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In Deutschland kann man Radverkehr studieren. An sieben Hochschulen und Universitäten landesweit. Die Kurzpor­träts der Professorinnen und Professoren, die zum Thema Fahrrad lehren und forschen, zeigen, wie vielfältig das Feld ist. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Rad mit Rückenwind – so betitelte das Bundesministerium für Verkehr und Infrastruktur (BMVI) seine Studie über Mobilität in Deutschland. Tatsächlich findet sich mittlerweile in 80 Prozent der hiesigen Haushalte (mindestens) ein Fahrrad, pro Tag werden 257 Millionen Wege mit dem Velo zurückgelegt und dem Umweltbundesamt zufolge ließen sich zumindest in der Theorie bis zu 30 Prozent der Autofahrten durch das Rad ersetzen.
Doch in der Praxis erfordert mehr Fahrradverkehr andere Infrastrukturen, anderes Mobilitätsmanagement und eine andere, fahrradfreundlichere Gesetzgebung. Damit das Rad künftig im Verkehr von Anfang an mitgedacht und -geplant wird, hat das BMVI Anfang 2020 sieben Stiftungsprofessuren Radverkehr vergeben, von denen aktuell sechs besetzt sind (die siebte in Karlsruhe interimsmäßig durch Prof. Dr. Joachim Eckart). Seitdem ist Radfahren Studienfach.
Wer sind die Menschen hinter den Professuren, die Studierende zu wichtigen Radverkehrsaspekten ausbilden und interdisziplinär zu nachhaltiger Mobilität forschen sollen? Wo liegen ihre Arbeitsschwerpunkte und was haben sie bisher erreichen können? Ein Überblick.

„Wir sind an einem Punkt in der Geschichte, wo wir es uns nicht mehr erlauben können, 20 oder 30 Jahre zu warten, um auf klimafreundliche Mobilität umzusteigen.“

Prof. Dr. Dennis Knese

Prof. Dr.-Ing. Dennis Knese


Frankfurt University of Applied Sciences

Vorherige Tätigkeiten unter anderem:
Berater für nachhaltige Mobilität bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit; wissenschaftlicher Mitarbeiter für Elektromobilität, Stadt- und Verkehrsplanung an der Frankfurt University

Lehr-/Forschungsschwerpunkte:
In Frankfurt gibt es keinen separa-ten Radverkehrsstudiengang, das Thema wird in verschiedene Studiengänge inte­griert. Je nach Studiengang behandelt Dennis Knese entsprechend verkehrsplanerische, ökonomische oder logistische Themen. In der Forschung arbeitet er im Research Lab for Urban Transport (ReLUT) und beschäftigt sich mit Mobilitäts- und Logistikthemen, zum Beispiel zu neuen Konzepten für die Straßenraum- und Infrastrukturgestaltung, die Auswirkungen von elektrischen Fahrrädern und Kleinstfahrzeugen sowie Potenzialen und Herausforderungen der Radlogistik.

Ziele in dieser Position:
Wege aufzuzeigen, wie sich das Fahrrad noch stärker als Mainstream-Fortbewegungsmittel und wichtige Säule im Verkehrssystem neben ÖPNV und Fußverkehr etablieren kann. „Wir sind an einem Punkt in der Geschichte, wo wir es uns nicht mehr erlauben können, 20 oder 30 Jahre zu warten, um auf klimafreundliche Mobilität umzusteigen. Die Bevölkerung muss verstehen, dass jeder seinen Beitrag leisten kann, um einerseits die dramatischen Auswirkungen des Klimawandels zu reduzieren und andererseits lebenswertere Städte zu schaffen“, sagt er. Dazu sei eine sachliche Diskussion nötig, die das Fahrrad als gleichberechtigtes Verkehrsmittel in Gesetzgebung, Verkehrspolitik und Planung berücksichtigt, zum Beispiel durch eine veränderte Straßenraumaufteilung, gut ausgebaute Radwegenetze und stärkere Anreizsysteme für nachhaltige Verkehrsangebote.

Persönliche Bedeutung des Fahrrads:
Das Fahrrad gehört seit frühester Kindheit zum Alltag von Dennis Knese. „In meiner Heimatregion, dem Emsland, war es völlig normal, dass wir mit dem Fahrrad zur Schule, zum Sport oder ins Stadtzentrum fahren“, erzählt er. Seit seiner Studienzeit ist er multimodal unterwegs, das heißt, er nutzt das Verkehrsmittel, welches er für den jeweiligen Zweck als am geeignetsten erachtet – zumeist das Fahrrad oder die Öffentlichen. „Ein eigenes Auto brauchen meine Familie und ich in Frankfurt nicht“, ist er überzeugt.

„Mein Ziel ist es, dass jeder Mensch an jedem Wohnort die freie Verkehrsmittelwahl und damit eine echte Alternative zum Auto hat.“

Prof. Dr.-Ing. Martina Lohmeier

Prof. Dr.-Ing. Martina Lohmeier


Hochschule Rhein Main Wiesbaden

Vorherige Tätigkeiten unter anderem:
Studiengang Mobilitätsmanagement und Studiengangsleitung Master Nachhaltige Mobilität, promovierte Bauingenieurin (Raum- und Infrastrukturplanung), Erfahrung als Planungs- und Projektingenieurin in der Verwaltung und im Consultingbereich

Lehr-/Forschungsschwerpunkte:
Martina Lohmeier hat sich bewusst in Wiesbaden beworben, da ihr die Kombination der verschiedenen interdiszi­plinären fachlichen Ausrichtungen der Kolleginnen und Kollegen im Bereich Mobilitätsmanagement gefiel. Sie möchte die Master- und Bachelorstudiengänge mitgestalten, in der Lehre liegen ihre Schwerpunkte bei der Planung und dem Entwurf von Rad- und Fußverkehrsanlagen, aber auch beim Management, also Betrieb, Erhaltung und Instandsetzung selbiger. In der Forschung haben sich im vergangenen Jahr drei Themenkomplexe stärker entwickelt: Gender-Mainstreaming (das heißt, unterschiedliche Auswirkungen für Männer, Frauen und Divers berücksichtigen), innovative Zustandserfassung und -bewertung von Radverkehrsinfrastruktur sowie die Beschreibung von Anforderungen an die urbane Radverkehrsinfrastruktur zur Förderung von Radlogistikkonzepten.

Ziele in dieser Position:
Motivierte Fachmenschen mit einem frischen, aber auch kritischen Blick auf die Planungspraxis möchte Martina Lohmeier aus- und weiterbilden. Sie sollen in ihren zukünftigen Jobs in der Verwaltung, in Ingenieurbüros, bei Verkehrsträgern, bei Anbietern von Sharingangeboten oder in Firmen, die innovative Lösungen im Verkehrssektor (er-)finden, aktiv zur Verkehrswende beitragen und neue Ansätze selbstbewusst umsetzen. Denn nur dann sei es möglich, die Maximen, nach denen zuerst der motorisierte Verkehr geplant wird und dann erst der Platzbedarf für Fahrräder und Fußgänger, umzudrehen. „Mein Ziel ist es, dass jeder Mensch an jedem Wohnort die freie Verkehrsmittelwahl und damit eine echte Alternative zum Auto hat“, fasst sie zusammen.

Persönliche Bedeutung des Fahrrads:
Vor dem Eintritt ins Berufsleben war das Fahrrad Martina Lohmeiers Hauptfortbewegungsmittel. „Ich habe mir darüber gar keine Gedanken gemacht, es stand einfach immer bereit“, erinnert sie sich. Nachdem es durch einen Umzug eine Weile dann fast aus ihrem Leben verschwunden war, spielt es nun wieder eine große Rolle – natürlich aus beruflichen Gründen und „weil ich jetzt ein Pedelec habe“, wie sie sagt.

„Mich begeistert das Fahrrad mit seiner Einfachheit und gleichzeitigen Perfektion.“

Prof. Dr. Angela Francke

Prof. Dr. Angela Francke


Universität Kassel

Vorherige Tätigkeiten unter anderem:
Promotion an der Professur für Verkehrspsychologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for International Postgraduate Studies of Environmental Management (CIPSEM), Professur für Verkehrspsychologie an der TU Dresden

Lehr-/Forschungsschwerpunkt:
Seit zehn Jahren forscht Angela Francke zu nachhaltiger Mobilität. Ganz aktuell bearbeitet sie mit ihren wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Fachgebiet verschiedene Forschungsprojekte, unter anderem zum 9-Euro-Ticket, zu Alleinunfällen bei Radfahrenden und deren Ursachen oder zum Einfluss von disruptiven Ereignissen auf eine nachhaltige und resiliente Verkehrsplanung in Städten am Beispiel der Corona-Pandemie, der Klimakrise sowie in Braunkohlefolgeregionen. Ein Schwerpunkt sind zudem internationale Projekte, zum Beispiel zur Förderung von Rad- und Fußverkehr in Ostafkrika.

Ziel in dieser Position:
Die Fahrradnutzung und der Umweltverbund insgesamt haben Angela Franckes Meinung nach viel Potenzial, hier werde mehr Forschung benötigt. Sie möchte mit ihrer Arbeit dazu beitragen, Radverkehr und umweltfreundliche Mobilität weiterzuentwickeln, um von der autozentrierten zur menschenzentrierten Perspektive in der Verkehrs- und Stadtplanung zu kommen. „Es ist für mich eine Herzensangelegenheit, den Radverkehr zu steigern und ihm die Wertigkeit zu geben, die er haben sollte“, sagt sie. Mit Freude sieht sie, dass das Fahrradfahren seit einigen Jahren mehr Aufmerksamkeit in der breiten Öffentlichkeit erfährt, „für eine weitere Steigerung benötigen wir mehr Wissen und gut ausgebildete Fachkräfte“. Eine Ausbildung in Radverkehr und nachhaltiger Mobilität insgesamt ist im neuen Master „Mobilität, Verkehr und Infrastruktur“ an der Uni Kassel möglich.
Angela Francke möchte ein Testfeld für nachhaltige Mobilität aufbauen, um damit über Studien im Feld, im Fahrradsimulator und über Befragungen noch mehr über die Radfahrenden, Nicht-Radfahrenden und ihre Bedürfnisse zu erfahren. Darüber hinaus ist die subjektive Sicherheit für die Radverkehrsförderung ein zentrales Thema ihrer Arbeit. Sie sieht das Thema nachhaltige Mobilität als eine globale Aufgabe und ist international tätig, vor allem in Sub-Sahara-Afrika und Osteuropa.

Persönliche Bedeutung des Fahrrads:
Angela Francke sammelt seit ihrer Jugend historische Fahrradtypenschilder und Fahrräder und interessiert sich für die Technik- und kulturelle Geschichte des Fahrrads in Vergangenheit und Zukunft. „Mich begeistert das Fahrrad mit seiner Einfachheit und gleichzeitigen Perfektion, seit Jahrzehnten quasi unverändert. Ich mag es, dass ich die Umwelt ganz direkt wahrnehmen kann und mit Muskelkraft unterwegs bin“, schwärmt die Professorin, die privat hauptsächlich mit einem sportlichen City-Bike fährt.

Prof. Dr. Jana Kühl


Ostfalia Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Vorherige Tätigkeiten unter anderem:
Referentin Verkehrsplanung/neue Mobilitätsformen NAH.SH GmbH, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der AG Kulturgeographie am Geographischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Raumordnung und Planungstheorie an der Technischen Universität Dortmund, wissenschaftliche Mitarbeiterin Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung Dortmund

Lehr-/Forschungsschwerpunkte:
Jana Kühl beschäftigt sich insbesondere mit gesellschaftlichen Herausforderungen zur Realisierung einer (Rad-)Verkehrswende. Neben verkehrlichen Fragen geht es um die Verknüpfung von Radverkehr mit Stadt- und Regionalentwicklung, Tourismus, Sport sowie Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Gleichzeitig gehört es zum Job, im Rahmen der Lehre zukünftige Fachkräfte verschiedenster Fachdisziplinen für Radverkehrsthemen zu begeistern und
Studierende im Verkehrswesen zu Fachleuten auszubilden, mit deren Expertise Mobilität zukünftig nachhaltiger und vielfältiger wird.

Ziele in dieser Position:
Junge Menschen fachlich zu qualifizieren sowie Radverkehrsbelange in ihrem Tätigkeitsfeld sinnvoll und integriert einzubringen, sieht Jana Kühl als ihre Aufgabe. „Darüber hinaus möchte ich mit meiner Lehr- und Forschungstätigkeit ein Bewusstsein für bestehende Ungleichgewichte in der Verkehrsplanung fördern und gleichzeitig durch Erkenntnisse zur Lösungsfindung sowie zu einem Umdenken und Umsteigen im Verkehr beitragen“, sagt sie, denn ihrer Meinung nach ist „Radfahren vielerorts aufgrund von Defiziten in der Infrastruktur sowie aufgrund fehlender Sensibilität von Autofahrenden immer noch viel zu gefährlich und unattraktiv.“

Persönliche Bedeutung des Fahrrads:
Da sie selbst nicht Auto fährt und sich nicht auf die Öffentlichen verlassen möchte, ist das Fahrrad Jana Kühls „zentrale Mobilitätsgarantie. Es ist flexibel und in der Stadt auch schnell“. Für sie bedeutet Radfahren mobil und aktiv sein, ohne anderen Menschen oder der Natur zu schaden: „Für mich persönlich ist das Radfahren eine interaktive Form der Mobilität.“

Prof. Dr.-Ing. Heather Kaths


Bergische Universität Wuppertal

Vorherige Tätigkeiten unter anderem:
Promotion zur Modellierung des Radverkehrs an der TU München, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Verkehrstechnik der TU München, Forschungsgruppenleitung am Lehrstuhl für Verkehrstechnik der TU München

Lehr-/Forschungsschwerpunkte:
Heather Kaths forscht in puncto Modellierung und Simulation des Radverkehrs sowie zu intelligenten Verkehrssystemen. Zu ihrer Arbeit gehören zudem die Datenerhebung und -analyse im Radverkehr und die Konstruktion eines Fahrradsimulators, in dem sich in virtueller Umgebung die Wirkung verschiedener infrastruktureller Maßnahmen testen lässt.

Ziele in dieser Position:
In ihrer Professur möchte Heather Kath in dem Umfang Wissen über den Radverkehr sammeln, in dem wir es über den Autoverkehr schon lange haben. Es soll entsprechend genutzt werden, um die Architektur des Straßenraums einladender zu gestalten. Sie möchte dem Thema Radverkehr mehr Öffentlichkeit verschaffen. Das heißt: nicht nur möglichst viele Studierende erreichen, sondern auch mit Verkehrspsychologen, Städteplanern und Menschen aus dem Bauingenieurswesen an einer fahrradfreundlichen Zukunftsversion arbeiten und Strukturen schaffen, die genutzt werden können.

Persönliche Bedeutung des Fahrrads:
In München erledigte Heather Kaths 99 Prozent der Wege mit dem Fahrrad. „Wuppertal ist aber recht bergig und es gibt wenig Platz für den Radverkehr, da ist es nicht mehr so einfach mit dem Rad, gerade mit Kinderanhänger“, gesteht die Ingenieurin, die früher auch viel Rennrad gefahren ist, aber: „Wir haben jetzt Longtail-E-Bikes bestellt, auf denen die Kinder hinten Platz haben.“

„Radverkehrsplanung umfasst nicht nur das Bauen von Radwegen.“

Prof. Dr. Christian Rudolph

Prof. Dr.-Ing. Christian Rudolph


TH Wildau

Vorherige Tätigkeiten unter anderem:
Leiter der Forschungsgruppe Last Mile Logistik und Güterverkehr am Institut für Verkehrsforschung beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR)

Lehr-/Forschungsschwerpunkte:
Die künftigen Radverkehrsplanerinnen und -planer erlernen unter anderem den sicheren Umgang mit Verkehrsdaten und Digitalisierungstrends. Beleuchtet werden außerdem Technologien zur Verknüpfung vom Radverkehr mit anderen Verkehrsmitteln genauso wie betriebswirtschaftliche Belange, zum Beispiel für den Betrieb von Bike-Sharing-Systemen. Dazu befähigt der Studiengang die Studierenden, Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu interpretieren und richtig anzuwenden. Christian Rudolph erforscht darüber hinaus, wie die Radverkehrsförderung noch besser klappen kann, auch wenn das Kosten-Nutzen-Verhältnis aufgrund der geringen Siedlungsdichte gering ist.

