzigen, die bereits ein Bild gezeichnet hatten von den Kompetenzen und dem politischen und persönlichen Werdegang der Kandidaten Anton Hofreiter und Cem Özdemir, denn auf einen von ihnen, so die Meinung einer großen Mehrheit, würde es ganz sicher hinauslaufen als neuer Verkehrsminister. Und jetzt?

Erster Eindruck: große Ernüchterung – nicht nur bei den Grünen

„Die Verkehrswende ist nach der Energiewende mit das wichtigste Projekt, das wir aktuell haben und um das wir uns kompetent und sehr intensiv kümmern müssen“, so Stefan Gelbhaar im Interview. Tatsächlich haben die Grünen hier in der Vergangenheit unter anderem mit Symposien und Fachkongressen einiges getan, um Kompetenz und Glaubwürdigkeit aufzubauen. Auch personell schienen sie hier sehr gut aufgestellt: Der gebürtige Münchner Anton „Toni“ Hofreiter war beispielsweise von 2011 bis 2013 Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Verkehrspolitik war, nach eigener Aussage, für ihn immer eines der Lieblingsfelder. Mindestens ebenso viel Kompetenz und dazu nach Umfragen ein hohes Ansehen bei Fachleuten und in der Bevölkerung hätte der zweite Kandidat Cem Özdemir aus Bad Urach bei Reutlingen mitgebracht. Der „anatolische Schwabe“ war bislang Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und digitale In-frastruktur, ist bodenständig und bestens vernetzt und dazu ein bekennender und praktizierender Fahrradfan: „Das Fahrrad ist ein Gewinnertyp und gehört in die Bundesliga der Politik.“ In einem Interview mit dem ADFC skizzierte er einige zentrale Herausforderungen: „Wir sind in puncto Fahrradwegen in Deutschland Entwicklungsland.“ Der Anteil fürs Fahrrad im Etat des Verkehrsministeriums liege bisher bei unter einem Prozent. Die Kommunen bräuchten beispielsweise die Freiheit, unbürokratisch Tempo-30-Zonen und Fahrradstraßen einrichten zu können.
Auch wenn die Koalitionsvereinbarung weitgehend Zustimmung findet, sorgt die Tatsache, dass das Bundesministerium für Verkehr und Digitales nicht an die Grünen gegangen ist, bei vielen Fahrradinteressierten erst einmal für Unverständnis und Frustration. Deutliche Worte fand zum Beispiel der Grüne Landtagsabgeordnete Arndt Klocke, der sich in Nordrhein-Westfalen für ein Fahrradgesetz starkgemacht hat, auf Twitter: „Mein fachlicher Eindruck: Im Koalitionsvertrag sind die Bereiche Verkehr und Wohnen inhaltlich für Grün tragfähig. Natürlich müssen aus Worten im Vertrag jetzt politische Taten werden. Bedauerlich bis ärgerlich ist, dass das Verkehrsministerium nicht grün besetzt wird.“ Nach Medienberichten, unter anderem im Spiegel, stößt die Entscheidung unter etlichen Experten auf Unverständnis. Andererseits wird in der Presse auch berichtet, dass die Sozialdemokraten aus industriepolitischen Gründen ein Grünes Verkehrsministerium unbedingt verhindern wollten und deswegen die Bemühungen der FDP unterstützten, das Ressort zu erhalten.

„Das Fahrrad

gehört in die

Bundesliga der Politik“

Cem Özdemir, Grüne

Passen FDP und Verkehrsministerium zusammen?

Auf den ersten Blick ergeben sich mit Blick auf die immer wieder angemahnte Notwendigkeit einer Mobilitäts- oder Verkehrswende sicher Zweifel, ob die FDP und Volker Wissing hier eine optimale gute Lösung sind. Auf den zweiten Blick lassen sich aber auch gute Argumente und neue Optionen erkennen:

Punkt 1: mehr Freiheit, weniger zusätzliche Belastungen.

Durch die Pandemie ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik zuletzt deutlich gesunken. Viele Menschen sind zudem sichtbar und nachvollziehbar verbotsmüde geworden. Hier kann die FDP, die als Markenkern auf individuelle Freiheitsrechte und weniger Staat pocht, in der aktuellen Situation viele Menschen wahrscheinlich besser mitnehmen als die Grünen, die den Staat im Bereich Verkehr in einer eher paternalistischen Rolle sehen, zum Beispiel mit flächendeckenden Tempobeschränkungen oder Dieselfahrverboten. Angesichts steigender Lebenshaltungskosten und galoppierender Energiepreise sind auch zusätzliche Belastungen momentan eher schwierig zu vermitteln. Ein Versprechen für tatsächliche Umbrüche in der Mobilität liegt, genau betrachtet, aber durchaus in der vielfach von der FDP beschworenen freien Wahl der Verkehrsmittel. Denn de facto können Bürger oftmals gar nicht frei wählen, da das Auto entweder alternativlos ist oder Alternativen wie Radfahren oder ÖV-Nutzung zumindest gefühlt zu unpraktisch, zu teuer oder zu gefährlich sind.

„Es sind enorme Veränderungsprozesse nötig.“

Volker Wissing, FDP
Punkt 2: mehr Eigenverantwortung.

Die FDP könnte zum Beispiel für die Städte und Kommunen mehr Gestaltungsräume eröffnen, was der parteiunabhängige Deutsche Städtetag schon seit Langem (vergeblich) fordert. Unter anderem bei der Einrichtung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, bei der Verkehrslenkung, der Parkraumbewirtschaftung oder der Freigabe von Radspuren für schnelle E-Bikes. Das wäre sicher im Sinne des von den Liberalen schon immer vertretenen Subsidiaritätsprinzips. Das besagt, dass eine höhere staatliche Institution nur dann regulativ eingreifen sollte, wenn die Möglichkeiten des Einzelnen, einer kleineren Gruppe oder niedrigeren Hierarchie-Ebene allein nicht ausreichen, eine bestimmte Aufgabe zu lösen. „Wir wollen den Verkehr in den Städten effizienter, klimaschonender und sicherer machen. Dafür brauchen wir aber vor Ort mehr Entscheidungsspielräume“, forderte Burkhard Jung, Präsident des Deutschen Städtetages, nochmals im Juni dieses Jahres zum Thema Tempo 30. Die Kommunen könnten am besten entscheiden, welche Geschwindigkeiten in welchen Straßen angemessen seien.

Punkt 3: Transformation von Wirtschaft und Mobilität.

„Mobilität ist für uns ein zentraler Baustein der Daseinsvorsorge, Voraussetzung für gleichwertige Lebensverhältnisse und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschafts- und Logistikstandorts Deutschland mit zukunftsfesten Arbeitsplätzen“, so heißt es im Koalitionsvertrag. Unter Experten ist klar, dass eine Verkehrswende immer auch die Belange der Wirtschaft und der Automobilwirtschaft im Blick haben muss. Traut man das der wirtschaftsnahen FDP zu? Ja. Und traut man ihr auch die, ebenfalls im Koalitionspapier vereinbarte Transformation zu? Im Koalitionspapier zumindest sind die Ziele gesteckt. Hier heißt es „Wir wollen die 2020er-Jahre zu einem Aufbruch in der Mobilitätspolitik nutzen und eine nachhaltige, effiziente, barrierefreie, intelligente, innovative und für alle bezahlbare Mobilität ermöglichen.“

Punkt 4: neue Technologien und Digitalisierung.

Erstaunlich konkret wird der Koalitionsvertrag beim Thema Digitalisierung, ebenfalls eins der Kernthemen der FDP und als zweiter Schwerpunkt im Ministerium angesiedelt. „Für eine nahtlose Mobilität verpflichten wir Verkehrsunternehmen und Mobilitätsanbieter, ihre Echtzeitdaten unter fairen Bedingungen bereitzustellen“, heißt es dort zum Beispiel. „Anbieterübergreifende digitale Buchung und Bezahlung wollen wir ermöglichen. Den Datenraum Mobilität entwickeln wir weiter.“ Und im Folgenden: „Digitale Mobilitätsdienste, innovative Mobilitätslösungen und Carsharing werden wir unterstützen und in eine langfristige Strategie für autonomes und vernetztes Fahren öffentlicher Verkehre einbeziehen.“ Im Bahnverkehr soll „die Digitalisierung von Fahrzeugen und Strecken prioritär“ vorangetrieben werden. Kaum jemand wird bestreiten, dass digitale Systeme und Mobility as a Service Kernpunkte der künftigen Mobilität sind und Deutschland beim Thema Digitalisierung Nachholbedarf hat.

Punkt5: Abstimmungsbedarf mit Grünem „Superministerium“.

Fraglich bleibt ersten Einschätzungen nach, ob die von vielen als übergroß wahrgenommene Nähe zur Automobilindustrie so aufrechterhalten wird und ob der FDP-Minister nicht andere Prioritäten setzt – zum Beispiel im Bereich Digitalisierung. Dazu kommt die Frage, wie frei das Verkehrsministerium agieren kann mit den anspruchsvollen Vorgaben aus Brüssel und dem neu geschaffenen „Superministerium“ für Wirtschaft und Klima am Kabinettstisch, das von Robert Habeck geführt werden soll. Es soll zwar nur ein abgeschwächtes Vetorecht des Ministeriums geben, nicht zu unterschätzen sind aber die Berichtspflichten für den Verkehrssektor. Damit steht zu vermuten, dass banale Erklärungen wie „die Klimaziele sind nicht erreicht worden, weil der Verkehr insgesamt zugenommen hat“ künftig nicht mehr ausreichen werden und stattdessen ernsthaft an Alternativen und der dringend benötigten klimaneutralen Transformation im Automobil- und Verkehrssektor gearbeitet wird. Wie sich die neuen Ministerien im Einzelnen und die Regierung insgesamt positionieren, bleibt also noch abzuwarten.


„Die Ampelkoalition muss sich unterscheiden“

Interview: Stefan Gelbhaar MdB, Verkehrspolitiker bei Bündnis 90/Die Grünen und ehemaliger Sprecher für Verkehrspolitik und Radverkehr

Herr Gelbhaar, kommt es mit der Ampelkoalition zu einer Mobilitätswende?
Eins ist klar: Die Ampelkoalition muss sich unterscheiden. Darin waren wir uns in den Koalitionsgesprächen alle einig. Und wir alle sehen die Probleme und Herausforderungen. Die Verkehrswende ist nach der Energiewende mit das wichtigste Projekt, um das wir uns kompetent und intensiv kümmern müssen. Das ist nun mit dem FDP-Verkehrsministerium in beständiger Zusammenarbeit nach vorne zu entwickeln. Einfach wird das mit so unterschiedlichen Partnern natürlich nicht – aber dass es einfach wird, hat ja auch niemand gedacht.

Inwiefern wird es Unterschiede geben zur alten Bundesregierung?
Die Ziele, die sich die Bundesregierung in den vergangenen Jahren gesetzt hat, sind nicht ansatzweise erfüllt worden. Wir haben, je nachdem, wie wir es interpretieren wollen, die letzten vier, acht oder zwölf Jahre verschenkt. Das betrifft auch, aber nicht nur den Bereich Verkehr. Es ist in den Gesprächen klar geworden, dass es nicht ausreicht, nur hier und da einen Akzent zu setzen.

