Beiträge

Die Stadt Bonn wurde beim diesjährigen Fahrradklimatest des ADFC als Aufsteiger ausgezeichnet. Auf dem Weg dahin hat der Radentscheid seine Wirkung bisher nur teilweise entfalten können. Die gesunde Zusammenarbeit der Stadt mit den Freiwilligen des Radentscheids lässt hoffen, dass die großen Schritte noch in der Zukunft liegen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Von 4,2 auf 3,8: Was erst mal nicht nach viel klingt, war für den Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) Grund genug, Bonn als Top-Aufsteiger-Stadt im diesjährigen Ranking des Fahrradklimatests aufzuführen. Keine andere Stadt zwischen 200.000 und 500.000 Einwohnerinnen hatte sich zwischen 2021 und 2022 deutlicher verbessert. Das Infrastrukturangebot in Bonn verändert sich insbesondere seit dem Regierungswechsel. Seit 2020 regiert eine Koalition unter Oberbürgermeisterin Katja Dörner von den Grünen. Im Vorfeld der Wahl sammelte das Bündnis Radentscheid Bonn zudem Stimmen für ein Bürgerbegehren. Die notwendigen Unterschriften kamen in ein paar Monaten zusammen. Bis zur Kommunalwahl im Herbst desselben Jahres suchte man weiterhin Unterstützerinnen. Letztendlich wurden 28.000 Unterschriften an die Stadtspitze übergeben. Damit war der Radentscheid das bisher größte Bürgerbegehren der Stadt. In einer der ersten Sitzungen der neuen Regierungskoalition schloss diese sich dem Radentscheid mit über 80 Prozent der Stimmen an. Die Freiwilligen sind auch weiterhin in die Planungen involviert und führen einen regen Austausch mit der Verwaltung. Zunächst tauschten sich die Stadt und der Radentscheid alle vier Wochen zu aktuellen Zwischenständen aus. Mittlerweile ist der Turnus sechswöchig. Bei den Treffen sind alle wichtigen Ämter, darunter das Ordnungsamt, das Stadtplanungsamt, das Tiefbauamt und die Straßenverkehrsbehörde anwesend. Auch das städtische Abfall- und Straßenreinigungsunternehmen Bonn Orange ist regelmäßig beteiligt. Seit dem Radentscheid ist die Verwaltung nicht nur finanziell, sondern auch personell besser aufgestellt. Zuvor waren 2,5 Stellen im Stadtplanungsamt für den Radverkehr zuständig. Mittlerweile ist das Team inklusive einem Fußverkehrsbeauftragten siebenköpfig. Der ist dort laut Felix Maus, der das Radverkehrs-Team leitet, gut aufgehoben. „Wir wollen ja nicht den Fehler machen, dass wir jetzt die fahrradgerechte Stadt bauen“, so Maus, also eine Stadt, die die Fußgänger vergessen würde. Menschengerecht soll sie stattdessen sein.
Steffen Schneider vom Radentscheid kritisiert, dass den Akteuren in diversen Ämtern eine gemeinsame Steuerung fehlt. Mit dem Radverkehrs-Team, das im Stadtplanungsamt auch mit der Umsetzung des Radentscheids betreut ist, zeigt er sich aber nicht unzufrieden. Felix Maus beschreibt sein Verhältnis zum Radentscheid: „Im Prinzip zerren ganz viele Leute an uns und wir versuchen das Bestmögliche rauszukriegen in der Abstimmung mit der Verwaltung.“ Das Radverkehrs-Team fungiert als Vermittler zwischen dem Radentscheid und anderen Teilen der Verwaltung. Der Radentscheid bedeute in der Planungspraxis viel Druck, sorge aber auch für Rückendeckung, weil das Team von Felix Maus auf diesen verweisen kann. Team-Mitglied Christina Welt erklärt: „Der wichtigste Punkt ist der Beschluss, dass sich der Hauptausschuss dem Begehren angeschlossen hat und dass wir nicht mehr alle Sachen immer neu diskutieren müssen. Die Tendenz gab es früher. Jetzt sind da Werte festgeschrieben und wir können sie nutzen und einfordern in anderen Ämtern.“

Die Radwege an beiden Ufern des Rheins sind eine wichtige Nord-Süd-Achse im Bonner Radwegenetz.

Transparente Umsetzung

Viele Unterstützerinnen des Radentscheids stellen den städtischen Akteurinnen ihre eigene Expertise zur Verfügung. Hinter den einfachen Forderungen aus dem Bürgerbegehren stecken wohlüberlegte Ideen. Der Zeitraum von fünf Jahren ist aber nur bedingt realistisch, so das Team im Stadtplanungsamt. Im ersten Transparenzbericht, zur Umsetzung des Radentscheids, der im Mai veröffentlicht wurde, gibt die Stadt den Fortschritt an. 6,6 Kilometer neue Radwege sind seit dem Beschluss entstanden. Gefordert waren 15 pro Jahr. Ein aktualisierter Standard für Fahrradstraßen wurde auch erarbeitet. Dieser sieht eine neue Regelbreite von 4,5 Metern und deutlichere Markierungen vor. Bis Mai sind zudem rund 700 Fahrradstellplätze eingerichtet worden, unter anderem an 30 Mobilstationen. Ob das Tempo dieser Veränderungen hoch genug ist, ist streitbar. Die Bevölkerung scheint die gesteigerte Qualität laut dem Fahrradklimatest aber bereits wahrzunehmen. Mit dem im Mai veröffentlichten Bericht wurde zudem ein großer Schritt getan, ein Ziel des Radentscheids zu erreichen: Transparente Umsetzung. Andere Ziele erweisen sich als schwieriger. Sechs neu gestaltete Kreuzungen pro Jahr beziehungsweise 30 Kreuzungen in fünf Jahren fordert das Bürgerbegehren. Bisher ist noch keine Kreuzung umgestaltet worden.

„Wir sind in der Situation, wo es heißt: Es wird nur noch für den Radverkehr etwas getan in Bonn.“

Steffen Schneider, Radentscheid Bonn

Kommunikationsdesaster Rheinaue

In der jüngeren Vergangenheit hat sich auch die Verkehrssituation direkt am Rhein geändert. In Innenstadtnähe wurde eine neue Fahrradstraße eingeweiht. Der bisherige Radweg konnte zum Fußweg umgewidmet werden. Folgen Menschen dem Rhein Richtung Süden, gelangen sie in die Rheinaue, einen denkmalgeschützten Park, der zur Bundesgartenschau 1979 errichtet wurde. Besonders am Wochenende ist er voller Menschengruppen und dient im Sommer als Freiraum für Veranstaltungen. Planerisch ist dieses Areal eher kompliziert. Durch die Nähe zum Rhein und die besonders geschützten wassernahen Biotope müssen Eingriffe sorgfältig geplant sein.
Im Zuge des Projekts „Emissionsfreie Innenstadt“, gefördert durch den Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) entglitt der Verwaltung dort die Kommunikation. In diesem Vorhaben sollten die Radrouten durch die Rheinauen attraktiver gestaltet und dafür verbreitert werden. Aktuell existieren dort zum Teil Zweirichtungsradwege mit lediglich rund zwei Metern Breite. Die Pläne schürten Angst vor überdimensionierten Radwegen und rasenden Radfahrerinnen, die die Aufenthaltsqualität verringern. „Kurz vor der Umsetzung gab es einen Riesenaufschrei. Dann haben sich der Naturschutzbeirat und die Bezirksregierung, die dort im Naturschutz mitbestimmt, eingeschaltet und gesagt ‚geht nicht‘“, erklärt Steffen Schneider. Das Projektvorhaben wurde zunächst gestoppt. Viele Falschbehauptungen, unter anderem zur Zahl der Bäume, die hätten gefällt werden müssen, prägten den Diskurs. Eine Bürgerbewegung war schnell dabei, auf einer eigenen Website Stimmung gegen das Projekt zu machen. Das Radverkehrsteam bedauert, damals noch nicht auf einer eigenen Website kommuniziert und aufgeklärt zu haben. Auch Bürgerbeteiligung hätte es an dieser Stelle gebraucht. Selbst Feinheiten können in der Kommunikation viel ausmachen, hat das Team inzwischen gelernt. Die Stadt vermeidet inzwischen den Begriff Radschnellweg, da dieser zu stark mit Autobahnen assoziiert werde. Radpendlerrouten, ein Begriff, der im Rhein-Sieg-Kreis verbreitet ist, sei hierfür besser geeignet.
Die Rheinaue auf der gegenüberliegenden Rheinseite wurde im Rahmen des EFRE-Projekts umgestaltet. Dort ist das Projekt gut angenommen worden. Es funktioniert und hat nicht den befürchteten Kahlschlag verursacht.

6,6 Kiometer

neuer Fahrradwege hat die Stadt seit dem Radentscheid umgesetzt.

Weitere 30 Kilometer sind bereits in Planung.

Breite Radwege wie hier auf der Oxfordstraße (oben) soll es perspektivisch überall in Bonn geben. Insgesamt steuert die Stadt außerdem auf 110 Fahrradstraßen zu.

Vierspurige Straßen sind selten

In Bonn gibt es auf beiden Seiten des Rheins Fahrradinfrastruktur, was den Fluss zu einer wichtigen Nord-Süd-Achse durch die Stadt macht. Das ist auch deshalb wichtig für die Stadt, weil es wenige breite Straßen gibt, wo sich die Bedingungen verändern lassen, ohne zumindest einspurig den Autoverkehr auszuschließen. „Wir haben fast keine vierspurigen Straßen. Diese simple Rechnung, eine Fahrspur umzuwandeln, das gibt es hier fast gar nicht“, erklärt Christina Welt aus dem Radverkehrs-Team. Eine Ausnahme ist die Adenauerallee, die parallel zum Rhein läuft und viele Kultureinrichtungen, aber auch Teile der Universität, eine Schule und diverse Arbeitgeber beherbergt. Die derzeit vierspurige Straße wird in den kommenden Monaten in einem Verkehrsversuch zweispurig für den Autoverkehr werden. Die Straße ist dadurch zum Politikum geworden. Im August dieses Jahres hat eine Bürgerbewegung eine äußere Spur mit Autos zugeparkt und so gegen die Pläne protestiert. Der Radentscheid hingegen sorgte mit einer temporären Protected Bike-Lane für Aufsehen. Steffen Schneider betrachtet den Konflikt mit Sorge.
Der Radentscheid sieht die Adenauerallee nicht als Hauptroute für das künftige Wegenetz an. Allerdings gäbe es dort viel Zielverkehr. Eine Autospur reiche vom Verkehrsaufkommen her aus. „Bei dem Aufkommen von Fahrradfahrenden und einer so wichtigen Straße geht es nach unserem Verständnis der geltenden Verordnungen gar nicht anders, als Radwege einzurichten, wenn man die Straße erneuert.“ Schneider wäre es aber lieber gewesen, wenn der Sanierungsbedarf auf der Adenauerallee erst in zehn Jahren entstanden wäre. Der Straßenquerschnitt gibt keine gute Radinfrastruktur her, ohne den Bordstein zu versetzen und gegebenenfalls sogar U-Bahn-Ausgänge anzugehen. An sich bietet er viel Platz, ein tiefgreifender Umbau wäre aber schwierig und teuer. Über den Protest scheint sich weder der Radentscheid noch das Radverkehrs-Team der Stadt zu wundern.

Viele Maßnahmen, wie hier auf der Viktoriabrücke sind zunächst nur gelb markiert worden. Sie tragen ihren Teil zum verbesserten Fahrradklima in Bonn bei.

Mit Ausnahme einiger Mobilstationen lassen die seit dem Radentscheid hinzugekommenen Abstellanlagen noch zu wünschen übrig.

Der große Wurf steht eigentlich noch aus

Der Widerstand zeigt gut, wo Verkehrsentwicklung und Radentscheid in Bonn aktuell stehen. Es gibt Zuspruch. Aber es besteht auch die Gefahr, mit dem Gefühl von Veränderung übers Ziel hinauszuschießen. Seit dem Radentscheid ist einiges passiert, die großen Würfe brauchen aber noch mehr Zeit, in der es darauf ankommt, den Rückhalt in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Bisherige Maßnahmen bauen inhaltlich vielfach auch noch auf anderen Beschlüssen auf.
Viele Fahrradstraßen, die in der jetzigen Legislaturperiode entstanden sind, basieren auf einem Verkehrsentwicklungsplan von 2010. Damals wurden viele Fahrradstraßen identifiziert, von denen rund ein Drittel umgesetzt, ein Drittel zurückgestellt und ein Drittel abgelehnt wurde. „Dieses zweite Drittel hat sich jetzt die Verwaltung vorgenommen, weil es dort schon Beschlüsse gab“, erklärt Schneider. Perspektivisch sollen es nun rund 110 Fahrradstraßen werden in Bonn, die zusätzlich rot markiert werden sollen.
Es sind aber nicht nur Low-Hanging-Fruits dieser Art, die die Fahrradstimmung in Bonn gesteigert haben. Das sei in großen Teilen auf das Mehr an Ressourcen zurückzuführen, das der Verwaltung seit der Annahme des Radentscheids finanziell und personell zur Verfügung steht, sagt das Radverkehrs-Team. Ein komplettes Wegenetz, das aus dem Verkehrs-entwicklungsplan weiterentwickelt wurde, befindet sich derzeit noch in der Abstimmung, soll in diesem Jahr aber endlich kommen. Enthalten soll es dann auch Radvorrangrouten, die gemeinsam mit dem Rhein-Sieg-Kreis erarbeitet wurden. „Ein verabschiedeter Fahrradnetzplan liegt bis heute noch nicht vor – nach über zwei Jahren Radentscheid. Dabei wäre er so wichtig, um bei Baumaßnahmen zu wissen, welche Bedeutung die jeweilige Route im Fahrradnetz hat“, erläutert Schneider. Die Stadt sei allerdings auch gut damit beschäftigt, bei Baustellen, die für eine Kanal- oder Fahrbahnsanierung entstehen, den Radverkehr mitzudenken, gibt Schneider zu. Hinzu kommt, dass Fachkräfte fehlen. Geld sei genug da und die Stellen geschaffen, erklärt er. Zum Teil ist es dennoch schwer, Planerinnen oder Ingenieurinnen zu finden. Man sehe schon Veränderung in der Stadt, aber vor allem an einem Leuchtturmprojekt, in Form von mehreren Kilometern zusammenhängender Vorzeigeinfrastruktur scheint es noch zu fehlen. Diese bräuchte es aber, um das Verständnis für den Radverkehr zu erhöhen. „Wir sind in der Situation, in der viele behaupten: Es wird in Bonn nur noch für den Radverkehr etwas getan. Nicht für den Autoverkehr – denn Autos will man angeblich aus der Stadt vertreiben – und auch nicht für den ÖPNV“, so Schneider. Dieses Gefühl sei tückisch, da noch viel Arbeit und Toleranz für die Veränderungsprozesse nötig sind, bis die Ziele des Radentscheids in greifbare Nähe gelangen. „Hier ein bisschen Fahrradstraße, da mal ein Stück Radweg, da mal ein Schutzstreifen: Das wird ja nicht als zusammenhängende Fahrradinfrastruktur wahrgenommen.“

Vier Fahrradparkhäuser mit insgesamt 280 Stellplätzen befinden sich gerade im Bau. Sie sollen Pendelverkehr und multimodalen Transport attraktiver machen, aber auch als Quartiersgarage dienen.

Die Highlights von morgen

Viele Maßnahmen, die mit diesem Beschluss zusammenhängen, stehen bereits in den Startlöchern. Und der Radentscheid habe in den Köpfen viel verändert, wenn es um die Vorstellung guter Fahrradinfrastruktur geht, meint Steffen Schneider. Auch Christina Welt ist positiv gestimmt: „Die Gesellschaft ist bereit, die Politik ist bereit und jetzt haben wir gerade auch die Ressourcen, die Sachen zu machen. Die wurden teilweise auch schon in der letzten Legislaturperiode vorbereitet und können jetzt umgesetzt werden.“ Wichtig sei natürlich, dass weiterhin politischer Wille für diese Prozesse gegeben ist.
Im Juni hat die Stadt bekannt gegeben, an vier Stellen vertikale Fahrradparkhäuser mit insgesamt 280 Stellplätzen zu bauen. Die Fundamente sind teilweise bereits gegossen. Als Standorte hat die Verwaltung zentrale Plätze in Bonn und den Bahnhof des rechtsrheinischen Stadtteils Beuel festgelegt. Während dort eher multimodale Pendlerinnen angesprochen werden sollen, dient der Turm am Frankenbadplatz in der Bonner Altstadt eher als Quartiersgarage. „Da haben wir super viele Beschwerden, dass Fahrräder geklaut und aufgestochen werden. Dort ist es dann fast eine Quartiersgarage für Fahrräder. Da gibt es diese alten Gründerzeithäuser mit abenteuerlichen Holztreppen. Da trägt man kein Fahrrad in den Keller“, erläutert Christina Welt. Felix Maus hat die Hoffnung, dass es solche Parkhäuser irgendwann an weiteren wichtigen Haltestellen des ÖPNV geben könnte. Erarbeitet wird auch eine Plattform, auf der Bürgerinnen Standorte für Fahrradständer empfehlen können.
Auch große Träume gibt es, etwa beim örtlichen ADFC oder dem Radentscheid-Team. Eine vierte Rheinbrücke für den Rad- und Fußverkehr könnte die durch den Rhein getrennten Stadtteile sehr gut miteinander verbinden. Eine rechtsrheinische Bahntrasse könnte die Verbindung noch als Radvorrangroute erweitern und selbst auswärts gelegene Stadtteile mit dem Zentrum zusammenbringen. Der ADFC NRW fordert, eine dazu beschlossene Machbarkeitsstudie möglichst schnell umzusetzen. An Projekten und Ideen mangelt es der Stadt nicht. Es bleibt abzuwarten, wie der gesellschaftliche Rückhalt für den Radentscheid sich entwickelt. Zumindest das Fahrradklima dürfte sich in den kommenden Jahren aber weiterhin verbessern.