Ziele in dieser Position:
„Radverkehrsplanung umfasst nicht nur das Bauen von Radwegen. Ich würde mir wünschen, dass der Radverkehr die gleiche Akzeptanz wie in unseren Nachbarländern Dänemark und den Niederlanden erfährt“, sagt Rudolph, der in den vergangenen Jahren bereits einen Willen zum Wandel, aber auch einen Mangel an Fachkräften in Städten und Gemeinden erkannt hat.

Persönliche Bedeutung des Fahrrads:
Christian Rudolph nutzt das Fahrrad quasi jeden Tag für den Einkauf und für die Kinderlogistik. „Es ist einfach das schnellste Fortbewegungsmittel auf Wegen bis ca. sechs Kilometern“, sagt er. Auch in der Freizeit und im Urlaub ist er gern mit dem Fahrrad unterwegs, denn: „Es macht einfach Spaß und man bekommt seine Umwelt direkt mit – Bewegung inklusive.“


Bilder: stock.adobe.com – luckybusiness, Friederike Mannig, FG Mobilitätsmanagement, Markus Weinberg, Andre Hutzenlaub, Christian Rudolph

Das Tempo spielt bei der Verkehrsmittelwahl eine große Rolle. Und gerade im Stadtverkehr würde das Fahrrad seine Stärken ausspielen, wenn es denn könnte. Um den Radverkehr zu beschleunigen, hilft es, die Perspektive der Radfahrenden einzunehmen. Schon kleine Eingriffe in die Infrastruktur können oft viel verändern. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Mit ihren Sensor-Bikes misst die Hochschule Karlsruhe die Bedingungen, unter denen Radfahrer*innen unterwegs sind. Sie finden heraus, welche Stellen Kraft kosten, wo zu eng überholt wird und welche Konflikte entstehen.

Fünf Kilometer auf dem Fahrrad können sehr unterschiedlich aussehen. In Stadt A braucht eine Radfahrerin dafür 15 Minuten, kommt entspannt an und konnte sich unterwegs noch Gedanken über ihre Abendgestaltung machen. Ein Radfahrer in Stadt B braucht 23 Minuten und erreicht sein Ziel mit erhöhtem Puls, verschwitztem Rücken und hohem Stresspegel. Während er an einer Ampel steht und wartet, beobachtet er den vorbeiziehenden Autoverkehr und kommt in Versuchung, die Wahl seines Verkehrsträgers zu überdenken.
Wer das ungenutzte Potenzial des Radverkehrs in Städten wie dem fiktiven Ort B heben möchte, muss anerkennen, dass Reisegeschwindigkeit und Stress-Level oft ausschlaggebend bei der Entscheidung für oder gegen das Fahrrad sind. Es reicht nicht, sich für sichere und komfortable Radwege einzusetzen, meint Jochen Eckart. Er ist Professor für Verkehrsökologie an der Hochschule Karlsruhe. „Keiner fährt Fahrrad, weil es sicher ist. Umgekehrt gibt es Faktoren, die nicht so sehr Basis-Voraussetzungen darstellen, aber wenn sie vorhanden sind, eine gewisse Begeisterung erzeugen. Da gehört meiner Meinung nach die Beschleunigung des Radverkehrs dazu, also dass Radfahrer relativ schnell mit einem geringen Kraftaufwand unterwegs sein können.“ Gute Radverkehrsplanung müsse sich beiden Dimensionen widmen. Die Rahmenbedingungen müssen objektive und subjektive Sicherheit erzeugen, letzten Endes müsse aber auch dafür gesorgt sein, dass die Leute gerne Fahrrad fahren. Geschwindigkeit und Komfort seien dafür zentral, so Eckart.

Ein echter Perspektivwechsel

In ihrer Forschung arbeiten Eckart und seine Kolleginnen regelmäßig mit sogenannten Sensor-Bikes. Diese sind mit verschiedenen Technologien ausgestattet und können vielfältige Daten erheben. Eine spezielle Kurbel misst den Kraftaufwand, ein weiterer Sensor prüft den Abstand, mit dem die Testfahrerinnen überholt werden. Auf einer Strecke, die mit den sensorischen Fahrrädern abgefahren wird, lassen sich später die Geschwindigkeit, Beschleunigungs- und Verzögerungsprozesse nachvollziehen. Meist sind die Räder mit einer Kamera ausgestattet, sodass die jeweilige Verkehrssituation in der Auswertung eindeutig erkennbar ist. Auch Umweltfaktoren wie Feinstaub und Wetterdaten werden aufgenommen. Die Forscher*innen erheben im Normalfall auf festgelegten Routen Daten für mehrere Hundert Fahrradkilometer und vergleichen diese mit anderen Verkehrsmodi. Der Ansatz eigne sich weniger für massenhafte Daten, sondern um spezielle Fragestellungen zu klären. So ließe sich dann sogar der Stress-Level der Radfahrenden bestimmen. „Das geht über die Hauttemperatur und die Hautleitfähigkeit. Das sind Sachen, dafür müssen sie die Leute heute nicht mehr verkabeln, aber mit einer Smartwatch und Kameras ausstatten, damit sie sehen, warum die überhaupt gestresst sind“, erklärt Eckart.
In der Auswertung führen die gewonnenen Daten zu genauen Einsichten in das Leben auf dem Fahrrad. Die Radfahrenden fühlen sich ernst genommen und berücksichtigt, meint Eckart. „Ich sehe das als nettes Instrument, die Radfahrer in der Diskussion zu empowern.“ Die ansonsten oft emotionale Diskussion um Straßenverkehr und Mobilität kann so mit Fakten beruhigt und evidenzbasiert ausgerichtet werden.

Kein Stau, aber Ampeln

Forschung aus dem Blickwinkel des Radverkehrs hilft dabei, die Eigenheiten des Verkehrsmodus Fahrrad besser zu begreifen. Bei Strecken bis 3,5 Kilometer, so Eckart, ist das Transportmittel im Stadtverkehr normalerweise schneller als das Auto. Bei Pedelecs erhöht sich dieser Wert sogar auf 4,5 Kilometer, wie ein Forschungsergebnis für die Stadt Karlsruhe belegt. Das liegt an geringen Zu- und Abgangszeiten und daran, dass die Parkplatzsuche quasi entfällt. Eine Studie des Bundesumweltamts aus dem Jahr 2016 sieht noch mal deutlich höhere Werte. Das Pedelec ist dort ab Weglängen von knapp einem halben Kilometer und bis zum Wert von neun Kilometern das schnellste Verkehrsmittel. Auf ganz kurzen Strecken unterliegt es dem Zufußgehen.
Im Gegensatz zum motorisierten Individualverkehr gibt es außerdem selten Stau oder stockenden Verkehr. Wie schnell das Fahrrad letzten Endes sein kann, ist von Stadt zu Stadt dennoch äußerst unterschiedlich. Beispielhaft zeigen die Ergebnisse aus Karlsruhe, dass dort 70 bis 75 Prozent der Zeitverluste an Ampeln entstehen. Der Rest dürfte größtenteils auf das Queren großer Straßen zurückzuführen zu sein.
Explizit Forschung vom Rad aus zu betreiben, bringt auch Feinheiten in den Verhaltensweisen zum Vorschein, die von außen nicht sichtbar sind. Wenn Radfahrerinnen sich Kreuzungen nähren, mag der Eindruck entstehen, dass sie trotz rechts vor links nicht langsamer werden. Die Kraftmessung zeichnet ein anderes Bild. Vor der Kreuzung treten sie deutlich leichter und verzögern minimal, wenn der Weg frei ist, treten sie etwas kräftiger und sind schnell wieder auf der gleichen Geschwindigkeit wie vor der Kreuzung. Sie ignorieren die Verkehrsregeln nicht, sondern reagieren subtil. Solche versteckten Verhaltensweisen erkennen und quantifizieren zu können, darin sieht Eckart eine Stärke des Perspektivwechsels. „Für mich ist ein großer Vorteil, dass es den Fokus anders lenkt und dass wir Sachen aufnehmen, die sonst übersehen werden, weil sie bisher nicht als Standards für Analysen mit dabei sind“, so Eckart. Ein Forschungsvorhaben von Eckart und seinem Team sollte dem Gefühl auf den Grund gehen, dass es auf jeder zweiten Fahrradfahrt zu einem Beinah-Unfall kommt. Dabei kam heraus, dass die meisten Radlerinnen zunächst mal versuchen, konfliktarme Routen zu finden. Außerdem entstanden rund 40 Prozent der beobachteten Konflikte zwischen Fußgängerinnen und Radfahrerinnen.

Keiner fährt Fahrrad, weil es sicher ist.

Prof. Dr. Jochen Eckart, Hochschule Karlsruhe

Sicher oder schnell?

Viele Maßnahmen, die das Radfahren sicherer machen, ermöglichen auch eine höhere Reisegeschwindigkeit. Beispielhaft spielen hier die Breite des Radwegs und die mögliche Sichtweite eine Rolle. Aber auch angehobene Radwege, die für den querenden Autoverkehr eine Schwelle darstellen, sind schneller und sicherer.
Aber nicht immer sind die Zielgrößen miteinander vereinbar, etwa beim Linksabbiegen an Kreuzungen. Dürfen die Fahrräder sich vor die Autos einreihen und in einer Ampelphase abbiegen, wenden sie weniger Zeit auf. Wenn sie zunächst nur die Straße überqueren können, um dann die nächste Ampel zu nutzen, dürfte das eher zur Sicherheit beitragen, aber eben mehr Zeit in Anspruch nehmen. Auch sogenannte Drängelgitter machen unübersichtliche Situationen meist etwas sicherer, für die Zielgröße Reisegeschwindigkeit sind sie aber eher schädlich.
Um das Verkehrsmittel Fahrrad schneller und damit attraktiver zu machen, muss nicht sofort die ganze Stadt umgebaut werden. Es gibt auch schnell verfügbare und minimalinvasive Maßnahmen. Ampeln umzuprogrammieren könnte potenziell einen Großteil der Haltezeiten beim Fahrradfahren eliminieren. Auch Tempo-30-Zonen dürften helfen und wären zumindest theoretisch einfach einzurichten. Durch die geringeren Geschwindigkeitsunterschiede fließen die Radfahrerinnen dort gut mit dem Autoverkehr mit. An manchen Stellen, so Jochen Eckart, könnten die Radfahrerinnen auch von Wahlfreiheit profitieren. Das hieße in der Praxis, den Radfah-rer*innen auch das Fahren auf der Straße zu erlauben. Hier könnte der einzelne Verkehrsteilnehmer dann entscheiden, ob der sicherere Bürgersteig oder die schnellere Straße gerade eher zu seinen Bedürfnissen passen.

Auch Apps und Sensor-Boxen führen Richtung Ziel

Wie Radfahrerinnen sich verhalten und welche Bedürfnisse sie haben, kann nicht nur die Forschung aus Karlsruhe zeigen. Es gibt zunehmend technische Möglichkeiten, die Rad-fahrerinnen nutzen können, um ihr Fahrverhalten zu erfassen. „Da hat sich wirklich viel getan. Unheimlich viele versuchen, die Radfahrenden in die Gewinnung von Daten einzubeziehen“, betont Eckart.
Das Projekt SimRa sammelt Fahrraddaten über eine Smartphone-App und ist dafür 2022 mit dem Deutschen Fahrradpreis geehrt worden. Den ersten Platz in der Kategorie Service und Kommunikation teilte sich das Projekt mit dem OpenBikeSensor. Die kleine Box wird am Fahrrad montiert und misst Seitenabstände nach links und recht und Fahrten über GPS.
Die verbaute Sensorik ist nicht so umfassend wie beim Sensor-Bike, dafür kann die kleine Kiste aber auch selbst gebaut werden. Wer mit dem frei verfügbaren Bauplan mehrere Geräte baut, kommt auf Kosten von etwa 60 bis 80 Euro pro Stück. Der OpenBikeSensor setzt als Open-Source-Projekt eher auf freiwillige Beteiligung der Bevölkerung, eine städtische Unterstützung ist aber denkbar. 20 Sensoren können sich Städte und Initiativen aus Baden-Württemberg auch beim Landesverband des ADFC ausleihen.
Gerade wer große Datensätze über die eigene Stadt erhalten will, stößt mit freiwilligen Teilnehmer*innen schnell an seine Grenzen. Unternehmen wie Bike Citizens bieten deshalb ihre Hilfe bei der Datenerhebung an, was meist auch mit Kampagnenarbeit einhergeht. Fundierte, massenhafte Daten könnten auch mit den qualitativen Daten aus Forschungsprojekten mit Sensor-Bikes oder den kleinen Sensor-Boxen kombiniert werden. Dieser Mixed-Method-Gedanke ist in der Wissenschaft gang und gäbe.

„In Zukunft wird Mobilität ganzheitlich vernetzt sein.“

Markus Papke, Head of Innovation bei Riese & Müller
Moderne E-Bikes könnten der Stadtplanung in Zukunft helfen, indem sie die gesammelten Daten spenden.

Daten direkt vom Hersteller

In Zukunft wäre es auch denkbar, dass die Daten von Herstellern von Fahrrädern und vor allem E-Bikes direkt geliefert werden. Diese bieten vermehrt die Möglichkeit, Fahrräder über GPS-Module zu tracken und Motordaten auch in der Cloud einsehen zu können. Hier könnten freiwillige und anonymisierte Datenspenden immer mehr Informationen zur Verfügung stellen. Laut dem E-Bike-Hersteller Riese & Müller dürften auch Fahrräder bald so vernetzt sein, dass sie mit der Infrastruktur und anderen Verkehrsteilnehmern kommunizieren. Das Fahrrad in solche Prozesse einzubinden, ist wichtig, gerade weil die Automobilbranche sich in Pilotprojekten etwa bereits mit Ampeln vernetzt. „In Zukunft wird Mobilität ganzheitlich vernetzt sein. Und wenn du als E-Bike nicht in dieses Ökosystem reingehst, dann bist du zumindest auf der Connectivity-Ebene ein unsichtbarer Datenpunkt, den kein anderer vernetzter Akteur wahrnehmen kann“, meint Markus Papke, Head of Innovation bei dem hessischen Hersteller. Ohnehin gilt es hier zunächst branchenübergreifende Kommunikationsstandards zu entwickeln.
In höherer Zahl wären Radverkehrsdaten direkt vom Fahrrad für die Planung gut nutzbar. Die Nachfrage nach den detaillierten Informationen der Sensor-Bikes ist seitens der Kommunen bisher noch begrenzt. Jochen Eckart führt das da-rauf zurück, dass viele lokale Knackpunkte, an denen Änderungen nötig sind, bereits bekannt sind, es aber an Ressourcen mangelt, diese Aufgaben abzuarbeiten. Dass sich die Kommunen dann zunächst auf das Offensichtliche konzentrieren, anstatt noch weitere Daten zu erheben, ist in der Praxis nachvollziehbar. Auch große Radverkehrspläne werden nicht jedes Jahr geschrieben.
Der kommunale Datenbedarf soll in einem nächsten Forschungsprojekt mit kommunalen Handlungsträgern von Eckart erforscht werden. „Mich interessiert nämlich: In welchen Einsatzbereichen brauchen Sie Daten, für was brauchen Sie keine? Wie müssen die aufbereitet sein? Ich sehe das als eine Sache, wo wir mehr reingehen müssen. Ihnen einfach nur zu sagen ‚Hier haben wir Daten, seid bitte begeistert‘, das wird es nicht sein.“ Es bleibt abzuwarten, ob das Interesse an Daten aus Radfahrperspektive in den nächsten Jahren nachziehen wird. Am Angebot technischer Möglichkeiten scheitert es jedenfalls nicht.


Was macht den Radverkehr …

… schneller?

– Breite Radwege
– Weite Sicht
– Angehobene Radwege
– Direktes Linksabbiegen
– Tempo 30
– Wahlfreiheit zwischen Bürgersteig und Straße

… langsamer?