Welche konkreten Ziele sehen Sie mit der Ampelkoalition in Reichweite?
Im Bereich Verkehrssicherheit sind wir beispielsweise nah beieinander, was die Zielbeschreibung Vision Zero angeht. In der Vergangenheit haben sich die Hersteller erfolgreich um die Insassensicherheit in Fahrzeugen gekümmert. Vernachlässigt wurde allerdings die Umfeldsicherheit. Da gibt es ganz viele Ansatzpunkte auf der Bundes-, aber auch auf der EU-Ebene. Was die Sicherheit angeht, ist die EU ja normalerweise Treiber. Bei Technologien wie Lkw-Abbiegeassistenten kann und sollte die Bundesregierung – auch in der EU – mehr Druck machen.

Wo sehen Sie allgemeine Schwerpunkte in der Verkehrspolitik?
Viele Punkte finden sich im Koalitionspapier. Ein wichtiges Feld, das zu bearbeiten ist, ist neben der Verkehrssicherheit und der Antriebswende die Vernetzung der Mobilität. Bei der geteilten Mobilität etwa besteht die gemeinsame Einschätzung: Das ist ein großer Baustein der künftigen Mobilität. Die Zeit ist reif, die vorhandenen Angebote viel stärker zu vernetzen. Wir müssen uns generell fragen: Was haben wir schon? Was können wir wie besser nutzen?

Was braucht es konkret?
Wir brauchen bessere rechtliche Regelungen, Zuschüsse, mehr Personal, mehr Forschungsgelder und mehr Freiheiten für die Kommunen. Wir müssen ran an das Verkehrsrecht und den Bußgeldkatalog, und wir brauchen Forschungsgelder, nicht nur, wie in der Vergangenheit, für die Belange des Autos, sondern beispielsweise auch beim ÖPNV und im Bereich Mikromobilität. Natürlich brauchen wir auch mehr Radinfrastruktur, zum Beispiel entlang von Bundesstraßen, und eigenständige Radnetze. Und ganz wichtig: Wir müssen die Kommunen befreien und empowern.

Wo liegen die Herausforderungen in den Kommunen?
Alle sind sich beispielsweise über die Probleme im Klaren mit dem zunehmenden Wirtschaftsverkehr im städtischen Raum. Dazu kommt, dass wir auch die Infrastruktur schnell anpassen müssen, wenn wir mehr Radverkehr wollen. Der Bund kann beispielsweise bei der Finanzierung von Fahrradbrücken, Radparkhäusern oder beim Aufbau von zentralisiertem Know-how helfen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Förderung und der Kompetenzaufbau bei der DB für Fahrradparkhäuser an Bahnhöfen.

Wie stehen Sie als Berliner zur Zunahme der E-Kickscooter in der Stadt?
Ich denke, E-Scooter sind in der Mobilität eine gute Ergänzung, und oft habe ich das Gefühl, dass die Debatte schief ist. Wir empfinden über 1,2 Millionen zugelassene Pkw in Berlin als normal, einige Tausend E-Scooter sind dagegen ein Aufreger. Was wir aus meiner Sicht aber brauchen, ist eine gute Evaluation, aus der wir dann gezielt Maßnahmen ableiten können.

Welche Aufgaben sehen Sie in der Bundespolitik über das Verkehrsministerium hinaus?
Wir sehen aktuell beispielsweise die Versorgungsengpässe der Fahrradindus-trie. Hier könnte es eine Aufgabe des Wirtschaftsministeriums sein, dabei zu helfen, Teile der Produktion wieder nach Deutschland oder in die EU zu holen. Auch das betriebliche Mobilitätsmanagement und das Thema Mobilitätsbudget gehören mit auf die bundespolitische Agenda. Umweltfreundliche Mobilität sollte beispielsweise nicht länger steuerlich benachteiligt werden.

Was sagen Sie Kritikern, denen es nicht schnell genug geht?
Wir haben die Wahl nicht mit 51% gewonnen. Deshalb geht es darum, immer wieder Wege und auch zufriedenstellende Kompromisse mit den Ampelpartnern zu finden. Das gehört mit zur Wirklichkeit und es ist klar, dass wir da auch einen seriösen Umgang mit Konflikten finden. Mit zur Wirklichkeit gehört aber genauso: Mobilität ist nicht statisch. Das Thema ist schon aus Klimasicht enorm wichtig. Wir sind in der Pflicht. Paris, die 1,5-Grad-Grenze gelten für diese Ampelkoalition, das müssen wir gestalten – und wir werden den künftigen Verkehrsminister dabei unterstützen, den Pfad zum Klimaschutz seriös und zügig zu beschreiten.


Volker Wissing bezieht Stellung in Interview

In einem ersten Interview mit dem Fernsehsender Phoenix im Anschluss an die Vorstellung des Koalitionspapiers, das er als Generalsekretär der FDP wesentlich mit verhandelte, hat der designierte neue Bundesverkehrsminister Volker Wissing Stellung bezogen und erste Schwerpunkte gesetzt. Deutschland stehe im Bereich der Mobilität in den kommenden Jahren vor großen Herausforderungen. „Es sind enorme Veränderungsprozesse nötig. So wie es ist, kann es nicht bleiben“, erklärte Wissing im Fernsehsender. Es gehe künftig darum, die Balance zu wahren zwischen einer Klimaneutralität bei der Mobilität und den Bedürfnissen derjenigen, die auch künftig auf das Auto angewiesen seien. Gleichzeitig müsse man „den Bahnverkehr besser vertakten, wir brauchen einen Deutschland-Takt, und wir müssen gleichzeitig eine Ladesäulen-Infrastruktur aufbauen, die es jedem ermöglicht, mit Elektromobilität auch größere Strecken zurückzulegen“, so Wissing. Auch müsse die neue Koalition eine Antwort auf die Frage finden, wie die Menschen im ländlichen Raum mobil bleiben könnten. „Politik ist ein Inklusionsauftrag. Wir müssen jeder und jedem ein Angebot machen“, ist der FDP-Politiker überzeugt. Die neue Ampelkoalition werde das Land modernisieren und besitze den Mut, diese große Aufgabe auch anzugehen. „Wir werden das nicht so machen, dass wir die Menschen überfordern, aber wir werden es in dem Maße tun, wie es das Land braucht“, so Wissing. Es gelte, die sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren und sowohl Arbeitsplätze wie auch die Zukunft der jungen Generation zu sichern.

Über Volker Wissing

Stand Redaktionsschluss ist der FDP-Generalsekretär Volker Wissing designierter Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur. Der gebürtige Rheinland-Pfälzer bringt seit 2016 Ampel-Erfahrung aus seinem Heimatbundesland mit und gilt als einer der zentralen Architekten der Koalition.
Medienberichten zufolge hat er im rot-gelb-grünen Kabinett bis Mai dieses Jahres einen respektablen Landesminister für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau sowie stellvertretenden Ministerpräsidenten abgegeben. Auf den ersten Blick deutlich spröder als sein Vorgänger Andreas Scheuer gilt der Vollblutjurist, der unter anderem als Richter am Landgericht Landau tätig war, als guter Redner, inhaltlich qualifiziert und in Unternehmerkreisen geschätzt. In ersten Äußerungen war ihm anzumerken, dass das BMVI nicht sein Wunschministerium ist. Seine Aufgabe sieht er nach eigenen Aussagen darin, das Land insgesamt wieder nach vorne zu bringen. Auf deutlichen Widerspruch stießen seine kürzlich gegenüber der Bild-Zeitung getätigten Aussagen, höhere Energiesteuern auf Dieselkraftstoffe durch geringere Kfz-Steuern auszugleichen.


Bilder: stock.adobe.com – monika pinter/EyeEm, Sedat Mehder, Stefan Kaminski, Volker Wissing

Das Thema Mobilitätswende wird unabhängig von Parteien und Koalitionen wohl auch nach der Bundestagswahl im Fokus stehen. Eine Lösung vom Paradigma der allmählichen Veränderungen und eine fundamentale Transformation fordern dabei nicht nur Parteien und Verbände, sondern auch die EU-Kommission. Es gibt künftig also viel zu tun und zu entscheiden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Zu sagen, es bewege sich nichts in Deutschland in Richtung Mobilitätswende, würde den vielfältigen Bemühungen auf allen Ebenen sowie den in weiten Teilen veränderten Wünschen der Bürgerinnen und Bürger sicher nicht gerecht. Andererseits lässt sich anhand vieler Beispiele festmachen, wie hoch die Beharrungskräfte hierzulande sind, vor allem bei politischen Entscheidungsträgern. Wenn man die Online-Konferenzen und Diskussionen verfolgte, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass trotz aller Bekenntnisse zu Veränderungen vor allem das Festhalten am Status quo Priorität hat. Egal, ob bei der Vorstellung des „Nationalen Radverkehrsplans – NRVP 3.0“, dem „3. Deutschen Fußverkehrskongress“ oder Kongressen und Diskussionsrunden zur Zukunftsmobilität in der Stadt oder auf dem Land – man kann zum Schluss kommen, dass es grundsätzlich nicht an Erkenntnissen mangelt, aber am Willen, diese konkret umzusetzen. Expert*innen und Verbände weisen immer wieder auf die Diskrepanz zwischen Wissen und Tun und das Fehlen konkreter Ziele und Planungen hin. Dabei scheint es fast egal, um welche Themen es im Einzelnen geht: mehr Gestaltungsfreiheit für die Kommunen, zum Beispiel beim Thema Tempo 30, wirksame Maßnahmen für deutlich weniger Tote und Verletzte, Geschwindigkeitsreduzierungen auf Autobahnen und Landstraßen oder das Ziel 25 Prozent Fahrradanteil in Nordrhein-Westfalen. Selbst der Vorschlag, private Lastenräder zu fördern, gerät schnell zum Politikum. Die Rahmenbedingungen könnten mit Blick auf die vielfältigen, längst erkannten Probleme, allen voran notwendige Klimaschutzmaßnahmen, sicher deutlich besser sein.

Notwendig: eine fundamentale Transformation

Ein alles andere als positives Fazit zieht auch die Agora Verkehrswende, die zusammen mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) die vorliegenden Daten im Verkehr gründlich analysiert hat. „Der immer noch wachsende motorisierte Verkehr auf Deutschlands Straßen führt zu erheblichen Nachteilen in anderen Bereichen“, heißt es hier. „Er beeinträchtigt zum Beispiel die Lebensqualität großer Bevölkerungsgruppen und rückt die Ziele der Verkehrswende in weite Ferne. Jenseits der hoch aggregierten Daten offenbart die präzise Betrachtung von Einzelindikatoren zwar auch positive Entwicklungen. Sie werden aber, noch, durch das schiere Mengenwachstum überlagert.“
Dazu der ergänzt der Verkehrsclub Deutschland VCD, dass die Entwicklung des Verkehrsgeschehens in Deutschland nicht nur in deutlichem Kontrast zu artikulierten Wünschen der Bevölkerung stehe, sondern auch zu politischen Ambitionen, die seit mindestens 20 Jahren in diversen Koalitionsverträgen verabredet worden seien. Ein grundlegender Hemmschuh seien die weiterhin bestehenden rechtlichen Regelwerke, die aus den 1930er-Jahren stammten und mit der Absicht geschaffen wurden, die Massenmotorisierung herbeizuführen. Ein anderer Systemfehler sei, dass eine in diversen Koalitionsvereinbarungen avisierte „integrierte Verkehrspolitik“ nach wie vor fehle. Selbst die OECD hat das jüngst in ihrem „Wirtschaftsbericht Deutschland 2018“ bemängelt: „Im Verkehrssektor fehlt es an einer übergeordneten Politikstrategie.“
Verändert sich etwas mit den anstehenden Bundestagswahlen in Deutschland? Die Umfragen sprechen bislang dafür. Vielfach unterschätzt und wenig in der Öffentlichkeit diskutiert wird aber ein ganz anderer Faktor, dessen Einfluss mindestens genauso groß dürfte: der sogenannte Green Deal, der von den 27 EU-Mitgliedsstaaten beschlossenen wurde und sukzessive mit Leben gefüllt wird. Was in der politischen Diskussion hierzulande oft untergeht, ist, dass es dabei um nicht weniger geht als die Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft in den EU-Ländern, und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt. Ganz oben auf der Liste der konzeptuellen Grundlagen für diesen Wandel steht der Bereich Verkehr, mit klaren Ansagen und Vorgaben an die Politik der Mitgliedsstaaten. „Grundsätzlich müssen wir uns vom bisherigen Paradigma der allmählichen Veränderungen lösen – denn wir brauchen eine fundamentale Transformation“, heißt es in einer im Dezember 2020 veröffentlichten Mitteilung der EU-Kommission mit dem Titel „Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität: Den Verkehr in Europa auf Zukunftskurs bringen“.