Bilder: Stadt Bonn, Sebastian Gengenbach

Dr. Axel Sprenger hat in einer Marktstudie untersucht, wie die Menschen in Deutschland gegenüber elektrischen Leichtfahrzeugen eingestellt sind. Im Interview erklärt Sprenger, welche Rolle Identität beim Umstieg spielt und warum eine gewisse Langsamkeit dem Wandel guttun könnte. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Wie kamen Sie dazu, sich in Ihrer Studie mit Mikromobilität auseinanderzusetzen? War das ein Auftrag des Bundesverbandes E-Mobilität (BEM), mit dem Sie die Studie auf der Polis-Mobility vorgestellt haben?
Wir bei UScale führen unsere Studien in 99 Prozent der Fälle im Eigenauftrag durch. Wir greifen aber gerne Impulse von außen auf. In dem Fall hat uns das Thema einfach interessiert. Das geschäftliche Potenzial für uns ist hier gering, weil die Unternehmen, die in diesem Markt unterwegs sind, meist noch kein Geld für Marktforschung ausgeben. Wir haben für die Studie mit Voylt.com, einer Plattform für Mikromobilität, zusammengearbeitet. Voylt hat uns zur Mikromobilität, ein für uns neues Feld, beraten und geholfen, die relevanten Fragen zu stellen. Voylt hat die Umfrage auch an die Hersteller von LEVs verschickt, damit sie die Befragung an ihre Kunden weiterleiten. Der BEM ist als Verband an den Daten interessiert und hat sie von uns quasi „pro bono“ für seine Verbandsarbeit erhalten.

Sie beraten mit UScale auch regelmäßig Automobilhersteller. Nehmen diese das Thema Mikromobilität ernst genug? Geht es Ihnen mit dieser Studie vielleicht auch ein bisschen darum, das Thema mehr an sie heranzutragen?
Wir arbeiten mit vielen Autoherstellern zusammen. Ich habe aber bisher von keinem Autohersteller Anfragen in die Richtung bekommen. Von daher vermute ich, dass das Thema für Autohersteller derzeit weniger interessant ist. Smart und andere haben vor langer Zeit Elektrofahrräder angeboten. Das waren tolle Produkte, aber vom Geschäftspotenzial eher weniger relevant.

„Ich bin sicher, dass sich die Mikromobilität weiter durchsetzen wird, weil sie einfach sinnvoll ist und noch viele überzeugen wird. Dazu kommt, dass die LEVs noch deutlich billiger werden.“

Dr. Axel Sprenger, Uscale

Welche Rolle haben denn E-Bikes in der Studie gespielt? Die sind ja doch verbreiteter als andere Elektroleichtfahrzeuge.
Elektroräder sind nach meiner Einschätzung vollständig akzeptiert, jeder fährt sie und sie sind politisch unumstritten. Andere, wie etwa Cargobikes, tragen aber erhebliches Konfliktpotenzial; sie sind historisch betrachtet ein neues Fahrzeugkonzept und benötigen neue Fahrzeugspuren im Verkehr. Das führt zu Konflikten mit Autofahrern oder Fußgängern. Hier gibt es also Forschungsbedarf. Wenn Befragte in unserer Studie ein E-Bike hatten, haben wir sie in der Studie aufgenommen. Aber wenn jemand zum Beispiel auch noch ein elektrisches Skateboard hat, haben wir darauf fokussiert. So haben wir priorisiert, um zu allen Fahrzeugarten etwas zu erfahren, aber E-Bikes natürlich auch aufgenommen.

Welche Fahrzeuge waren denn besonders beliebt?
Wir waren überrascht, wie viele über das Access-Panel Befragte bereits LEVs im Haushalt haben. Rund 20 Prozent der Befragten besitzen ein E-Bike, auf Platz zwei kamen die E-Scooter, gefolgt von E-Mopeds und E-Motorrädern, die zusammen gleichauf mit den E-Cargobikes vertreten waren.

Welche Fahrzeugklassen könnten in Zukunft Ihrer Meinung nach noch eine größere Rolle spielen?
Ich glaube, dass wir im Lieferverkehr noch vieles in ganz unterschiedlichen Größenordnungen sehen werden. Beim Kindertransport und zum Einkaufen werden sicher auch Lastenräder eine große Rolle spielen. In der Studie haben wir auch gesehen, dass viele Menschen E-Scooter auf ihrer letzten Meile verwenden. Elektro-Skateboards und Mono-Wheels werden tendenziell noch als Fun-Fahrzeuge gesehen, was diese Fahrzeugklasse unterschätzt. Ich persönlich fände es sehr schade, wenn die nicht doch eines Tages noch erlaubt werden würden. Unterm Strich komme ich auf alles Mögliche, da werden wir noch viel Spaß haben mit den verschiedensten Fahrzeugtypen, wenn wir uns einigen mit der Verteilung des verfügbaren Platzes und aufpassen, dass wir keinen „Krieg der Verkehrsteilnehmer“ draus machen.

Worauf führen Sie es zurück, dass einige Fahrzeuge potenziell als Klischee reizen können?
Wie viele, sehe ich eine unglaubliche Polarisierung in unserem Land. Ein wichtiger Treiber sind Themen, die die Identität berühren und elektrische Leichtfahrzeuge berühren offenbar das Identitätsempfinden vieler Menschen. Viele Fahrzeuge sind noch teuer und werden von einigen weniger als Fortbewegungsmittel, sondern als ein Statement für eine politische Einstellung wahrgenommen. Wenn sie dann auch noch die Platzrechte der Autofahrer angreifen, berührt das viele Menschen offenbar.

Wie ließe es sich vermeiden, dass Identität dort so eine große Rolle spielt?
Es wäre schade, wenn Hersteller im Marketing in diese Identitätskerbe hauen würden. Käufer*innen werden natürlich von Bildern angesprochen, mit denen sie sich identifizieren können. Das kann ein Cargobike sein, in dem drei Kinder sitzen. Es könnten aber auch Bilder von Männern sein, die fürs Grillfest Mineralwasser- und Bierkästen holen, oder ältere Menschen, die ihre Einkäufe auf diese Weise nach Hause bringen. So fühlen sich auch Menschen angesprochen, der ansonsten gerne einen großen SUV fahren. Ich glaube, wir brauchen Bilder, mit denen sich möglichst viele identifizieren können. Ich war vor Kurzem in München. Da war ich in einer Nebenstraße am Theaterplatz völlig begeistert. Auf beiden Seiten wurde geparkt. Auf der einen Seite waren zwei Autoparkplätze zu Parkplätzen für E-Bikes und Lastenräder umgewidmet. Alle Plätze waren belegt. Ich fand das sehr gelungen, Parkplätze Stück für Stück bedarfsgerecht umzuwidmen. Wenn da acht Fahrräder stehen, kann sich jeder vorstellen, wie es wäre, wenn stattdessen acht Autos einen Parkplatz gesucht hätten. Manche Prozesse dauern einfach ein bisschen. Aber es werden sich auch die daran gewöhnen, die es am Anfang nicht toll finden, und dann geht das. Sich gegenseitig zu beschimpfen, ist in der Regel nicht hilfreich.

Elektroleichtfahrzeuge sind stark abhängig von rechtlichen Rahmenbedingungen. Elektrische Longboards sind in Deutschland verboten. E-Scooter wurden jüngst aus Paris verbannt.

Man soll den Leuten also Zeit lassen. Sollte es finanzielle Anreize für Mikromobilität geben? Elektroautos werden schließlich auch gefördert, um den Umstieg zu beschleunigen.
An vielen Stellen darf es mit dem Umbau sicher schneller gehen. Ich glaube, die Kunst wird es sein, das richtige Tempo zu finden. Kleine und größere Änderungen, die aber kontinuierlich und Stück für Stück die Stadt umbauen. Zu den Förderungen: Meine persönliche Meinung ist, dass es das nicht braucht. Wir müssen nicht innerhalb der nächsten drei Jahre jedem ein elektrisches Leichtfahrzeug verpassen. Ich glaube, das kommt von ganz alleine: Man fährt sie mal, der Nachbar hat eins und man probiert es aus. Dann steigen die Stückzahlen und die Fahrzeuge werden billiger. Aber ich brauche nicht alles, was ich innerhalb der nächsten zehn Jahre haben will, mit einem finanziellen Anreiz zu überziehen. Ich würde sagen, sie werden im Moment zu einem Preis angeboten, zu dem sie nachgefragt werden. Das erste iPhone hat auch nicht jeder sofort gehabt. Ich erinnere mich, wie die CD eingeführt wurde. Der erste CD-Player hat 3000 Mark gekostet und drei Jahre später hat auch ohne staatliche Förderung jeder einen CD-Player gehabt.

Um der Klimakrise zu begegnen, ist es ja auch nicht wichtig, dass jeder CDs hören kann. Aber weniger Autoverkehr ist eine zentrale Stellschraube. Ist das kein Grund für einen Anreiz?
Richtig, aber mir geht es um die Diffusion von Technologien, die nicht erzwungen werden kann. Aber zu Ihrer Frage: Natürlich sehe ich ein Gerechtigkeitsthema. Warum bekommt der Mensch für sein 40.000-Euro-Auto 6000 Euro geschenkt und ich muss mein Kleinfahrzeug komplett bezahlen? Aber vielleicht müssen wir eher fragen, warum der Staat Autos so hoch fördert, und nicht, was er dann aber alles auch noch fördern muss. Ich bin sicher, dass sich die Mikromobilität weiter durchsetzen wird, weil sie einfach sinnvoll ist und noch viele überzeugen wird. Dazu kommt, dass die LEVs noch deutlich billiger werden.

Gegen herumstehende Autos, aber auch Cargobikes, helfen Sharing-Angebote. Wie sehen Sie das Verhältnis von Privatbesitz und Sharing, was Mikromobilität angeht?
Ich habe bei Mercedes und Smart die ersten Stunden des Car2Go miterlebt und auch die Probleme, die damit verbunden waren, was die Wirtschaftlichkeit angeht. So wie Car2Go immer wieder in finanzielle Probleme gerät, wundert mich, dass sich die vielen Sharing-Angebote in unseren Städten finanziell halten können. Wenn es aber funktioniert, dann ist es doch gut! Aber: In der Studie bezog sich die Hauptkritik der Nicht-Besitzer eines LEV an der Mi-kromobilität darauf, dass sich Fußgänger von der manchmal abenteuerlichen Fahrweise von Scooter-Fahrern verunsichert fühlen und an den oft chaotischen Abstellgewohnheiten stören. Hier ziehen Sharing-Angebote also viel Kritik auf die Mikromobilität generell. Das ist nicht hilfreich. Ich denke, dass wir die Bedürfnisse der Nicht-LEV-Nutzenden genauso ernst nehmen müssen wie die der LEV-Fahrenden vor Autos, die ihnen zu wenig Raum auf der Straße geben.

Was hat Sie an Ihren Studienergebnissen besonders überrascht? Womit haben Sie nicht gerechnet?
Mich hat überrascht, dass die allermeisten Befragten die Mikromobilität positiv oder immerhin neutral bewerten. Nur fünf Prozent sind ganz grundsätzlich dagegen. Ich habe in der Zusammenfassung deshalb geschrieben, dass wir keinen Kulturkampf sehen. Ja, die Menschen sind genervt, wenn drei Jugendliche auf einem Scooter in Schlangenlinien über den Bürgersteig fahren. Dann gibt es die Autofahrer, denen eine Spur weggenommen werden soll und die sich darüber beklagen. Beim Zeitunglesen habe ich manchmal das Gefühl, wir sind kurz vor einem Mobilitätskrieg. Wenn wir aber die Studienergebnisse ansehen, können wir das nicht bestätigen. Es gibt einige Probleme und berechtigte Sorgen, die wir der Reihe nach auflösen müssen. Aber ich glaube, wir sind schon viel weiter, als wir glauben.

Sie haben auch festgestellt, dass bei den bisherigen Nicht-Besitzern viel Interesse besteht an LEVs. Was können die Hersteller tun, um diese Gruppe noch besser zu erreichen?
Ich würde sagen, die tun schon alles. Die Anzahl dieser Fahrzeuge wächst wie verrückt. Das ist unglaublich, was in den letzten Jahren passiert. Dazu kommen Angebote, wie das Job-Rad, Mobilitätsbudgets, das 49-Euro-Ticket. Es ist gigantisch, was da alles passiert ist!

Ein Auszug der Studie ist auf der Website von UScale als Download erhältlich:
https://uscale.digital/lev-studie-2023/#inhalte-der-lev-studie


Bilder: UScale, Mellow Boards, Äike

Der 8. Nationale Radverkehrskongress hat in Frankfurt von der Verzahnung mit der Eurobike profitiert. Rund 700 Radverkehrsakteur*innen kamen ins Kap Europa. Der gastgebende Verkehrsminister Dr. Volker Wissing begrüßte sie allerdings nur digital. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


„Es ist nicht immer einfach, aber es lohnt sich“, fasste Frankfurts Bürgermeister Mike Josef die Arbeit der Radverkehrsplanung beim Eröffnungsplenum des NRVK zusammen. Die gastgebende Stadt sei auf dem Weg zur Fahrradstadt bereits mit großen Schritten vorangekommen, dennoch bleibe besonders im Gebäude- und Verkehrssektor viel zu tun. Das betrifft vor allem die Politik, die den Planer*innen Rückendeckung geben muss. In dieser Hinsicht wurden besonders Aussagen hinsichtlich des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) beziehungsweise der ihr nachge-
lagerten Straßenverkehrsordnung (StVO) vom rund 700-köpfigen Plenum mit Applaus untermalt. MdB Mathias Stein von der SPD betonte in einer Diskussion des Parlamentskreises Fahrrad, dass die kommende StVG-Novelle das Präventionsprinzip beinhalten sollte, nach dem Schutzmaßnahmen auch ohne bereits geschehene Unfälle leichter angebracht werden sollen. Der Parlamentskreis wurde in der letzten Wahlperiode gegründet, um parteiübergreifend Querschnittsthemen wie Industrie oder Tourismus zu besprechen.

Mehr Handlungsspielraum für Kommunen

Der parlamentarische Staatssekretär Oliver Luksic freute sich über die Frankfurter Woche des Radverkehrs und kündigte an, dass es zeitnah einen Gesetzesentwurf geben soll. Zu erwarten ist in diesem, dass gemäß dem Subsidiaritätsprinzip mehr Handlungsspielraum für Kommunen entsteht. „Das Thema des Kongresses ist gut gewählt – schneller mehr, besserer und sichererer Radverkehr. Denn die schnelle Umsetzung von Maßnahmen ist das Gebot der Stunde. Die Fördermittel für den Radverkehr stehen im Haushalt des Bundes bereit. Wir haben in dieser Legislatur Finanzierungs‐ und Planungssicherheit für die Kommunen geschaffen. Wir fördern den Radverkehr mit zahlreichen Programmen und unterstützen die zuständigen Länder und Kommunen unter anderem dabei, ihre Radinfrastruktur sicherer und komfortabler zu machen“, so Luksic. Er plädierte außerdem dafür, die Mittel zu nutzen, die der Bund zur Verfügung stellt. Luksic vertrat den Minister Volker Wissing als Gastgeber. Wissing sei in Berlin im Rahmen der deutsch-chinesischen Konsultationen vom Bundeskanzler einbestellt worden. Neben Luksic und Josef trat der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir als Eröffnungsredner auf: „Besonders freut es mich, dass der Nationale Radverkehrskongress erstmals im Zusammenhang mit der Eurobike durchgeführt wird. Das zeigt die wirtschaftliche Bedeutung des Radverkehrs und verstärkt den Austausch zwischen den unterschiedlichen Akteuren.“ Al-Wazir plädierte dafür, die positive Wirkung des Radverkehrs auf die Lebensqualität zu kommunizieren. „Die Kopie ist die höchste Form der Anerkennung“, zitierte er weiterhin Oscar Wilde. Das Land Hessen fördert aktuell zum Beispiel Nahmobilitätskoordinatoren und -koordinatorinnen, die kleinen Kommunen beratend zur Seite stehen.

Frankfurts Oberbürgermeister Mike Josef war zum NRVK gerade noch frisch im Amt, hier bei der Radtour zur Eurobike mit Hessens Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir und PStS Oliver Luksic.