– Rote Ampeln
– Drängelgitter
– Linksabbiegen mit zwei Ampeln
– Stressige Überholsituationen


Bilder: stock.adobe.com – Kara, John Christ, Jochen Eckart, Anne Sophie Stolz, Riese & Müller – Lars Schneider, stock.adobe.com – BlackMac

Ohne gute Radwege kann eine Verkehrswende mit dem Fahrrad nicht gelingen, ohne gute Kommunikation aber auch nicht. Wer eine Kampagne für mehr Radverkehr plant, findet jedoch viele Vorbilder, von denen es sich lernen lässt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Gute Fahrradinfrastruktur ist eine Grundvoraussetzung für mehr Radverkehr, doch bauliche Maßnahmen allein bringen noch nicht unbedingt mehr Alltagsverkehr mit dem Fahrrad auf die Straße. Eine erfolgreiche Radverkehrspolitik braucht auch eine kommunikative Begleitung. Langfristige Kampagnen machen Angebote sichtbar und emotionalisieren Menschen fürs Fahrrad. Welche Stellschrauben zur Durchführung von Radverkehrskampagnen besonders gut funktionieren, zeigen Beispiele aus Deutschland, Österreich und England.

Involvement, also die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger sowie der Stakeholder, war bei der Münchner Kampagne „Radlhauptstadt“ ein wesentlicher Baustein.

Corona-bedingt musste die Münchner Radlnacht zuletzt pausieren. In den Jahren zuvor war sie mit 17.000 Teilnehmern eine sympathische Demonstration für mehr Radverkehr.

Systemischer Ansatz

Die Stadt München hat bis 2019 über einen Zeitraum von acht Jahren mit Green City e. V. und der Agentur Helios die Initiative „Radlhauptstadt München“ umgesetzt. Nach Angaben von Green City „eine der weltweit größten Kampagnen zur Förderung des Radverkehrs“. Das Fahrrad sollte als tägliches Transportmittel etabliert werden. Vom Drahtesel zum Lifestyleobjekt. Dahinter steckte ein systemischer Ansatz der Bozener Agentur Helios. Deren Kommunikationsdesigner Günther Innereber sieht das Fahrrad als soziales System: „Es gibt die Umwelt drumherum, wie die Infrastruktur, damit das Ganze funktioniert. Um das System am Leben zu erhalten, braucht es einen Service, den Verkauf, den Gesundheitsbereich und einen Nutzen.“ (s. a. Interview)
Für ihre Kampagnen arbeitet die Agentur nach einem Wirkungsdreieck, das das System Fahrrad mit einem Wert auflädt, der zu neuen Wertorientierungen führen soll. An den Dreiecksspitzen stehen die drei Faktoren dafür: Wahrnehmung (Sichtbarkeit), Identifikation und Involvement. Damit es wahrgenommen wird, muss das System Sichtbarkeit und Präsenz erhalten. Gemeint sind damit die Infrastruktur oder gezielte Aktionen, welche die Vorteile des Fahrradfahrens herausstellen. Ein weiterer Faktor bei Kampagnen ist es, eine Identifikation in der Bevölkerung herzustellen. So spielte man für die „Radlhauptstadt München“ augenzwinkernd mit dem Selbstverständnis der bayerischen Metropole. Erhebt sie bereits an anderer Stelle vielfach den Nr.-1-Anspruch, wurde sie kurzerhand auch zur Fahrradhauptstadt erklärt. Als weiteres lokales Identifikationsangebot trägt sie das mundartliche „Radl“ im Namen.
Das dritte Element des Dreiecks ist die Partizipation oder das Involvement, wobei zwischen High und Low Involvement unterschieden wird. Innerebner erklärt: „High Involvement bedeutet, dass man mit Stakeholdern und Akteuren zusammenarbeitet, die sich mit dem Thema auseinandersetzen.“ Heruntergebrochen auf das Beispiel München: die Radlnacht, der Radlflohmarkt oder eine Radschnitzeljagd. Dabei wurden Vereine einbezogen, die direkt oder indirekt mit dem Fahrrad zu tun haben. Für die Kampagne sind sie die Multiplikatoren. Sie bringen das gewünschte soziale Umfeld mit, um dem System eine Reputation zu geben. Das Low Involvement spielt hingegen auf der emotionalen Ebene: Bürgerinnen und Bürger werden selbst zu Protagonisten, indem sie beispielsweise bei der Radlnacht mitfahren oder an einer Verlosung teilnehmen.

Kommunale Marken

Mit der Entwicklung einer Marke wird das System weiter aufgeladen. Sie repräsentiert das System und bricht es herunter auf ein Symbol oder einen Namen: Die Agentur Helios hat Marken in Baden-Württemberg unter dem Namen „RadKULTUR“, in Berlin unter „Fahrrad Berlin“ entwickelt.
Einen solchen Markenansatz verfolgt auch die Stadt Wien. Christian Rupp, Marketing-Experte der Mobilitätsagentur Wien erklärt: „Wir haben mit ‚Fahrrad Wien‘ und ‚Wien zu Fuß‘ zwei starke Marken entwickelt. Wobei die Begleitkampagnen immer in diese Marken einzahlen.“ Markenentwicklung und Kampagnen sind auf einen längeren Zeitraum angelegt. Denn Botschaften benötigen Zeit, um anzukommen. Rupp: „Unsere Kampagnen laufen seit zehn Jahren. Dann merken die Menschen, worum es geht.“
Die Kampagne zielt auf ein zeitgemäßes Image des Fahrrades als Teil der Alltagsmobilität. Markenkern von Radfahren in Wien ist die „Lebensfreude“. Für Impulse sorgte anfangs der Blick auf die Autowerbung mit ihrer typischen Emotionalisierung von Freiheit und Individualität. Die jüngste Imagekampagne, die im Frühling startete, läuft unter dem Titel: „Radliebe Wien“. Rupps Kollegin, PR-Expertin Kathrin Ivancsits, sagt: „Das kombiniert dieses ‚ihr liebt Wien und das Radfahren‘ – die Stadt ebenso und tut etwas dafür.“ Der Fokus liegt auf dem Radwegeausbau. „Mit Bildern zeigen wir, wie schön das Radfahren in Wien ist. Zugleich läuft die Kommunikation zu den einzelnen Maßnahmen: Welche Radinfrastruktur entsteht gerade? Und wir versuchen, Infos an den Baustellen anzubringen: ‚Hier bauen wir für dich einen Radweg!‘ Das ist eine Kommunikation zwischen Stadt und Bürger: Ihr wollt was, wir tun was.“
So wie Infrastruktur nicht ausreicht, den Modal-Split-Anteil Radfahrender zu erhöhen, macht umgekehrt die smarteste Verkehrskampagne ohne Radwege wenig Sinn. Ivancsits dazu: „Es reicht nicht, wenn ein Bürgermeister Fotos aufhängt, wo er Rad fährt und sagt: Cool. Fahrt‘s doch auch! – wenn es keine entsprechende Infrastruktur gibt. Die Kampagne sollte die Tätigkeit der Stadtverwaltung unterstützen und nicht ersetzen.“

Wie Friends zu Fans werden: Die Wiener Kampagne #warumfährstDUnicht zielte mit emotionalen Botschaften insbesondere auf junge Menschen, die bisher eher gelegentlich mit dem Fahrrad unterwegs sind.

Laien zu Friends und Friends zu Fans

Der Helios-Kommunikationsdesigner Innerebner, der auch in Wien an den Fahrradkampagnen beratend mitwirkte, arbeitet mit drei Zielgruppen: Fans, Friends und Laien. Damit widerspricht der Südtiroler auch der Auffassung, Alltagsradlerinnen, die sowieso schon vom Radfahren überzeugt seien, nicht anzusprechen. Das sei für ihn verschenktes Potenzial. Gerade „Hardcore-Alltagsradler“ spielen als Fans eine tragende Rolle als Multiplikatoren sowie zum Erreichen einer kritischen Masse. Etwa bei Events im Zuge der Kampagne. Unter den Friends versteht man hingegen die gelegentlichen Fahrerinnen, unter Laien die seltenen Radnutzer*innen. Ziel einer Kampagne ist es, die Friends zu Fans und die Laien zu Friends zu machen.
Zu Beginn der Wiener Kampagne sollten Menschen zum Umstieg ermutigt werden, die bereits eine Nähe zum Radfahren haben. Besonders hoch schätze man das Potenzial der 20- bis 40-Jährigen, Frauen und Personen mit guter Bildung und höherem Einkommen ein. Kathrin Ivancsits sagt: „Die #warumfährstDUnichtKampagne von 2018 zielte auf junge Menschen. Wir haben mit Testimonials gearbeitet: Eine Nachhaltigkeits-Influencerin, eine bekannte Schauspielerin, ein ehemaliger Fußballprofi. Leute, die in der Zielgruppe bekannt sind und aus ihrer Biografie heraus zum Thema stehen.“ Botschaften mit zu vielen Fakten sieht Ivancsits eher skeptisch: „Wir machen Radwege und die sind brutto vier Komma fünfundsiebzig Meter breit. Das wirkt schnell technokratisch. In der Kommunikation geht es darum, an Gefühle zu appellieren.“ Christian Rupp ergänzt: „Es ist wichtig, Menschen auf der emotionalen Ebene zu erreichen. Gleichzeitig muss man ihnen anbieten, das Ganze auszuprobieren. Auf Uni-Radwochen waren wir an den Universitätsstandorten. Dazu gab es eine Karte. Zugleich konnten sich Studierende Fahrräder leihen.“
Manchmal ergeben sich Momente, die Ivancsits „windows of opportunity“ nennt: Als eine Wiener U-Bahnlinie für Renovierungsarbeiten gesperrt war, wurden entlang dieser Strecke Fahrradleihstationen aufgestellt: „So konnten die Leute die Strecke einmal ausprobieren.“ Auch Dankbarkeit funktioniert. Etwa in Pandemie-Zeiten, als das Fahrrad die Alternative zum Auto und den Wiener Öffis bot: „Wir haben uns an Punkten hingestellt, Radfahrkarten verteilt – und Kipferl. Um die Radfahrenden in dem zu bestätigen, was sie tun: Du tust was Gutes, das ist super, mach weiter so!“

Verwaltung ins Boot holen

Veränderungsprozesse, die nicht intern mitgetragen werden, sind schwer nach außen zu kommunizieren. Deshalb muss eine Fahrradkampagne auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltungen abholen. Innerebner: „Sie müssen das Gefühl haben, zumindest gefragt worden zu sein. Besser sind interne Beteiligungsprozesse, etwa in Workshops. Sonst kann es zum Beispiel passieren, dass ich Genehmigungen nicht rechtzeitig erhalte.“ So können beteiligte Stakeholder und die Verwaltung im Vorfeld kleinere Gremien gründen. Für die Dachmarke „Fahrrad Berlin“ war die Agentur Helios nicht nur auf der Straße unterwegs, um Bürgerinnen und Bürger zu befragen. „Wir haben auch zwei Workshops gemacht, wo wir den Senat, Stadtteilvertreter und die Polizei zusammengebracht haben. Dabei ging es um Fragen wie: Was heißt Radfahren in der Stadt? Was möchte man ausstrahlen? Die haben gesagt: Ich hatte nie Kontakt mit der Person oder der Abteilung. Endlich haben wir mal miteinander geredet.“

In Großbritannien haben die Fahrradindustrie und Radfahrerverbände zusammengelegt, um die landesweite Kampagne #bikeisbest ins Rollen zu bringen.

Positiv kommunizieren

Um die Verkehrsmittelwahl zu ändern, rät die Wiener Kommunikationsexpertin Ivancsits vom erhobenen Zeigefinger ab: „Wenn man Menschen damit kommt: ‚Du tust jetzt etwas fürs Klima!‘, bringt sie das nicht zum Radfahren. Fragt man nach ihren Motiven, sagen sie: Es macht mir Spaß, ich empfinde Freude, es würde mir etwas fehlen, wenn ich nicht Rad fahre. Was funktioniert, ist ein positiver gesellschaftlicher Druck. Auch Erwachsene orientieren sich stark an ihrer Peergroup, möchten dazugehören.“
Dabei raten die befragten Experten, stets positiv zu kommunizieren. Ein „Dirty Campaigning“ oder „Shaming“ hält auch Christian Rupp für ein No-Go: „Etwa sagen: ‚Du fährst jeden Tag mit deinem Auto ins Büro – das ist schlecht!‘ So etwas würde ich nicht machen.“ Zu stark auf das Sicherheitsthema zu setzen, kann ebenfalls kontraproduktiv sein. Am besten sollte es getrennt von einer Imagekampagne stattfinden, etwa positiv formuliert als Fahrradcheck auf einem Event. Ähnliches gilt für die Verkehrserziehung. Innerebner sagt: „Wir halten nicht viel davon, wenn die Polizei in die Schulen geht und Kindern sagt: Ihr müsst einen Helm tragen und Schutzkleidung anhaben. Autos sind gefährlich! Dann bist du als Kind verschreckt und das Schöne beim Fahrradfahren wird kaputtgemacht. Es hat seine Berechtigung, dass Regeln eingehalten werden. Aber es geht um das Wie: Es kann etwas mehr Spielerisches haben, die Verkehrszeichen zu kennen. Und zu wissen, dass ein respektvolles Miteinander wichtiger ist als jede andere Regel.“

Systemischer Umgang mit negativem Feedback

Folgt man dem systemischen Ansatz, muss eine negative Berichterstattung in der Presse nicht ungünstig für die Kampagne sein. Neben erfolgreich gewonnener (und dabei kostenloser) Aufmerksamkeit bringt das negative Feedback einen Input für Anpassungen. Als für die Radlhauptstadt München das Thema Rücksicht aufgegriffen wurde, lief ein Clown mit einem Rückspiegel in der Hand rückwärts durch die Stadt. Innerebner erinnert sich: „Die Presse hat eine Art Shitstorm ausgelöst: Die Stadt gibt 20.000 Euro für einen Radl-Kasper aus! Erst waren wir geschockt. Dann haben wir nachgedacht: Was ist systemisch passiert? Die Presse hat uns die Arbeit abgenommen. Und das Thema Radsicherheit auf die Titelseite gebracht.“
Sind es die Radfahrenden selbst, die nörgelnd gegen eine Kampagne arbeiten, etwa weil es noch an Radwegen mangelt, schlägt Innerebner ein Angebot vor, um diesen Frust herauszulassen: „Sonst können sie einen Event kaputtmachen.“ Das kann eine Wunschwand sein, die sie beschreiben können. Oder eine Adresse, wo sie ihre Klage melden. „Schreiben Sie doch dem Stadtrat XY! Ist es wirklich wichtig, dann schreiben sie. Der ist dann politisch verantwortlich und sollte auch reagieren.“

Wirtschaft animiert zum Radeln

Hierzulande noch die seltene Ausnahme, aber ein Blick über den Ärmelkanal zeigt, dass gute Radverkehrskampagnen nicht zwingend von staatlicher oder kommunaler Verkehrspolitik ausgehen müssen. Als in England während der Pandemie mehr Leute auf das Fahrrad umstiegen, sah Adam Tranter von der Agentur Fusion Media die Chance für bikeisbest – als Kampagne der britischen Fahrradindustrie. Sie setzt landesweit auf Plakat- und TV-Werbung. Ein typischer Kampagnen-Clip zeigt einen Protagonisten, der zur „Normalität“ zurückkehrt. Er trifft auf überfüllte Züge und endlose Staus. Der Groschen fällt, als der Protagonist aufs Fahrrad umsteigt. Das Außenwerbungsunternehmen Clear Channel sponsert die Werbung mit einer halben Million Pfund. Zwischen 2500 und 15.000 Pfund zahlen zudem Fahrradfirmen jährlich in die Kampagne ein. Dazu gehören unter anderem Brompton, Cannondale, Giant und Specialized. Weitere Unterstützung kommt von British Cycling oder der London Cycling Campaign.
Adam Tranter sagt: „Wir machen eine Mainstream-Kampagne, die auf alle Menschen zielt, die noch nicht Rad fahren. Besonders im Fokus stehen Frauen sowie die interessierten, aber besorgten Radfahrer. Unser Job ist es, das Denken der Leute zu verändern. Dazu gehören aber auch die Politiker.“
Bislang läuft die Kampagne noch ohne direkte Unterstützung von Regierungsseite. Hoffnungen setzt Tranter in das gerade entstehende „Active Travel England“, das vom ehemaligen Radsportprofi Chris Boardman geleitet wird und staatlicherseits mit einem Budget von 5,5 Millionen Pfund ausgestattet ist.