„Der europäische Grüne Deal fordert uns auf, die verkehrsbedingten Treibhausgasemissionen um 90 % zu verringern.“

EU-Kommission

Verkehr auf Zukunftskurs bringen

Wenn man sich anschaut, was andere EU-Länder und Städte in den letzten Monaten und Jahren beschlossen, geplant und in Teilen umgesetzt haben, dann verfestigt sich der Eindruck, dass Deutschland bei den beschlossenen Zielen im Verkehrssektor im europäischen Vergleich mittlerweile um einiges hinterherhängt. Dazu braucht man längst nicht mehr nur auf die Niederlande oder die skandinavischen Länder zu schauen, es lohnt sich auch ein Blick nach Spanien, wo vor Kurzem landesweit Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Ortschaften eingeführt wurde, oder nach Frankreich, wo die Mobilitätswende nicht nur in Paris mit vielen Akteuren sowie der Zustimmung der Bevölkerung und der großen Parteien in großen Schritten vorangetrieben wird.
Die EU geht im Rahmen des Green Deals sogar davon aus, dass Mobilität „neu erfunden“ werden muss. Angesichts des hohen Anteils des Verkehrssektors am gesamten europäischen Treibhausgasausstoß könne das EU-Ziel einer Verringerung der Treibhausgasemissionen um mindestens 55 Prozent bis 2030 und der Klimaneutralität bis 2050 nur erreicht werden, wenn sofort ehrgeizigere Maßnahmen ergriffen werden. Zugleich lägen darin große Chancen für mehr Lebensqualität und als Impuls für die europäische Industrie, auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette zu modernisieren, hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen, neue Waren und Dienstleistungen zu entwickeln, wettbewerbsfähiger zu werden und eine weltweite Spitzenposition einzunehmen.

Jetzt Maßnahmen umsetzen

Um die Ziele zu erreichen, müssten erstens alle Verkehrsträger nachhaltiger gemacht, zweitens nachhaltige Alternativen in einem multimodalen Verkehrssystem allgemein verfügbar sein und drittens die richtigen Anreize geschaffen werden, um den Wandel zu beschleunigen, so die EU-Kommission. Nötig seien unter anderem die Verlagerung auf nachhaltige Verkehrsträger sowie die Internalisierung externer Kosten. Wie soll das gehen? Detaillierte Pläne, wie die Ziele in Deutschland auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene umgesetzt werden können, welcher rechtliche Rahmen benötigt wird und wie die Infrastruktur aussehen muss, gibt es inzwischen.
Die Expert*innen, Vereinigungen und Verbände aus den Bereichen Nachhaltigkeit, Transformation, Verkehr, Fahrrad, Umwelt und seit Kurzem auch Mikromobilität bringen sich aktiv mit ihrem Know-how ein. In Nordrhein-Westfalen fordert beispielsweise ein breites Bündnis aus Radkomm, ADFC, Fuß e.V., NABU und VCD deutliche Verbesserungen beim geplanten Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz. Hauptkritikpunkte: Die Forderung, den Anteil des Radverkehrs von heute etwa 8 auf 25 Prozent zu steigern, bleibe bislang ohne Zieljahr. Insgesamt fehle es an Konsequenz, Verbindlichkeit, konkreten Aktionsplänen und messbaren Zwischenzielen. Auf Bundesebene fordert der Verkehrsclub Deutschland (VCD) zusammen mit Umweltverbänden ein Bundesmobilitätsgesetz, das einen modernen rechtlicher Rahmen bieten und eine integrierte Verkehrsplanung und -finanzierung vorschreiben soll. Die Verbände der Fahrradwirtschaft und der ADFC fordern gemeinsam unter anderem konkrete Zielsetzungen und Maßnahmen, um den Radverkehrsanteil bis 2025 auf 20 Prozent und bis 2030 auf 30 Prozent zu erhöhen, ein neues Straßenverkehrsgesetz und die Reform der StVO und der Regelwerke, mehr Handlungsspielräume für Kommunen und mehr Planungssicherheit bei der Finanzierung. Konkrete Vorschläge zur Änderung des Rechtsrahmens hat der ADFC bereits 2019 unter dem Titel „Das Gute-Straßen-für-alle-Gesetz“ vorgelegt. Was auch immer die Bundestagswahl bringt, das Thema Verkehr wird ganz sicher weiter im Fokus stehen, und auf den nächsten Minister/die nächste Ministerin kommt viel Arbeit zu. Positiv ist sicher, dass inzwischen eine ganze Palette an neuen technischen Möglichkeiten zur Verfügung steht, die Menschen zunehmend bereit sind für Veränderungen und die Länder, Städte und Kommunen viel voneinander lernen können.

Was war gut, was kommt?

Prominente Stimmen, gesammelt von „Agora Verkehrswende“

Was war für Sie der wichtigste Fortschritt für die Verkehrswende in den vergangenen fünf Jahren?

„Ein Fortschritt der Verkehrswende ist sicherlich, dass die Wahl der Mobilität bewusster geworden ist und Verkehrsangebote übergreifend genutzt und kombiniert werden: ob Fahrrad, Zug, ÖPNV, Roller oder das Auto; ob geliehen, geteilt oder das eigene.“

Dörte Schramm,
Abteilungsleiterin Regierungs- und Politikbeziehungen, Robert Bosch GmbH




„Die Notwendigkeit einer Verkehrswende wird nicht mehr bestritten. Wir sind mittendrin.“

Dr. Thomas Steg,
Leiter Außenbeziehungen und Nachhaltigkeit, Generalbevollmächtigter der Volkswagen AG




„Die stärksten Impulse für die Verkehrswende kamen von neuen Playern in der Automobilindustrie und der Sharing Economy. Sie rufen nicht nach Subventionen und politischer Flankierung. Sie fordern Freiräume.“

Dr. Bernhard Rohleder,
Hauptgeschäftsführer Bitkom e.V.




„Der Fortschritt bei E-Autos und E-Fahrrädern ist beachtlich. Das E-Auto muss Benziner und Diesel schnell ersetzen, das E-Fahrrad viele Zweitwagen, und es kann das Pendeln zur Arbeit revolutionieren.“

Dietmar Oeliger,
Programme Director Transport, European Climate Foundation (ECF)




Auf welchen Fortschritt für die Verkehrswende hoffen Sie in den kommenden fünf Jahren?

„Wir wollen den Verkehr in den Städten effizienter, klimaschonender und sicherer machen. Dafür brauchen wir vor Ort noch mehr Entscheidungsspielräume, um Neues unter Realbedingungen zu erproben.“

Burkhard Jung,
Präsident, Deutscher Städtetag; Oberbürgermeister, Stadt Leipzig




„Wir müssen weg von symbolpolitischen Maßnahmen aus dem Werkzeugkasten der Vergangenheit und Mobilität ganzheitlich denken, klar an Ergebniszielen von Nachhaltigkeit orientiert. Dabei sind neue, digitale Optionen der Schlüssel.“

Dr. Thomas Becker,
Unternehmensstrategie, Leiter Nachhaltigkeit, Mobilität, BMW Group




„Sichere Radinfrastruktur, viele Radschnellwege, den Deutschlandtakt bei der Bahn und noch bessere Batterien für die E-Mobilität.“

Dietmar Oeliger,
Programme Director Transport, European Climate Foundation (ECF)




„Alle zusammen müssen aus dem Fordern oder Ankündigen ins Umsetzen kommen. Es fehlt die Zeit, auf neue Technologien zu warten; Klimaschutz und Soziales müssen gemeinsam gedacht und angegangen werden.“

Jens Hilgenberg,
Leitung Verkehrspolitik, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND)

Diese Studie von Agora Verkehrswende in Zusammenarbeit mit dem Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) liefert einen Einblick in tiefere Schichten der Verkehrsentwicklung und damit in die grundsätzlichen Baustellen der Mobilitätswende.

Bilder: VCD – Jörg Farys

Kommentar von Reiner Kolberg, Chefredakteur (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Darf man sich im „Superwahljahr“ als Fachmagazin Gedanken machen zur Politik? Ja, man darf, und ich meine, man muss sogar. Natürlich bewegt man sich dabei auf einem schmalen Grat als Journalist, denn man sollte ja möglichst objektiv und neutral sein. Wobei es auch hier Ausnahmen gibt. Denn selbstverständlich stehen wir, wie jedes Fachmedium, positiv und sagen wir ruhig „parteiisch“ zu unseren Themen Radverkehr und Mikromobilität. Was im Umkehrschluss selbstverständlich nicht heißt, dass wir gegen Autos wären und den öffentlichen Verkehr oder den Fußverkehr vergessen würden. Parteiisch darf man, so die Meinung vieler Journalisten, auch sein, wenn es um den Klimaschutz geht. Angesichts der inzwischen sicheren wissenschaftlichen Erkenntnisse und des Bedrohungspotenzials für die Wirtschaft und die Gesellschaft kann engagierter Journalismus, so die Auffassung, nicht umhin, Stellung zu beziehen und Dinge und Entscheidungen kritisch zu hinter-fragen.