Branchenverbände zeigen Präsenz

Nachdem die zweijährlich stattfindende Veranstaltung 2021 digital durchgeführt wurde, war sie 2023 zum ersten Mal an die Eurobike angegliedert. Auch die Fahrradbranche war auf dem NRVK durchaus präsent. Der Zweirad-Industrie-Verband, der Verbund Service und Fahrrad sowie Zukunft Fahrrad suchten an ihren Ständen den Austausch und waren inhaltlich in das Vortragsprogramm involviert. Die zwei Kongresstage boten 16 Fachforen, sieben Side-Events und 14 Exkursionen. Im Zentrum steht, den Nationalen Radverkehrsplan 3.0 umzusetzen. Auf der großen Bühne kamen namhafte Experten und Expertinnen zu Wort, darunter Patrick Döring von Wertgarantie, die Paracycling-Weltmeisterin Denise Schindler und Fairnamic-Chef Stefan Reisinger sowie Madeleine Brüse, Geschäftsführerin des Fahrradherstellers Müsing Bikes. Am zweiten Konferenztag fanden elf Exkursionen statt, die interessante Beispiele für Infrastruktur, Kampagnen und Projekte in Frankfurt und anderen Orten in Hessen besuchten. Auch Führungen über das Eurobike-Gelände waren Teil des Programms.
Die Sieger des Deutschen Fahrradpreises wurden in Frankfurt ebenfalls geehrt. In der Kategorie Infrastruktur konnte sich die Stadt Münster mit der Kanalpromenade durchsetzen. Auf einem Betriebsweg entstanden dort 27 Kilometer kreuzungsfreier Radweg. In der Rubrik Service & Kommunikation übergab Christine Fuchs von der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e.V. den 1. Preis an die Kölner Verkehrsbetriebe. Im dortigen Pilotprojekt können ÖPNV-Nutzer*innen kostenlos Lastenräder ausleihen. Zur fahrradfreundlichsten Persönlichkeit wurde in diesem Jahr nicht ein Mensch, sondern mit dem Freiburger SC gleich ein ganzer Verein ernannt.


Bilder: Bernd Roselieb, Dirk Michael Deckbar

Ist die Umsetzung der Verkehrswende nur eine Frage der Zeit oder ist noch gar nicht entschieden, wohin die Reise rund um die Mobilität in Deutschland überhaupt geht? In den letzten Jahren hatten viele den Eindruck, dass mehr über das „Wie“ einer Verkehrswende als über das „Ob“ gestritten wurde. Doch inzwischen scheint es, als habe sich der Wind grundlegend gedreht. Tatsächlich kommt die Verkehrswende zumindest auf Bundesebene kaum voran. Die Gegner jedweder Veränderungen im Verkehrsbereich werden zunehmend selbstbewusster und offensiver. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Dass im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien Ende 2021 das Wort „Verkehrswende“ kein einziges Mal vorkommt, hatte bereits hellhörig gemacht. Es hätte politisch ja gar nichts gekostet, den Begriff aufzunehmen, schließlich wäre er für alle Partner jederzeit interpretationsfähig geblieben. Von einer Antriebswende bis hin zu einer substanziellen Neuausrichtung deutscher Verkehrspolitik über die Elektrifizierung hinaus wäre hier alles drin gewesen. Stattdessen: Nicht mal das.
Mittlerweile ist die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Verkehrswende voll entbrannt. Jetzt rächt sich auch, dass nicht eindeutig diskutiert wurde, warum die Verkehrswende notwendig ist. Viele Menschen verbinden das Thema ausschließlich mit dem Klimaschutz. Andere denken dabei in größeren Kategorien, über das Klima hinaus: Schließlich ist auch der Wandel zu lebenswerten, inklusiven und menschengerechten Aufenthaltsräumen in unseren Städten und Dörfern erstrebenswert. Die Schaffung von Begegnungsräumen für Jung und Alt und auch der Lärmschutz durch weniger Autoverkehr sind ohne eine strukturelle Neugestaltung unseres Verkehrs kaum möglich. Fast überflüssig hier zu sagen, dass hierbei der Radverkehr eine tragende Rolle spielen kann und auch der Fußverkehr gestärkt werden muss.

„Bayern ist Autoland und die CSU bleibt auch Autopartei.“

Markus Söder

Autofahrer als Opfer der aktuellen Verkehrspolitik? Wahlslogan einer rechts-populistischen Partei.

Stumme Wirtschaft

Die Fahrradwirtschaft selbst ist in dieser Debatte wenig sichtbar. Das ist bedauerlich, denn die Rolle des Fahrrads als Wirtschaftsfaktor in Deutschland kann nur sie authentisch darstellen. Der Politikwissenschaftler und Soziologe Prof. Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) mahnt: „Die Branche insgesamt muss sich bewusst werden, dass Erfolge insgesamt nur durch politische Lobbyarbeit funktionieren.“ Das Auto konnte nur deshalb so erfolgreich sein, weil die frühen Automobilisten viel dafür geworben hätten, dass die Regeln geändert werden, dass es mehr Platz und mehr Geld für Autos gibt. „Und die Fahrradindustrie glaubt immer, das fiele vom Himmel.“
Das Thema Verkehrswende sollte auch nicht ausschließlich unter dem Aspekt der Klimakatastrophe diskutiert werden, das würde zu kurz greifen. Bereits der Begriff „Verkehrswende“ ist unglücklich gewählt. „Mobilitätswandel“ wäre treffender, weil der Mobilitätsbegriff umfassender ist. Jede Wende, jede Veränderung macht Menschen Angst, wie der Kommunikationsexperte Michael Adler feststellt, „weil die unter archaischen Gesichtspunkten immer mit Bedrohung verbunden war“. Daher ist es auch besser von „Wandel“ zu sprechen, denn Wandel kommt von innen, er wird von vielen mitgestaltet, ist häufig ein gesellschaftlicher Prozess.
Solche Spitzfindigkeiten sind all denen egal, die heute für die Kontinuität der Dominanz des Automobils kämpfen. Dass die AfD das Auto in Deutschland als „bedrohte Art“ sieht, überrascht nicht, „Rettet den Diesel“ wurde zum Schlachtruf. Als dann die FDP den Verbrenner mit dem Argument klimaneutraler E-Fuels vor der Verbannung durch die EU schützen wollte, wurde deutlich, dass das Thema offensichtlich auch für den Wahlkampf taugt. Aus dieser Überzeugung schöpft auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, der Anfang Mai vor großem Publikum erklärte „Bayern ist Autoland und die CSU bleibt auch Autopartei“. Er fügt noch an, dass der ländliche Raum das Auto eben braucht und deshalb auch die Autobahnen weiter ausgebaut werden müssen. Es scheint, als stünden wir wieder ganz am Anfang der Debatte über den Sinn oder Unsinn einer Verkehrswende in Deutschland. Weit her ist es dabei mit dem Niveau vieler Äußerungen zu dieser Auseinandersetzung nicht, besonders wenn man in die digitalen Medien schaut. Die Verkehrswende wird Teil eines Kulturkampfes.
Dabei ist gar nicht so entscheidend, was da gesagt wird, sondern wie etwas vorgebracht wird. So sagte der im April noch designierte Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, man werde nicht „gegen den Willen vieler Anwohner 2,30 Meter breite Fahrradwege fertigstellen, die am Ende kaum einer nutzt“. Er sagte das in einem Ton, als wären 2,30 Meter breite Radwege eine absurde Idee. Dabei entspricht diese Breite dem seit 2018 geltenden Berliner Mobilitätsgesetz. Dieses soll jetzt auch vom neuen, CDU-geführten Senat „weiterentwickelt“, sprich: autofreundlicher verändert werden. Kai Wegner wollte aber auch auf den „Klassiker“ der politischen Polemik nicht verzichten: Es ginge den Anhängern von mehr Radverkehr wohl mehr um Ideologie als um Lösungen. Die anderen wollten mit dem „Kopf durch die Wand“.
Ja, der gute alte Ideologie-Vorwurf. Merke: Man selbst lässt sich grundsätzlich nur von sachlichen Fakten, von pragmatischer Vernunft und gesundem Menschenverstand leiten. „Alle anderen sind ja immer Ideologen“, sagt Prof. Andreas Knie. Ideologie als abqualifizierendes Schimpfwort. Zwar stammt der Begriff aus dem Griechischen und bedeutet eigentlich etwas Positives, nämlich die „Lehre von den Ideen“. Aber im gängigen politischen Sprachgebrauch steht die Ideologie heute meist für starre und totalitäre Weltanschauungen. Ein Totschlag-Vorwurf also.
Der Riss zum Thema Verkehrswende geht nicht nur durch die Parteilandschaft, sondern auch durch die Wählerschaft innerhalb ein und derselben Stadt. Das zeigt sich vielerorts an den Wahlergebnissen der Stadtteile und Bezirke. Meist sind die Bewohner*innen des Stadtkerns tendenziell eher Befürworter der Verkehrswende, während in den Außenbezirken eher konservativ und autofreundlich gewählt wird.

Widerstände gegen Veränderungen gehören dazu, selbst wenn es um Dinge geht, die wir heute für selbstverständlich halten, wie etwa die Einführung der Gurtpflicht 1975.

Vergiftete Atmosphäre

Die verkehrspolitische Auseinandersetzung ist in Deutschland heutzutage oft schon so vergiftet und emotional aufgeladen, dass ein vernünftiger gesellschaftlicher Diskurs über sinnvolle Ziele für die Verkehrsentwicklung fast unmöglich scheint. Dabei entzündet sich der häufigste Streit am Ausbau von Radverkehrsinfrastruktur. Meist geht es hier um die Konkurrenz beim begrenzten Verkehrsraum, insbesondere dann, wenn dem Automobil Platz weggenommen und die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs (MIV) eingeschränkt werden soll. Dann wird auch nicht mehr von Kritikern gesprochen, sondern von „Autohassern“. Neben der Pathologisierung einer anderen Meinung wird die Gegenseite auch gern bewusst missverstanden. Bei der Forderung nach „weniger Verkehrsbelastung“ wird gleich unterstellt, das Auto solle komplett abgeschafft werden. Gegnerinnen jeglicher Veränderungen entdecken dann auch gern ihr soziales Herz: Wo soll der Pflegedienst denn parken? Wie soll die Oma zum Arzt kommen? Und der kleine Handwerks-Familienbetrieb, wie soll der die Kundschaft erreichen? Und ja, natürlich: Ein Tempolimit bedroht grundsätzlich das hohe Gut der Freiheit. Wir stecken also mitten in einer Auseinandersetzung, in der die wahren Motive der Protagonistinnen meist geschönt sind. Auch handfeste wirtschaftliche Interessen werden verschleiert. Offensichtliche Lobbyisten sind klug genug, nicht offen aufzutreten und lieber Dritte „soziale“ Argumente vorbringen zu lassen. Auch die interessierte Politik sorgt sich um den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ und fordert deshalb, man müsse bei jeder Veränderung „die Menschen mitnehmen“. Das klingt nett und ist im Kern auch richtig, wird aber einseitig interpretiert. Denn die Politik muss sich natürlich fragen lassen, was sie dafür getan hat, „die Menschen“ auf notwendige gesellschaftliche Veränderungen rechtzeitig offen und ehrlich vorzubereiten. Maßnahmen gegen die Klimakrise beispielsweise sind Handlungen zur gesellschaftlichen Gefahrenabwehr, um noch viel größere Schäden für die Spezies Mensch abzuwenden. Das ist nicht ideologisch, sondern schlicht eine Güterabwägung. Über die darf sicher gestritten werden, doch das geschieht bei uns nicht mit „offenem Visier“. Der Debatte fehlt es häufig an der Redlichkeit ihrer Akteur*innen. So kann ein gesellschaftlicher Dialog nicht gelingen.

„Wir müssen viel mehr sagen, wo die Reise hingeht, in fünf oder zehn Jahren, auf welche Vorteile wir zusteuern.“

Michael Adler

Widerstände überwinden

„Die Menschen mitnehmen“ ist eine nette Floskel, besonders wenn der Ausspruch unterstellt, man müsse alle Menschen überzeugen können. Ein Blick zurück zeigt, dass es gegen gesellschaftliche Veränderungen immer lautstarke und emotional gezeigte Widerstände gab, auch gegen solche, die heute gewiss niemand wieder rückgängig machen will. Drei Beispiele genügen, um das zu belegen: Die Einführung von Fußgängerzonen in den 1950ern (Widerstand der ansässigen Kaufleute), die zwangsweise Einführung des Sicherheitsgurts beim Auto in den 1970er- Jahren und das Rauchverbot in Gaststätten 2008. Immer wurden die Debatten erbittert und oft auch mit fadenscheinigen und vorgeschobenen Argumenten geführt. Doch am Ende war die Zustimmung überwältigend.
Redlichkeit in der Debatte ist ein wichtiges Stichwort. Wenn sie fehlt, ist einer fruchtbaren Diskussion die Grundlage entzogen. Beim Klimaschutzgesetz spielt aber auch die Bundesregierung selbst eine zwielichtige Rolle. Der Staat erwartet von seinen Bürgerinnen und Bürgern zu Recht Gesetzestreue, aber das muss auch umgekehrt gelten dürfen. Es war schon grenzwertig genug, dass erst das Bundesverfassungsgericht 2021 die Bundesregierung zwingen musste, ihr Klimaschutzgesetz wirkungsvoll nachzuschärfen. Aber gut. Dann stellt die Bundesregierung fest, dass der Verkehrsbereich die gesetzlichen Klimaziele deutlich verfehlt und bei unveränderter Verkehrspolitik auch weiter verfehlen wird. Doch anstatt nun entsprechende Maßnahmen aufzusetzen, beschließt die Regierung die künftige Aufweichung der Sektorenziele, um nicht weiter gegen das Gesetz zu verstoßen. Eine „Insolvenzanmeldung“ nennt das Prof. Andreas Knie: Die Regierung sage damit, „Wir wollen uns nicht ändern, weil wir glauben, wir können uns nicht ändern“. Dieser Winkelzug der Bundesregierung, das Klimaschutzgesetz jetzt anzupassen, um sich aus der Schusslinie zu nehmen, hat in der Bevölkerung viel Vertrauen gekostet. Das führt zu einer weiteren Verhärtung.
Anders als bei der Corona-Pandemie, als sich die politischen Entscheider*innen intensiv von der Wissenschaft beraten ließen, scheint die Bundesregierung und allen voran Bundesverkehrsminister Volker Wissing völlig taub gegen jede fachliche Kritik. Die kommt ja nicht nur von den „üblichen Verdächtigen“, sondern praktisch von allen Seiten, auch von Sachverständigen aus dem eigenen Haus.

„Viele Chancen (…) wurden nicht genutzt, andere (…) werden nur langsam realisiert.“

OECD-Bericht über Deutschland

Verkehrsblockaden sind kein neues Phänomen, aber selten war die politische Bewertung so kritisch wie gegenwärtig gegen die Klimaproteste.

Resistenz gegen Kritik

Die auf die Klimakrise bezogene Kritik an der Verkehrspolitik der Bundesregierung ist so eindeutig, dass diese Resistenz schon beispiellos ist. Zuletzt hat Anfang Mai die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem Wirtschaftsbericht für Deutschland eine Verdreifachung des Tempos bei den Klimaschutzmaßnahmen und mehr Entschlossenheit bei der Verkehrswende angemahnt: „Anstelle von Einzelmaßnahmen, die in erster Linie umweltfreundlichere Autos auf die Straße bringen sollen, braucht es eine ganzheitliche Strategie für nachhaltige Mobilität.“ Die OECD gibt auch Hinweise, welche Instrumente Deutschland nutzen könnte: „Viele Chancen, wie zum Beispiel ein breiterer Einsatz von Tempolimits, Mautgebühren für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge oder City-Mauten, wurden nicht genutzt; andere, beispielsweise die Anhebung der Parkgebühren, werden nur langsam realisiert.“
Vor diesem Hintergrund, wo Worte und die Demonstrationen der Fridays-for-Future-Bewegung offenbar wenig nützen, kann es nicht verwundern, dass sich radikalere Formen des Widerstands bilden. Alle wissen, dass die Zeit wirkungsvoller Maßnahmen gegen die Klimakrise extrem begrenzt ist. Besonders betroffen von dieser Situation sind jüngere Menschen, die sich zuletzt mit verschiedenen spektakulären Aktionen (in Museen) oder Verkehrsblockaden in die Schlagzeilen gebracht haben. Aktivisten der „Letzten Generation“ sorgen mit ihren Aktionsformen für Aufmerksamkeit.
Besonders die Verkehrsblockaden erregen die Gemüter. Hier scheint ein Nerv getroffen zu sein, der Bürger wie Politik maximal emotionalisiert. Von „Klimaterroristen“ ist die Rede und die „Bild“-Zeitung heizt die Stimmung weiter an. Die politische Debatte verlagert sich in dieser Phase weg von den Defiziten der Klimapolitik der Regierung hin zu einem Streit über die Aktionsformen. Einigen dürfte das durchaus entgegenkommen. Es wird der Vorwurf formuliert, die „Klimakleber“ schadeten dem Klimaschutz mehr, als dass sie nutzten. Prof. Andreas Knie hält dagegen: „Nur durch die Regelübertretung passiert etwas. Ende Gelände, Extinction Rebellion und die Letzte Generation sind solche Regelbrecher und nur durch Regelbrecher wird ein gesellschaftliches Bewusstsein wach.“
Verkehrsblockaden sind übrigens keine Erfindung der „Klima-Kleber“. Es gab auch zuvor schon massive Blockaden in Deutschland und auch anderswo durch protestierende Landwirte. Und letztlich ist jeder Bahnstreik eine Einschränkung der persönlichen Freiheit all derer, die mit der Bahn mobil sein wollen. Doch das scheint im kollektiven Bewusstsein anders abgespeichert zu sein. Es scheint im Rechtsverständnis für viele akzeptabler zu sein, wenn Straßenblockaden wegen materieller Forderungen einzelner Gruppen durchgeführt werden, als wenn es um das Gemeininteresse Klimaschutz geht.