„Der Hebel, den wir nutzen, ist die soziale Norm“

Wo Radfahren nicht der sozialen Norm entspricht, sind die Hindernisse für einen Mobilitätswandel mit dem Fahrrad zu groß. Für den Kommunikationsdesigner Günther Innerebner liegt darin der Schlüssel für erfolgreiche Fahrrad-Kampagnen.

Was heißt systemisches Denken bei Radverkehrskampagnen?
Wir versuchen das Ganze nicht als einzelne Bereiche, sondern als System zu sehen. Das System Fahrrad ist ein soziales System. Es gibt die Umwelt drumherum, wie die Infrastruktur, damit das Ganze funktioniert. Um das System am Leben zu erhalten, braucht es einen Service, den Verkauf, den Gesundheitsbereich und einen Nutzen. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann spricht von Beziehungen. Das geht beim Fahrrad auch: Sie stehen immer in einer gewissen Beziehung, die mehr oder weniger stark sein kann. Diese Beziehung kann man unterstützen.

Wie lässt sich die Verkehrsmittelwahl beeinflussen?
Der Hebel, den wir nutzen, ist die soziale Norm. Die muss man ansprechen, damit ich überhaupt etwas mache. Sonst ist das Hindernis zu groß. Die Kultur hält ein soziales System stark zusammen, weil es gewisse Regeln gibt. Nicht nur Gesetze, auch soziale Normen. Etwa dass man in Kopenhagen mit dem Fahrrad fährt. Und wer als Student nach München kommt und nicht radelt, fällt aus der sozialen Norm. Das motiviert, der Norm zu entsprechen.

Welche Zielgruppen sollten angesprochen werden?
Wir haben ein einfaches Zielgruppen-System aufgestellt. Es gibt die Fans, die Bike-Lover, die sehr viel Fahrrad fahren. Und es gibt die Friends, die vielleicht ein bis zwei Mal die Woche Rad fahren. Schließlich gibt es die Laien, die selten fahren. Unser Ziel ist es, dass wir die Laien zu Freunden machen und die Freunde zu Fans.
Dazu brauchen wir auch die Alltagsradfahrer als Multiplikatoren, um eine kritische Masse herzustellen. Es ist wichtig, dass wertgeschätzt wird, was sie tun. Und damit bei Veranstaltungen genügend Personen zusammenkommen, die wieder mehr Menschen mitreißen. Vor allem am Anfang. Damit das System überhaupt eine Größe und Ausstrahlung bekommt. Alles, was einzahlt, um den Wert dieses System zu erhöhen, ist gut. Das können einfache Aktionen sein, die nur 200 Teilnehmer haben. Wenn ich dann über einen Radiosender eine Multiplikation von 6000 Menschen bekomme, erhält das eine andere Größenordnung. So kann ich etwas verändern in meinem sozialen Gefüge.

Inwieweit lassen sich regionale Traditionen für Kampagnen nutzen?
In Lana in Südtirol zum Beispiel gibt es seit Jahren im Februar ein Radlfasching. Die Teilnehmenden radeln in ihren Faschingskostümen. Da geht man einfach hin. Wer das mitbekommt, weil die Straßen gesperrt sind, sagt sich: Wenn die mit dem Fahrrad kommen, kann ich auch gleich mit dem Rad hinfahren. Im Frühjahr folgt eine Radschnitzeljagd. Man legt also etwas Einfaches nach, was man jedes Jahr wiederholen kann. Ein Vorteil davon ist, dass der Kostenaufwand gering ist, weil das Vereine machen. Dafür muss man mit ihnen zusammenarbeiten. Zum Beispiel mit der örtlichen Feuerwehr. Ebenso wichtig ist der Transfer der Reputation. Hast du die Feuerwehr dabei, hast du in einem Dorf schon gewonnen.

Wie sprechen Sie das Thema Sicherheit an?
In der Kommunikation stellen wir immer das Positive in den Vordergrund. Selbst wenn es Probleme gibt. Wenn wir eine Kampagne machen, um das Radfahren zu fördern, werden wir nicht gleichzeitig versuchen, das Thema Sicherheit zu transportieren. Wollen wir das ansprechen, trennen wir es von Themen des Images. Beispiel: Können Lastenräder auf einer Veranstaltung ausprobiert werden, haben wir daneben einen Sicherheitscheck. Aber der wird nicht im Vordergrund stehen. Und wir sprechen von einem Rad-Check und nicht: Du wirst sterben, wenn du kein sicheres Rad hast! Das besitzt eine Dankeschön-Wirkung und wird als Service für Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen.


Bilder: Clear Channel, Simone Naumann, Andreas Schebesta, Stadt Wien, Clear Channel – Bruce Allinson,Martin Rattini

Verkehrswende, Gesundheit und Lebensqualität in der Stadt: Mit einem breiten Mix an Maßnahmen geht Wien die Herausforderungen der Zukunft in Richtung Klimaneutralität entschlossen an. Das Fahrrad spielt dabei eine immer wichtigere Rolle. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Klimaschutz, Ressourcenschonung sowie Nachhaltigkeit stehen auf der Agenda der neuen Smart-Klima-City-Strategie und des Wiener Klima-Fahrplans. Um die Stadt bis 2040 CO2-neutral zu machen, investiert man auch in eine zeitgemäße Mobilität: Seit diesem Jahr sind jährlich 20 Millionen Euro mehr im Topf für Radinfrastrukturprojekte. Noch sind die Kfz-Verbrenner im Verkehr für rund 43 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Dabei erledigen zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger der 1,9-Millionen-Metropole ihre Alltagswege längst mit alternativen Verkehrsmitteln. 42 Prozent der Wiener Haushalte besitzen kein Auto.
Schon 2018 beobachtete eine Studie der Universität Wien den Rückgang des Auto-Pendelns und einen konstant hohen Anteil an Fußgänger*innen. Denn traditionell ist Wien eine Stadt des ÖPNV, der Öffis, wie man hier sagt. Im Pandemiejahr 2020 ist die Fahrgastzahl allerdings um mehr als zehn Prozentpunkte auf 27 Prozent gesunken. Das zeigt eine Befragung im Auftrag der Wiener Linien. Der Anteil des MIV am Modal Split beträgt weiterhin ebenfalls konstant 27 Prozent. Bei der Fortbewegungsart der Stunde triumphieren die Flaneure: Ihr Anteil stieg von 28 auf 37 Prozent. Da ist es konsequent, dass sich die Kulturstadt des Gehens eine eigene Fußwegebeauftragte gönnt.

Wien ist die Stadt des ÖPNV, der Fuß- und Radwege. Neueste Zählungen belegen einen Fahrrad-Boom.

Das Fahrrad boomt wie nie zuvor

Die anderen wichtigen Trendsetter sind die Wiener Radfahrer*innen: Im Modal Split 2020 liegt ihr Anteil noch bei neun Prozent (plus 2). Angesichts neuer Zahlen aus 2021 spricht die Wiener Mobilitätsagentur von einem Rekordjahr für den Radverkehr. An den automatischen Zählstellen wurden 9,3 Millionen Radfahrerinnen und Radfahrer registriert. Seit 2019 stieg ihre Zahl um 13 Prozent. Deutlich zeigt sich zum Beispiel an der Verbindung zwischen Sonnwendviertel, Hauptbahnhof und Zentrum, der Argentinierstraße, dass Pendlerwege zunehmend mit dem Velo erledigt werden. Dort verdoppelte sich die Zahl der Radfahrenden von 2013 bis 2021 auf über 962.000.

Zukunftsprojekt Verbindung Praterstraße: Radfahrende nutzen hier künftig eine Spurbreite von insgesamt fast sechs Meter Breite.

Kühle, gendersensible und sichere Straßen

Zu den Instrumenten im Klimafahrplan gehören Verkehrsberuhigung, Sicherheit („Vision Zero“), zunehmende Einführung von Tempo 30 vor allem in Wohngebieten sowie die Realisierung von Superblocks, die in Wien „Supergrätzel“ heißen. 25.000 neue Stadtbäume sollen im Straßenraum Fahr- und Parkstreifen ersetzen. Und weil mit einer Stadtausdehnung von fast 30 Kilometern die Kombination von Fahrrad und ÖPNV wichtig ist, soll die Fahrradmitnahme im ÖPNV erleichtert werden. Derzeit dürfen Fahrräder in der U-Bahn nur außerhalb der Stoßzeiten und an Wochenenden ohne zusätzliche Kosten transportiert werden.
Gegenwärtig weist die Donaume-tropole 168,6 Kilometer Radwege und 41,3 Kilometer Radfahrstreifen aus. Das Radfahren gegen Einbahnstraßen ist auf einer Länge von 321,4 Kilometer erlaubt – Tendenz steigend. Zudem verdoppelte sich seit 2010 die Zahl der öffentlichen Radabstellplätze auf derzeit rund 50.700. An der Verdichtung des noch lückenhaften Wiener Hauptnetzes wird gearbeitet. Die Qualität befindet sich im Umbruch hin zu breiteren Spuren sowie der baulichen Trennung vom motorisierten Verkehr. Jüngstes Beispiel ist der Umbau der Praterstraße zu einem sechs Meter breiten Fahrrad-Highway.
Ausdrücklich soll der Straßenraum neu verteilt und umgestaltet werden, nach dem neuen Klimapapier „grüner, schattiger und kühler, gendersensibel, sicher und alltagstauglich und mit mehr Platz für aktive Mobilität.“

„Die Mariahilfer Straße zeigt, dass man auf einer staugeplagten Straße den Kfz-Verkehr komplett rausnehmen kann.“

Martin Blum, Stadt Wien

Öffentliche Wasserspender, Sprühnebel und verkehrsberuhigte Viertel sorgen für mehr Stadt- und Lebensqualität.

Von der Begegnungszonebis zum Supergrätzl

Wie Straßen im Handumdrehen klimafreundlicher werden und zur sozialen Begegnungszone avancieren können, bewies Wien bereits mit Pop-up-Aktionen wie temporär autofreie, „coole Straßen“ (s.Veloplan 4/20): Dafür bringen Anwohner Liegestühle, Planschbecken oder Grünpflanzen. Die Stadt sponsert zum Beispiel Wasserstelen, deren Sprühnebel erfrischen. Vier Straßen dieser Aktion wurden 2021 dauerhaft verkehrsberuhigt. Künftig wird das Projekt mit weiteren Plätzen, allerdings ohne für den Autoverkehr gesperrte Straßen fortgesetzt.
Seit 2013 gibt es in Wien Begegnungszonen, in denen Auto-, Rad- und Fußverkehr gleichberechtigt sind. Höchstgeschwindigkeit hier: Tempo 20. Berühmt wurde der Umbau der Mariahilfer Straße. Wie der Standard Mitte 2020 berichtete, mauserte sie sich in der öffentlichen Wahrnehmung von der befürchteten „Berliner Mauer mitten in Wien“ zum lebendigen Stadtzentrum. An einem durchschnittlichen Wochentag flanieren dort mehr als 50.000 Passanten, im Jahr kommt man auf 17 Millionen. Die Wiener Wirtschaftskammer (WKW) schwenkte um vom Opponenten zum Fürsprecher verkehrsberuhigter Zonen. Der Wiener Radverkehrsbeauftragte Martin Blum resümiert: „Die Mariahilfer Straße zeigt, dass man auf einer staugeplagten Einkaufsstraße mit beiderseitigen Parkstreifen den Kfz-Verkehr komplett rausnehmen kann. Es funktioniert trotzdem.“
Von der Mariahilfer Straße aus wurden benachbarte Bezirke verkehrsberuhigt. Mehr als ein Dutzend solcher Zonen finden sich heute in Wien. Mit der Thaliastraße soll bis 2025 auch die wichtigste Einkaufsstraße Ottakrings als „Klimaboulevard“ in neuem Glanz erstrahlen: Auf einer Länge von 2,8 Kilometer werden Bäume gepflanzt, der Asphalt reduziert und mehr Aufenthaltsqualität geschaffen.
Nach der Superblock-Pilotstudie im Volkertviertel soll dort 2022 ein Supergrätzl umgesetzt werden. Das Konzept nach Vorbildern aus Barcelona fasst mehrere Wohnblocks zu verkehrsberuhigten Bereichen zusammen, in denen der Durchgangsverkehr unterbunden wird. Auch für das Supergrätzl Josefstadt gab die zuständige Bezirksvertretungssitzung grünes Licht. Vor der Umsetzung sollen die Wünsche der Bevölkerung in die Planung integriert werden.

Weniger Pendelverkehr, höhere Lebensqualität

Nach Feierabend noch viele Extrarunden drehen, um das eigene Auto abzustellen? Heute wünscht sich kaum jemand diese Situation vor der „Parkpickerl“-Einführung in den 1990er-Jahren zurück. Weniger Lärm, Staub und CO2-Ausstoß erhöhte die Lebensqualität in den Quartieren und sorgte für mehr Platz für Flaneure und Radfahrende. Nach Umfragen der Stadt Wien stieg die Akzeptanz in den Bezirken nach der Einführung von 46 auf 67 Prozent. Schon damals wurden im Westen Wiens bis zu 8.000 Pkw-Fahrten pro Werktag vermieden. Ab März 2022 gilt in ganz Wien eine Kurzparkzone, in der man nur als „Hauptwohnsitzer“ samt „Parkpickerl“ (Parkschein) seinen Pkw parken darf. Die Kosten betragen zehn Euro pro Monat. Die Maßnahme verhindert einen Verdrängungseffekt auf parkscheinfreie Bezirke und zielt auf eine Reduktion des einpendelnden Pkw-Verkehrs. Wer nicht in Wien wohnt, muss jetzt auf eine Garage ausweichen – oder löst einen Kurzparkschein. Hinzu kommen Zonen zur Reduktion des „Binnenverkehrs“ innerhalb der Bezirke durch Preis- oder Berechtigungsstaffelungen. Alle Einnahmen daraus fließen zweckgebunden in den Umweltverbund.

Wien ersetzt die alten „City-Bikes“ durch ein flächendeckendes Bikesharing-Modell für den multi-modalen Wegemix. Privatleute können kostenlos Lastenräder leihen.

Stadträume mit dem Privatauto okkupieren ist nicht kostenlos: Das Wiener Parkpickerl richtet sich besonders gegen Pendlerverkehre.

Sympathische Lufttankstellen. Neben Bikes werden hier auch Kinderwagen oder Rollis aufgepumpt.

Breite Sharing-Palette

Das Wiener Bikesharing-System befindet sich im Wechsel: „Das Citybike-Modell war international Vorbild für städtische Leihradsysteme, von Paris bis Sevilla oder Brisbane. Nach 18 Jahren erfolgt jetzt der Startschuss für ein modernes und flächendeckendes Bikesharing-Modell“, sagt Wirtschaftsstadtrat Peter Hanke (SPÖ). Im April startet „WienMobil Rad“ mit den ersten 1.000 Fahrrädern. Bis zum Vollbetrieb im Herbst dieses Jahres werden es 3.000 sein. 185 physische Stationen sind für Leihräder reserviert und über die „WienMobil“-App zu finden. 50 digitale Stationen können temporär für Events eingerichtet werden. Hanke: „Das neue Bikesharing-Konzept bringt in Zukunft doppelt so viele Räder wie bisher, viele neue Standorte und das in allen 23 Bezirken.“
Kombiniert werden die Rad-Sharing-Stationen mit den „WienMobil“-Stationen. Sie bieten den Mobilitäts-Mix aus Öffis und Leihangebote für E-Autos, Scooter und Bikes. Aktuell gibt es neun Stationen. 100 sollen es bis 2025 sein. Bisher wurde an den WienMobil-Stationen Platz für 12 E-Autos, 56 Scooter und 36 Mopeds zum Ausleihen, 5 Radservicestationen sowie 15 Radboxen zum sicheren Abstellen von Fahrrädern geschaffen. Wichtig: Rund zwei Drittel der geplanten WienMobil-Stationen werden außerhalb des Gürtels und über der Donau entstehen. So werden Außenbezirke mit weniger dicht besiedelten Gebieten in die umweltfreundliche Mobilität einbezogen.
Ähnliches gilt für das städtische Regelwerk für E-Scooter. Für eine multimodale Wegekette sollen Anbieter eine gleichmäßige Versorgung nicht nur in der City, sondern auch in Außenbezirken berücksichtigen. Nach Angaben der Stadt werden rund 4.000 frei stehende Leih-E-Scooter genutzt. Die E-Roller sind Fahrrädern gleichgestellt, die auf Radwegen sowie in Begegnungszonen gefahren werden. Fünf Anbieter sind derzeit dabei. Plus die neuen „Wheels“-Fahrgeräte – flexible E-Bikes mit Fußrasten statt Pedale.