Geflügeltes Wort: „Wir machen das mit den Fähnchen!“ Oder, wie der Karikaturist meint: „Und wenn wir einfach auf ein Wunder warten?“

Zäsur: Gerichtsurteile verankern Klimaschutz

Eine von den meisten Seiten sicher unerwartete Zäsur bringt nach Einschätzungen von Experten das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021 zum Klimaschutz. Es erklärte nicht nur das Klimagesetz der Bundesregierung für verfassungswidrig, es betonte auch die besondere grundgesetzliche Verantwortung der Bundespolitik. „Das Grundgesetz verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen“, so die Richter*innen des höchsten unabhängigen Verfassungsorgans in Deutschland. Diese nach Expertenmeinung „Neudefinition des Freiheitsbegriffs“ setzt uns in Verbindung mit der verbindlichen Festschreibung auf das Pariser Klima-Abkommen unmissverständlich Grenzen und legt uns für heute und die Zukunft Pflichten auf.
Während die Politik noch nach Lösungen sucht, kommt schon das nächste Urteil, dessen Gewicht und Auswirkungen auf die Bereiche Energie und Verkehr ebenfalls kaum abzusehen sind. „Das Urteil gegen Shell zeigt die neue Klima-Macht der Justiz“ schreibt die „Welt“ zum Sieg niederländischer Aktivisten am 26. Mai gegen einen der größten Ölkonzerne der Welt. Zum ersten Mal in der Geschichte wird ein Konzern gerichtlich gezwungen, Verantwortung für die Klimakrise zu übernehmen und seine Emissionen radikal zu reduzieren. Weitere „Klima-Klagen“ gegen verschiedene Länder und Konzerne sind weltweit anhängig.
Die bislang gesprochenen und noch zu erwartenden Urteile könnten, verbunden mit erweiterten Klagemöglichkeiten, direkt in die Diskussionen und Entscheidungen auf allen Ebenen wirken: auf die Wirtschaft, den Bund, die Länder und Kommunen und nicht zuletzt wohl auch in die Verwaltungen hinein. Möglichkeiten für Veränderungen in Richtung klimafreundliche Mobilität sowie Pläne und Empfehlungen dazu gibt es reichlich, nicht nur von ökologisch orientierten Verbänden, Instituten oder Parteien. Auch die hochkarätig besetzten Arbeitsgruppen, Untersuchungen und Studien der Bundesregierung bzw. beauftragter Institute geben eine klare Richtung vor. Nur bei der Umsetzung hapert es bislang.

Laut Umfragen des Umweltbundesamts sehen 65 % der Bevölkerung Umwelt- und Klimaschutz als sehr wichtiges Thema. Für 51 % sollte das auch in der Verkehrspolitik eine übergeordnete Rolle spielen.

„Deutschland hat in der Verkehrsinfrastruktur massiv den Anschluss an andere Länder verloren.“

Stefan Wallmann, Ramboll Deutschland (Ingenieur-, Planungs- und Managementberatung)

Politik bislang zu langsam und zu zögerlich?

Kritiker merken immer wieder an, dass es die Politik in den vergangenen Jahren trotz gegenteiliger Zielsetzungen und Bekundungen nicht geschafft hat, den CO2-Ausstoß im Verkehr maßgeblich zu verringern, mehr Waren vom Lkw auf die Schiene oder deutlich mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen. Gleiches gilt für das Vorhaben, die Zahl der Toten und Schwerverletzten bei geschützten und ungeschützten Verkehrsteilnehmer*innen deutlich zu senken. Selbst beim Thema Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, das Kommunen, der Städtetag und auch der Bundestag als Modellprojekt fordern: Fehlanzeige.
Bei neuen Plänen, wie dem kürzlich vorgestellten Nationalen Radverkehrsplan (NRVP 3.0) oder dem geplanten Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz in Nordrhein-Westfalen mangelt es nicht an Zielen. Aber auch hier fehlen nach Meinungen von Fachverbänden und Experten bislang noch konkret ausgestaltete Maßnahmenpakete inklusive messbarer Zwischenziele. Dabei besteht ein großer Konsens darin, dass es ein „Business as usual“ künftig nicht mehr geben kann. Selbst die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, die die grundlegenden Regelwerke, wie die Straßenverkehrsordnung (StVO), Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) und das Straßenverkehrsgesetz (StVG), erarbeitet, kam schon 2016 in einem Ergebnisbericht zu dem Schluss, dass die Klimaziele mit einer Umstellung auf Elektroantriebe allein im Verkehrssektor nicht zu erfüllen seien. Was unabdingbar dazu- kommen müsse, seien Verhaltensänderungen, also eine Verkehrsvermeidung, sowie der Umstieg auf ÖPNV, Fahrrad und Zufußgehen.
Hinter den Erwartungen vieler Fachleute und Verbände zurückgeblieben sind auch die kürzliche StVO-Reform sowie der vom BMVI Anfang Mai vorgestellte „Pakt für Verkehrssicherheit“. Fachleute reiben sich verwundert die Augen und fragen sich, wie man mit wenigen Änderungen, vielen Appellen und einem Verweis auf neue Technologien, die wohl erst in 15 Jahren wirksam werden, Richtung Vision Zero kommen oder eine Mobilitätswende voranbringen soll.

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Radfahrende sind 2019 bei Unfällen
in Deutschland getötet worden.
Mehr als die Hälfte von ihnen
war über 64 Jahre alt.

Quelle: Statistisches Bundesamt

„In Deutschland hat Verkehrssicherheit leider zu wenig Lobby, und Verkehrstote werden oftmals als Kollateralschaden angesehen. Erst wenn man persönlich betroffen ist, wird das Thema real.“ Stefan Pfeiffer, Vorsitzender Fachkommission Verkehr, Deutsche Polizeigewerkschaft

Kritischer Punkt: mehr Sicherheit für Radfahrende

Parteiisch dürfen und müssen wir als Magazin auch sein, wenn es um die subjektive und objektive Sicherheit von ungeschützten Verkehrsteil-nehmer*innen, vom Kind bis zur stark wachsenden Gruppe der Alten geht. Neben den tatsächlichen Gefahren spielt vor allem die subjektive Sicherheit beim Radverkehr eine große Rolle. Denn wie will man mehr Menschen, also auch Unsichere, Neueinsteiger, Ältere, Kinder und (werdende) Eltern aufs Rad bringen, wie die Alltagsmobilität dauerhaft verändern und wie den Fahrradanteil vervielfachen, wenn die Menschen kein Vertrauen haben in ihre eigene Sicherheit oder die ihrer Kinder? Fakt ist: Selbst erfahrene Nutzerinnen und Nutzer fühlen sich hierzulande nicht sicher auf dem Rad. Fast 70 Prozent gaben dies laut ADFC Klimatest 2020 deutschlandweit so an. Wie fühlen sich dann wohl erst Unerfahrene oder die große Zahl der Älteren, die nicht mehr so gut hören, sehen, den Kopf drehen oder im Notfall blitzschnell reagieren können? Dabei ist mehr gefühlte Sicherheit ebenso machbar, wie das von der EU vorgegebene und von der Großen Koalition angenommene Ziel Vision Zero. Im Arbeitsschutz haben wir uns an hohe Standards, etablierte Systeme und ständige Audits zur Vermeidung von Gefahren, Unfällen und gesundheitlichen Schäden seit Jahrzehnten ebenso gewöhnt wie in vielen anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Produktsicherheit oder beim Flugverkehr. Es geht also, wenn man wirklich will und weder Kosten noch Mühen noch unpopuläre Maßnahmen scheut.

Nicht nur Kritik, auch Lob und Ausblick

Nicht, dass wir uns falsch verstehen, in den letzten Jahren hat sich in Deutschland ganz sicher sowohl in den Köpfen wie auch bei den Maßnahmen einiges getan. Dass der Radverkehr beispielsweise nicht nur als Freizeitvergnügen, sondern sowohl in der Bevölkerung als auch in der Politik und der Verwaltung als ernst zu nehmende Verkehrsart gesehen wird, ist eine wichtige Entwicklung und auch das Verdienst vieler Menschen auf allen Ebenen. Gleichzeitig muss anerkannt werden, dass es in der Politik immer auch darum geht, Bevölkerungsgruppen mitzunehmen und nicht zu verprellen. Rechnet man hier Beharrungskräfte, Zukunftsängste und die durchaus unterschiedlichen Lebenssituationen mit ein, dann kann man manche Aussagen und Entscheidungen sicher besser nachvollziehen. Ähnliches gilt auch für die Verwaltungen in den Städten und Kommunen, die mit vielerlei Hürden und Widerständen zu kämpfen haben und mit dem Aufbau der notwendigen Kapazitäten und der nötigen Planung kaum nachkommen.
Klar ist aber auch, es gibt akuten Handlungsbedarf und noch viel Luft nach oben. Hier wäre zu wünschen, dass sich im Zuge des Wahlkampfs nicht unnötig Fronten aufbauen oder verhärten, sondern die Menschen im Gespräch bleiben und die wichtigen Probleme entschlossen zusammen angegangen werden. Die Erfahrung, dass zuerst viele gegen Veränderungen, dann aber fast alle dafür sind, sobald das Neue sichtbar und erlebbar wird, machen auch Stadt- und Verkehrsplaner in den viel gelobten Vorreiterstädten wie Kopenhagen, Amsterdam, Wien oder neu, Barcelona und Paris. In Paris gibt es beispielsweise inzwischen eine große Allianz zwischen allen Parteien und den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt für eine schnelle Transformation, und in Spanien war kein Aufschrei nach der landesweiten Einführung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Ortschaften zu hören.
Wie es gelingt, Menschen nicht nur mitzunehmen, sondern aktiv einzubinden und zu begeistern für Veränderungen und wie die Mobilität der Zukunft aussehen kann, dazu haben wir in den vergangenen Ausgaben mit renommierten Experten gesprochen, unter anderem mit Dr. Uwe Schneidewind, Transformationsforscher und neuer Oberbürgermeister in Wuppertal, und Prof. Dr. Stephan Rammler vom IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, einem der renommiertesten Vordenker, wenn es um die großen Zusammenhänge bei der Mobilität geht. Beide Interviews können Sie jetzt auch online lesen unter veloplan.de/magazin.


Bilder: stock.adobe.com – sveta, stock.adobe.com – cartoonresource, stock.adobe.com – Halfpoint, Norbert Michalke – Changing Cities

Nordrhein-Westfalen setzt Signale für den Mobilitätswandel. Im November 2019 stimmte der Verkehrsausschuss im Landtag einstimmig einem Antrag der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ für das erste Fahrradgesetz in einem Flächenland zu. Die Zeit für einen Umbruch scheint reif und die breite Zustimmung in der Bevölkerung mit über 200.000 gesammelten Unterschriften hatte Eindruck hinterlassen. Im Interview erläutert Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU) Hintergründe und Ziele im Hinblick auf die Förderung des Radverkehrs und der Nahmobilität in NRW.


Herr Minister Wüst, Umfragen im Rahmen der NRW-Kommunalwahlen haben gezeigt, dass den Bürgerinnen und Bürgern die Themen Umwelt und Klima und in den Städten vor allem der Verkehr bzw. eine Verkehrswende sehr wichtig sind. Sehen Sie hier eine Zäsur?
Mobilität ist Lebensqualität und Standortfaktor. Mobilität muss besser, sicherer und sauberer werden. Wir erreichen die Klimaziele nur, wenn wir die Mobilität vielfach neu denken. Dazu müssen wir die Chancen der Digitalisierung für die Mobilität konsequent nutzen, den ÖPNV zum Rückgrat vernetzter Wegeketten machen, die Chancen der Elektrifizierung des Fahrrades nutzen und das Fahrrad überall im Land für die Pendler nutzbar machen. Und Deutschland muss wieder Bahnland werden. Die Zäsur besteht darin, dass das alles nicht nur von breiten Schichten der Bevölkerung mitgetragen wird, sondern dass jetzt auch sehr viel Geld dafür da ist und wir umsetzen.