„Die Branche insgesamt muss sich bewusst werden, dass Erfolge insgesamt nur durch politische Lobbyarbeit funktionieren.“

Prof. Andreas Knie

Bahnstreiks sind gesellschaftlich akzeptiert, Blockaden durch Trecker von Landwirten ebenfalls, die Verkehrsblockaden der „Letzten Generation“ aber nicht?

Emotionale Sprengkraft

Die Verkehrsblockaden der „Letzten Generation“ besitzen eine solche emotionale Sprengkraft, dass sie sogar die Grundfeste unserer Demokratie erschüttern. Bundesfinanzminister Christian Lindner erklärte beim FDP-Bundesparteitag im April, Straßenblockaden seien „nichts anderes als physische Gewalt“. Und Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) sagte angesichts der immer häufigeren Gewaltaktionen durch blockierte Autofahrende, Gewalttaten und Selbstjustiz gegen Klimaaktivisten müssten „leider dann eben auch zur Rechenschaft gezogen werden“. Leider. Aha. Rechtsstaat sieht anders aus. In diesem Klima langte zuletzt auch die Polizei ordentlich hin. Videos von unverhältnismäßiger Polizeigewalt mit sogenannten Schmerzgriffen lösten bei vielen Empörung aus. Hier läuft offenkundig etwas aus dem Ruder. Alles deutet auf eine weitere Eskalation des Protests hin, was für unser Gemeinwesen nicht ungefährlich ist.
Angesichts der verfahrenen Situation stellt sich die Frage, wie es mit der Entwicklung hin zu einer gesellschaftlich breit getragenen Mobilitätswende voran gehen kann. „Wir müssen positiv über eine veränderte Zukunft reden“, sagt Kommunikationsexperte Adler. „Der sprachliche und visuelle Rahmen, der um ein Thema gesetzt wird, bestimmt auch die Gefühle, die mit dem Thema verbunden werden.“ So etwas braucht natürlich Zeit, bevor es seine Wirkung entfalten kann. Anders gesagt: Es wäre gut gewesen, wenn wir mit der „neuen Sprache“ und den „neuen Geschichten“ schon vor vielen Jahren begonnen hätten. Michael Adler: „Wir müssen viel mehr sagen, wo die Reise hingeht, in fünf oder zehn Jahren, auf welche Vorteile wir zusteuern.“
Zum Bild einer positiven Fahrradkultur kann auch die Fahrradwirtschaft einiges beitragen. Dazu muss sie sich allerdings stärker in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Branchenverbände, deren Schwerpunkt naturgemäß die politische Lobbyarbeit sein wird. Eine Fahrradkultur setzt sich aus unzähligen kleinen Bausteinen zusammen, die in der Summe dann das Mindset der Menschen prägen. Wenn sich die Unternehmen der Fahrradwirtschaft, Hersteller wie Fachhändler vor Ort, überall auf der lokalen Ebene für eine stärkere Fahrradkultur engagieren, dann leisten sie einen wichtigen Beitrag zum Mobilitätswandel mit all seinen positiven Auswirkungen.


Bilder: stock.adobe.com – Christian Müller, BIW, Spiegel, stock.adobe.com – Countrypixel, stock.adobe.com – MiReh

London, Sydney, Waltrop … Lucy Saunders hat kein Problem damit, neben den internationalen Metropolen auch die 30.000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen zu besuchen. Eingeladen wurde sie vom verkehrspolitisch engagierten Fahrradhersteller Hase Bikes. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Lucy Saunders lebt in London, berät Städte auf der ganzen Welt und spricht auf internationalen Kongressen. Ihre Vision sind „Healthy Streets“, also „gesunde“ Straßen. Straßen dienen aus ihrer Sicht nicht nur der Fortbewegung, sondern sind Lebensräume und Begegnungsorte von Menschen. Deren Gesundheit und Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt ihres Ansatzes. Wie groß oder klein eine Stadt ist, spielt dabei keine Rolle: „Veränderungen sind überall möglich. Entscheidend ist immer, dass es Menschen gibt, die sie anstoßen“, sagt sie im Interview beim Fahrradhersteller Hase Bikes. Dessen Geschäftsführerin Kirsten Hase hat die Verkehrsvisionärin nach Waltrop eingeladen. Hase Bikes ist spezialisiert auf Delta Trikes und Tandems, die im Freizeitsport, auf Radreisen, im Familienalltag und im Reha- und Handicap-Bereich auf der ganzen Welt gefragt sind. Hergestellt wird jedes einzelne davon in der Manufaktur auf dem alten Zechengelände in Waltrop wo das Unternehmen von Kirsten und Marec Hase seit 20 Jahren ansässig ist.
Die beiden engagieren sich seit Langem für verkehrspolitische Themen, haben Fahrraddemos organisiert und veranstalten eigene Events. „Obwohl wir überzeugt sind vom Fahrrad als Fortbewegungsmittel, gehen wir jetzt einen Schritt weiter, weg von der Konzentration auf ein Verkehrsmittel hin zu einer ganzheitlichen Stadtplanung“, beschreibt Kirsten Hase ihre Motivation zum Projekt „Lebendige Stadt“. „Waltrop wird, wie so viele Städte, an wichtigen Stellen vom Individualverkehr dominiert. Und weil wir hier leben und arbeiten, möchten wir hier etwas bewegen.“ Insgesamt geht das Ziel von Kirsten und Marec Hase aber über Waltrop hinaus. Sie möchten den Menschen Visionen geben und zeigen, dass der öffentliche Raum lebenswerter gestaltet werden kann. „Healthy Streets kann unserer Meinung nach die oftmals sehr aggressive Diskussion über die Verkehrswende komplett entschärfen“, sagt Kirsten Hase.
Das ist auch Lucy Saunders Bestreben: „Das Wichtigste ist, miteinander ins Gespräch zu kommen und dabei Menschen unterschiedlichen Alters, mit verschiedenen Bedürfnissen und Lebenssituationen einzubeziehen. Ich weiß, dass es einen langen Atem braucht, bis etwas geschieht und Veränderungen spürbar werden, aber es lohnt sich.“ Saunders ist Expertin für öffentliche Gesundheit, außerdem Stadt- und Verkehrsplanerin und hat über viele Jahre den Zusammenhang zwischen städtischen Räumen und menschlicher Gesundheit erforscht. Hieraus hat sie „Healthy Streets“ entwickelt und schon in vielen Städten weltweit angewendet. In London wird gerade ein Konzept, das sie im Auftrag des Bürgermeisters zusammen mit ihrem Team erarbeitet hat, sukzessive umgesetzt. In Vorträgen und Schulungen inspiriert sie Menschen auf der ganzen Welt dazu, Straßen und Städte als Lebensraum zu betrachten und sie gesünder, sicherer und attraktiver zu gestalten. Jetzt ist sie in Waltrop.

Gesunde Straßen, lebendige Stadt

Los geht es an der Sydowstraße, die vom Hase-Bikes-Standort auf dem alten Zechengelände zum Stadtzen-trum führt. Hier gibt es auf den ersten Blick wenig auszusetzen: Bäume am Straßenrand, bepflanzte Vorgärten, Fußwege auf beiden Seiten der recht breiten Straße, auf der an diesem Freitagvormittag nicht viel los ist. Nach 200 Metern bleibt Lucy stehen und fragt: „Was kann man hier verbessern?“ Darauf, dass es keinen Radweg gibt, kommen alle, aber Lucy geht es um etwas anderes: „Können Menschen auf den Fußwegen nebeneinander gehen und sich unterhalten?“ Nein, die Erfahrung haben der Waltroper Bürgermeister, mehrere Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung, ein Vertreter der Sparkasse, die den Besuch von Lucy Saunders mitfinanziert hat, Kirsten und Marec Hase und einige Waltroper Bürgerinnen schon gemacht. Der Fußweg ist schmal und wird an mehreren Stellen durch die Bäume, die die Straße säumen, zusätzlich verengt. Unterhalten kann man sich hier nicht. Aber ist dieser Anspruch nicht zu hoch gegriffen? Nein, sagt Lucy: „Eine gesunde Straße ist ein Ort, an dem sich Menschen gerne aufhalten.“ Das heißt für die Sydowstraße ganz konkret: „Wer hier zu Fuß geht, sollte die Möglichkeit haben, sich auszuruhen und mit anderen ins Gespräch zu kommen. Breitere Gehwege und ein paar Bänke würden die Straße für alle sehr viel angenehmer machen und letztlich dafür sorgen, dass man das Auto öfter mal stehen lässt.“ Wir sind knapp zwei Kilometer vom Ortszentrum entfernt, eine Strecke, die man als fitter Fußgänger in 20 Minuten zurücklegt. Seniorinnen mit und ohne Gehhilfen brauchen länger, ebenso Eltern mit Kindern im Kinderwagen oder auf Laufrädern, Rollstuhl-fahrerinnen, Hundehalterinnen oder Spaziergängerinnen, die einfach miteinander plaudern möchten. Den Fußweg zu verbreitern, wäre an der Sydowstraße kein großes Problem und hätte einen weiteren positiven Effekt: „Im Moment lädt die sehr breite Straße regelrecht zum Rasen ein. Auf einer schmaleren Fahrbahn hätten Autofahrer noch genügend Platz, würden aber vorsichtiger fahren und könnten ihrerseits sicher sein, niemanden zu gefährden“, sagt Lucy. Das ist einer der Punkte, die Kirsten Hase so begeistern und auch die Teilnehmerinnen des Rundgangs überzeugen: „Bei Healthy Streets geht es um eine lebendige Stadt, in der sich alle wohlfühlen, und nicht um die Konkurrenz verschiedener Fortbewegungsmöglichkeiten.“ Dazu braucht es nicht immer gleich die ganz großen und teuren Baumaßnahmen. Lucy Saunders macht auch einfach umzusetzende Vorschläge. Private Anwohnerinnen, Gastro-nominnen oder Einzelhändler einladen, Bänke vor die Tür zu stellen oder Bäume im Vorgarten zu pflanzen, die mittelfristig Schatten spenden. Bordsteine absenken, damit Menschen im Rollstuhl, mit Rollator oder Kinderwagen die Straße leichter überqueren können. Selbst Blumen an Balkonen und Gartenzäunen machen einen Weg einladender.

Kirsten Hase hatte sichtliche Freude an der Besucherin aus London, die es sich auch nicht nehmen ließ, die Ruhrgebietsstadt Waltrop mit der kommunalen Verwaltung zu begehen.

Achtung, Durchgangsverkehr!

An der Berliner Straße in Waltrop ist die Situation zunächst komplizierter. Hier donnert der Durchgangsverkehr – Lkw, Busse und Autos – durch die Stadt. Während in vielen Städten jahrelang um eine Ortsumgehung gestritten wird, hat Lucy auch hier leichter umzusetzende Ideen, um diese Situation zu entschärfen. Für einen weiteren Fußgängerüberweg, der automatisch auch den Durchgangsverkehr verlangsamen würde, müsste man am Straßenrand nur wenige Parkplätze wegnehmen. Bürgermeister Marcel Mittelbach und die Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung greifen diese Idee dankbar auf. Jeder in Waltrop weiß, wie gefährlich es ist, von der Sparkasse auf der einen Seite zu der gegenüberliegenden besten Bäckerei der Stadt und zurück zu kommen. Hier kommt allerdings ein Thema zur Sprache, das auch in der Podiumsdiskussion am nächsten Tag eine Rolle spielen wird: Die Berliner Straße ist eine Landesstraße. Hierfür ist das Land NRW zuständig und muss Veränderungen begutachten, genehmigen und letztlich auch finanzieren. Andere Straßen und Plätze „gehören“ dem Kreis oder der Stadt. Die Zuständigkeiten sind nicht immer klar, die Genehmigungsverfahren oftmals langwierig. Da kann man schon mal die Geduld verlieren.

Unternehmerisch denken?

Fast 100 Menschen sind am nächsten Tag zur Podiumsdiskussion ins „Schaltwerk“, den Ausstellungs- und Veranstaltungsraum von Hase Bikes, gekommen. Kirsten Hase geht in ihrer Begrüßung gleich ans Eingemachte: „Ich bin Unternehmerin und gewohnt, Entscheidungen zu treffen und zügig umzusetzen. Ich freue mich, dass hier heute Entscheiderinnen und Bewohnerinnen unserer Stadt miteinander beraten, was wir in Waltrop verändern können.“ Auf dem Podium sitzen neben Lucy Saunders der Bürgermeister Marcel Mittelbach und Landrat Bodo Klimpel. Eigentlich sollte auch das Verkehrsministerium von NRW vertreten sein, doch dessen Staatssekretär hat kurzfristig abgesagt. Die gute Nachricht: An diesem Nachmittag wird eine weitere Ortsbesichtigung an der Berliner Straße beschlossen, zu dem auch das Ministerium eingeladen werden soll. Drei Tage später sagt der Minister zu. Das freut Marcel Mittelbach, den Bürgermeister, sehr. „Es ist wichtig, Vereinbarungen zu treffen, wie wir weiter vorgehen wollen, selbst wenn wir mit langwierigen Prozessen rechnen müssen.“ Er hat sich viel Zeit genommen für das Projekt „Lebendige Stadt“, weil er weiß, wie wichtig die Verkehrssituation für die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger ist. Demnächst wird er die erste Fahrradstraße der Stadt eröffnen. „Lucy Saunders hat uns weitere, neue Möglichkeiten gezeigt, wie wir das Leben in Waltrop attraktiver machen können.“ Viele Gäste sind ebenfalls begeistert, auch Teilnehmer aus Ratsfraktionen, die die Aktion im Vorfeld sehr kritisch betrachtet haben. Bodo Klimpel, der Landrat des Kreises Recklinghausen, gibt zu bedenken, dass in Deutschland viele Normen und Vorschriften berücksichtigt werden müssen und man nicht einfach mal etwas ausprobieren kann. Den Vorschlag hat Lucy am Marktplatz gemacht. Hier sind Parkplätze für mehr als 150 Autos, nur zweimal in der Woche findet tatsächlich ein Lebensmittelmarkt statt. Der Platz liegt in der prallen Sonne und heizt sich durch die vielen Autos zusätzlich auf. Nur 200 Meter entfernt gibt es weitere Parkmöglichkeiten, die kaum genutzt werden. „Wenn man diese Fläche in einem Parkleitsystem vorrangig anbietet, wird nicht der ganze Marktplatz für den ruhenden Verkehr gebraucht. Vielleicht lässt sich dieses Konzept einmal für ein paar Monate ausprobieren.“ Das ist gar nicht so unrealistisch, weil der Platz mehrmals im Jahr für Feste genutzt wird und die Besucher dann an anderen Stellen parken.
Im Schaltwerk bei Hase Bikes vereinbaren die Gesprächspartner*innen, sich erst einmal mit der Berliner Straße zu beschäftigen. Kirsten Hase: „Wir haben erreicht, was wir im ersten Schritt erreichen wollten: Lucy hat uns konkrete Vorschläge gemacht. Die Menschen haben miteinander geredet und eine Vereinbarung getroffen, wie wir weiter vorgehen möchten. Wir starten mit einer Ortsbesichtigung mit dem Verkehrsminister.“ Das ist auch aus Lucys Sicht ein gutes Ergebnis ihres Besuchs. Zu viele Themen auf einmal führen nur dazu, dass sich die Beteiligten überfordert fühlen. Ihre Tipps für alle, die in ihrer Stadt etwas erreichen möchten: „Fangt mit einer realisierbaren Maßnahme an. Holt möglichst viele Menschen für eine Sache ins Boot. Überfordert die Entscheider nicht mit unterschiedlichen Anfragen. Feiert jeden noch so kleinen Erfolg. Führt immer wieder Gespräche mit allen Gruppen in eurer Stadt. Und das Wichtigste: Stellt euch darauf ein, dass es viel Zeit kosten wird. Aber steter Tropfen höhlt den Stein.“

Lucy Saunders‘ 10 Punkte
für Healthy Streets

1. Jede*r soll sich willkommen fühlen

Deshalb müssen Straßen einladende Orte sein, an denen jede*r spazieren gehen, Zeit verbringen und sich mit anderen Menschen austauschen kann. Das ist wichtig, damit wir alle durch körperliche Aktivität und soziale Interaktion gesund bleiben.

2. Leicht zu überqueren

Menschen möchten ihr Ziel schnell und direkt erreichen. Das dürfen wir ihnen nicht erschweren, sondern müssen unsere Straßen entsprechend gestalten. Frustrierte Menschen machen die Stimmung in einer Stadt immer schlechter.

3. Schatten und Schutz

Sie werden benötigt, damit jede*r die Straße bei jedem Wetter nutzen kann: Wenn die Sonne scheint, brauchen wir Schutz vor der Sonne. Bei Regen und Wind sind wir alle froh über einen Unterschlupf. Schutz und Schatten lassen sich mit Bäumen, Markisen, Kolonnaden etc. leicht realisieren.

4. Orte zum Ausruhen

Viele Menschen empfinden es als anstrengend, längere Strecken zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückzulegen. Sitzgelegenheiten sind daher unerlässlich. Und: Wo Menschen sitzen und sich unterhalten, möchte man auch gerne wohnen.