Lastenräder als Teil des Alltags sichtbar

Als klimaschonendes Kindertaxi oder für den Alltagstransport beim Shopping können Wiener*innen Lastenräder leihen. Das Ausborgen eines Grätzlrads ist kostenlos; reserviert wird telefonisch oder per E-Mail. Martin Blum betont den nachhaltigen Aspekt des Projekts: „Das Grätzlrad bewirkt, dass der klimaschonende Transport mit Lastenrädern Teil des städtischen Alltags wird. Einerseits sind die Transportfahrräder in der Stadt sichtbar, andererseits werden Menschen motiviert, auf Cargobikes umzusteigen.“ Das bestätigt auch eine Evaluierung des Projekts im Jahr 2019. Demnach spricht das Angebot eine große Zahl von Personen an, die erstmals ein Transportrad nutzten. Fazit: Der überwiegende Teil möchte zukünftig wieder ein Lastenrad nutzen.

Vorbild bei Radfahrkampagnen

Auch unscheinbare „Gimmicks“ machen Stadtradeln attraktiver. So hat die Mobilitätsagentur Wien an zehn wichtigen Radverkehrsverbindungen öffentliche Luftpumpen aufgestellt. Eine befindet sich am Praterstern, unweit der Haustür des Radverkehrsbeauftragten: „Fahre ich dort vorbei, sehe ich häufig Radfahrende ihre Reifen aufpumpen. Das sind kleine Dinge, die oft vergessen, aber gerne angenommen werden.“ Selbstverständlich für die Wiener Fahrradstadt ist eine schicke Webpräsenz (fahrradwien.at) mit Radwegen, Routenplaner, Fahrradgeschäften und Leihstationen.
Als Wien auf dem Copenhagenize Index 2019 unter 115 Mitbewerbern auf Platz neun hinter Paris landete, attestierte die dänische Agentur der Stadt Vorbildfunktion für andere Städte in Sachen Radverkehrskampagnen. Auffallend wendet sie sich an Ein- und Umsteiger. So porträtierte die 2018er-Kampgane #warumfährstDUnicht? lokale Testimonials, die ihre Motivation zum Radfahren im Alltag aufzeigen. Dabei ist es kein Zufall, dass die Kampagne Motive wie Individualität und Freiheit triggert – aus der Autowerbung gut bekannt. Martin Blum: „Für neue Zielgruppen ist es wichtig, andere Attribute anzusprechen. So haben wir uns beim Radfahrmarketing einiges von der Autowerbung abgeguckt.“ Die jüngste Kampagne #gofuture setzt diesen lebensbejahenden Impuls fort: „Lust auf Glücksgefühle? Fahr auch im Winter Fahrrad und geh zu Fuß. So tust du dir und der Stadt etwas Gutes.“  


„Stadt funktioniert auch anders“

Veloplan-Interview mit Martin Blum, Radverkehrsbeauftragter der Stadt Wien

Wie sehen die Herausforderungen aus bei der Fahrradinfrastruktur?
Mit 27 Millionen Euro pro Jahr gibt es derzeit in Wien so viel städtisches Budget für den Radwegebau wie nie zuvor. Dabei stehen wir heute vor zwei Herausforderungen: Einerseits das Radwegenetz, das etwas in die Jahre gekommen ist, was die Breite anbelangt. Zweitens: Die Lücken im Radverkehr schließen, sodass die Wege durchgängig sind. Es hat unterschiedliche Planungsparadigmen gegeben. Ende der 1990er- bis 2000er- Jahre war das Mitfahren im Fließverkehr Thema, Stichwort „Vehicular Cycling“. Dann kam der Radfahrstreifen, der in Wien „Mehrzweckstreifen“ heißt. Der darf auch vom Auto genutzt werden. Mittlerweile geht es klar in die Richtung: auf Hauptstraßen gute, getrennte und ausreichend breite Radwege. Auf Nebenstraßen verkehrsberuhigte Bereiche, Begegnungszonen oder Fahrradstraßen.
Seit zwei, drei Jahren gibt es immer mehr Fahrradstraßen. Oder „fahrradfreundliche Straßen“, wie wir sie auch nennen. Das ist ein Spezifikum: Die Fahrradstraße in Österreich ist rechtlich streng gefasst. Da dürfen Autos, außer zufahrende Anliegerverkehre, überhaupt nicht bis zur nächsten Kreuzung durchfahren.

Was macht Wien bei Radfahrkampagnen anders als andere Städte?
Natürlich ist das Fahrrad das klimaschonendste Fahrzeug in der Stadt. Aber wer aus Umweltmotiven fährt, nutzt sowieso schon das Fahrrad. Für neue Zielgruppen ist es wichtig, andere Attribute anzusprechen. So haben wir uns beim Radfahrmarketing einiges von der Autowerbung abgeguckt. Und wir haben uns angeschaut, was das Radfahren in der Stadt ausmacht. Das sind im Wesentlichen die Themen Freiheit und Individualität. Radfahren ist praktisch und flexibel. Der Fehler wird oft gemacht, dass man zu sehr den Sicherheitsaspekt anspricht. Aber es geht um diese Lebensfreude: Man bewegt sich wie auf einer Bühne durch die Stadt, zeigt sich und erlebt die Stadt hautnah mit allen Sinnen. Das alles sollte zum Ausdruck kommen, will man neue Zielgruppen ansprechen.

Wie integriert die Donau-Metropole neue Sharing-Anbieter für Mikromobilität?
Wir haben relativ früh ein Regulativ gefunden: Wir begrenzen die Scooter mit einer Verordnung mengenmäßig pro Anbieter. Zudem verpflichten sich die Scooter-Betreiber dazu, sich in den Bezirken unterschiedlich aufzustellen. Das heißt: Sie müssen auch einen bestimmten Anteil in äußeren Bezirken aufstellen und nicht nur in der City. Zudem braucht es gewisse Regeln, damit man beim Zufußgehen nicht darüber stolpert. So ist auf Gehsteigen, die schmaler sind als vier Meter, das Abstellen der Scooter nicht gestattet.

Welche Bedeutung besitzt die Begegnungszone in der Mariahilfer Straße?
Veränderungen sind oft kaum vorstellbar. Gibt es ein Umbauprojekt, kommt es zu einem Aufschrei und Vorbehalten. Die Mariahilfer Straße zeigt, dass man auf einer staugeplagten Einkaufsstraße mit beiderseitigen Parkstreifen den Kfz-Verkehr komplett rausnehmen kann. Es funktioniert trotzdem – und zwar auf 1,6 Kilometer Länge. Die Menschen haben einfach andere Fortbewegungsarten genutzt. Und die Straße boomt mehr als vorher. Das zeigt: Stadt funktioniert auch anders.

Welche Projekte packt die Verkehrsplanung als Nächstes an?
Große Projekte, wo es in Richtung zukünftige Stadtgestaltung und Mobilität geht, betreffen die Flächenkonkurrenz einzelner Verkehrsmittel. Dazu gehört das aktuelle Projekt in der Praterstraße. Ein Boulevard, wo die Radwegbreite – beide Seiten zusammengezählt – mehr als sechs Meter betragen wird. Radwege an Hauptachsen sind wichtig, weil sie zeigen, wie komfortabel Radfahren sein kann, wenn die entsprechende Qualität da ist. Da gibt es dann den Ruf nach mehr. Gerade wenn es um getrennte Radwege geht, heißt es: „Den wollen wir jetzt auch an der anderen Straßenseite.“ Und Nebenstraßen sollten so gestaltet sein, dass sich Autos zu Gast fühlen. Dort braucht es eine Qualität, wie man sie von den Fahrradstraßen in den Niederlanden kennt.
In Wien gibt es eine hohe Nahversorgungsdichte, das heißt, man kann viel zu Fuß erledigen. Das kann man noch weiterdenken und mittlere Strecken fürs Fahrrad übersetzen. Dazu hat Wien eine Strategie verabschiedet, den Klimafahrplan, in dem die 15-Minuten-Stadt verankert ist. Wenn das, was dort festgeschrieben ist, in den Zielen der Stadt, um Klimaneutralität zu erreichen, umgesetzt wird, dann braucht man nicht mehr so viel Vision.


Wiener Infrastruktur in Zahlen

Radwege: 168,6 km
Geh- und Radwege: 169,3 km
Radfahrstreifen: 41,3 km
Mehrzweckstreifen: 145,2 km
Radfahrerüberfahrten: 27 km
Fahrradstraßen: 7 km
Radfahren gegen die Einbahn: 321,4 km
Radfahren auf der Busspur: 18,5 km
Radroute: 276,4 km
Radfahren in Fußgängerzonen: 8,8 km
Wohnstraße: 38,1 km
Verkehrsberuhigter Bereich: 361,4 km
Mountainbike-Strecke: 72,4 km
Öffentliche Radabstellplätze: 50.700


Bilder: Mobilitaetsagentur Wien – Peter Provaznik, Wiener Linien, zoom vp – Mobilitätsagentur Wien Digital, Mobilitätsagentur Wien, Fuerthner, PID, Gewista, Mobilitätsagentur – Christian Fürthner, Regina Hügli

„Verkehrswende jetzt“ steht auf Bautafeln in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt Düsseldorf. Gemeint sind damit aber nicht nur Baumaßnahmen, sondern vor allem Digitalisierung und Sharing als Schlüsselwörter für die Zukunft. Mobilitätsdezernent Jochen Kral erklärt, wie die Neue Mobilität aussehen soll und was moderne Großstädte tun sollten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Er scheint zunächst nur ein kleiner Schritt zu sein, zeigt aber beispielhaft die Richtung, in die die Neue Mobilität in deutschen Großstädten gehen soll: der Lastenrad-Automat, der Ende Januar 2022 in einem Düsseldorfer Quartier aufgestellt wurde. Für einen Euro pro Stunde können Anwohner*innen hier E-Cargobikes ausleihen. Drei Räder sind elektronisch an der Station gesichert, können digital per Handy ausgeliehen und wieder zurückgegeben werden. Auch die Zahlung erfolgt über eine App von Velocity Mobility, einem Mobilitätsservice-Anbieter, der mit vielen Kommunen zusammenarbeitet. Zwei Universitäten in der Region sollen Daten über Zielgruppe, Nutzung und Nachfrage eruieren und verarbeiten. Anhand dieser will man in Düsseldorf schon ab 2023 das Projekt größer ausbauen. Es soll so zu einem Schritt in die Klimaneutralität 2035 werden. Die Kosten für das Projekt werden über den Klimafonds der Stadt Düsseldorf finanziert.

Mobilität und Digitales

Warum ist das Projekt beispielhaft? Digitalisierung und Sharing sind die Schlüsselwörter für Düsseldorfs Zukunft: „Wir haben drei Probleme in unseren Städten“, erklärt Jochen Kral, seit April 2021 Dezernent für Mobilität bei der Stadt Düsseldorf, den allgemeinen Hintergrund. „Die Städte sind mit den Maßnahmen zur Klimavorsorge nicht weitergekommen. Ein Prozent Rückgang an CO2-Ausstoß pro Jahr seit 1990 ist deutlich zu wenig. Damit sind wir in Düsseldorf aber nicht allein“, schiebt er hinterher.
Zweitens sei die schnelle Erreichbarkeit von Arbeits-, Einkaufs- und Kulturorten innerhalb der Stadt und aus dem Umland derzeit nicht gewährleistet. „Und drittens muss der städtische Raum attraktiver, die Stadt lebenswerter werden – und das ist übrigens durchaus wirtschaftskonform zu machen.“

„Die Städte sind mit den Maßnahmen zur Klimavorsorge nicht weitergekommen.“

Jochen Kral, Mobilitätsdezernent der Stadt Düsseldorf

Auch autonomes Fahren als Standbein

Wie kann man das angehen? Dazu braucht es für den 52-Jährigen eben Digitalisierung und Sharing. Und natürlich nicht nur im eingangs genannten Beispiel der Cargobike-Flotte, sondern über alle Fahrzeuggattungen hinweg: Kral verweist zum Beispiel auf das Projekt Komodnext. Auf einer zwanzig Kilometer langen, häufig genutzten Zufahrtstrecke in die Stadt werden derzeit neuen Fahrzeug-Infrastruktur-Vernetzungen getestet. Was sich wie Zukunftsmusik anhört, soll tatsächlich einmal autonomes Fahren sicherer und flowiger machen. Ampeln, die ihren Status bei Ankunft des anfahrenden Fahrzeugs melden, Park-and-Ride-Plätze, die ihre Auslastung an Fahrzeuge weitergeben oder Brücken, die dem Fahrzeug signalisieren, dass der Asphalt eisglatt sein könnte. Auch wenn sich das Auto-fokussiert anhört: Diese Digitalisierung ist wichtiger Bestandteil der allgemeinen weiteren Entwicklung hin zu neuer Mobilität – nämlich der Möglichkeit, mit wesentlich weniger Autos mehr Mobilität zu fördern.

Modale Mobilität und Handy als Wegbereiter

Dazu braucht es auch einen Wandel in der Gesellschaft: den Wechsel vom Besitz zum Leihen. In puncto Leihräder und E-Scooter ist das heute in manchen Altersgruppen schon selbstverständlich. Aber dieser Wandel ermöglicht nach Kral auch Szenarien, in denen etwa Nutzerinnen von ÖNV-Fahrzeugen wie U-Bahnen im Zug die Weiterfahrt mit ihrem Smartphone planen oder planen lassen. So könnte das Handy per App ein automatisiertes Fahrzeug bestellen, das Nutzerin-nen mit ähnlicher Endstation am U-Bahnhof erwartet und sie dann die letzte Meile nach Hause fährt. Erst mit dem Sharing von Fahrzeugen ergäben sich Möglichkeiten wie diese: das Teilen von Fahrzeugen, die von einem Anbieter zur Verfügung gestellt werden, die flexibel sein können – und dank ihrer digitalen Vernetzung und Steuerung nicht auf Fahrer*innen angewiesen sein werden. „Erst im Rahmen einer Digitalisierung kann ich die intermodale Welt strukturieren“, sagt Kral. Ganz so futuristisch ist das nicht. Schon jetzt kann man mit einer App des Nahverkehrsanbieters Rheinbahn optional verschiedene Fahrzeuge vom Leihrad über den E-Scooter bis hin zur Straßenbahn buchen, um von A nach B zu kommen – allerdings kann man sich nicht die Routen von der App kombinieren lassen.

Velo-orientierte Beiträge zur Düsseldorfer Mobilitätswende: breit angelegte und klar strukturierte Radwege mit Abbiegeweichen und aufgestockte (Lasten-)Radabstellplätze.

E-Scooter statt Bike-Sharing?