Ihre Heimat und ihr Wahlkreis liegen in Rhede, direkt an der niederländischen Grenze. Was machen die Niederländer aus Ihrer Sicht besser und was würden Sie gerne übernehmen?
Unsere Nachbarn in den Niederlanden machen seit Jahren eine sehr pragmatische Verkehrspolitik. Davon haben wir uns viel abgeguckt, denn lange Zeit war das in Nordrhein-Westfalen politisch nicht gewollt. In den Niederlanden ist es zum Beispiel selbstverständlich, dass in Infrastruktur für jeden Verkehrsträger investiert wird. In Nordrhein-Westfalen wurde viel zu lange Parteipolitik zulasten der Infrastruktur gemacht. Jetzt müssen wir große Rückstände bei der Sanierung und Modernisierung aufholen. Auf der Schiene. Auf der Straße. Und bei Wasser- und Radwegen.

Angesichts von Kämpfen um Platz für Fahrrad und Auto verweisen Sie in Interviews gerne auf intelligente Verkehrskonzepte aus den Niederlanden. Was kann man sich aus Ihrer Sicht hier konkret abschauen?
In den Niederlanden wird pragmatisch nach Lösungen gesucht, nicht um jeden Preis nach Konflikten. Bei unseren Nachbarn wird jedem Verkehrsträger nach seinen Stärken Raum gegeben. Es wird in langen Linien gedacht und dann Schritt für Schritt konsequent umgesetzt.

Aus dem Umfeld des Landesministeriums ist zu hören, dass das Fahrradgesetz mit hoher Priorität vorangetrieben wird, warum ist Ihnen das Thema wichtig?
Ich komme aus dem Münsterland. Da ist das Fahrrad schon immer Teil der Alltagsmobilität. Mit digital vernetzten Wegeketten wird das Fahrrad – ganz besonders mit E-Bikes und Pedelecs – zu einem vollwertigen alltagstauglichen Allround-Verkehrsmittel, das das Klima schont und auch noch gesund ist. Wir wollen in Nordrhein-Westfalen Fahrradland Nummer 1 bleiben. Deswegen investieren wir Hirn und Herz in das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz. Radverkehr ist ein elementarer Bestandteil moderner Mobilitätskonzepte.

Mitte Juni dieses Jahres haben Sie bereits Eckpunkte für ein Gesetz zur Förderung des Radverkehrs und der Nahmobilität (FaNaG) vorgestellt. Wie geht es jetzt weiter?
Zurzeit wird der Referentenentwurf erstellt, dann geht’s in die Ressortabstimmung und ins Kabinett. Danach wird es die Verbändebeteiligung geben. Anschließend soll der Gesetzentwurf in den Landtag eingebracht werden, damit er dieses Jahr verabschiedet werden kann und das Gesetz Anfang 2022 in Kraft tritt.

Radverkehr ist ein elementarer Bestandteil moderner Mobilitätskonzepte.

NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst

Sie haben die Forderung der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“, dass künftig 25 Prozent des Verkehrsaufkommens in NRW auf das Rad entfallen sollen, als Ziel übernommen. Ist das realistisch?
Ja. Wir sind überzeugt, dass sich mit den angestrebten Verbesserungen für den Radverkehr so viele Menschen fürs Radfahren entscheiden, dass ein Radverkehrsanteil von 25 Prozent im Modalsplit erreicht wird. Der Modalsplit liegt im Münsterland im Durchschnitt schon jetzt deutlich über 25 Prozent. In Bocholt bei 38 Prozent, in Borken bei 30, in Coesfeld bei 32 Prozent. Mit E-Bikes und Pedelecs und besserer Infrastruktur geht das überall.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass es bei neuer Radinfrastruktur, wie Radschnellwegen, nicht richtig vorwärtsgeht. Woran liegt das?
In Nordrhein-Westfalen wurden seit dem Regierungswechsel 2017 485 Kilometer neue Radwege gebaut. Der Bau eines Radschnellweges ist nicht weniger aufwendig als der Bau einer Straße. Bis auf Lärmschutzgutachten gelten dort dieselben Regeln. Aber klar ist: Ich will mehr! Und es muss schnell vorangehen. Deshalb erhöhen wir seit Jahren die Haushaltsmittel für den Radverkehr. Standen 2017 noch 29 Millionen Euro zur Verfügung, werden es 2021 54 Millionen Euro sein. Zusätzlich stellt auch der Bund insgesamt 900 Millionen Euro Bundesmittel bis 2023 für den Radverkehr bereit.

Der passionierte Alltagsradler Hendrik Wüst bei der Eröffnung eines Teilstücks des Radschnellwegs RS1 in Mülheim an der Ruhr im Jahr 2019.

Wie wollen Sie die Prozesse künftig verbessern und beschleunigen?
Wir forcieren seit dem Regierungswechsel 2017 einen Planungs-, Genehmigungs- und Bauhochlauf. Und zwar für alle Infrastrukturen: Schiene, Straße, Wasser- und Radwege. Konkret heißt das: Neben unserer eigenen „Stabsstelle Radverkehr und Verkehrssicherheit“ im Verkehrsministerium haben wir zehn Planerstellen beim Landesbetrieb und fünf Stellen bei den Bezirksregierungen für mehr Tempo bei Planung, Genehmigung und Bau der Radinfrastruktur geschaffen.
Bei der Akquise der Fachleute gehen wir neue Wege. In Kooperation mit der AGFS starten wir eine Fachkräfteinitiative, um junge Menschen für das Berufsfeld der Radwegeverkehrsplanung zu begeistern. Flankiert wird das von einer Stiftungsprofessur „Radverkehr“ des Bundes bei uns an der Bergischen Universität Wuppertal.
Wir haben zudem das Landesstraßen- und Wegegesetz geändert, in dem auch die Planung der Radschnellwege geregelt ist, und dort überflüssigen Planungsaufwand herausgenommen.

Welche Änderungen sind mit dem Fahrradgesetz konkret in der Fläche zu erwarten?
Mit dem Gesetz werden wir unter anderem ein Radvorrangnetz in Nordrhein-Westfalen etablieren. Auf Premium-Radschnellverbindungen bieten wir den Menschen Routen für schnellen, sicheren und störungsfreien Radverkehr an. Mit dem Gesetz soll zudem die Möglichkeit geschaffen werden, verstärkt Wirtschaftswege für den Radverkehr zu nutzen. Durch Verbesserung von Wirtschafts- und Betriebswegen kann das Radwegenetz schnell durch zusätzliche Kilometer erweitert werden. Außerdem vernetzen wir das Fahrrad mit anderen Verkehrsträgern und schaffen so die Voraussetzung, dass das Rad mindestens für einen Teil der Wegstrecke zu einer echten Alternative für Pendlerrinnen und Pendler wird.

Die Mitinitiatorin der Volksinitiative Dr. Ute Symanski hofft auf starken Rückenwind durch das Gesetz für die Verantwortlichen in den Kommunen. Was sagen Sie ihr?
Ich mache gerade in einer digitalen Veranstaltungsreihe mit den Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern, Landrätinnen und Landräten, Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern auf die erhöhte Förderung für den Radwegebau, auf unsere Zwei-Milliarden-Euro ÖPNV-Offensive und andere Fördermöglichkeiten aufmerksam. Im Wahlkampf war Mobilität oft Thema, jetzt müssen Taten folgen.

Anfang Februar 2020 stand der Minister auf der „RADKOMM Quarterly“ in Köln Rede und Antwort zu den Zielen und Problemen der aktuellen Mobilitätspolitik.

Weit nach vorne gedacht: Wie sieht die Mobilität am Ende der nächsten Legislaturperiode, also im Jahr 2027 in NRW aus?
Wir nutzen die Chancen der Digitalisierung für eine bessere Vernetzung aller Verkehrsmittel. Mobilität wie wir sie heute kennen, wird sich deutlich verändern. Wir werden vernetzte Verkehre mit digital buchbaren Wegeketten haben.
Die Mobilität der Zukunft ist multimodal, vernetzt und automatisiert – und im Mittelpunkt stehen immer die Mobilitätsbedürfnisse der Nutzer nach flexibler und sauberer Mobilität. Das Fahrrad wird zu einem alltäglichen, alltagstauglichen Verkehrsmittel – überall im Land! Dafür wird Nordrhein-Westfalen ein gut ausgebautes, lückenloses Fahrradnetz aus Radvorrangrouten und weiteren Radverbindungen haben.
Intermodale Wegeketten werden effizienter, umweltfreundlicher und attraktiver für Pendler und Reisende. So schaffen wir in Nordrhein-Westfalen ein Mobilitätsangebot, in dem die unterschiedlichen Verkehrsträger mit ihren jeweiligen Stärken kombiniert werden.
Mobilstationen sind die Schnittstelle der Verkehrsträger. Hier steigen Pendler und Reisende vom (Leih-)Fahrrad, E-Scooter, Car-Sharing-Auto um auf Bus, Bahn und On-Demand-Verkehre. Tarifkenntnisse und aufwendige Planung von Wegeketten sind Geschichte. 2021 werden wir in Nordrhein-Westfalen einen landesweiten eTarif ohne Verbundgrenzen einführen. Einfach mit dem Smartphone einchecken, am Ziel auschecken. Bezahlt wird ein Grundpreis plus die Luftlinien-Kilometer zwischen Start und Ziel. Das geht einfach, ist transparent und bequem. Solche Angebote werden für das Verkehrsverhalten der Menschen entscheidend sein.
Vielleicht werden schon 2027 Hauptbahnhöfe und Flughäfen, Messen und Universitäten, aber auch suburbane Regionen mit bezahlbaren, elektrisch betriebenen Flugtaxis erreichbar sein. In der Logistik werden auf der letzten Meile emissionsfreie und automatisierte Fahrzeuge eingesetzt. In Nordrhein-Westfalen werden viele dieser Innovationen bereits heute erforscht, entwickelt – und sind teilweise auch jetzt schon erlebbar!

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Das Interview mit NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im Februar 2021 geführt. Erschienen in Ausgabe 1/21.

Hendrik Wüst

wurde 1975 in Rhede an der niederländischen Grenze geboren und lebt dort zusammen mit seiner Familie. Der gelernte Jurist und Rechtsanwalt war von 2000 bis 2006 Landesvorsitzender der Jungen Union Nordrhein-Westfalen und ist seit 2005 für die CDU im Landtag vertreten. Seit Juni 2017 ist Hendrik Wüst Minister für Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen. Medienberichten zufolge hat er gute Chancen, Nachfolger von NRW Ministerpräsident Armin Laschet zu werden.


Bilder: NRW-Verkehrsministerium, Anja Tiwisina; RADKOMM, Diane Müller

Experten fordern Strategien zum Übergang in Richtung postfossile Mobilität und auch die Politik geht das Thema ernsthaft an. Wichtige Bausteine: Verhaltensänderung und eine Neuorganisation der Rahmenbedingungen. Finanzielle Mittel stehen bereit und aktuell werden umfangreiche Reformen auf den Weg gebracht. Aufbruch in eine neue Zeit statt Business as usual? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


„Die Bundesregierung ist unseren Empfehlungen gefolgt und will in den kommenden zehn Jahren eine Verdreifachung des Radverkehrs. Das wären niederländische Verhältnisse in Deutschland“, konstatiert Burkhard Stork, Bundesgeschäftsführer des ADFC, im Gespräch. Mit den bestehenden Regelwerken sei dieses äußerst ambitionierte Ziel allerdings keinesfalls zu erreichen und auch die neuen finanziellen Mittel aus dem Bundesverkehrsministerium drohten zu verpuffen. „Wir brauchen ein völlig neues Denken.“

„Planer, die wirklich etwas bewegen wollen, müssen den Mut haben, deutlich über die ERA hinauszugehen.“

Burkhard Stork, Bundesgeschäftsführer ADFC

„Wir brauchen ein völlig neues Den­ken“, sagt Burkhard Stork, Bundesgeschäftsführer ADFC.