5. Nicht zu laut, bitte!

Lauter Straßenverkehr ist eine Belastung für die Menschen, die an einer Straße leben, arbeiten oder unterwegs sind, und wirkt sich in vielerlei Hinsicht negativ auf unsere Gesundheit aus. Die Reduzierung des Straßenverkehrslärms schafft eine angenehmere und gesündere Umgebung.

6. Die beste Entscheidung: Laufen und Radfahren

Um gesund zu sein, müssen wir Bewegung in unseren Alltag einbauen. Menschen entscheiden sich zum Laufen oder Radfahren, wenn das für sie die angenehmste Option ist. Gehen und Radfahren oder öffentliche Verkehrsmittel müssen attraktiver sein, als das Auto zu nutzen.

7. Menschen fühlen sich sicher

Fußgänger*innen oder Radfahrende fühlen sich sicher, wenn der motorisierte Verkehr ihnen genügend Raum, Zeit und Aufmerksamkeit gibt. Wir können den Verkehr so beeinflussen, dass Autofahrende rücksichtsvoll und langsam fahren. Wenn Wege beleuchtet und freundlich gestaltet sind, haben Menschen weniger Angst, angegriffen zu werden.

8. Was kann ich erledigen, was gibt es zu sehen?

Straßen und Plätze müssen optisch ansprechend sein und es muss Gründe geben, sie zu besuchen: lokale Geschäfte und Dienstleistungen, Gastronomie und Möglichkeiten, mit Kunst, Natur und anderen Menschen in Kontakt zu kommen.

9. Entspannung!

Straßenumgebung macht Angst, wenn sie schmutzig und laut ist, wir uns unsicher fühlen, zu wenig Platz haben oder nicht leicht dorthin gelangen, wo wir hinwollen. Einladende und attraktive Straßen helfen, sich zu entspannen.

10. Saubere Luft

Die Luftqualität wirkt sich auf die Gesundheit jedes Einzelnen aus, besonders aber auf Kinder und Menschen, die bereits gesundheitliche Probleme haben. Die Verringerung der Luftverschmutzung kommt uns allen zugute.


Bilder: Hase Bikes

Eine der interessantesten Optionen, nahtlose Mobilität anzubieten, und gleichzeitig Datengold zu schürfen, erarbeiten gerade die Berliner Verkehrsbetriebe BVG. „Einmal anmelden und alles fahren: Bus, Bahn, Roller, Fahrrad, Auto, Ridesharing und Taxi.“ Das ist das Versprechen der BVG-App Jelbi. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Wir haben mit Christof Schminke gesprochen. Er ist Managing Director Germany des litauischen Mobilitäts-App-Spezialisten Trafi. Die international renommierten Spezialisten setzen den Service zusammen mit der BVG um. Neuester deutscher Trafi-Kunde sind die Münchner Verkehrsbetriebe.

Herr Schminke, warum macht die BVG Jelbi?
Die Berliner Verkehrsbetriebe haben sich vorgenommen, Aggregator von Mobilität zu werden. Deswegen integrieren wir kontinuierlich weitere Services. Das heißt, wir haben angefangen mit dem ganzen öffentlichen Nahverkehr, dann zuerst Roller von Emmy integriert, dann Tier E-Scooter und Carsharing. Nextbike ist schon drin und dieses Jahr werden wir noch weitere Carsharer im System sehen. Das macht natürlich auch die Attraktivität für die Kunden aus, denn der Nutzen wird über die Menge deutlich größer. Das Besondere ist, dass alle Services tiefenintegriert sind. Das heißt, der Nutzer hat einmal seine Zahlungsdaten hinterlegt und, sofern er Carsharing nutzen möchte, einmal seinen Führerschein verifiziert, und kann dann wirklich alle Services in einer Applikation nutzen. Er muss nicht mehr in eine andere App gehen.

Es gibt schon diverse Apps für verschiedene Mobilitätsangebote in der Stadt. Reichen die nicht aus?
Nein, damit ist überhaupt nichts gewonnen. Zuerst einmal ist es für den Kunden einfach kein gutes Erlebnis: Er sieht, dass da Fahrräder stehen und Autos, muss dann aber trotzdem fünf verschiedene Apps haben, bei jeder Zahlungsdaten hinterlegen und die Führerscheinprüfung durchlaufen. Vor allem kann er nicht verschiedene Verkehrsmittel vergleichen und keine multimodale Route planen. Und auch für Stadt ist es schlecht: Wenn ich die Mobilitätsangebote nicht tiefenintegriert habe, bekomme ich natürlich auch keinen Zugriff auf die Daten. Das heißt, ich weiß am Ende des Tages nicht, ob die Person den Carsharer genommen oder im Anschluss an die Fahrt mit dem ÖPNV noch den E-Scooter genutzt hat.

„Ich glaube, nur wenn die Städte das selber machen und verstehen, dann können sie auch künftig Einfluss nehmen.“

Christof Schminke

Also empfehlen Sie Kommunen das volle Programm?
Es geht hier nicht darum, nur eine App zu launchen, das wäre viel zu kurz gesprungen. Wir sagen: Als Stadt musst du die Mobilität verstehen, du musst im Mittelpunkt stehen und jetzt anfangen zu begreifen, wie sich Leute bewegen und welche Modi miteinander kombiniert werden. Ich glaube, nur wenn die Städte das selber machen und verstehen, dann können sie auch künftig Einfluss nehmen. Wenn die Städte das Firmen wie Google überlassen, dann wird es natürlich schwierig, weil sie dann einfach nicht die Datenhoheit haben und es dann immer schwerer fällt, auch Einfluss zu nehmen.

Haben Sie Echtzeitdaten? Kann man die in Ihrem System verfolgen?
Echtzeitdaten im Sinne von, wo fährt der Bus und die Straßenbahn, sodass wir auch die Möglichkeit haben, dass die Menschen wirklich den Bus fahren sehen können. Es kommt aber immer drauf an, was wir an Daten von unseren Partnern zur Verfügung gestellt bekommen.

Das gäbe doch auch den Städten die Möglichkeit zur Steuerung?
Genau da muss es hingehen. Stellen Sie sich vor, Sie wollen in ein paar Jahren morgens zur Arbeit fahren und können dann genau sehen: Wenn ich jetzt das private Auto nehme, dann muss ich auf der Straße so viel Maut bezahlen, weil die Stadt heute eine große Veranstaltung hat und das Autofahren teuer macht. Zudem sehe ich schon, wie viel ich fürs Parken bezahlen muss und was mich das Laden des Autos kostet, und kann dann als Alternative schauen, was es mich kostet, wenn ich geteilte Mobilität nehme. Das Ziel muss natürlich genau das sein: Dass die Stadt zukünftig in Realtime steuert, wie die Verkehrssituation ist, und damit natürlich Einfluss auf Emissionen, auf Verkehrsbelastung und weitere Faktoren nehmen kann. Dafür muss ich natürlich als Stadt jetzt den ersten Schritt machen und genau verstehen, wie das System funktioniert.

MaaS-Spezialisten im Kommen

„Mobility as a Service“ (MaaS) ist eine Kombination aus öffentlichen und privaten Verkehrsdiensten innerhalb einer Region, die es Menschen ermöglicht, immer die beste Kombination von Verkehrsmitteln für den Weg von A nach B zu finden und diese an einer Stelle zu buchen. Trafi ist ein Technologieunternehmen mit Sitz in Vilnius, Litauen, London und Berlin, das komplette MaaS-Lösungen für Städte anbietet. Zurzeit in Vilnius, Prag, Jakarta und Berlin, ab Herbst 2020 auch in München. Ein ähnliches Angebot bietet MaaS Global aus Helsinki mit der Plattform Whim. Bei Whim können Kunden Pakete kaufen, die zum Beispiel unbegrenzte Fahrten per Bahn, Leihrad oder Mietwagen beinhalten und außerdem Zugang zu Taxis oder E-Scootern bieten. Whim gibt es neben Helsinki in Antwerpen, Wien, Tokio, Singapur und Teilen Großbritanniens.


Bilder: BVG, BVG – Oliver Lang

Die Verkehrserziehung ist seit vielen Jahren ein fester Teil der Schulbildung in Deutschland. Expert*innen kritisieren jedoch den darin enthaltenen Ansatz, den Kindern die Verantwortung für ihre Verkehrssicherheit in die Hände zu legen. Das noch junge Konzept der Mobilitätsbildung setzt deshalb weitergehende Aspekte, wie beispielsweise die Einbindung der Kinderperspektive bei der Verkehrsplanung. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Um die Notwendigkeit einer Verkehrswende in die breite Gesellschaft zu tragen, ist es wichtig, bereits bei den Jüngsten anzusetzen. Das Thema Verkehr ist seit Jahrzehnten in der Grundschule verankert, wurde jedoch lange auf das Erlernen von Regeln und Verhaltensweisen reduziert. Inzwischen haben einige Bundesländer, darunter Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, ein umfassenderes Verständnis entwickelt und sich Mobilitätsbildung auf die Fahnen geschrieben. In Berlin hat es Mobilitätsbildung sogar in das Mobilitätsgesetz geschafft, das 2018 verabschiedet wurde und den Umweltverbund fördern soll. Demnach soll Mobilitätsbildung alle Bewohnerin-nen dazu befähigen „ihre Mobilitätsbedürfnisse sicher, verantwortungsbewusst, selbstbestimmt, stadt-, umwelt- sowie klimaverträglich ausgestalten zu können“. Mobilitätsbildung geht weit darüber hinaus, was herkömmlich unter dem Schlagwort „Verkehrserziehung“ in der Schule behandelt wurde. Dringender Reformbedarf ergibt sich daraus auch für das Kernelement der schulischen Beschäftigung mit Verkehr: die Radfahrausbildung im vierten Schuljahr. Die Radfahrausbildung setzt sich in ganz Deutschland aus einem theoretischen sowie einem praktischen Anteil zusammen. Der Fahrradexperte Dr. Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule bezeichnet die Radfahrausbildung als ein „schulisches Highlight“, dennoch äußern er und weitere Expertinnen Kritik. Sie bemängeln den späten Zeitpunkt, die geringe Fahrpraxis, den Prüfungscharakter und bezeichnen die Ausbildung als wenig kindgerecht.

Ein Radverkehr-Check, wie er im Projekt durchgeführt wurde, könnte als Teil einer umfassenderen Mobilitätsbildung eine neue inhaltliche Dimension bewirken. Die Kinder setzen sich dabei nicht nur mit Verkehrsregeln und Verhaltensweisen
auseinander, sondern auch mit ihren Bedürfnissen und Ideen für eine fahrradfreundliche Kommune.

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen

Höchst problematisch ist zudem der Fokus auf das sichere Verhalten von Kindern, das gilt nicht nur für die Radfahrausbildung, sondern allgemein für die Verkehrssicherheitsarbeit. Von Kindern wird im Straßenverkehr ein Verhalten erwartet, das sie aufgrund ihrer noch nicht ausgereiften motorischen und kognitiven Fähigkeiten gar nicht leisten können. Die Verantwortung für Verkehrssicherheit kann somit nicht in die Hände von Kindern gelegt werden. Das verkehrssichere Kind gibt es nicht, „wohl aber die Möglichkeit, die Verkehrsinfrastruktur so zu gestalten, dass Kinder sowie alle anderen Menschen sich sicher und gerne bewegen können“, betont Oliver Schwedes, Gastprofessor für Integrierte Verkehrsplanung und -politik an der TU Berlin.
Maßnahmen zur Schulwegsicherheit sollen dafür sorgen, dass Kinder sicher und selbstständig zur Schule kommen. Dabei erhält der Radverkehr, vor allem im Grundschulbereich, bislang wenig Aufmerksamkeit. Oft wird angenommen, dass Kinder erst mit Abschluss der Radfahrausbildung in der vierten Klasse das Fahrrad als Transportmittel und nicht nur als Spielgerät nutzen. Teilweise wird ihnen die frühere Nutzung sogar explizit durch die Schulleitung untersagt. Analysen zum Mobilitätsverhalten in Deutschland zeigen, dass elf Prozent der Wege von Kindern im Alter von sechs bis neun Jahren mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. In den Niederlanden sind es hingegen rund ein Drittel – am Alter allein kann es also nicht liegen, dass nicht noch mehr Kinder Fahrrad fahren. Diese Zahlen zeigen, dass wir dringend kinderfreundlichere Radinfrastruktur benötigen. Denn Mobilitätsgewohnheiten werden früh gebildet: Wer schon als Kind das Rad nutzt, wird dies eher auch im Erwachsenenalter tun.
Die Bedürfnisse von Kindern gehen über die Bedürfnisse manch anderer Radfahrender hinaus. Komplexe Handlungsabläufe sind für sie herausfordernder. Verkehrsschilder und -regeln zu erfassen und angemessen darauf zu reagieren, braucht längere Zeit und kann überfordern. Auch die nonverbale Kommunikation, die im Straßenverkehr eine wesentliche Rolle spielt, müssen Kinder erst erlernen. Unvorhergesehene Situationen, wie ein im Weg stehendes Auto, können schnell zu viel sein. Sie eignen sich Verhaltensweisen an, indem sie Routinen in einer vertrauten Umgebung erlernen. Versperrt ein Auto ihren Weg, wissen sie unter Umständen nicht, wie sie mit dieser unerwarteten Situation umgehen sollen. Durch ihre besonderen Bedürfnisse bereitet ihnen zum Beispiel das Fahren im Mischverkehr oder auf Busspuren größere Schwierigkeiten. Stress und Unsicherheit sind die Folge. Hinzu kommt, dass sie durch ihre geringe Körpergröße leichter übersehen werden.
Für Kinder ist deshalb eine sichere, intuitive und fehlertolerante Verkehrsinfrastruktur wichtig. „Radwege müssen gut geschützt und gleichzeitig deutlich erkennbar sein, Kreuzungen übersichtlich gestaltet, Geschwindigkeiten reduziert und Verkehrsregeln klar kommuniziert werden. Sichtbeziehungen spielen eine zentrale Rolle, damit Kinder die Möglichkeit haben, den Verkehr zu überblicken, und von anderen Verkehrsteilnehmenden gesehen werden“, so Oliver Schwedes.

Für viele bedeutet die Fahrradstraße entspanntes Radfahren, doch die Grundschüler*innen sehen auch negative Aspekte. Anstelle der Querungsmöglichkeit, haben sich die Kinder einen Zebrastreifen gewünscht, damit sie sicher über die Straße kommen können. In der Schulumgebung gibt es zudem viele Straßen mit Kopfsteinpflaster.

Kindgerechte Infrastruktur durch Beteiligung

Die Einbindung von Kindern in Planungsprozesse ermöglicht, ihre Bedürfnisse stärker zu beachten. Angeregt durch die Frage, wie Mobilitätsbildung konkret umgesetzt werden kann, führen das Fachgebiet für Integrierte Verkehrsplanung der Technischen Universität Berlin sowie der Arbeitsbereich Sachunterricht und seine Didaktik der Humboldt-Universität zu Berlin seit 2020 gemeinsam ein Forschungs- und Umsetzungsprojekt zum Thema durch. Dabei wurde die Partizipation der Kinder als ein wesentliches Kernelement der Mobilitätsbildung identifiziert.
Um Praktikerinnen eine Methode an die Hand zu geben, Kinder aktiv einzubinden, wurde von den Forscherinnen ein Radverkehr-Check entwickelt. Ziel ist es dabei, die Qualität der Radverkehrsinfrastruktur aus Sicht der Kinder zu bewerten. Projekttage zum Thema Fahrrad an einer Grundschule boten die Chance, das Konzept zu testen. Ausgestattet mit Kamera, Klemmbrett und Zollstock zogen die Kinder los, um die Umgebung der Schule zu untersuchen. Besonders die neu eingerichtete Fahrradstraße direkt vor ihrer Schule erhielt ihre Aufmerksamkeit.
Zuvor gab es dort für den Radverkehr wenig Platz. Sie mussten sich mit einem schmalen Streifen neben dem Gehweg begnügen. Die Umwidmung zur Fahrradstraße wurde von Radfahrenden begrüßt: Endlich geht die Mobilitätswende voran, der Radverkehr wird ernst genommen und ihnen mehr Platz und Sichtbarkeit zugeteilt. Anlieger dürfen die Fahrradstraße weiterhin mit dem Auto befahren, allerdings nur in eine Richtung. Eine Durchfahrtsperre soll den Autoverkehr weiter reduzieren. Auf dem alten Radweg wurden Bäume gepflanzt. Die Viertklässler*innen der anliegenden Grundschule jedoch hatten gemischte Gefühle. Einige sagten, sie mochten den alten Radweg auch gerne. Dort fühlten sie sich geschützter. „Manche Kinder wollen nicht so gerne auf der Straße fahren, weil da immer noch Autos fahren. Die müssen jetzt um die Menschen auf dem Gehweg herumfahren. Da ist aber gar nicht mehr genug Platz dafür, dass man da mit dem Fahrrad fährt“, erklärte ein Mädchen. Mehrmals täglich müssen die Kinder die Straße überqueren, um Schulgebäude auf der anderen Seite zu erreichen. Deshalb hatten sie sich für einen Zebrastreifen eingesetzt. Im Zuge der Umwidmung wurde zwar eine ausgewiesene Querungsmöglichkeit eingerichtet, doch das reicht ihnen nicht. Die Radfahrenden übersehen die Kinder, halten nicht an und das Überqueren der Straße bleibt eine Herausforderung.