Die E-Scooter und ihre Nutzerinnen sind auch in Düsseldorf nicht von allen Verkehrsteilnehmerinnen gut beleumundet. Das Ziel für den Mobilitätsdezernenten ist, hier „nicht nur zu dezimieren, sondern auch den Einsatz der E-Scooter zu optimieren!“ Dazu gehört, die Abstellflächen zu definieren. „Die Regeln dazu muss die Gesellschaft erst lernen“, sagt Kral mit einem Lächeln. „Tatsache ist: E-Scooter kannibalisieren derzeit Fuß- und Radverkehr. Wir müssen sie besser in die intermodalen Wegketten einbauen!“ Die Koppelung mit dem ÖPNV soll dabei selbstverständlicher werden.
Doch wie sieht man die Rolle des Radverkehrs in Düsseldorfs Zukunft? Viele Projekte zeigen: Er soll zu einer noch wichtigeren Säule der Neuen Mobilität werden – und sich in ein intermodales System einordnen. Gerade erst hat der Stadtrat den Bau der ersten von zwei geplanten Radleitrouten vom Flughafen im Norden, den Rhein und die Altstadt entlang bis in den Süden beschlossen. Die Routen sind in Teilen vorhanden und müssen optimiert werden, große Teile werden neu geschaffen. Standards sind hierbei entschärfte Kreuzungen und Vorrang für den Radverkehr – ähnlich den Radschnellwegen. „Dass diese Routen als Protected Bikelanes verlaufen, hat derzeit nicht erste Priorität“, meint Kral zum Modus dieser Radinfrastruktur.
Das gesamte Düsseldorfer „Radhauptnetz“ wird nun vorrangig bearbeitet und soll erweitert werden. Die Radinfrastruktur stellt sich dabei uneinheitlich dar und ist – auch an sicherheitsrelevanten Punkten – tatsächlich noch Flickwerk. Doch man merkt den Impuls des Ausbaus als Radfahrender in Düsseldorf tatsächlich. Auf mehrspurigen Straßen zum Zentrum hin fallen rechte Autospuren zum Teil zugunsten von Radspuren weg, – auch wenn gerade diese Routen noch lückenhaft sind.
Doch da sollen natürlich auch noch andere Zutaten zur Initiative „Verkehrswende jetzt“ greifen: „Wir wollen viel mehr 30er-Zonen ausprobieren“, so Kral etwas vorsichtig, der sich in diesem Zusammenhang vor Kurzem mit Vertretern vieler anderer Kommunen beim Städtetag für mehr Entscheidungsverantwortung auf kommunaler Ebene ausgesprochen hatte. „Nicht auf allen Hauptverkehrsstraßen“, sagt er, „um den Verkehrsfluss bündeln zu können.“ Viele breite Straßen werden einspurig. Auch hier gibt es bereits Anfänge. Parkplätze werden an neuralgischen Punkten zu Radabstellplätzen.
Als ganz wichtig sieht der Dezernent auch die interne Umstrukturierung an. Eine neue Projektgruppe wertet das frühere Büro für Radverkehr in Düsseldorf auf. Die Mitarbeiterzahl wird erhöht, aber wichtiger noch: Die Mitarbeiterinnen sollen in alle Bereiche der Stadtentwicklung involviert werden, sodass bei Entwicklungsvorhaben ein koordiniertes Vorgehen gesichert ist. „Sie haben auch Eingriffsbefugnis“, bekräftigt Kral. „Das Verkehrsmanagement wird so auf Radverkehr programmiert.“ Die Kommunikation mit den Bürgerinnen scheint mittlerweile allgemein in den Städten angekommen. Auch in Düsseldorf finden regelmäßig Bürgerdialoge unter dem neuen Titel „Düsseldorf fahrradfreundlich“ statt – aktuell als Online-Veranstaltung. „Ziel ist es, ein breites Feedback zu sammeln, das wir bei der Ausarbeitung unseres ganzheitlichen Programms zur Radverkehrsförderung berücksichtigen können“, so Kral in einer Ankündigung zum Dialog auf den Seiten der Stadtverwaltung.

„Eine Stadt braucht auch Bürger und Bürgerinnen, die bereit sind, mit Verkehrsmitteln zu experimentieren. Man kann nicht nur aus der Theorie heraus sagen, was letztendlich herauskommt.“

Jochen Kral, Mobilitätsdezernent der Stadt Düsseldorf

Ziel: erst weniger Autos, dann „Superblocks“

Das Ziel, die Stadt wieder zu einem attraktiveren Lebensraum zu machen, wird mit der Verkehrsberuhigung großer Abschnitte ins Visier gefasst. An Superblocks, wie die beruhigten und zu neuem Straßenleben erweckten Wohnblöcke in Barcelona oder Berlin genannt werden, denkt man auch in Düsseldorf, aber bislang eher vage. „Superblocks nach Berliner Vorbild sind im gesamtstädtischen Entwicklungskonzept für die nächsten zehn Jahre mitgedacht. Und natürlich planen wir auch quartiersbezogen“, so Kral. Derzeit ist vor allem ein digitaler Superblock in der Entwicklung: In Derendorf, nördlich der Innenstadt, entsteht gerade ein Wohnviertel, das Arbeiten, Wohnen und Leben vereinen soll. Fahrradstraßen und Spielstraßen, Erholungsräume und alle wesentlichen Geschäfte des täglichen Bedarfs sollen in diesem neu geplanten Viertel vertreten sein. Ein Vorbild für ganze lebenswerte Städte? Sicher. Allerdings kann man selbstverständlich nicht alles neu entwickeln. Man muss auf dem Vorhandenen aufbauen und die Stadtteile sukzessive wandeln.


Bilder: Amt für Verkehrsmanagement der Stadt Düsseldorf, Georg Bleicher

Wie bekommt man eher autoaffine Menschen aufs Fahrrad? Wie verändern sich die Bedürfnisse? Und wie sehen Fahrräder aus, die gar keine Fahrräder mehr sein wollen? So viel Individualismus wie heute gab es wohl nie. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Volkswagen-Chef Herbert Diess zeigte sich auf Linkedin kürzlich schwer von einem Team-Event in den Bergen angetan. Es ging dabei nicht um Autos, sondern um E-Bikes. Überrascht und begeistert berichtete er von den Erlebnissen auf den hauseigenen Premium-E-Bikes von Porsche und Ducati. Ähnliches war schon vor Jahren aus dem Hause Bosch zu vernehmen, als es um die Entscheidung ging, ins E-Bike-Geschäft einzusteigen. Heute ist Bosch eBike Systems vor Shimano, Yamaha, Panasonic oder dem Automobilzulieferer Brose unangefochtener Marktführer für E-Bike-Antriebssysteme. Diese und viele andere Beispiele zeigen, wie weit sich der altehrwürdige Drahtesel erst zum modernen Fahrrad und dann zum Hightech-Gerät mit hohem Imagefaktor weiterentwickelt hat. Auch die Nutzergruppen haben sich verändert und sie verändern sich weiter. Mountainbiker sind längst nicht mehr nur die jungen Wilden, sondern eben auch Topmanagerinnen und viele andere. Auch Lastenradnutzerinnen sind längst nicht mehr nur tätowierte Kurier-fahrerinnen oder besserverdienende Großstadt-Grüne. Eins scheint dabei immer mehr zu gelten: Die Bedürfnisse und Produkte sind so individuell wie die Kundinnen und Kunden und werden immer vielfältiger. Vor allem bei der jungen Generation und den Junggebliebenen scheinen die Präferenzen im Wandel. Sie sind flexibler und legen sich weniger fest. Immer wichtigere Argumente sind zudem Individualität und ein hoher Nutzwert. In Amsterdam feierte der niederländische Fahrrad-/E-Bike- Abo-Anbieter Swapfiets gerade 50.000 Kunden, bei rund 870.000 Einwohnerinnen.

Spaß und hohe Aufmerksamkeit garantiert. Die Bikes von Urban Drivestyle sind im rechtlichen Sinne Fahrräder und nutzen die StVO-Bestimmungen, nach denen man seit 2019 auch zu zweit auf einem geeigneten Fahrrad unterwegs sein darf.

Neues Verständnis von Mobilität und Zweirädern

Während die Innovationen beim Auto in den letzten Jahren gefühlt immer weniger echte Verbesserungen mit sich brachten, hat sich im Bike-Sektor so viel getan wie seit der Ablösung des Hochrads nicht. Einige grundsätzliche Probleme bleiben jedoch. Schwierig ist es beispielsweise, wenn man das Rad nicht in der Bahn mitnehmen oder das teure E-Bike nicht sicher einschließen kann. Eine Lösung sind neben Aborädern wie von Swapfiets auch Fahrradverleihsysteme an den Bahnhöfen oder eben E-Kick-scooter. Die sind entweder überall verfügbar oder lassen sich, wenn man einen besitzt, einfach mitnehmen. Beliebt und natürlich unerlaubt und unsicher ist auch die Möglichkeit, damit zu zweit fahren. Gerade das Argument, anderen eine Mitfahrgelegenheit anzubieten und gemeinsam unterwegs zu sein, ist nicht zu unterschätzen. Die Mikromobilität bietet hier neue Möglichkeiten und innovative Produkte, bricht Kategorien auf oder feiert auch gerne ein Revival.
Ossian Vogel, Gründer und Innovator des Berliner Unternehmens Urban Drivestyle (urbandrivestyle.de) hat E-Bikes mit Retroanleihen entworfen, die ganz bewusst nicht wie ein Fahrrad aussehen und sich auch nicht so anfühlen. „Es ist toll, dass es heute möglich ist, Hybridfahrzeuge zwischen den alten Kategorien auch in Kleinserie rentabel zu produzieren“, sagt der bekennende Fahrradfan, der seine Bikes am zweiten Wohnsitz auf Mallorca sehr genießt. „Du bist leise unterwegs, sehr entspannt und kannst dich ohne Helm mit deinem Beifahrer unterhalten. Das ist einfach toll. Für mich und viele unserer Kunden ist es das Revival eines Gefühls. Etwas, das wir damals etwa mit einer mit Vespa verbunden haben.“ Neben dem Wohlfühlaspekt spielt für seine Kunden auch die Sicherheit eine große Rolle. „Auch die Nicht-Radfahrenden fühlen sich auf unseren Bikes sehr wohl“, so Ossian Vogel. „Du sitzt sehr bequem, wie auf einem Hollandrad, die Fahrsicherheit ist klasse, du hast einen tiefen Schwerpunkt, breite Reifen und einen riesigen Scheinwerfer. Damit fühlst du dich gleich ganz anders und du wirst von anderen Verkehrsteilnehmern auch völlig anders wahrgenommen.“ Mit den Bikes, die sich aus den speziellen Bedürfnissen der Kunden entwickelt haben, trifft er offensichtlich einen Nerv. Zum Kundenkreis von Urban Drivestyle gehören neben „Nicht-Radfahrern“ auch Individualisten und viele Prominente.


Bilder: Ducati, Urban Drivestyle

Das Verkehrsministerium geht überraschend an die FDP. Wie stehen die Chancen für eine Verkehrswende mit den Liberalen? Bislang hatte sich weder die FDP selbst noch eine(r) ihrer Kandidat*innen nach allgemeiner Einschätzung in diesem Bereich ein besonderes Renommee aufgebaut. Aber vielleicht werden die Möglichkeiten und Perspektiven für Veränderungen, die sich mit der neuen Situation ergeben, ja auch unterschätzt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Ein Bild, das durch alle Medien ging: das gemeinsame Selfie nach dem ersten Spitzengespräch zwischen FDP und Grünen. Mit Volker Wissing, Annalena Baerbock, Christian Lindner und Robert Habeck.

Nicht einmal eine Woche vor der Präsentation des Koalitionsvertrags und der Verteilung der Ministerien habe ich mit Stefan Gelbhaar, MdB und Sprecher für Verkehrspolitik und Radverkehr bei Bündnis 90/Die Grünen, ein Interview geführt. Alles deutete zu diesem Zeitpunkt darauf hin, dass das Verkehrsministerium künftig zum Ressort der Grünen werden würde. Tage vor der Vorstellung kursierten sogar vollständige Listen mit Posten von Ministerinnen und Staatssekretärinnen. Und dann am 24.11., 15.00 Uhr völlig überraschend die Nachricht: Das Verkehrsministerium geht an die FDP. Wir gehörten sicher nicht zu den Einzigen, die bereits ein Bild gezeichnet hatten von den Kompetenzen und dem politischen und persönlichen Werdegang der Kandidaten Anton Hofreiter und Cem Özdemir, denn auf einen von ihnen, so die Meinung einer großen Mehrheit, würde es ganz sicher hinauslaufen als neuer Verkehrsminister. Und jetzt?

Erster Eindruck: große Ernüchterung – nicht nur bei den Grünen

„Die Verkehrswende ist nach der Energiewende mit das wichtigste Projekt, das wir aktuell haben und um das wir uns kompetent und sehr intensiv kümmern müssen“, so Stefan Gelbhaar im Interview. Tatsächlich haben die Grünen hier in der Vergangenheit unter anderem mit Symposien und Fachkongressen einiges getan, um Kompetenz und Glaubwürdigkeit aufzubauen. Auch personell schienen sie hier sehr gut aufgestellt: Der gebürtige Münchner Anton „Toni“ Hofreiter war beispielsweise von 2011 bis 2013 Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Verkehrspolitik war, nach eigener Aussage, für ihn immer eines der Lieblingsfelder. Mindestens ebenso viel Kompetenz und dazu nach Umfragen ein hohes Ansehen bei Fachleuten und in der Bevölkerung hätte der zweite Kandidat Cem Özdemir aus Bad Urach bei Reutlingen mitgebracht. Der „anatolische Schwabe“ war bislang Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und digitale In-frastruktur, ist bodenständig und bestens vernetzt und dazu ein bekennender und praktizierender Fahrradfan: „Das Fahrrad ist ein Gewinnertyp und gehört in die Bundesliga der Politik.“ In einem Interview mit dem ADFC skizzierte er einige zentrale Herausforderungen: „Wir sind in puncto Fahrradwegen in Deutschland Entwicklungsland.“ Der Anteil fürs Fahrrad im Etat des Verkehrsministeriums liege bisher bei unter einem Prozent. Die Kommunen bräuchten beispielsweise die Freiheit, unbürokratisch Tempo-30-Zonen und Fahrradstraßen einrichten zu können.
Auch wenn die Koalitionsvereinbarung weitgehend Zustimmung findet, sorgt die Tatsache, dass das Bundesministerium für Verkehr und Digitales nicht an die Grünen gegangen ist, bei vielen Fahrradinteressierten erst einmal für Unverständnis und Frustration. Deutliche Worte fand zum Beispiel der Grüne Landtagsabgeordnete Arndt Klocke, der sich in Nordrhein-Westfalen für ein Fahrradgesetz starkgemacht hat, auf Twitter: „Mein fachlicher Eindruck: Im Koalitionsvertrag sind die Bereiche Verkehr und Wohnen inhaltlich für Grün tragfähig. Natürlich müssen aus Worten im Vertrag jetzt politische Taten werden. Bedauerlich bis ärgerlich ist, dass das Verkehrsministerium nicht grün besetzt wird.“ Nach Medienberichten, unter anderem im Spiegel, stößt die Entscheidung unter etlichen Experten auf Unverständnis. Andererseits wird in der Presse auch berichtet, dass die Sozialdemokraten aus industriepolitischen Gründen ein Grünes Verkehrsministerium unbedingt verhindern wollten und deswegen die Bemühungen der FDP unterstützten, das Ressort zu erhalten.

„Das Fahrrad

gehört in die

Bundesliga der Politik“

Cem Özdemir, Grüne

Passen FDP und Verkehrsministerium zusammen?

Auf den ersten Blick ergeben sich mit Blick auf die immer wieder angemahnte Notwendigkeit einer Mobilitäts- oder Verkehrswende sicher Zweifel, ob die FDP und Volker Wissing hier eine optimale gute Lösung sind. Auf den zweiten Blick lassen sich aber auch gute Argumente und neue Optionen erkennen:

Punkt 1: mehr Freiheit, weniger zusätzliche Belastungen.

Durch die Pandemie ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik zuletzt deutlich gesunken. Viele Menschen sind zudem sichtbar und nachvollziehbar verbotsmüde geworden. Hier kann die FDP, die als Markenkern auf individuelle Freiheitsrechte und weniger Staat pocht, in der aktuellen Situation viele Menschen wahrscheinlich besser mitnehmen als die Grünen, die den Staat im Bereich Verkehr in einer eher paternalistischen Rolle sehen, zum Beispiel mit flächendeckenden Tempobeschränkungen oder Dieselfahrverboten. Angesichts steigender Lebenshaltungskosten und galoppierender Energiepreise sind auch zusätzliche Belastungen momentan eher schwierig zu vermitteln. Ein Versprechen für tatsächliche Umbrüche in der Mobilität liegt, genau betrachtet, aber durchaus in der vielfach von der FDP beschworenen freien Wahl der Verkehrsmittel. Denn de facto können Bürger oftmals gar nicht frei wählen, da das Auto entweder alternativlos ist oder Alternativen wie Radfahren oder ÖV-Nutzung zumindest gefühlt zu unpraktisch, zu teuer oder zu gefährlich sind.

„Es sind enorme Veränderungsprozesse nötig.“

Volker Wissing, FDP
Punkt 2: mehr Eigenverantwortung.