Zentrale Verkehrsinstanz sieht weitgehenden Reformbedarf

Brauchen wir in Deutschland wirklich vollkommen neue Ansätze? Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV), die die grundlegenden Regelwerke, wie die Straßenverkehrsordnung (StVO), Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) und das Straßenverkehrsgesetz (StVG) erarbeitet, macht hier klare Aussagen: Aufgrund der vereinbarten Klimaziele könne es ein „Business as usual“ im Bereich Verkehr künftig nicht mehr geben, so eine Kernaussage des 2016 veröffentlichten Ergebnisberichts der Forschungsgesellschaft mit dem Titel „Übergänge in den postfossilen Verkehr. Notwendigkeiten, Entwicklungstrends und -pfade“. Mit einer Umstellung auf Elektroantriebe allein seien die Klimaziele im Verkehrssektor nicht zu erfüllen. Was unabdingbar dazu kommen müsse, seien Verhaltensänderungen, also eine Verkehrsvermeidung, sowie der Umstieg auf ÖPNV, Fahrrad und Zufußgehen. Kann das funktionieren? Mit Blick auf Städte wie Stockholm und Kopenhagen kommen die Wissenschaftler zu einem klaren Ergebnis, verbunden mit einer Aufforderung an die Politik, sich an den erfolgreichen Beispielen zu orientieren und konsequent tätig zu werden: „Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Erreichung der CO2-Minderungsziele sind (…) nicht völlig unrealistisch, sondern bei entsprechend hohem politischem Willen durchaus zu erreichen.“

„Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Erreichung der CO2-Minderungsziele sind bei entsprechend hohem politischem Willen durchaus zu erreichen.“

Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen

ADFC: Gesamtstrategien gefordert

Wenn man von Städten wie Amsterdam als Vorbild ausgeht, dann wird schnell klar, dass es in Berlin, München und vielen anderen Städten und Kommunen nicht mit Veränderungen im Kleinen getan sein wird. Da die Zeit drängt und der Ausbau des ÖPNV nicht nur viel Geld, sondern vor allem Zeit kostet, erscheint es nur logisch, den Radverkehr in den Mittelpunkt zu stellen. 900 Millionen Euro zusätzlich bis 2023 hat das BMVI „für eine flächendeckend gut ausgebaute und sichere Radinfrastruktur“ eingestellt und stellt damit in den nächsten vier Jahren laut ADFC insgesamt 1,46 Milliarden Euro für die Radverkehrsförderung zur Verfügung. Aber Geld allein reiche nicht aus und zudem kämen die Mittel zu einem „schwierigen Zeitpunkt“, wie ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork erläutert. Das Problem: „Die Gesetze und Regelwerke sind noch nicht so weit und auch die Kommunen nicht.“ Hier gäbe es eine große Desorientierung. So seien seiner Erfahrung nach die Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) aus dem Jahr 2010 immer noch nicht in allen Kommunen angekommen. Mehr noch: Wenn man von echter Radverkehrsförderung spräche, müsse man sagen, „die ERA kann das aktuell nicht“. Planer, die wirklich etwas bewegen wollten, müssten heute den Mut haben, deutlich über die ERA hinauszugehen. Dabei sei es essenziell wichtig für die Kommunen, sich jetzt Gedanken zu machen über neue Gesamtstrategien und Planungen, damit sie das Geld später zielgerichtet ausgeben könnten.

ADFC-Vertreter Ulrich Syberg und Burkhard Stork bei der Übergabe des erstellten Gutachtens an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer auf dem NRVK 2019.

Grundlegende Veränderungen für mehr Radverkehr nötig

Wie kommt man zu Verhaltensänderungen und bringt deutlich mehr Menschen aufs Rad? Wenn man sich den Status quo anschaut und in den nächsten Jahren ernsthaft zu den Fahrradnationen aufschließen will, dann kommt man an einer ganzen Reihe von Änderungen, neuen Ansätzen und Prioritäten wohl nicht vorbei. So verfolge die ERA nach Meinung von Burkhard Stork bislang falsche Ansätze und auch das Straßenverkehrsgesetz, das dieses Jahr überarbeitet wird, brauche eine ganz andere Ausrichtung. Beispielsweise müssten Vision Zero, die Lebensqualität, der Umweltschutz und die Aktivierung der Menschen unbedingt mit aufgenommen werden. Die Erfahrungen erfolgreicher Fahrradstädte zeigten, „Radverkehrsplanung ist immer eine Angebotsplanung“, so der international erfahrene Experte. Und auch an anderer Stelle ist für Stork ein Umdenken nötig: „Wir bauen auf die Mobilitätsbedürfnisse von Männern auf und haben vor allem Pendler im Blickpunkt.“ Das müsse dringend geändert werden. Das Ziel, viel mehr Menschen als bislang aufs Fahrrad zu bringen, sei nur mit einer hervorragenden Infrastruktur zu erreichen, auf der alle sicher und komfortabel unterwegs sein können.

Wie kann das in der Praxis umgesetzt werden?

Aktuell seien die Voraussetzungen für Bürgermeister und Planer besser denn je. Das BMVI arbeite beispielsweise an Lotsenstellen für die Fördermittelvergabe und wolle künftig auch mehr Mittel für externe Beratung zur Verfügung stellen. „Die Bundesregierung bietet für die nächsten Jahre massiven Rückenwind für die Regierenden im ganzen Land“, so Stork. „Die Botschaft: Macht jetzt!“ Dabei ginge es ausdrücklich nicht um kleinere Verbesserungen hier und da. „Die Bundesregierung fordert ausdrücklich geschlossene und gute Radverkehrsnetze. Dabei sollen Straßen zu Fahrradstraßen umgewidmet und Autofahrspuren zu geschützten Radfahrstreifen umgestaltet werden.“ Wichtig auf dem Weg in ein neues Zeitalter seien vor allem die Planungsabteilungen: „Planer sind die Pioniere.“


Fachliche Positionen des ADFC

Mit dem Ziel, lebenswerte Städte und sichere Mobilität für alle zu schaffen, hat der ADFC im letzten Jahr unter dem Titel „Gute-Straßen-für-alle-Gesetz“ ein umfangreiches Gutachten zur Reform des Straßenverkehrsrechts vorgelegt. Die beauftragten Juristen der Wirtschaftskanzlei Becker Büttner Held betonen, dass ein modernes Straßenverkehrsgesetz nicht allein der Gefahrenabwehr dienen dürfe, sondern der aktuellen gesellschaftlichen Forderung nach lebenswerten Städten, sauberer Luft und attraktiven Alternativen zum Auto Rechnung tragen müsse. Viele Punkte wurden inzwischen, zum Teil nach Intervention des Bundesrats, in die StVO übernommen. Weitere Reformen sollen hier, genau wie im StVG, noch folgen. Vom ADFC unter anderem geforderte Punkte:

  • Vision Zero, also null Verkehrstote, als oberste Zielsetzung.
    Das Verkehrssystem müsse menschliche Fehler ausgleichen – und die ungeschützten Verkehrsteilnehmer, also Menschen, die zu Fuß gehen, Rad oder Roller fahren, aktiv schützen.
  • Berücksichtigung von Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz.
    Bisher seien nur die Flüssigkeit des Kfz-Verkehrs und die Gefahrenabwehr Gesetzesziele.
  • Nachhaltige Stadt- und Verkehrsentwicklung.
    Kommunen sollen die Möglichkeit bekommen, Maßnahmen zur Vermeidung von Autoverkehr zu ergreifen und Anreize für umwelt- und klimafreundliche Verkehrsmittel zu setzen.
  • Tempo 30 als Regel, Tempo 50 als Ausnahme.
    Bisher könnten Kommunen Tempo 30 nur in wenigen Ausnahmefällen anordnen.

Zu den Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) stellt der ADFC in seinen „Leitlinien für sichere, zukunftsfähige Radverkehrsinfrastruktur“ fest, dass sie als verbindliche Grundlage der Straßenplanung unverzichtbar sein. Sie und alle anderen relevanten technischen Regelwerke und Rechtsvorschriften müssten aber auch daraufhin überprüft werden, ob sie den veränderten Voraussetzungen für den Radverkehr (zum Beispiel zunehmender Radverkehr, mehrspurige Fahrräder, höhere Radverkehrsgeschwindigkeiten, Verdichtung der Städte, Sicherheitsempfinden) und den gewachsenen Ansprüchen an die Radverkehrsinfrastruktur entsprächen. Wo das nicht der Fall ist, seien Regelwerke und Vorschriften grundlegend und widerspruchsfrei weiterzuentwickeln. Dies gelte insbesondere für die anstehende Überarbeitung der ERA, bei der vor allem die Nutzerakzeptanz berücksichtigt und die Kombination von Minimallösungen ausgeschlossen werden müsse.
Insgesamt müssten gemäß ADFC „verkehrsplanerische und verkehrspolitische Entscheidungen eine hohe Qualität der Radverkehrsinfrastruktur zum Ziel haben, die alle Nutzergruppen anspricht“. Lebensqualität in einer modernen Stadt bedeute, dass „Straßen für alle“ geplant, gebaut und umgestaltet werden. Straßen sollten Orte des Lebens sein.


Über den ADFC

Der ADFC vertritt als Lobbyver­band und Verkehrsclub rund 190.000 Mitglieder und ist im Be­reich Radverkehr ein auch internati­onal anerkannter Know-how-Trä­ger. Dabei arbeitet er mit allen Vereinen, Organisationen und Institutionen zusammen, die sich für mehr Radverkehr und für mehr Sicherheit und Umweltschutz im Verkehr einsetzen.


Bilder: BMVI, Veenstra / ADFC

In München geschieht derzeit Großes. Die Stadt übernimmt die Forderungen zweier Radentscheide und will mit einem Milliardenbudget zahlreiche Straßen auf fahrradfreundlich trimmen. Im Kommunalwahlkampf wurde der Radverkehr damit zum heftig umstrittenen Politikum. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Die Münchner Fraunhoferstraße wäre ein gutes Erklärbeispiel für die anspruchsvolle Aufgabe, vor der Städte- und Verkehrsplaner heutzutage stehen. Die etwa 500 Meter lange Verkehrsachse zwischen Isar und Altstadtring der Landeshauptstadt vereinte bisher auf im Schnitt etwa 20 Meter Breite zwei Gehwege, zwei Stellplatzreihen, zwei Fahrspuren für täglich etwa 16.000 Kraftfahrzeuge und zwei Trambahngleise. Dass parallel zum Straßenverlauf auch noch eine U-Bahn-Station unter der Erde verborgen liegt, mag für die Verkehrssituation über der Erde nebensächlich sein, vervollständigt aber das Bild eines besonders intensiv genutzten Teils des öffentlichen Münchner Raums.
So kennen die Münchner ihre Fraunhoferstraße seit etlichen Jahrzehnten. Bis Juli 2019: Da schloss sich der Stadtrat zwei Bürgerbegehren („Radentscheid“ und „Altstadt-Radlring“) mit deutlicher Mehrheit an. Beide Bürgerbegehren zusammen erzielten 160.000 Stimmen und waren damit wohl so eindeutig, dass alle Parteien im Stadtrat mit Ausnahme der Bayernpartei auf einen nachgelagerten Bürgerentscheid verzichteten und stattdessen die Forderungen der Bürgerbegehren unverändert als Planungsauftrag an die Stadtverwaltung weiterreichten.
Die wiederum ging zumindest in der Fraunhoferstraße äußerst rasch an die Umsetzung: Bereits in der ersten August-Woche wurden auf der gesamten Länge der auch von Radfahrern intensiv genutzten Straße alle der bisher insgesamt 120 Parkplätze auf beiden Straßenseiten mit einem 2,30 breiten, hellroten Fahrradstreifen überpinselt. Gefühlt quasi über Nacht erkannten viele Münchner die Fraunhoferstraße nicht wieder: Wo Radfahrer bisher eine wagemutige schmale Gratwanderung zwischen parkenden Autos und Straßenbahngleisen absolvieren mussten, steht ihnen nun ein großzügig bemessener Anteil am Verkehrsraum zur Verfügung.