„Die Verkehrsinfrastruktur so gestalten, dass Kinder sowie alle anderen Menschen sich sicher und gerne bewegen können“

Prof. Dr. Oliver Schwedes, Technische Universität Berlin

Kinder als Qualitätsmaßstab

Die Gedanken der Kinder zur neuen Fahrradstraße zeigen, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse gehört werden müssen, damit kinderfreundliche Infrastruktur entstehen kann. Die Beteiligung von Kindern in Planungsprozessen stellt auch eine große Chance dar, die Ansprüche weiterer Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen. Eine Einteilung in vier verschiedene Radfahrtypen in Portland/Oregon (USA) hat ergeben, dass etwa zwei Drittel der Befragten zur Gruppe derjenigen gehört, die „interessiert, aber besorgt“ sind. Diese haben grundsätzlich Interesse am Fahrradfahren, würden gerne öfter das Rad nehmen, trauen sich aber nur auf besonders sicheren Radwegen zu fahren. Radfahrinfrastruktur, die die Bedürfnisse von Kindern berücksichtigt, wird auch den hohen Anforderungen dieses Typs gerecht. Kinder können damit der Maßstab für die Qualität der Radverkehrsanlagen sein. Wer Verkehrsinfrastruktur kindgerecht gestaltet, baut somit nicht nur für Kinder, die vermehrt auch im Erwachsenenalter das Fahrrad nutzen, sondern auch für all diejenigen, die sich heute (noch) nicht auf das Fahrrad trauen. Daher können Kinder stellvertretend für die Gruppe der „Interessierten, aber Besorgten“ sprechen, die in Beteiligungsprozessen mitunter schwer zu erreichen sind.
Um die Bedürfnisse von Kindern bei der Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur stärker in den Blick zu nehmen, bietet schulisches Mobilitätsmanagement Raum. Dabei geht es nicht nur um die Verbesserung der Verkehrssicherheit. Ziel schulischen Mobilitätsmanagements ist es auch, nachhaltiges Mobilitätsverhalten zu fördern und motorische, kognitive sowie psycho-soziale Kompetenzen der Kinder zu stärken.
Die Verkehrsplanerin Katalin Saary, die Erfahrungen in der Erarbeitung und Umsetzung von Schulmobilitätsplänen hat, bezeichnet schulisches Mobilitätsmanagement als einen wichtigen Baustein der Verkehrswende. Da Kinder noch nicht Auto fahren können, sind sie auf das Rad, den ÖPNV und das Zufußgehen angewiesen, wenn sie selbstständig unterwegs sein wollen. Das bedeutet, dass Verkehrsplanung, die sich an Kindern orientiert, immer eine Förderung des Umweltverbunds beinhaltet. Als Voraussetzung sieht sie allerdings, dass schulisches Mobilitätsmanagement als Instrument ernst genommen wird: „Damit Kinder selbstständig mobil sein können, muss der öffentliche Raum entsprechend ertüchtigt werden. Wenn die Kommunen sich dieser Aufgabe annehmen, dann wären wir bei der Verkehrswende erfolgreich. Kinder haben keine Alternative als Fuß, Rad und ÖPNV. Das heißt, ich muss eine für sie geeignete Verkehrsinfrastruktur gestalten, das Auto eingrenzen und schaffe so dann auch gleich die Voraussetzungen, dass auch alle anderen sicher unterwegs sein können.“
Planungsbüros werden beim schulischen Mobilitätsmanagement involviert, um sichere Schulwege zu planen, bestehende Konzepte an die Besonderheiten der Schulumgebung anzupassen und umzusetzen. Dieser Rahmen eignet sich gut, um Kinder in die Planung einzubeziehen. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise ein Radverkehr-Check während der Radfahrausbildung, wie er im Forschungsprojekt durchgeführt wurde. Dabei erhält einerseits die Radfahrausbildung eine neue inhaltliche Dimension. Die Kinder setzen sich nicht nur mit Verkehrsregeln und Verhaltensweisen auseinander, sondern auch mit ihren Bedürfnissen und Ideen für eine fahrradfreundliche Kommune. Idealerweise können sie erleben, wie sie durch ihre aktive Mitwirkung ihre Umgebung mitgestalten können. Dadurch kann die Radfahrausbildung im Sinne einer umfassenden Mobilitätsbildung aufgewertet werden. Auf der anderen Seite werden auf der Planungsebene wertvolle Informationen gesammelt, wie die Radinfrastruktur vor Ort gestaltet werden muss, damit sich auch die Schwächsten der Verkehrsteilnehmenden auf das Rad trauen.
Schulisches Mobilitätsmanagement hat in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebt und wird in immer mehr Bundesländern angewandt. Aktuell erarbeiten sowohl Hamburg als auch Berlin neue Konzepte für schulisches Mobilitätsmanagement. In Berlin wurde der Ansatz in das Mobilitätsgesetz aufgenommen. Darin wird hervorgehoben, dass die Perspektiven der Kinder Beachtung finden sollen. Es wird klar: Eine kindgerechte Verkehrsinfrastruktur nimmt einen immer höheren Stellenwert ein. Sie sollte nicht nur als Pflichtprogramm für die Verkehrssicherheit der Kinder gesehen werden, sondern als Chance für qualitativ hochwertige Infrastruktur, die deutlich mehr Menschen als bisher auf das Rad locken kann.

Über das Projekt

Im Forschungsprojekt „Mobilitätsbildung – Entwicklung und Umsetzung von Lehr- und Lernansätzen zur Förderung des Umweltverbundes bei Kindern und Jugendlichen und der Qualifikation von (zukünftigen) Lehrkräften und Erzieherinnen“ der Humboldt-Universität zu Berlin und der Technischen Universität Berlin werden Bildungsmaterialien und Konzepte zum Thema Mobilitätsbildung entwickelt. Außerdem wurden Interviews mit Lehrkräften, Pädagoginnen und verschiedenen Expert*innen geführt. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) aus Mitteln zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans gefördert.

Mehr Informationen finden sich auf dem Forschungsblog:
https://mobild.hypotheses.org/.


Bilder: stock.adobe.com – D. Ott, www.pd-f.de – Luka Gorjup, TU Berlin

Große Hitze und Starkregen setzen den Innenstädten zu. Um die Folgen des Klimawandels abzupuffern, müssen Stadtstraßen zukünftig deutlich grüner werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Es sind die Städte, die die Folgen des Klimawandels besonders spüren. Während der Sommermonate ist die Hitze im Zentrum ihr größtes Pro-blem. Die asphaltierten Straßen und die Gebäude heizen sich überproportional stark auf und erwärmen wie riesige Heizkörper die Umgebung bis spät in die Nacht. Zudem führen die hohen Temperaturen zu extremen Regen, der die Abwasserkanäle schnell überlastet und zu Überschwemmungen führt. Verkehrsforscherinnen und -planerinnen sind sich einig: Ein weiter so wie bisher können sich Städte und Gemeinden nicht mehr leisten. Ihre Straßen und Plätze sollten zügig an das veränderte Klima angepasst werden.
Dr. Michael Richter erforscht seit Jahren, wie die klimagerechte Straße aussehen kann. Der Geoökologe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HafenCity Universität (HCU) in Hamburg und Experte für umweltgerechte Stadt- und Infrastrukturplanung. In den vergangenen Jahren hat er mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Rahmen des „BlueGreen-Streets“-Projekts Werkzeuge und Methoden entwickelt, um Städte gezielt abzukühlen. Ein zentraler Hebel ist dabei der Umbau der Straßen. „Im Gegensatz zu vielen Gebäuden gehören die Straßen den Städten. Die Politik und die Verwaltung haben es demnach in der Hand, diese Flächen relativ schnell an die neuen Gegebenheiten anzupassen“, sagt er.
In der Praxis heißt das: auf der Fläche zwischen den Gebäuden ausreichend blaue und grüne Infrastruktur einplanen, also ausreichend Flächen für Wasser, Bäume und Grün anzulegen. „Die zentrale Aufgabe ist, den Wasserkreislauf wieder in Gang zu bringen und über Speichersysteme im Boden das Stadtgrün auch während Trockenperioden mit Wasser zu versorgen“, sagt Richter. Nur wenn das gelingt, können Bäume ihre Aufgabe erfüllen und in den Sommermonaten Wasser verdunsten und die Zentren abkühlen.

„Im Gegensatz zu vielen Gebäuden gehören die Straßen den Städten.“

Dr. Michael Richter, HafenCity Universität Hamburg

Königstraße in Hamburg-Altona: Wo jetzt noch Beton und Asphalt den Eindruck prägen, will die Hansestadt eine „Straße der Zukunft“ errichten.

Blaugrünes Projekt

Einige der Elemente, die Richter mit seinen Kolleginnen und Kollegen entwickelt hat, um Stadtbäume besser mit zu Wasser versorgen, wurden im Rahmen von „BlueGreenStreets“-Projekten bereits in Berlin und Hamburg getestet. Außerdem begleiten die Wissenschaftler den Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG), den Umbau der Königstraße zur „Straße der Zukunft“. Für Hamburg ist das ein Leuchtturmprojekt. Auf der 1,2 Kilometer langen Straße zwischen der Reeperbahn und dem Altonaer Rathaus verknüpft die Hansestadt Klimaschutz und Klimaanpassung mit der Mobilitätswende.
Es ist ein Umdenken in großem Stil. Die Flächen für die Alltagsmobilität sollen dort in den kommenden Monaten grundlegend neu verteilt werden. Geplant ist, die zwei äußersten Fahrstreifen der vierspurigen Straße jeweils zu 2,5 Meter breiten Protected Bikelanes umzubauen und die Gehwege auf 2,65 m zu verbreitern. Zusätzlich werden mehr Grünstreifen angelegt und 47 zusätzliche Bäume gepflanzt. Sie sollen der Straße Allee-charakter verleihen und Grünanla-gen miteinander verbinden, die noch von der Königstraße zerschnitten werden.
Damit sich die Bedingungen für Radfahrende bereits vorher verbessern, wurden 2021 76 Parkplätze am Fahrbahnrand provisorisch entfernt und mit Farbe zu Radwegen markiert. Fahrspuren können relativ schnell mit Farbe, Poller, Baustellenbaken oder Fahrbahnschwellen in alltagstaugliche Radspuren verwandelt werden. Bei Grünanlagen ist das deutlich schwieriger. Trotzdem lohnen sich laut Richter auch hier provisorische Lösungen.
„Pop-up-Lösungen schaffen sofort Entlastung für Anwohnende, Radfahrer und Fußgänger und überbrücken die Zeit bis zum Umbau“, sagt er. Das zeigt das Beispiel vom Jungfernstieg in Hamburg. Der breite Prachtboulevard mit Blick auf die Alsterfontäne wurde 2020 für den privaten Autoverkehr provisorisch gesperrt. Seitdem teilen sich Radfahrer*innen dort die Fahrbahn mit Bussen und Taxis. In der Mitte der vier Fahrspuren wurden Pflanzkübel für Bäume und Blumen aufgestellt sowie Stadtmöbel zum Verweilen. Seitdem überqueren die Menschen entspannt die Straße und nutzen den gewonnenen Raum. Wird der Zeitplan eingehalten, rücken im kommenden Sommer die Baufahrzeuge an. Dann wird die Breite der Fahrbahn baulich reduziert und an der Wasserseite eine vierte Baumreihe angelegt.
Neue Bäume zu pflanzen oder großzügige Grünanlagen anzulegen, funktioniert in der Regel nur beim Sanieren von Straßen oder im Neubau. Selbst dann ist das Pflanzen von Bäumen laut Richter oft schwierig. Das liegt am Erdreich. Der Untergrund ist in Innenstädten stark verdichtet. Unter der Fahrbahn verläuft eine Vielzahl von Kabeln und Rohren für Gas, Strom, Telekommunikation und vieles mehr. Am Jungfernstieg befindet sich außerdem der Zugang zu einer U- und S-Bahnhaltestelle. Neue Bäume zu pflanzen, ist hier eine Herausforderung. Neben dem Platz im Erdreich für ihre Wurzeln fehlt den Bäumen obendrein oft das Wasser.
Wie in vielen anderen Städten war auch in Hamburg lange die Vorgabe: Regenwasser soll schnellstmöglich in die Kanalisation geleitet werden. In der Königstraße soll dieser Prozess nun rückgängig gemacht werden. „Entscheidend ist, dass wir den Wasserkreislauf wieder in Gang bringen“, sagt Uwe Florin, Mitarbeiter der Abteilung „Grün“ beim Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG). Mit Mitarbeitern des „BlueGreenStreets“-Projekts will die LSBG verschiedene neue Systeme testen, um die entsiegelten Flächen zu bepflanzen und zu bewässern. Das saubere Niederschlagswasser von den öffentlichen Flächen wird in der Königstraße direkt zu den Bäumen oder in die Grünflächen geleitet, damit es dort versickern kann. Das entlastet bei Starkregen das Siel und reduziert das Risiko von Überschwemmungen.
Für die Bäume werden außerdem sogenannte Baumrigolen angelegt. Ihr Markenzeichen ist, dass ihre Pflanzmulden größer sind als die herkömmlicher Stadtbäume. Das gilt für die unversiegelte Oberfläche wie für die Pflanzmulde. Zudem leiten die verwendeten Materialien, wie Kies und andere Substrate, das Regenwasser entweder direkt ins Grundwasser und ins umliegende Erdreich oder sie speichern es wie ein Schwamm, um es nach und nach ins umliegende Erdreich abzugeben. Auf diese Weise sollen Bäume Hitzeperioden besser überstehen und an heißen Tagen die Umgebung kühlen.

Vorher, nachher: Der Sankt-Kjelds-Platz in Kopenhagen ist nach dreijähriger Umbauphase kaum wiederzuerkennen.

Bäume machen einen Unterschied

Mehr Bäume sind entscheidend, um das Stadtklima zu verbessern. Sie sind natürliche Klimaanlagen. Ihr Blätterdach hält die Sonnenstrahlen ab und beim Verdunsten von Wasser kühlen sie ihre Umgebung. „Im Idealfall senkt ein ausgewachsener Baum die Temperatur seiner Umgebungsluft um etwa fünf Grad“, sagt Florin. Das steigert die Aufenthaltsqualität und macht Radfahren oder Zufußgehen selbst an heißen Tagen erträglich.
„Wir versuchen blue-green, also mehr Wasser und Grün, inzwischen bei jeder Straßenbaumaßnahme in Hamburg umzusetzen, und es gelingt uns sehr häufig“, sagt Professorin Dr. Gabriele Gönnert, die bei der LSBG den Fachbereich Hydrologie und Wasserwirtschaft leitet. Aber die Flächenkonkurrenz ist groß – auf der Straße wie im Untergrund.
Torsten Perner kennt das aus seinem Alltag. Er ist Verkehrsplaner bei Ramboll, einem international tätigen Beratungsunternehmen, das auch im Bereich Stadt- und Verkehrsplanung tätig ist. „Die verschiedenen Behörden, die Industrie, die Wirtschaftskammer, Umweltverbände und viele andere ringen bei der Planung um jeden halben Meter Straßenraum“, sagt er. Um die Straßen jetzt fit für die Zukunft zu machen und ausreichend Platz für Grünanlagen und für den Rad- und Fußverkehr unterzubringen, sei ein Umdenken bei der Stadt- und Verkehrsplanung notwendig. „Wir müssen die Straße neu denken“, sagt er, „sie ist mehr als Verkehr auf 20 bis 40 Meter Breite.“ Gut gestaltet werde sie zum attraktiven Aufenthaltsraum mit verschiedenen Funktionen, den die Menschen gerne passieren.

Der Steindamm zählt nicht unbedingt zu Hamburgs schönsten Straßen. Dass bei der Umgestaltung der Straße kaum Parkplätze entfernt wurden, ändert daran wenig.