Die FDP könnte zum Beispiel für die Städte und Kommunen mehr Gestaltungsräume eröffnen, was der parteiunabhängige Deutsche Städtetag schon seit Langem (vergeblich) fordert. Unter anderem bei der Einrichtung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, bei der Verkehrslenkung, der Parkraumbewirtschaftung oder der Freigabe von Radspuren für schnelle E-Bikes. Das wäre sicher im Sinne des von den Liberalen schon immer vertretenen Subsidiaritätsprinzips. Das besagt, dass eine höhere staatliche Institution nur dann regulativ eingreifen sollte, wenn die Möglichkeiten des Einzelnen, einer kleineren Gruppe oder niedrigeren Hierarchie-Ebene allein nicht ausreichen, eine bestimmte Aufgabe zu lösen. „Wir wollen den Verkehr in den Städten effizienter, klimaschonender und sicherer machen. Dafür brauchen wir aber vor Ort mehr Entscheidungsspielräume“, forderte Burkhard Jung, Präsident des Deutschen Städtetages, nochmals im Juni dieses Jahres zum Thema Tempo 30. Die Kommunen könnten am besten entscheiden, welche Geschwindigkeiten in welchen Straßen angemessen seien.

Punkt 3: Transformation von Wirtschaft und Mobilität.

„Mobilität ist für uns ein zentraler Baustein der Daseinsvorsorge, Voraussetzung für gleichwertige Lebensverhältnisse und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschafts- und Logistikstandorts Deutschland mit zukunftsfesten Arbeitsplätzen“, so heißt es im Koalitionsvertrag. Unter Experten ist klar, dass eine Verkehrswende immer auch die Belange der Wirtschaft und der Automobilwirtschaft im Blick haben muss. Traut man das der wirtschaftsnahen FDP zu? Ja. Und traut man ihr auch die, ebenfalls im Koalitionspapier vereinbarte Transformation zu? Im Koalitionspapier zumindest sind die Ziele gesteckt. Hier heißt es „Wir wollen die 2020er-Jahre zu einem Aufbruch in der Mobilitätspolitik nutzen und eine nachhaltige, effiziente, barrierefreie, intelligente, innovative und für alle bezahlbare Mobilität ermöglichen.“

Punkt 4: neue Technologien und Digitalisierung.

Erstaunlich konkret wird der Koalitionsvertrag beim Thema Digitalisierung, ebenfalls eins der Kernthemen der FDP und als zweiter Schwerpunkt im Ministerium angesiedelt. „Für eine nahtlose Mobilität verpflichten wir Verkehrsunternehmen und Mobilitätsanbieter, ihre Echtzeitdaten unter fairen Bedingungen bereitzustellen“, heißt es dort zum Beispiel. „Anbieterübergreifende digitale Buchung und Bezahlung wollen wir ermöglichen. Den Datenraum Mobilität entwickeln wir weiter.“ Und im Folgenden: „Digitale Mobilitätsdienste, innovative Mobilitätslösungen und Carsharing werden wir unterstützen und in eine langfristige Strategie für autonomes und vernetztes Fahren öffentlicher Verkehre einbeziehen.“ Im Bahnverkehr soll „die Digitalisierung von Fahrzeugen und Strecken prioritär“ vorangetrieben werden. Kaum jemand wird bestreiten, dass digitale Systeme und Mobility as a Service Kernpunkte der künftigen Mobilität sind und Deutschland beim Thema Digitalisierung Nachholbedarf hat.

Punkt5: Abstimmungsbedarf mit Grünem „Superministerium“.

Fraglich bleibt ersten Einschätzungen nach, ob die von vielen als übergroß wahrgenommene Nähe zur Automobilindustrie so aufrechterhalten wird und ob der FDP-Minister nicht andere Prioritäten setzt – zum Beispiel im Bereich Digitalisierung. Dazu kommt die Frage, wie frei das Verkehrsministerium agieren kann mit den anspruchsvollen Vorgaben aus Brüssel und dem neu geschaffenen „Superministerium“ für Wirtschaft und Klima am Kabinettstisch, das von Robert Habeck geführt werden soll. Es soll zwar nur ein abgeschwächtes Vetorecht des Ministeriums geben, nicht zu unterschätzen sind aber die Berichtspflichten für den Verkehrssektor. Damit steht zu vermuten, dass banale Erklärungen wie „die Klimaziele sind nicht erreicht worden, weil der Verkehr insgesamt zugenommen hat“ künftig nicht mehr ausreichen werden und stattdessen ernsthaft an Alternativen und der dringend benötigten klimaneutralen Transformation im Automobil- und Verkehrssektor gearbeitet wird. Wie sich die neuen Ministerien im Einzelnen und die Regierung insgesamt positionieren, bleibt also noch abzuwarten.


„Die Ampelkoalition muss sich unterscheiden“

Interview: Stefan Gelbhaar MdB, Verkehrspolitiker bei Bündnis 90/Die Grünen und ehemaliger Sprecher für Verkehrspolitik und Radverkehr

Herr Gelbhaar, kommt es mit der Ampelkoalition zu einer Mobilitätswende?
Eins ist klar: Die Ampelkoalition muss sich unterscheiden. Darin waren wir uns in den Koalitionsgesprächen alle einig. Und wir alle sehen die Probleme und Herausforderungen. Die Verkehrswende ist nach der Energiewende mit das wichtigste Projekt, um das wir uns kompetent und intensiv kümmern müssen. Das ist nun mit dem FDP-Verkehrsministerium in beständiger Zusammenarbeit nach vorne zu entwickeln. Einfach wird das mit so unterschiedlichen Partnern natürlich nicht – aber dass es einfach wird, hat ja auch niemand gedacht.

Inwiefern wird es Unterschiede geben zur alten Bundesregierung?
Die Ziele, die sich die Bundesregierung in den vergangenen Jahren gesetzt hat, sind nicht ansatzweise erfüllt worden. Wir haben, je nachdem, wie wir es interpretieren wollen, die letzten vier, acht oder zwölf Jahre verschenkt. Das betrifft auch, aber nicht nur den Bereich Verkehr. Es ist in den Gesprächen klar geworden, dass es nicht ausreicht, nur hier und da einen Akzent zu setzen.

Welche konkreten Ziele sehen Sie mit der Ampelkoalition in Reichweite?
Im Bereich Verkehrssicherheit sind wir beispielsweise nah beieinander, was die Zielbeschreibung Vision Zero angeht. In der Vergangenheit haben sich die Hersteller erfolgreich um die Insassensicherheit in Fahrzeugen gekümmert. Vernachlässigt wurde allerdings die Umfeldsicherheit. Da gibt es ganz viele Ansatzpunkte auf der Bundes-, aber auch auf der EU-Ebene. Was die Sicherheit angeht, ist die EU ja normalerweise Treiber. Bei Technologien wie Lkw-Abbiegeassistenten kann und sollte die Bundesregierung – auch in der EU – mehr Druck machen.

Wo sehen Sie allgemeine Schwerpunkte in der Verkehrspolitik?
Viele Punkte finden sich im Koalitionspapier. Ein wichtiges Feld, das zu bearbeiten ist, ist neben der Verkehrssicherheit und der Antriebswende die Vernetzung der Mobilität. Bei der geteilten Mobilität etwa besteht die gemeinsame Einschätzung: Das ist ein großer Baustein der künftigen Mobilität. Die Zeit ist reif, die vorhandenen Angebote viel stärker zu vernetzen. Wir müssen uns generell fragen: Was haben wir schon? Was können wir wie besser nutzen?

Was braucht es konkret?
Wir brauchen bessere rechtliche Regelungen, Zuschüsse, mehr Personal, mehr Forschungsgelder und mehr Freiheiten für die Kommunen. Wir müssen ran an das Verkehrsrecht und den Bußgeldkatalog, und wir brauchen Forschungsgelder, nicht nur, wie in der Vergangenheit, für die Belange des Autos, sondern beispielsweise auch beim ÖPNV und im Bereich Mikromobilität. Natürlich brauchen wir auch mehr Radinfrastruktur, zum Beispiel entlang von Bundesstraßen, und eigenständige Radnetze. Und ganz wichtig: Wir müssen die Kommunen befreien und empowern.

Wo liegen die Herausforderungen in den Kommunen?
Alle sind sich beispielsweise über die Probleme im Klaren mit dem zunehmenden Wirtschaftsverkehr im städtischen Raum. Dazu kommt, dass wir auch die Infrastruktur schnell anpassen müssen, wenn wir mehr Radverkehr wollen. Der Bund kann beispielsweise bei der Finanzierung von Fahrradbrücken, Radparkhäusern oder beim Aufbau von zentralisiertem Know-how helfen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Förderung und der Kompetenzaufbau bei der DB für Fahrradparkhäuser an Bahnhöfen.

Wie stehen Sie als Berliner zur Zunahme der E-Kickscooter in der Stadt?
Ich denke, E-Scooter sind in der Mobilität eine gute Ergänzung, und oft habe ich das Gefühl, dass die Debatte schief ist. Wir empfinden über 1,2 Millionen zugelassene Pkw in Berlin als normal, einige Tausend E-Scooter sind dagegen ein Aufreger. Was wir aus meiner Sicht aber brauchen, ist eine gute Evaluation, aus der wir dann gezielt Maßnahmen ableiten können.

Welche Aufgaben sehen Sie in der Bundespolitik über das Verkehrsministerium hinaus?
Wir sehen aktuell beispielsweise die Versorgungsengpässe der Fahrradindus-trie. Hier könnte es eine Aufgabe des Wirtschaftsministeriums sein, dabei zu helfen, Teile der Produktion wieder nach Deutschland oder in die EU zu holen. Auch das betriebliche Mobilitätsmanagement und das Thema Mobilitätsbudget gehören mit auf die bundespolitische Agenda. Umweltfreundliche Mobilität sollte beispielsweise nicht länger steuerlich benachteiligt werden.

Was sagen Sie Kritikern, denen es nicht schnell genug geht?
Wir haben die Wahl nicht mit 51% gewonnen. Deshalb geht es darum, immer wieder Wege und auch zufriedenstellende Kompromisse mit den Ampelpartnern zu finden. Das gehört mit zur Wirklichkeit und es ist klar, dass wir da auch einen seriösen Umgang mit Konflikten finden. Mit zur Wirklichkeit gehört aber genauso: Mobilität ist nicht statisch. Das Thema ist schon aus Klimasicht enorm wichtig. Wir sind in der Pflicht. Paris, die 1,5-Grad-Grenze gelten für diese Ampelkoalition, das müssen wir gestalten – und wir werden den künftigen Verkehrsminister dabei unterstützen, den Pfad zum Klimaschutz seriös und zügig zu beschreiten.


Volker Wissing bezieht Stellung in Interview

In einem ersten Interview mit dem Fernsehsender Phoenix im Anschluss an die Vorstellung des Koalitionspapiers, das er als Generalsekretär der FDP wesentlich mit verhandelte, hat der designierte neue Bundesverkehrsminister Volker Wissing Stellung bezogen und erste Schwerpunkte gesetzt. Deutschland stehe im Bereich der Mobilität in den kommenden Jahren vor großen Herausforderungen. „Es sind enorme Veränderungsprozesse nötig. So wie es ist, kann es nicht bleiben“, erklärte Wissing im Fernsehsender. Es gehe künftig darum, die Balance zu wahren zwischen einer Klimaneutralität bei der Mobilität und den Bedürfnissen derjenigen, die auch künftig auf das Auto angewiesen seien. Gleichzeitig müsse man „den Bahnverkehr besser vertakten, wir brauchen einen Deutschland-Takt, und wir müssen gleichzeitig eine Ladesäulen-Infrastruktur aufbauen, die es jedem ermöglicht, mit Elektromobilität auch größere Strecken zurückzulegen“, so Wissing. Auch müsse die neue Koalition eine Antwort auf die Frage finden, wie die Menschen im ländlichen Raum mobil bleiben könnten. „Politik ist ein Inklusionsauftrag. Wir müssen jeder und jedem ein Angebot machen“, ist der FDP-Politiker überzeugt. Die neue Ampelkoalition werde das Land modernisieren und besitze den Mut, diese große Aufgabe auch anzugehen. „Wir werden das nicht so machen, dass wir die Menschen überfordern, aber wir werden es in dem Maße tun, wie es das Land braucht“, so Wissing. Es gelte, die sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren und sowohl Arbeitsplätze wie auch die Zukunft der jungen Generation zu sichern.

Über Volker Wissing

Stand Redaktionsschluss ist der FDP-Generalsekretär Volker Wissing designierter Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur. Der gebürtige Rheinland-Pfälzer bringt seit 2016 Ampel-Erfahrung aus seinem Heimatbundesland mit und gilt als einer der zentralen Architekten der Koalition.
Medienberichten zufolge hat er im rot-gelb-grünen Kabinett bis Mai dieses Jahres einen respektablen Landesminister für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau sowie stellvertretenden Ministerpräsidenten abgegeben. Auf den ersten Blick deutlich spröder als sein Vorgänger Andreas Scheuer gilt der Vollblutjurist, der unter anderem als Richter am Landgericht Landau tätig war, als guter Redner, inhaltlich qualifiziert und in Unternehmerkreisen geschätzt. In ersten Äußerungen war ihm anzumerken, dass das BMVI nicht sein Wunschministerium ist. Seine Aufgabe sieht er nach eigenen Aussagen darin, das Land insgesamt wieder nach vorne zu bringen. Auf deutlichen Widerspruch stießen seine kürzlich gegenüber der Bild-Zeitung getätigten Aussagen, höhere Energiesteuern auf Dieselkraftstoffe durch geringere Kfz-Steuern auszugleichen.


Bilder: stock.adobe.com – monika pinter/EyeEm, Sedat Mehder, Stefan Kaminski, Volker Wissing

Bürger*innen in Deutschland greifen zu Farbe und Pinsel und malen sich Verkehrswege einfach selbst. Damit machen sie ihrer Frustration über die Verkehrsplanung Luft – und ernten gemischte Reaktionen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Eine dicke weiße Linie schlängelt sich die Landstraße zwischen zwei Ortsteilen der brandenburgischen Stadt Kyritz entlang. Neben der zwei Kilometer langen Linie lassen schemenhaft gezeichnete Fahrräder und Fußgänger erahnen, was hier passiert ist. Unbekannte hatten im August dieses Jahres den zwei Verkehrsspuren über Nacht eine dritte abgerungen. Bestehen blieb sie nicht. Hohe mediale Wellen hat sie dennoch geschlagen, berichtet Harald Backhaus. Er ist Ortsvorsteher des Ortsteils Berlitt, den die Unbekannten mithilfe der improvisierten Markierungsarbeiten mit Rehfeld verbinden wollten.

Medial kommen die Malaktionen gut an. Auch bei Satiriker Jan Böhmermann. Der spottete auf Twitter über einen Artikel zum Radstreifen in Kyritz, der eine Polizei-Sprecherin zitierte, dass man zum Motiv der Verursacher noch gar nichts sagen könne. „WAS NUR könnte das Motiv der Fahrrad-Banditen sein?“

Was tun, wenn es keine geschützte Radroute gibt?