Die Münchner CSU stellte den Radverkehr in den Mittelpunkt ihres Kommunalwahlkampfes.

Viel Beifall, viel Kritik

Die Maßnahme wurde erwartungsgemäß von den Radfahrern in München bejubelt. Wohl genauso sind aber auch die kritischen Stimmen zu erwarten gewesen. Vor allem seitens der in der Fraunhoferstraße angesiedelten Unternehmen regte sich heftiger Widerstand, der seitdem regelmäßig Stoff für die Münchner Tageszeitungen liefert. Selbst ein in der Fraunhoferstraße ansässiger Fahrradhändler wurde in Zeitungsberichten zitiert, dass sich der Wegfall der Stellplätze vor seinem Laden negativ auf seinen wirtschaftlichen Erfolg auswirke. Bei einer Bezirksausschusssitzung im vergangenen November haben auch Anwohner wütende Proteste formuliert. Dort fielen drastische Begriffe wie „Terror“ und „Katastrophe“.
Bislang lässt sich die Stadtverwaltung davon offenbar nicht beeindrucken und hat dem Vernehmen nach unlängst eine interne Liste von 41 weiteren Straßen in München angelegt, die nach und nach mit ähnlichen Maßnahmen auf fahrradfreundlich getrimmt werden sollen. Insgesamt seien neue Radwege auf 450 Kilometer Streckenlänge geplant. Das dafür zur Verfügung stehende Budget im Stadthaushalt wird mit 1,5 Milliarden Euro bis 2025 beziffert.

Radverkehr wird Wahlkampfthema

Es ist wohl kein Zufall, dass die Münchner CSU für die Vorstellung ihrer Mobilitätsthemen im Kommunalwahlkampf im Januar in die nach ihrem Standort benannte Gaststätte „Fraunhofer“ lud. Die roten Fahrradstreifen vor dem Eingang zu diesem bei Studenten und Künstlern beliebten Wirtshaus stehen aus Sicht der CSU als sinnbildliches Beispiel dafür, was in der Landeshauptstadt gerade schiefläuft. Die „Süddeutsche Zeitung“ zitiert den Münchner CSU-Chef Ludwig Spaenle, nach dem die Fraunhoferstraße seit ihrer Umgestaltung nur noch eine „nordkoreanische Schneise“ sei.
Die auch mit den Stimmen der CSU im Stadtrat beschlossene Radverkehrsstrategie wurde von der CSU-Oberbürgermeisterkandidatin Kristina Frank und dem Fraktionsvorsitzenden Manuel Pretzl bei der Vorstellung ihrer Mobilitätskampagne mit deutlichen Worten kritisiert. Die getroffenen Maßnahmen seien eine einseitige Bevorzugung der Radfahrer, die CSU wolle aber eine „faire Mobilität“ für alle Verkehrsteilnehmer – also auch für den motorisierten Individualverkehr. Die in den folgenden Wochen aufgehängten Wahlplakate der CSU kannten dann auch nur ein einziges Thema: gegen die „RADikal-Politik von Rot-Grün“. Stattdessen solle München „wieder München werden“. Erst einige Wochen später wendete sich der CSU-Wahlkampf auch wieder anderen kommunalpolitischen Themen wie etwa der Wohnungsnot zu.
„Die CSU (…) will ihre Wähler davon überzeugen, dass die Gegner in Sachen Verkehrspolitik aktuell den Verstand verloren haben“, schrieb dazu jüngst der Lokalpolitikredakteur Andreas Schubert von der „Süddeutschen Zeitung”. Und weiter: „Letztlich handelt es sich um den Versuch einer traditionell autofreundlichen Partei, ihrer Klientel gerecht zu werden, ohne als ewiggestrig dazustehen“.

Richtungsentscheid an der Wahlurne

Ob die Münchner CSU mit ihrer kritischen Positionierung gegenüber dem fahrradfreundlichen Umbau der Stadt die Gunst der Wähler für sich gewinnen konnte, wird das Ergebnis der Kommunalwahl am 15. März zeigen, also kurz vor Erscheinen dieser Ausgabe. Zumindest Ende Februar sahen Wahlumfragen die OB-Kandidatin der CSU Kristine Frank abgeschlagen bei 16 % und somit ohne Aussicht, gegen den populären amtierenden Oberbürgermeister Dieter Reiter in die Stichwahl zu ziehen. Wenn sich dieser Trend bewahrheitet, wird die Münchner Kommunalwahl vielleicht als Lehrstück dafür in die Geschichtsbücher eingehen, dass sich gegen den Radverkehr keine Wahlen gewinnen lassen.

Radverkehr in München

Als sich die Stadt München 2012 noch unter Alt-Oberbürgermeister Christian Ude selbst den Titel „Radlhauptstadt“ verlieh, musste so mancher Fahrradaktivist in Deutschland angesichts der unbescheidenen Eigenwahrnehmung der bayerischen Landeshauptstadt schmunzeln. Schließlich war München bis dahin eher als Auto-Mekka denn als Fahrradmetropole bekannt. Den Begriff Radlhauptstadt hat man seitdem an der Isar immer seltener in den Mund genommen.
Dabei war die Selbsteinschätzung zumindest unter den Millionenstädten in Deutschland gar nicht so verkehrt: Rund 18 % der Wege (Modal Split) in München werden mit dem Fahrrad zurückgelegt. Damit steht München im bundesweiten Vergleich recht gut da (zum Vergleich: Berlin 13 %, Köln 14 %, Hamburg 15 %). Allerdings stagniert der Radverkehrsanteil seit einigen Jahren auf hohem Niveau. Auch um hier nun die für 2020 angepeilte 20%-Marke zu überschreiten, formierten sich 2019 zwei Bürgerbegehren, die 90.000 Stimmen für den „Radentscheid München“ und weitere 70.000 Stimmen für den „Altstadt-Radlring“ einsammelten. Nachdem sich der Stadtrat nahezu einstimmig rasch und vollumfänglich den Forderungen der Bürgerbegehren anschloss, stellten deren Initiatoren die Stimmensammlung im Sommer 2019 vorzeitig ein.


Bilder: Stephan Rumpf, Markus Fritsch

Kann man mit der Idee einer grünen Stadt Wahlen gewinnen? Anne Hidalgo, amtierende und erste Frau im Bürgermeisteramt von Paris, hat das vor sechs Jahren gezeigt und die Einwohner überzeugt. Zur kommenden Kommunalwahl Mitte März bewirbt sie sich mit Plänen für einen radikalen Umbau der Metropole. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Die Kampagne „Paris En Commune“ zeichnet das Bild einer lebenswerten Stadt.

Was das Thema Verkehr der Zukunft angeht, schätzen die Einwohner und Einwohnerinnen der ehemals smoggeplagten und nach wie vor mit Autoverkehr überfrachteten Metropole die Bemühungen von Anne Hidalgo um eine lebenswerte Stadt. Radfahren, Zufußgehen und der ÖPNV liegen im Trend, und nach Einschätzung von Beobachtern kann es sich aktuell kein Gegenkandidat leisten, die Rückkehr zu einer autofreundlichen Politik zu propagieren. Die kommende Wahl kann man dabei auch als Richtungswahl sehen. Denn wie kaum ein anderer Kandidat oder Kandidatin tritt sie mit konkreten Plänen für eine weitgehende Transformation der Stadt ein.

„Paris Plage“, der berühmte Stadtstrand am Seine-Ufer. Wo sich früher Auto an Auto reihte, ist ein urbaner Park entstanden, der im Sommer mit Wasserspielen und Booten ergänzt wird.

Ziel: Mehr Lebensqualität

Ende Januar dieses Jahres hat die Sozialistin ihre Kampagne „Paris En Commun“ vorgestellt. Anders als es oftmals dargestellt wird, geht es nicht zentral um eine Neuordnung des Verkehrs, sondern um die gemeinsame Neuorganisation der Stadt zum Wohle der Bürger. Sie beinhaltet vier zentrale Punkte: Ökologie, Solidarität, Engagement und „Stadt der Viertelstunde“. Dabei geht es bei der Stadtgestaltung um mehr Grün und darum, die Stadt im Hinblick auf den absehbaren Klimawandel abzukühlen, um weniger Lärm und mehr öffentlichen Verkehr. Zentrale Ziele im Verkehr sind auch, dass sich wieder jede(r) auf das Fahrrad traut und den Fußgängern in den Quartieren die Straße zurückgegeben wird. Zielgruppen sind dabei vor allem Benachteiligte, Ältere, Kinder und Frauen. Denn sie hätten andere Mobilitätsbedürfnisse, die bislang nicht ausreichend beachtet worden seien, und ein Recht auf Gleichberechtigung. Unter dem Motto „Toutes et tous à vélo“ (Jeder und alles auf dem Fahrrad) heißt es beispielsweise: „Jeder soll die Möglichkeit haben, sich in völliger Sicherheit mit dem Fahrrad zu bewegen, unabhängig von seinem Alter und seinem Zustand.“ So soll zum Beispiel jede Straße künftig einen Radweg und alle Brücken geschützte Radwege erhalten. Statt Autos zu verbieten, will Hidalgo dafür sorgen, dass die Benutzung einfach unpraktisch wird. Im Bereich von Schulen sollen beispielsweise temporäre „Kinderstraßen“ während der Schulzeiten entstehen. Anstatt von fahrenden und vor allem parkenden Autos soll es Aufenthaltsräume, Grünflächen und Beete geben. Konkret will Hidalgo dafür den Großteil der Parkflächen im innerstädtischen Straßenraum umwidmen und vor allem den Durchgangsverkehr mit dem Auto oder Reisebussen sowie den Autopendlerverkehr deutlich zurückdrängen.

Stadt der Viertelstunde

Ein zentraler Bestandteil der geplanten Maßnahmen ist das Konzept „Stadt der Viertelstunde“ (Ville Du Quart D’Heure), nach dem von jedem Ort der Stadt aus innerhalb von 15 Minuten alles zu finden sein soll, was man im Alltag braucht – natürlich ohne Auto. Die Pläne basieren auf der Idee der „segmentierten Stadt“ von Carlos Moreno, Professor an der Sorbonne. Gewünschter Effekt: Bürgerinnen und Bürger würden Zeit und Wege sparen, hätten mehr Platz, sich in ihrem Viertel zu bewegen, und könnten im Alltag ganz einfach auf das Auto verzichten.