Umdenken nach Milliardenschaden

Wie das aussehen kann, macht Kopenhagen vor. Die dänische Hauptstadt war zwischen 2010 und 2014 dreimal von Starkregen und Überflutungen betroffen. Der stärkste Wolkenbruch im Juli 2011 überflutete Straßen und Keller und verursachte Schäden von fast einer Milliarde Euro. Daraufhin hat die Stadtverwaltung mit dem Kopenhagener Ver- und Entsorgungsbetrieb 2012 den Sky-brudsplan (Wolkenbruchplan) beschlossen. Dieser legt fest, wie die Stadt zukünftig vor Überschwemmungen geschützt werden soll. 300 Projekte wurden innerhalb von drei Jahren identifiziert, die in den nächsten 20 Jahren schrittweise umgesetzt werden, um die Stadt zur Schwammstadt umzubauen.
Dazu gehören der Sankt-Kjelds-Platz und die angrenzende Straße Bryggervangen im Stadtteil Osterbro. Etwa 25 Prozent der Fläche des Platzes und der Straße wurden entsiegelt und zu einem grünen Regenwasserschutzgebiet umgewandelt. Der Boden ist dafür teilweise abgesenkt worden und es wurden 586 neue Bäume gepflanzt. Bei Starkregen kann sich das Wasser in den Vertiefungen sammeln und langsam versickern.
Wer sich die Vorher-Nachher-Bilder anschaut, erkennt die Umgebung rund um den Platz und die Straße Bryggervangen nach dreijähriger Umbauphase kaum wieder. Wo früher der Boden versiegelt war und Autos parkten, laufen heute Passanten auf verwinkelten Wegen zwischen Bäumen und Büschen zur Arbeit, zum Einkauf oder zum Parkhaus. Zahlreiche begrünte Ecken und Nischen mit und ohne Sitzgelegenheiten laden die Anwohner*innen dazu ein, Zeit draußen zu verbringen.
Der Sankt-Kjelds-Platz und die Bryggervangen Straße wurden komplett neu strukturiert. Um Ähnliches in Deutschland zu realisieren, müssten nach den Ramboll-Experten alle Beteiligten Abstriche machen. Stets mit dem Ziel vor Augen, die Straße fit für den Klimawandel zu machen. „Dazu gehört, dass Radfahrer sich mit schmaleren Wegen zufriedengeben, wenn die Straße zu schmal ist“, sagt Perner. Im Gegenzug drosseln Autofahrer ihr Tempo auf 30 km/h, damit Radfahrer sicher unterwegs sind. Das funktioniert momentan jedoch nur in der Theorie. In der Praxis dürfen laut Straßenverkehrsordnung die Verkehrsplaner Tempo 30 nur in Ausnahmefällen anwenden.
Ein schnelles Mittel, um mehr Grün in die Straßen zu bringen, ist laut Perner auch der Umbau von Parkplätzen an Hauptverkehrsstraßen. „Mit dem gezielten Abbau dieser Parkplätze kann schnell viel Fläche für Grün geschaffen werden“, sagt Perner. Für ihn ist das überfällig. Aber viele Städte tun sich damit schwer. Auch Hamburg. Beim Umbau der Hauptstraße Steindamm wurden von den 132 Parkplätzen beispielsweise nur 31 entfernt.
„Bisher ist die Klimaanpassung eine freiwillige Aufgabe von Kommunen“, sagt Richter. Er fordert einen zentralen Klimaanpassungsplan, der bundesweit gültig ist. „Nur so schaffen wir es, schnell von der Phase der Pilotprojekte zur Standardanwendung in der Praxis zu kommen“, sagt er. Die Zeit drängt. Das hat der Sommer 2022 gezeigt.

Zukunft Schwammstadt

Für etliche Stadtplanerinnen und Verkehrsforscherinnen ist die Schwammstadt eine Lösung, um die Städte an die Folgen des Klimawandels anzupassen. Wenn es regnet, sollen die Grünflächen so viel Wasser aufnehmen und speichern wie nur möglich. Richtig angelegt, haben sie eine Doppelfunktion. Sie werden zu einem natürlichen Klärwerk. Die Pflanzen, Erdreich und Mikroorganismen filtern die schädlichen Inhaltsstoffe aus dem Wasser, bevor es tiefer in den Boden sickert.
So können die Grundwasserspeicher wieder aufgefüllt werden und die wie Schwämme vollgesogenen Böden über längere Zeit Wasser an die Pflanzen ringsum abgeben. Berlin investiert massiv in neue Stauräume. Bis 2024 sollen gut 300.000 Kubikmeter Zwischenspeicher entstehen. Bei starken Regenfällen soll das Wasser über Notwasserwege auf Sport- und Spielplätze fließen, um kritische Infrastrukturen zu schützen. Damit soll verhindert werden, dass das alte Mischkanalsystem überläuft und das Schmutz- und Regenwasser ungefiltert samt schädlicher Stoffe in die Gewässer fließt.

Link zu Toolbox A und B

Mit seinen Kolleginnen hat der Wissenschaftler im Rahmen des „BlueGreenStreets“-Projekts die einen Leitfaden nebst Praxisbeispielen entwickelt. Beides soll Planerinnen und Praktiker*innen dabei helfen, Lösungen für ihre Straßenzu entwickeln.

repos.hcu-hamburg.de/handle/hcu/638


Bilder: SLA, Andrea Reidl, stock.adobe.com – Jusee

Schon in den 80er-Jahren befand der niederländische Verkehrsplaner Hans Monderman, Straßenverkehre sollten nach dem Vorbild holländischer Eislaufplätze organisiert werden: Alle fahren wie sie wollen – und achten aufeinander. Dieses Konzept der Anarchie im Straßenraum gewinnt als Shared Space immer mehr Befürworter unter Stadtplanern, wie drei Beispiele zeigen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


In den Niederlanden wird Shared Space oft auch als Verkehrsplanung nach dem anarchischen Vorbild eines Eislaufplatzes beschrieben: Wenn alle fahren wie sie wollen, wird mehr aufeinander geachtet.

In deutschsprachigen Ländern ist häufig auch von Mischflächen oder Begegnungszonen die Rede. Konkrete Designs unterscheiden sich lokal. Denn bei Shared Space handelt es sich weniger um ein Planungsinstrument. Vielmehr geht es um ein ergebnisoffenes Gestaltungsprinzip, das alle Funktionen im öffentlichen Raum (wieder) ins Gleichgewicht bringen soll. Bis heute ist das Verhältnis unter Verkehrsteilnehmern unausgewogen. Dominierte mit dem Paradigma der autogerechten Stadt lange Zeit das Auto, soll es im Shared Space deshalb eher als geduldeter Gast unterwegs sein. Auch von der strikten Separation der Verkehrsteilnehmer in einzelne Fahrspuren wird (mehr oder weniger) abgesehen. Und statt Überregulierung durch Verkehrsschilder setzt Shared Space auf die soziale Verantwortung mündiger Bürgerinnen und Bürger.

Mehr Aufmerksamkeit durch Verunsicherung

Deutschland gilt als das Land mit den weltweit meisten Verkehrsschildern. Etwa 20 Millionen davon regeln, was auf den Straßen erlaubt und verboten ist. Wer als Radfahrerin oder Autofahrerin aus dem gewohnten Schilderwald in ein schilderloses Areal einfährt, ist zunächst irritiert. Gerade dieses Gefühl der Unsicherheit ist im Shared Space jedoch beabsichtigt. Untersuchungen aus Schweden und Holland zeigen, dass Verkehrsteilnehmer*innen in nicht regulierten Situationen eher stimuliert werden, miteinander zu kommunizieren, als wenn Verkehrsschilder und Spuren das Verhalten regeln. Darauf weist auch der Psychologe Pieter de Haan vom Kenniscentrum Shared Space im niederländischen Leeuwarden hin: „Ist ein Schema auf den ersten Blick nicht klar, weil neue und ungewisse Ereignisse eintreten, ist die Person alarmiert. Als Reaktion darauf passt sie ihr Verhalten an. Sie verlangsamt ihre Geschwindigkeit, schaut sich um und beobachtet andere Menschen.“
Dabei bringt Shared Space eigentlich nur zurück, was es schon einmal gab. „Zwar hat man das Konzept als eine neue Idee eingeführt“, erläutert de Haan. „Aber geht man 100 Jahre zurück, gab es überall Shared Space. Ende der 1920er-Jahre, als die ersten Wagen auftauchten, wurden Regeln eingeführt. Es folgten Ampeln und die Trennung der Verkehrsteilnehmer nach Fahrspuren.“ So begann man, mit Verkehrszeichen zu kommunizieren. Die eigene Vorfahrt wurde von Ampeln und Schildern erteilt, anstatt situativ von anderen Verkehrsteilnehmern per Handzeichen oder Blickkontakt. Die Kommunikation wurde monodirektional.
Stures Fahren nach Verkehrszeichen kann dazu führen, dass das eigentliche Verkehrsgeschehen aus dem Blick gerät. Mitunter überfährt ein Rechtsabbieger, dessen Ampel Grün zeigt, einen Fußgänger, der ebenfalls bei Grün die Straße quert. De Haan: „Shared Space reaktiviert die soziale Kommunikation. Schilder sind dann nicht mehr nötig.“

In Deutschland ist Bohmte in Niedersachsen ein Vorreiter bei der Umsetzung von Shared Space – mit deutlichen Effekten für die Verkehrssicherheit.

Probieren geht über Studieren

In Deutschland gehört die Gemeinde Bohmte in Niedersachsen seit 2008 zu den Vorreiterprojekten. Vor der Änderung der konventionellen Infrastruktur stand eine mutige Entscheidung. „Mord und Totschlag“ prophezeiten Hannoveraner Verkehrsplaner dem Vorhaben. „Probieren geht über Studieren“, lautete die Antwort des damaligen Bürgermeisters Klaus Goedejohann. Zehn Jahre später resümierte er in der FAZ (24.07.2018) das Unfallgeschehen: „Im Durchschnitt ein Leichtverletzter im Jahr.“
In Bohmte ging man das Konzept in Form eines großen Kreisverkehrs an. Bahnhofsvorplatz und zentraler Platz wurden im Zuge der Umsetzung als Schwerpunkte definiert. Um eine langsamere und vorsichtigere Fahrweise zu erzwingen, wurde die Fahrbahnbreite dazwischen unter sechs Meter verringert. Straße wie Gehwege wurden auf das gleiche Niveau gesetzt, allerdings farblich markiert. Sämtliche Verkehrsschilder wurden demontiert. Die letzte Tafel vor Einfahrt in den Shared Space verweist auf die Tempo-30-Zone davor. Der Abbau von Schildern und Ampeln entlastete Bohmte übrigens auch finanziell. Den Großteil der 2,1 Millionen Euro für die baulichen Eingriffe steuerte die Gemeinde selbst bei. Eine halbe Million kam aus dem damaligen Infrastrukturprogramm Interreg North Sea Region Programme der EU.

Shared Space statt vierspuriger Straße auf dem Duisburger Opernplatz.

Auf die Verkehrsstärken kommt es an

Das Ergebnis: Nach einer ersten Zufriedenheitsanalyse der Fachhochschule Osnabrück bescheinigten Anwohner wie Gewerbetreibende dem Areal eine neue Aufenthaltsqualität. Klassische Bedenken lokaler Händler über Umsatzeinbußen bestätigten sich nicht. Im Gegenteil wird der Effekt der Außenwirkung von Bohmte als geschäftsfördernd eingeschätzt. So freut sich auch Modehaus-Inhaber Hubertus Brörmann in der FAZ: „Als hier noch eine Ampel stand, … habe man permanent aufheulende Motoren gehört. Nun sei der Lärm gleichmäßiger und insgesamt weniger geworden. […] Dreimal habe es da so richtig gescheppert. Wenn jetzt an anderen Stellen was passiere, dann, weil die regelversessenen Menschen zu wenig mitdenken würden.“
Hinzu kommen ein verbesserter Verkehrsfluss und seltene Staus. Ein Tempo von bis zu 40 km/h wird kaum überschritten. Wenig geändert hat sich an der Zahl von knapp 13.000 Autos, die jeden Tag über die historische Bremer Straße brettern. Sie bildet mit Rathaus, Kirche, Bahnhof und Einzelhandel den Ortskern. Der neue Gemeinderat Lutz Birkemeyer, selbst Radfahrer und Befürworter des Shared Space, benennt die Ursache: „Der überregionale Verkehr angebundener Landesstraßen sorgt dafür, dass das Konzept in Bohmte nicht vollständig zur Geltung kommt.“
Aus demselben Grund hapere es in der Praxis noch an der Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer: Die schiere Übermacht des Autos verdrängt Radfahrende an den Straßenrand. Deshalb hält Birkemeyer das Shared-Space-Konzept an weniger befahrenen Straßen für sinnvoller. Auch unter Expert*innen ist von maximalen Verkehrsstärken die Rede, damit ein Shared Space Sinn ergibt. Die Zahlen schwanken zwischen 8000 bis 25.000 täglichen Durchfahrten. Oder darüber. Das Land Bremen setzt auf ein Mittelmaß und empfiehlt in einem Papier, die Verkehrsstärke von 15.000 Kraftfahrzeugen bei zweistreifigen Straßen nicht zu überschreiten.

„Shared Space reaktiviert die soziale Kommunikation. Schilder sind dann nicht mehr nötig.“

Pieter de Haan, Kenniscentrum Shared Space

Barrierefreiheit und optimale Sichtbeziehungen

Auch der Duisburger Opernplatz ist ein stark frequentiertes Areal. Wo einst eine vierspurige Straße vor dem Theater verlief, befindet sich heute ein Shared Space. Die einheitlich mit Pflaster gestaltete Fläche ist als verkehrsberuhigter Bereich ausgeschildert und sieht Schrittgeschwindigkeit vor. Die dort mündende Mosel- sowie Neckarstraße sind in den Shared Space eingebunden und als Tempo-30-Zone ausgewiesen. Verbleibende Fahrspuren wurden auf eine pro Richtung reduziert und durch einen Mittelstreifen getrennt. Die Ränder mit Flachborden und dunklem Pflaster abgesetzt. Radfahrerinnen können hier überall fahren, Fußgän-gerinnen besitzen Vorrang.
Kerngedanke der Planungsphilosophie im Shared Space ist, dass Fußgängerinnen, Radfahrerinnen und Autofahrer*innen per Blickkontakt interagieren. Sehbehinderte Menschen sind von dieser Möglichkeit jedoch ausgeschlossen. Deshalb sind im Duisburger Shared Space, ähnlich wie in Bohmte, Fahrbahnkanten taktil erfassbar. So können auch sehbehinderte Menschen sie queren. Malte Werning, Pressesprecher der Stadt Duisburg, beobachtet auch eine gesteigerte Solidarität und Rücksichtnahme verschiedener Gruppen untereinander. Zudem haben sich die Kfz-Verkehrsmengen seit dem Umbau um etwa ein Drittel reduziert. Und es gibt weniger Staus als zuvor. Werning sagt: „Erkennbar ist eine merkliche Entschleunigung des Kfz-Verkehrs.“ Er räumt allerdings ein, dass Autofahrer offenbar noch Nachholbedarf haben: „Die Vermeidung von illegalem Parken braucht viel Kontrolle und damit hohen Personaleinsatz.“ Denn Parken ist am Opernplatz nicht mehr gestattet. Das Parkverbot optimiert die Sichtbeziehungen, die für den Shared Space entscheidend sind. Dafür wurden auch störende Barrieren beseitigt und auf feste Einbauten oder eine Bepflanzung verzichtet.

In der Berliner Maaßenstraße werden Verkehrsteilnehmer*innen mit Erklärtafeln begrüßt.

Hohe Aufenthaltsqualität

Der Shared Space in der Berliner Maaßenstraße ist als Begegnungszone ausgewiesen. Zu den angestrebten Zielen gehörten geringere Kfz-Geschwindigkeiten, eine höhere Aufenthaltsqualität und ein rücksichtsvolleres Miteinander aller Verkehrsarten sowie bessere Querungsmöglichkeiten für Fußgängerinnen. Zugleich sollten die Verkehrsabwicklung und die Belieferung von Gewerbebetrieben möglichst beibehalten werden. Im Rahmen der Umgestaltung wurden eine Tempo-20-Zone mit eingeschränktem Halteverbot ausgewiesen. Parkplätze sowie Flächen für den fließenden Kfz-Verkehr wurden reduziert. Hinzu kamen urbane Begegnungsflächen mit Möblierung sowie neu gestaltete Querungsstellen. Ganz ohne weitere Beschilderung kommt man in der Maaßenstraße nicht aus. So werden Verkehrsteil-nehmerinnen an allen Zugängen von Tafeln begrüßt, die entscheidende Spielregeln erläutern: „Die Begegnungszone ist eine Straße für alle. Rücksicht und Achtsamkeit gehen vor – egal ob zu Fuß, mit dem Rad, im Auto oder beim Liefern und Laden. Alle haben Platz – Rad- und Autofahrende auf der Fahrgasse. Parken ist hier nicht erlaubt, Halten nur zum Liefern und Laden.“
Zwar entstand die Begegnungszone in der Maaßenstraße im Rahmen von Modellprojekten mit fußverkehrsfördernden Maßnahmen. Übergeordnetes Ziel ist aber ein Miteinander von Fuß-, Rad- und Autoverkehr im Verkehrsraum. Beim Ortsbesuch erweist sich das Areal als echte Flaniermeile. Geschäfte, Cafés und Restaurants sowie die Aufenthaltsbereiche davor sind gut frequentiert. Radfahrerinnen und Fußgängerinnen trauen sich gleichermaßen auf die Straße. Ein von der Verkehrsverwaltung beauftragter Vorher-Nachher-Bericht macht ebenfalls Mut: Auch im Berliner Beispiel ist die Kfz-Verkehrsmenge um rund ein Drittel gesunken. Bereits die Kurvenführung bei der nördlichen Einfahrt vom Nollendorfplatz her in die Begegnungszone erzwingt eine Verlangsamung des Kfz-Verkehrs. Der Anteil der Fahrzeuge, die mehr als 30 km/h fahren, sank von 47 Prozent auf 9 Prozent. Wurde vor dem Umbau in Fahrtrichtung Nord schneller gefahren als in südlicher Richtung, liegen die Fahrgeschwindigkeiten mittlerweile in beiden Richtungen ähnlich niedrig.
Während die Anzahl der Fußgän-gerinnen nach der Umgestaltung um rund 30 Prozent stieg, ist der Anzahl der Radfahrenden dem Bericht nach weitgehend konstant geblieben. Wegen des Rückbaus früherer Radwege nutzt der überwiegende Teil der Radfahrenden die Fahrgasse anstelle der Gehwege. Diese wurden gegenüber dem Vorher-Zustand deutlich entlastet. Zwar wird gelegentlich auch die Aufenthaltsfläche gequert. In der Regel klappt das aber. Konflikte zwischen Radfahrenden und Fußgängerinnen wurden nicht beobachtet.