Bilder: Pixabay-Free-Photos-paris, Paris En Commune, Celine-Orsingher, Office du Tourisme et des Congrès de Paris

Rund 200 Vertreter der jungen Lastenradbranche trafen sich mit Experten, Verbänden, Politikern und Journalisten. Darunter politische Prominenz wie Berlins Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Regine Günther, Staatssekretär Steffen Bilger vom BMVI und Professor Ralf Bogdanski von der Technischen Hochschule Nürnberg. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Mit einer groß angelegten Konferenz hat der im letzten Jahr gegründete Radlogistik Verband Deutschland e.V. (RLVD) Ende Oktober in Berlin ein Ausrufezeichen gesetzt.
Die gelungene dreitägige Konferenz in Berlin inklusive vielfältigem Rahmenprogramm und der Möglichkeit, sich mit den Anbietern und verschiedenen Beteiligten auszutauschen und die neuesten Cargo-Bike-Modelle auch direkt vor Ort zu testen, zeigte eines sehr klar: Der Bedarf ist da und auch bei den Lösungsangeboten geht es mit großen Schritten voran. Die Radkurierszene nutzt ihre langjährige Erfahrung, beste Ortskenntnisse und bestehende Kundenbeziehungen und entwickelt sich mit Logistik-Know-how weiter. Dazu kommen neue Hard- und Software-Anbieter, auch aus der Automobilzulieferbranche, die genau das liefern, was die aufstrebende junge Branche braucht: Leistungsstarke E-Bike-Antriebe, neue Fahrzeugkonzepte und verschiedene Aufbauten für unterschiedliche Einsatzzwecke, hochbelastbare und weniger wartungsintensive Komponenten, Software für GPS-optimierte Tourenplanung und -Steuerung, automatische Buchungssysteme und vieles mehr.

Neue Lösungen für mehr als 4,4 Mrd. Sendungen gesucht

„Der Kurier-, Express- und Paketmarkt wächst weiter stabil – schwächelnden Konjunkturprognosen zum Trotz.“ Diese Überschrift zu einer aktuellen Studie des Bundesverband Paket- und Express-Logistik (BIEK) wird viele Unternehmen und Investoren freuen. Kommunen, Stadtbewohner, Rad- und Autofahrer dürften vom anhaltenden Wachstum der KEP-Branche weniger begeistert sein. Denn die negativen Begleiterscheinungen sind in den Städten immer deutlicher sichtbar. Ohne Veränderungen und neue Konzepte werden die Probleme vor allem in den Städten von Jahr zu Jahr immer größer – und das nicht mehr nur zur Weihnachtszeit.
Allein im Jahr 2018 wurden laut BIEK erstmals mehr als 3,5 Milliarden Sendungen transportiert – mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2000 (+108 %). Für das Jahr 2023 erwartet der Verband bundesweit 4,4 Milliarden Sendungen. Getrieben vor allem vom B2C-Sektor und hier unter anderem auch vom stark wachsenden Bereich der Lebensmittellieferung. Wie diese Menge in den Städten verteilt werden soll, ohne, dass es zu enormen Problemen kommt? Dieser Aufgabe werden sich Politik, Verwaltung und Kommunen künftig zusammen mit den Unternehmen stellen müssen.

Dringender Bedarf für neue Ansätze

Die umfassende Digitalisierung, neue Geschäftsmodelle und neue Kundenerwartungen führen zu einer immer weiteren Zunahme des Lieferverkehrs in den Kommunen. Mit allen negativen Begleiterscheinungen. Allen voran die steigende Zahl an Lieferwagen, die Straßen verstopfen und zu Behinderungen und Gefahrensituationen führen, wie Experten auf dem Kongress einhellig betonten. Neue Ansätze und Lösungen sind damit gefragt, sowohl von den Verantwortlichen in den Kommunen, wie den Unternehmen der KEP-Branche (Kurier – Express – Paket) und immer stärker auch von den Einwohnern und den Bestellern selbst, so das Feedback der beteiligten Unternehmen.
Wie solche Lösungen aussehen können, zeigte unter anderem die Konferenzbegleitende Radtour zu Radlogistik-Hotspots, wie dem bislang einmaligen Forschungsprojekt „KoMoDo Berlin“, an dem sich die fünf größten nationalen Paketdienstleister DPD, DHL, GLS, UPS und Hermes auf der letzten Meile zusammen beteiligen. Dabei steht die „kooperative Nutzung von Mikro-Depots durch die Kurier-, Express-, Paket-Branche für den nachhaltigen Einsatz von Lastenrädern in Berlin“, so der Volltext, im Mittelpunkt. Ein echtes Novum in der sonst von strikter Abgrenzung und Konkurrenzkampf geprägten Branche, wie unter anderem Martin Schmidt, Geschäftsführer der Cycle Logistics CL GmbH und Vorsitzender Vorstand des Radlogistik Verband Deutschland e.V. erläuterte.

Der KEP-Markt wächst ungebremst und stärker als alle anderen Bereiche im Güterverkehrsmarkt (Straße, Schiene und Luft).

Praxistests erfolgreich, Cargobikes ready to run

Berlins Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Regine Günther betonte, dass die Praxistests in Berlin gezeigt hätten, wie moderner, umwelt- und klimafreundlicher Lieferverkehr funktionieren kann. Die Berliner Senatorin hält Cargobikes für einen wichtigen Baustein, wenn es um die Neuorganisation des innerstädtischen Verkehrs geht. Noch ist die Radlogistik überschaubar. Aber die Dynamik bei Produkten, Services und Rahmenbedingungen beeindruckt. Was die neue Branche sicher auszeichnet, ist ihr Selbstverständnis, in einem hochdynamischen Markt am besten durch Kooperationen agieren und wachsen zu können. Das zeigt sich zum Beispiel bei neuen Coworking-Formen wie im „MotionLab.Berlin“, einem laut Eigenbeschreibung „Prototyping-Space für Mobilität von morgen“. Hier haben unter anderem innovative Logistik-Bike-Hersteller wie Citkar oder Ono eine Heimat gefunden haben. In der riesigen Halle, in der zur Abendveranstaltung geladen wurde, wird getüftelt, entwickelt, geschraubt und sich ausgetauscht. Mit einigem Erfolg, wie die fahrfertigen Prototypen, die vor Ort ausprobiert werden konnten, zeigten.

Lastenräder als Lösung für
die City-Logistik

„Auf der letzten Meile macht das Lastenfahrrad das Rennen“, so Prof. Dr.-Ing. Ralf Bogdanski, der an der Technischen Hochschule Nürnberg im Fachbereich Betriebswirtschaft zu Logistik und Umweltmanagement forscht.
Die Staubelastung und Verfügbarkeit von Parkplätzen für Lieferanten und potenzielle Kunden, der vielfach drohende Verkehrsinfarkt in den Städten und eine sich verschärfende Umweltproblematik stelle die Logistik vor neue Herausforderungen. Die letzte Meile müsse ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltig bewältigt werden.
Hier setze das Konzept der Lastenfahrräder an, insbesondere das der zweispurigen Pedelec-Lastenfahrräder. In Kombination mit dem Micro-Depot-Konzept und der Einbindung von Lkw/Transportern ergäben sich für den Einsatz von sogenannten Light Electric Vehicles (LEV) in multimodalen Konzepten für eine nachhaltige Stadtlogistik hoch interessante Einsatzmöglichkeiten – nicht nur für die KEP-Logistik.
In seinem 2019 dazu erschienen Buch thematisiert Professor Bogdanski unter anderem Rahmenbedingungen der urbanen Verkehrsinfrastruktur für Fahrräder und LEV aus Sicht der kommunalen Verkehrsplanung.

Probleme: Infrastruktur, Gesetzgebung…

Große Hoffnung auf einen dynamisch wachsenden Markt weckte auch Professor Ralf Bogdanski, Fachbuchautor und Lehrbeauftragter an der Technischen Hochschule Nürnberg, um sie dann gleich wieder zu dämpfen: „Die Lastenrad-Logistik könnte perspektivisch etwa 30 Prozent des urbanen Lieferverkehrs abdecken“, betonte er in seinem Vortrag. Unabdingbar sei dafür aber nicht nur der Ausbau der Radwege-Infrastruktur, auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen müssten sich rasch ändern. Damit sprach er unter anderem die Radwegebenutzungspflicht für Lastenräder sowie das derzeitige Verbot an, am Fahrbahnrand parken zu dürfen. Zumindest beim zweiten Punkt kündigte der anwesende BMVI-Staatssekretär Steffen Bilger auf dem Podium eine schnelle Reform im Rahmen der anstehenden StVO-Novelle an. Problematisch sieht Professor Bogdanski aber auch Punkte wie bislang nicht definierte Fahrzeugabmessungen, Maximalgewichte, allgemein die Sicherheit im Straßenverkehr oder die bislang auf 250 Watt Dauerleistung beschränkte Tretkraftunterstützung. Hier sollte möglichst schnell der rechtliche Rahmen auf nationaler und europäischer Ebene gesetzt bzw. erweitert werden.

Lastenrad 2.0: Gefährte wie der „Loadster“ der Berliner citkar GmbH oder das „Ono“ (Bild oben) wollen die Logistik auf der letzten Meile revolutionieren.

Falsche Prioritäten bei der Förderung

Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Förderungen der Automobilindustrie in Milliardenhöhe erscheinen die bisherigen Förderprogramme für Cargobikes und Radlogistik bislang äußerst zaghaft. Abgesehen vom Geld zeigen auch hier andere Städte, dass es und wie es geht. Zum Beispiel indem Kommunen Logistiker in der Innenstadt zur Zusammenarbeit untereinander verpflichten, Auslieferungen in der City per Lkw drastisch einschränken und wichtige Flächen als Hubs für Mikro-Logistik bereitstellen. Auch wenn erste Ansätze, wie KoMoDo, in die richtige Richtung weisen: Von ganzheitlichen Lösungen ist man hierzulande bislang noch ziemlich weit entfernt.

Weitere Aussichten? Trotz allem sehr gut!

Die Unternehmen und viele Experten hoffen, dass das Berliner Beispiel Schule macht und sich mehr und mehr Verantwortliche für eine aktive Förderung entscheiden und sich dafür auch auf Bundesebene stark machen. Der Druck in den Kommunen wächst, die Produkte und die Technik sind da und alte und neue Markteilnehmer professionalisieren sich. Die Rahmenbedingungen scheinen also insgesamt günstig und manche Experten prognostizieren bereits einen neuen Milliardenmarkt. Und wenn der vielzitierte Satz stimmt, dass sich der Mobilitätsmarkt aktuell in fünf Jahren so schnell bewegt, wie früher in 30 Jahren, dann könnten tatsächlich auch bei der (Rad-)Logistik disruptive Veränderungen bevorstehen.

Zum Vertiefen: Informationen und Argumente

Buchtipp:
Ralf Bogdanski: „Nachhaltige Stadtlogistik: Warum das Lastenfahrrad die letzte Meile gewinnt“ Huss-Verlag, 2019

Studie:
KEP-Studie 2019 – Bundesverband Paket und Expresslogistik (BIEK)

Download unter:
www.biek.de/presse/meldung/kep-studie-2019.html


Bilder: Sven Buschmeier, Reiner Kolberg