„Erkennbar ist eine merkliche Entschleunigung des Kfz-Verkehrs.“

Malte Werning, Stadt Duisburg

Voraussetzung Partizipation

Jeder Shared Space besitzt eigene lokale Herausforderungen. In Berlin stand der Wunsch nach niedrigeren Kfz-Geschwindigkeiten bei der Öffentlichkeitsbeteiligung im Vordergrund. Ähnlich gingen in Bohmte und Duisburg dem konkreten Shared- Space-Projekt Versammlungen, intensive Diskussionen und Workshops voraus. Denn nicht zuletzt gelingt „Shared Space“ nur in Konsens von kommunaler Politik, Anrainern und Gewerbetreibenden. Die Akzeptanz für einen Kulturwandel im Verkehrsraum hängt entscheidend von dieser Partizipation ab.
Pieter de Haan formuliert das so: „Sicherheit ist nicht die erste Idee von Shared Space. Unser Ziel ist es, einen schönen Platz für Menschen zu gestalten. Der Raum ist der Raum der Menschen, wo sie sich aufhalten und in dem sie interagieren: Vielleicht gibt es dort Läden oder Cafés. Wie es am Ende genau aussieht, hängt von dem Kontext und der lokalen Kultur ab. Also versuchen wir auch, das Design der Umgebung gemeinsam mit den Anwohnern an diese Kultur anzupassen. Nur so erhält Shared Space eine Identität.“

Shared Space Basics

Gute Voraussetzungen für Shared Space

  • An örtlichen (Haupt-)Geschäftsstraßen, Quartiersstraßen und Plätzen
  • Fußgänger- und Radverkehr bestimmen das Straßenbild
  • Hoher Querungsbedarf von Fußgängerinnen und Radfahrerinnen
  • Die tägliche Kfz-Verkehrsstärke liegt bei max. 15.000 Kfz.
    (Je nach Gestaltungselementen und Geschwindigkeitsniveau sind höhere Belastungen denkbar.)
  • An Straßenabschnitten mit einer Länge von 100 bis 800 m
  • Möglichkeit der Anordnung von Grün- und Aufenthaltsbereichen
  • Ausweisung als verkehrsberuhigter Bereich

Partizipation
Shared Space immer gemeinsam mit Bürgern, Gewerbetreibenden, Verkehrsplaner und Entscheidungsträger vor Ort konzipieren.

Nivellierung
Shared Space weitgehend höhengleich gestalten. Ggf. den Straßenraum mit Begrünung, Einbauten oder eingesetzten Flachborden gliedern, sofern dadurch Sichtbeziehungen nicht behindert werden. Eine Trennung der Fahrbahn vom Seitenraum oder die Kanalisierung des fließenden Verkehrs kann notwendig sein.

Rückbau von Beschilderung und LSA
Shared Space weitgehend ohne Lichtsignalanlagen, Beschilderung und Markierung gestalten. Als verkehrsberuhigten Bereich ausweisen, um dem Fußgängerverkehr rechtlich Vorrang zu geben, geringe Geschwindigkeiten abzusichern und das Parken zu regeln.

Gute Sichtbeziehung
Die funktionierende Kommunikation der Verkehrsteilnehmer*in-nen untereinander bedingt gute Sichtbeziehungen. Sichtbehindernde Einbauten im Straßenraum entfernen. Dazu gehört die Einschränkung des Parkens.

Barrierefreiheit
Shared-Space-Abschnitte barrierefrei und mit Rücksichtnahme auf die Anforderungen spezieller Gruppen wie Kinder und ältere Menschen gestalten. Die Nivellierung der Fläche im Shared Space ist bereits ein Vorteil für Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung. Hinzu kommen Blindenleitsysteme, z. B. durch den Einbau von Bodenindikatoren zur Querung.


Bilder: Reyer Boxem, Lutz Birkemeyer, Uwe Köppen, Wolfgang Scherreiks

Ein wegweisendes Förderprojekt für Fahrradstraßen hat die Stadt Offenbach am Main von Sommer 2018 bis Sommer 2022 realisiert. Insgesamt sind auf sechs Radachsen 18 Kilometer fahrradfreundliche Infrastruktur, davon neun Kilometer Fahrradstraßen, neu entstanden. Die dadurch etablierte Marke Bike Offenbach soll auch weiterhin für Infrastrukturmaßnahmen rund ums Fahrrad in der kleinen Großstadt stehen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


„Radfahrende sind nun sicherer und schneller in und um Offenbach unterwegs“, sagt Planungsdezernent Paul-Gerhard Weiß. „Damit wollen wir Menschen aller Generationen zum Umsatteln motivieren – nur so können wir die Straßen in unserer wachsenden Stadt entlasten.“ Offenbach ist in den vergangenen zehn Jahren um 20.000 Einwohnerinnen auf eine Bevölkerung von mehr als 141.000 gewachsen: „Schon daher brauchen wir einen neuen Mobilitätsmix, damit wir nicht alle gemeinsam im Stau stehen,“ so Weiß. „Mit einem zügig ausgebauten Radverkehr können wir außerdem die Lebensqualität im Wohnumfeld verbessern und Standortvorteile schaffen.“ Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) hatte im Frühjahr 2018 die Mittel für das Verbundprojekt Fahrrad-(Straßen-)Stadt Offenbach – genannt Bike Offenbach – bewilligt und stellte dafür 4,53 Millionen Euro aus den Mitteln der Nationalen Klimaschutzinitiative zur Verfügung. Verbundpartnerin ist die benachbarte Stadt Neu-Isenburg, die ebenfalls eine Förderzusage bekam. Die Gesamtkosten des über die Rhein-Main-Region hinaus wegweisenden Projekts liegen bei rund 6,5 Millionen Euro. Das Projekt ist Teil der städtischen Strategie, umwelt- und klimafreundliche Mobilität zu fördern. Bürgermeisterin Sabine Groß betont die Bedeutung von Bike Offenbach für den Klimaschutz. „Wir alle haben auch in diesem weiteren Hitzesommer erlebt, dass der Klimawandel bereits jetzt Realität ist. Jeder Kilometer, der nicht mit dem Auto zurückgelegt wird, zahlt auf das Klimaschutzkonzept der Stadt Offenbach ein. Eine gut ausgebaute Infrastruktur bietet neue Anreize, mehr Strecken mit dem Fahrrad zu bewältigen.“ Für die Umsetzung wurde ein Expertinnenteam zusammengestellt, zu dem unter anderem das Frankfurter Planungsbüro „Radverkehr Konzept“ und der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club Offenbach (ADFC) gehörten. Mit dem Projektmanagement beauftragte das Stadtplanungsamt die bei den Stadtwerken angesiedelte OPG Offenbacher Projektentwicklungsgesellschaft mbH. Zudem erhielt das Team wissenschaftliche Unterstützung. Ein Team der Hochschule für Gestaltung (HfG) Offenbach erarbeitete Designkonzepte für die Fahrradstraßen, und die AG Mobilitätsforschung der Goethe-Universität Frankfurt organisierte eine repräsentative Umfrage zum Radfahren vor Ort. Die Hochschule Darmstadt übernahm das Monitoring und die wissenschaftliche Begleitung über die gesamte Dauer des Förderprojekts.

„Mit ihrem Antrag für ein ganzes Netz von Fahrradstraßen war die Stadt Offenbach bundesweit Vorreiter.“

Martin Lanzendorf, Professor für Mobilitätsforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Mit Teststrecke im Zentrum lernen

Wie sollten Fahrradstraßen und ihr Umfeld gestaltet sein, damit sie als sicher gelten und gerne befahren werden? Diese Frage kam auf, nachdem im Herbst 2018 eine erste Teststrecke eröffnet worden war – bewusst kein Abschnitt in der Peripherie, sondern eine viel befahrene Route ins Zentrum der Stadt. „So konnten wir wirklich etwas aus unseren ersten Erfahrungen lernen“, meint OPG-Projektmanager Ulrich Lemke. Tatsächlich wurde die Einrichtung der Fahrradstraße an sich ebenso diskutiert wie ihre Gestaltung. Einige hielten die Ausweisung der sogenannten Dooring-Zone nahe an parkenden Autos irrtümlich für einen ausgewiesenen Radweg, sodass die Stadt die Gestaltung in Zusammenarbeit mit dem HfG-Team optimierte und die Bürgerinnen diesbezüglich mitentscheiden ließ. Als immer noch viele Autos zu schnell unterwegs waren, richtete das Planungsteam in Abstimmung mit der städtischen Verkehrskommission eine Busschleuse mit Einbahn-Regelung ein, die seitdem den Autoverkehr stadteinwärts von der Fahrradstraße fernhält. In den neu gestalteten Fahrradstraßen im Zentrum sowie in den Stadtteilen hat der Radverkehr Vorrang und damit auch Vorfahrt, die Radelnden dürfen nebeneinanderfahren, und es gilt maximal Tempo 30 für alle. Für Autofahrerinnen gilt, dass Anlieger hineinfahren dürfen, der Durchgangsverkehr aber andere Routen wählen muss. Infowürfel informierten über die neuen Regeln, und die neu definierten Abschnitte erhielten gerade in den Kreuzungsbereichen einen leuchtend roten Anstrich.

Unsere Stadt neu erfahren: Unter diesem Motto bot das Projektteam regelmäßig Radtouren über die neuen Verbindungen an.
Vor Ort für Bike Offenbach im Einsatz: Sukhjeet Bhuller und Ulrich Lemke von der bei den Stadtwerken angesiedelten OPG Offenbacher Projektentwicklungsgesellschaft mbH waren mit Infoständen unterwegs, wenn im Stadtgebiet neue Fahrradstraßen entstanden.

Öffentlichkeitsarbeit schafft Akzeptanz

Vor der Einrichtung jedes neuen Abschnitts gab es umfangreiche Informationen: Mitteilungen für die Medien und auf Social Media, Flyer für die Anwohnerinnen und Stände des Projektteams vor Ort. Um die Stadt neu zu erfahren, fanden jeweils im Frühjahr und Sommer Radtouren für interessierte Bürgerinnen statt. Beim alljährlichen Stadtradeln trat ein Team von Bike Offenbach an, es gab Veranstaltungen zum Einrollen neuer Abschnitte und Infostände bei Straßenfesten. In Zeiten des pandemiebedingten Lockdowns wurden die Infoveranstaltungen und Workshops online angeboten.
Durch die umfassende Öffentlichkeitsarbeit wuchs die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung, auch wenn der Eingriff in bestehende Verkehrsstrukturen ein Gewöhnungsprozess blieb. So wurde auch dieses Projekt – wie viele Verkehrsthemen – kontrovers diskutiert. Den einen ging es nicht schnell genug, sie wollten Autos möglichst ganz aus der Innenstadt verbannen. Die anderen kritisierten schon kleinste Einschränkungen für den Pkw-Verkehr, der aber in der wachsenden Stadt mitten im Ballungsraum Rhein-Main nur einigermaßen fließen kann, wenn mehr Menschen aufs Rad umsteigen. „In Offenbach ist die Anzahl der zugelassenen Pkw von 2011 bis 2021 auf 67.190 und damit um 16,11 Prozent angestiegen. In einer kompakten und dicht besiedelten Stadt wie Offenbach wächst damit die Flächenkonkurrenz weiter an“, so Bürgermeisterin Groß. Bike Offenbach fährt hier einen Mittelweg. Beim Auf- und Ausbau der Fahrradstraßen ging es um ein vernünftiges Miteinander aller Verkehrsteilnehmerinnen – nicht um deren Trennung. Insgesamt scheint das Projekt viel Rückenwind zu erfahren. Wie eine gemeinsame Umfrage der Frankfurter Goethe-Universität und der Offenbacher Hochschule für Gestaltung zeigte, finden fast zwei Drittel aller Autofahrerinnen und 83 Prozent der Radfahrer*innen die Idee der Fahrradstraßen gut.
Die Forschungsarbeit der interdisziplinär arbeitenden Teams, auch zur bereits erwähnten Gestaltung der Fahrradstraßen, ist in die hessenweite Exzellenzforschung LOEWE integriert und hat damit Bedeutung über die Stadtgrenzen hinaus. „Mit ihrem Antrag für ein ganzes Netz von Fahrradstraßen war die Stadt Offenbach bundesweit Vorreiter, was unser Interesse geweckt hat“, berichtet Prof. Dr. Martin Lanzendorf, Professor für Mobilitätsforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. „Zu Fahrradstraßen und deren Gestaltung gab es davor nahezu keine Forschungen.“ Die Hochschule Darmstadt hat im Rahmen des Monitorings bis Ende September 2022 diverse Vor- und Nachzählungen sowie Geschwindigkeitsmessungen in den Fahrradstraßen und Befragungen realisiert.
Auch die Ausgliederung des Projektmanagements hat Vorbildcharakter. In vielen Kommunen dämpfen personelle Engpässe gerade bei der Verkehrsplanung die Bemühungen, den Ausbau der Radinfrastruktur voranzutreiben. Die Schader-Stiftung aus Darmstadt empfiehlt, in solchen Fällen dem Beispiel aus Offenbach zu folgen. Die Kommunen sollten bestehende Strukturen (wie in diesem Beispiel die OPG bei den Stadtwerken), die entsprechende Erfahrungen und Personalkompetenzen haben, mit der Umsetzung der verschiedenen Projekte und Radverkehrskonzepte betrauen.
Die OPG arbeitet auch daran, die Radverbindungen in den Kreis Offenbach hinein zu verbessern. Das Potenzial zum Umsatteln ist groß, weiß Verkehrsexperte Professor Jürgen Follmann von der Hochschule Darmstadt: „Grundsätzlich sind 30 Prozent der mit dem Auto gefahrenen Wege kürzer als drei Kilometer.“ Und viele Kreisgemeinden wie Dreieich oder Heusenstamm liegen nur bis zu acht Kilometer entfernt: „Das ist gerade für E-Bikes eine angenehme Distanz.“

Vorher – nachher: „Anlieger frei“ gilt nun auch für die Taunusstraße. Damit wird das gesamte Offenbacher Nordend als Wohngebiet gestärkt.

Neue Behörde treibt Mobilitätswende weiter voran

Bisher wurden in Verlängerung der neuen Fahrradstraßen in Offenbach weitere neun Kilometer Radachsen – mit Schutzstreifen oder als neue Fahrrad- beziehungsweise Geh- und Radwege – ausgewiesen sowie Kreuzungen und Knotenpunkte fahrradfreundlich gestaltet. Gemeinsam mit Neu-Isenburg, dem Verbundpartner im Förderprojekt, und der Landesbehörde Hessen Mobil gelang es zudem, bis Frühjahr 2022 einen neuen Radweg entlang der Hauptverbindungsstraße zwischen beiden Orten zu realisieren. Dafür wurde die zuvor vierspurige Sprendlinger Landstraße im Rahmen eines zweijährigen Verkehrsversuchs auf zwei Spuren für Autos verringert, wodurch der Radverkehr nun sicherer und schneller unterwegs ist.
Die Marke Bike Offenbach und die Bemühungen in Richtung Mobilitätswende bleiben der Stadt auch nach Ablauf des Förderprojekts erhalten. „Dass wir im Juni 2022 das Amt für Mobilität gegründet haben, ist ein klares Bekenntnis der Stadt Offenbach zur Förderung des Radverkehrs“, betont Bürgermeisterin Sabine Groß. Amtsleiterin ist die frühere Radverkehrsbeauftragte Ivonne Gerdts, die das Förderprojekt von Anfang an begleitete. Mit ihrem Team und den Initiator*innen des Radentscheids hat sie die gerade im Stadtparlament beschlossene Vereinbarung zum Ausbau der Radinfrastruktur erarbeitet. „Damit wollen wir das Radfahren in Offenbach attraktiver machen“, so Gerdts. Insgesamt vereine das neue Amt die strategischen Planungen für den Auto-, Rad- und Fußgängerverkehr gleichberechtigt unter einem Dach, erklärt Sabine Groß. „Ziel ist es, die Lebensqualität für die Menschen in Offenbach zu erhöhen.“ Nun will die Stadt auch gemeinsam mit der Initiative Radentscheid Offenbach die Infrastruktur vor Ort deutlich verbessern. Beide Beteiligten haben sich auf viele kleinere und größere Maßnahmen geeinigt, die es in den nächsten Jahren umzusetzen gilt. Diesem Vorhaben hat die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Offenbach am 15. September 2022 zugestimmt. Demnach möchte die Stadt nun pro Jahr mindestens 600.000 Euro in die Verbesserung der Radinfrastruktur investieren. Zudem ist geplant, diesen Betrag über weitere Fördervorhaben deutlich zu erhöhen.

Radverkehrskonzept Offenbach

Das Projekt Bike Offenbach war und ist ein wichtiger Bestandteil des Radverkehrskonzepts der Stadt Offenbach. Hierzu zählen bereits umgesetzte oder in der Umsetzung befindliche Maßnahmen, wie Einbahnstraßen im Gegenverkehr zu öffnen, die Fußgängerzone für Radfahrende freizugeben und neue Radfahrstreifen im Stadtgebiet aufzubringen. Außerdem umfasst das Projekt eine neue Radwegweisung im Stadtgebiet, abschließbare Fahrradboxen, Verleihstationen für Pedelecs, Call-a-bike-Stationen, einen Radroutenplaner für Schüler*innen und den Fahrradstadtplan.

Mehr Informationen dazu gibt es auf: www.bikeoffenbach


Bilder: Alexander Habermehl, urbanmediaproject