Die Idee eines Radwegs zwischen den zwei Ortsteilen ist nicht neu. Seit 15 Jahren gibt es politische Bestrebungen, eine bessere Verbindung für Radfahrerinnen zu schaffen. „2021 sollte jetzt etwas passieren, dann gab es aber wieder keine Fördergelder. Das ist sehr unbefriedigend. Vor diesem Hintergrund passte diese Aktion so richtig gut“, sagt Backhaus. Eine Verkehrszählung ergab 2014, dass die Kreisstraße rund 1.000 Fahrzeuge pro Tag befahren. Ab 3.000 Fahrzeugen hätte man einen höheren Förderanspruch, so Backhaus. Für einen Fahrradweg fahren also zu wenige Autos durch das größtenteils von Wald geprägte Gebiet. Weiteres Problem: 15 Landbesitzer müssten Fläche abgeben, um neben der Straße einen Radweg bauen zu können. „Wenn einer von denen Nein sagt, stirbt das Projekt“, so Backhaus. Im Gegensatz zum Ortsvorsteher war der Kreis allerdings nicht sonderlich begeistert und ließ die Farbe schnell wieder abfräsen. Vor allem die Tatsache, dass die aufgebrachte Farbe nicht wasserlöslich war, scheidet die Geister. Die Täterinnen wurden laut Brandenburger Polizei bislang nicht gefunden und so bleibt der Kreis auf den Reinigungskosten von rund 5.000 Euro sitzen. Wenn es kein Geld kostet, erzeugt es keine Aufmerksamkeit, meinen einige. Harald Backhaus kann die Frustration nachvollziehen, die zu der Tat geführt haben könnte. Mit einer Petition für einen neuen Radweg sammelte er in diesem Jahr über 400 Unterschriften in Berlitt und einem Nachbarort. „Man hört immer: Das Rad ist das Verkehrsmittel der Zukunft, die Wege müssen ausgebaut werden. Wenn man dann sieht, was davon auf dem Land ankommt, ist man natürlich enttäuscht.“ Was er will, weiß Ortsvorsteher Backhaus sehr gut. Ein neuer Radweg soll auf einer stillgelegten Bahntrasse entstehen, die ohnehin schon der Stadt gehört.
Vom Landkreis heißt es dazu, dass der völlig andere Stellenwert des Radverkehrs im Alltag außerhalb von Ballungsräumen ein sehr neues Phänomen sei, der ein Umdenken erfordere. Bislang lag der Fokus auf dem touristischen Radverkehr, der sich auf besonders attraktive Regionen des Kreises konzentrierte. Dort wurden für rund 5 Millionen Euro verschiedene Radwege modernisiert. 2022 soll nun ein Radverkehrskonzept erarbeitet werden, das sich auf den Alltagsverkehr fokussiert. Zwischen den Stadtteilen Berlitt und Rehfeld soll in den kommenden Jahren ein Wanderweg mit einer gebundenen Decke für den ganzjährigen Radverkehr ertüchtigt werden.

Auch Berliner Kiez-Bewohner greifen zum Pinsel

Menschen vor dem Autoverkehr zu schützen, fordert auch eine Berliner Gruppe. Die Mitglieder des Kiezblocks Vineta wollen ihr Umfeld nachhaltiger, ruhiger und sicherer gestalten. Mit einem Anwohnerantrag soll motorisierter Durchgangsverkehr ausgeschlossen werden. Im August hat eine Handvoll Anwohner selbst zu Pinsel und Farbe gegriffen. Sie bemalten die Parkverbotszone einer viel befahrenen Kreuzung mit Schraffuren und Fußgängerbereichen. „Wir haben bewusst am helllichten Tag angefangen. Die Reaktionen waren sehr positiv. Nur eine Person rief die Polizei, die die Aktion dann beendete. Die Kreuzung war exemplarisch für uns, da Kinder hier ihren Schulweg gehen. Außerdem herrscht viel Durchgangsverkehr von Leuten, die durch den Kiez abkürzen“, erklärt ein Mitglied der am Jahresanfang gegründeten Gruppe. Die Aktion generierte Aufmerksamkeit und brachte einen Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von 2017 wieder auf die Tagesordnung. Die BVV hatte in diesem entschieden, dass Kreuzungsvorzüge sichtbar gemacht und mit Markierungen und Pollern geschützt werden sollten. Dass der Beschluss noch nicht umgesetzt worden ist, wundert das Kiezblock-Mitglied. „Das Aufmalen ist kein großer Aufwand. Aus stadtplanerischer Sicht sollte man das überall machen. Das Parken ist fünf Meter vor der Kreuzung ohnehin verboten.“


Kiezblocks

Kiezblocks sind Stadtquartiere, in denen durchgehender Kfz-Verkehr ausgeschlossen wird. Der Verein Changing Cities möchte für Berlin 180 dieser Blocks einrichten undunterstützt die lokalen Gruppen bei ihrer Arbeit. Als Vorbild dienen die Superblocks in Barcelona und die Kompartments in den Niederlanden.


Bilder: Vineta-Kiezblock, Polizei Brandenburg, Screenshot Changing Cities

Eine Möglichkeit zur Entzerrung der Pendlerströme sehen Expert*innen unter anderem in der verstärkten Nutzung von schnellen S-Pedelecs/E-Bike 45. Um neue Potenziale zu erschließen, bringen Hersteller Innovationen, wie weitgehende Wartungsfreiheit, höhere Reichweiten, Blinker sowie eine adaptive Anpassung der Höchstgeschwindigkeit. Mit Letzterem ließen sich die bislang starren gesetzlichen Klassifizierungen auflösen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


S-Pedelecs funktionieren wie normale E-Bikes: Beim Pedalieren steuert ein Motor im Tretlager oder Hinterrad Kraft bei. Doch anders als das normale Pedelec schaltet der Motor nicht bei erreichten 25, sondern nach EU-Regelung bei maximal 45 Stundenkilometern ab. Realistische Reisegeschwindigkeiten bewegen sich in der Regel zwischen 30 und 35 km/h. Das S-Pedelec ist damit potenziell ein perfekter Autoersatz für Pendler auf Strecken von etwa 5 bis 25 Kilometern Länge. In Citys und Ballungsräumen sind die schnellen E-Bikes potenziell sogar schneller als Autos, die dort eine Durchschnittsgeschwindigkeit von gerade einmal 20 Stundenkilometern erreichen.

Ideales Verkehrsmittel für Pendler

Das S-Pedelec oder E-Bike 45 hat, anders als das normale E-Bike 25, rechtlich keinen Fahrradstatus, sondern wird in die Kleinkraftrad-Kategorie eingestuft (Klasse L1e-B). Neben Zulassung, Versicherungskennzeichen und Führerscheinpflicht hat das hierzulande auch infrastrukturell weitreichende Folgen: Es darf nicht auf Radwegen und auf für Fahrzeuge
gesperrten Straßen, wie Wirtschaftswegen fahren. Eigentlich müssten Fahrer*innen damit in der Praxis beispielsweise auch auf Bundesstraßen fahren, wo zum Teil eine Tempobegrenzung von 100 km/h gilt, selbst wenn nebenan ein breit ausgebauter Radweg oder Radschnellweg vorhanden ist. Oft müssen auch große Umwege im Kauf genommen werden, wenn man legal unterwegs sein möchte. All das sind Gründe, warum das S-Pedelec auf dem deutschen Markt im Gegensatz zu anderen Ländern wie der Schweiz oder den Beneluxländern fast nicht vertreten ist. In einem Hintergrundpapier des VCD wird daher eine Freigabe geeigneter Radwege und Radschnellwege inner- und außerorts für S-Pedelecs gefordert. Die VCD-Sprecherin Anika Meenken fasst es so zusammen: „Das Potenzial von S-Pedelecs wurde bislang vernachlässigt, und das können und dürfen wir uns nicht länger leisten. S-Pedelecs sind eine sinnvolle und wirksame Ergänzung für einen klima- und gesundheitsfreundlichen Mobilitätsmix – sofern die Politik die passenden Rahmenbedingungen schafft.“

„Die Verkehrswende braucht das S-Pedelec – und die Akzeptanz des schnellen E-Bikes nimmt weiter zu.“

David Eisenberger, ZIV

Deregulierung brächte Vorteile für alle

Auch beim Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) sieht man die Möglichkeiten des schnellen E-Bikes derzeit nicht ausgereizt. „Vor allem auf Strecken außerhalb von Ortschaften könnten S-Pedelecs aufgrund ihrer höheren Geschwindigkeit viele Autofahrten ersetzen, wäre diesen Rädern die sichere Nutzung nicht rechtlich verwehrt“, so David Eisenberger vom ZIV. Außerhalb von Ortschaften könne man sich aufgrund der hohen Geschwindigkeitsunterschiede zwischen Lkw, Pkw und E-Bikes auf einer gemeinsamen Fahrbahn nicht sicher fühlen. Meist ernte man völliges Unverständnis, wenn man regelkonform die Straße statt des Radwegs nutze. „Dabei profitierten auch Pkw-Fahrende von einer verstärkten Nutzung der schnellen Räder. Daher sollte auch der Autolobby daran gelegen sein, das Regelwerk zu ändern.“ Der ZIV wirbt als Radfahrer-Lobby der Indus-trie öffentlich, aber auch im direkten Kontakt mit Politikern „hinter geschlossenen Türen“ zunächst, insbesondere für die Änderung der Radwegnutzung außerhalb von Ortschaften. „Wir sind zuversichtlich, dass es bald eine Lösung geben wird. Die Verkehrswende braucht das S-Pedelec – und die Akzeptanz des schnellen E-Bikes nimmt weiter zu“, sagt David Eisenberger.

„Wir arbeiten daran,

die Stimme der Industrie

stärker zu machen.“

Ties Carlier, Van Moof

Dynamische Regelungen als neuer Lösungsansatz

Was wäre, wenn man mit technischer Hilfe die Maximalgeschwindigkeit entsprechend den äußeren Bedingungen anpassen könnte? Diese Frage werfen BMW sowie VanMoof, ein dynamisch wachsender niederländischer E-Bike-Hersteller, auf. VanMoof überraschte jüngst mit der Ankündigung, dass der Antrieb des neu vorgestellten S-Pedelec-Modells „V“ nicht EU-konform bei 45 km/h, sondern erst bei 50 km/h abgeregelt werden solle. Eine integrierte elektronische Anpassung der möglichen Höchstgeschwindigkeit solle zudem automatisch die Kompatibilität des „Hyperbikes“ für die jeweils vor Ort geltende Regelung gewährleisten.
Die VanMoof-Gründerbrüder Ties und Taco Carlier fordern dazu in einer Pressemitteilung Gesetzgeber und Stadtverwaltungen auf, die E-Bike-Vorschriften zu überarbeiten, um die Entwicklungen im Bereich S-Pedelec als Pendlerfahrzeug voranzutreiben. „Auch auf EU-Ebene arbeiten wir daran, die Stimme der Industrie stärker zu machen.“
Ein ganz ähnliches E-Bike-Konzept zeigte BMW kürzlich mit einer Studie auf der Messe IAA Mobility. Drei Fahrstufen mit maximal 25, 45 oder 60 km/h soll das Konzept-E-Bike „BMW i Vision Amby“ bieten und in der stärksten Stufe eine Reichweite von bis zu 75 Kilometern. Amby steht dabei für „Adaptive Mobility“. Eine manuelle Wahl der Fahrstufe soll ebenso denkbar sein, wie die automatische Erkennung von Position und Straßentyp per Geofencing-Technologie und eine damit verbundene automatische Anpassung der Höchstgeschwindigkeit. Da es die rechtlichen Rahmenbedingungen für derartige Fahrzeuge mit modularem Geschwindigkeitskonzept noch nicht gibt, wollen die Hersteller Möglichkeiten aufzeigen und einen Impuls für neue Gesetze geben. „Überall brechen scheinbar feste Kategorien auf – und das ist gut“, so Werner Haumayr, Leiter der BMW Group Designkonzeption. „In Zukunft sollen nicht Einteilungen wie ‚Auto‘, ‚Fahrrad‘ und ‚Motorrad‘ bestimmen, was wir denken, entwickeln und anbieten. Vielmehr gibt uns dieser Paradigmenwechsel die Möglichkeit, Produkte an den Lebensgewohnheiten von Menschen auszurichten.“

„In Zukunft sollen nicht Einteilungen wie ‚Auto‘, ‚Fahrrad‘ und ‚Motorrad‘ bestimmen, was wir denken, entwickeln und anbieten.“

Werner Haumayr, Leiter der BMW Group Designkonzeption
„Mit dem BMW i Vision Amby, dem ersten High-Speed-Pedelec für Urbanisten, präsentiert die BMW Group einen visionären zweirädrigen Lösungsansatz für die urbane Mobilität von morgen“, heißt es in der Pressemitteilung von BMW. Ein Schwestermodell aus dem Motorradsegment als Studie und verschiedene Serien-E-Roller sollen das Angebot komplettieren.

Lösung: Geschwindigkeiten regional anpassen

Mit Geofencing-Technik und einem entsprechenden Netzwerk würden die neuen E-Bikes so gesteuert, dass sie auf dem Radweg innerorts nur bis maximal 25 km/h unterstützen, auf freigegebenen Strecken etc. aber deutlich schneller sind. Dass sich die Gesetzgeber auf Länder- bzw. EU-Ebene in Kürze mit entsprechenden Regelungen beschäftigen, ist wenig wahrscheinlich. Leichter als vielfach gedacht, ist es dagegen für Stadtverwaltungen für Verbesserungen zu sorgen. Wie das Beispiel des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer zeigt, ist es in den Gemeinden mit wenig Aufwand möglich, Radwege für den S-Pedelec-Verkehr freizugeben und das Rad-Pendeln damit wesentlich zu erleichtern.

Viel Kraft, hohe Reichweite und extrem wartungsarm: S-Pedelecs der neuesten Generation, wie das Klever X Alpha, sind für viele ein echter Autoersatz.

Kraftvoll, wartungsfrei, innovativ und mit hoher Reichweite

Insgesamt hat sich bei der aktuellen Generation der S-Pedelecs inzwischen eine Menge getan. Die schnelle Klasse hat inzwischen bei vielen Herstellern einen festen Platz im Programm, unter anderem auch als Lastenrad. Auf kraftvolle Bikes als echte Auto-Alternative für Vielfahrer und Pendler haben sich beispielsweise Stromer aus der Schweiz und Klever Mobility, Tochter der weltweit für Motorroller bekannte Kymco Unternehmensgruppe spezialisiert. Beim neuen Spitzenmodell X Alpha setzt Klever erstmals einen 800 Watt starken Heckmotor für „echte 45 km/h“, so der Hersteller, ein. Der wird mit einem 12-Gang-High-End-Getriebe von Pinion und Riemenantrieb kombiniert. Damit ist das E-Bike enorm stark und zudem besonders wartungsarm. Der 1.200-Wh-Akku soll laut Hersteller bei maximaler Motorunterstützung für 70 Kilometer Reichweite selbst unter widrigen Bedingungen sorgen. Von außen zeigen EU-konforme Blinker, dass es sich hier nicht um ein normales Pedelec handelt. Und warum kein E-Roller? „Mit einem S-Pedelec bleibt man immer in Bewegung und gesund“, betont Niklas Lemm von der europäischen Klever Zentrale in Köln. „S-Pedelecs sind ideal als Ganzjahresfahrzeug für Pendler, weil man im Winter nicht friert und im Sommer nicht schwitzt.“ Mit der richtigen Bereifung, modernster Beleuchtung und guter Kleidung und Hightech-Helmen ist man auch in der dunklen Jahreszeit sicher unterwegs.


Bilder: BMW Group, ZIV, Vanmoof

Corona, Klimakrise, Verkehrschaos: Kommunen spüren immer deutlicher, dass der Ausbau von Radinfrastruktur schneller vorankommen muss. Warum dauert es oft so lange, und was könnte die Umsetzung beschleunigen? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Eine Spiegel-Meldung aus dem Juni karikierte die aktuelle Planungssituation geradezu: „Bahn baut 83 Oberleitungsmasten auf geplante Radschnellweg-Trasse“, hieß es da. Gemeint war der Radschnellweg Ruhr, der quer durch das Ruhrgebiet laufen soll, von Duisburg nach Hamm. In der Broschüre des Verkehrsministeriums von 2016 wird er als „ab 2020 durchgängig befahrbar“ angekündigt. Derzeit gibt es von geplanten gut 110 Kilometern allerdings nur rund 14 Kilometer, einen großen Teil zwischen Mühlheim und Essen. Man scheint so an den Planungs- beziehungsweise Umsetzungsstillstand gewöhnt, dass die schnelle Alternative für Radfahrende praktisch „vergessen“ wurde. Damit wurden Fakten geschaffen und die Radschnellweg-Route muss wieder umgeplant werden.
Vor dem Hintergrund der langwierigen Prozesse hat sich der Fokus der Diskussionen inzwischen verschoben: Den Verkehrs- und Fahrradinitiativen geht es heute kaum mehr um den „richtigen“ Modus, in dem sich die Radinfrastruktur innerstädtisch darstellt. Farblich gekennzeichneter Radweg auf der Fahrbahn, straßenbegleitend oder Protected Bike Lane als Königsweg – diese Fragen sind in den Hintergrund gerutscht. „Es muss jetzt etwas passieren“, hört man von den Sprecher*innen der Verbände.

„Politisch-strategisches Denken kann Vorgänge beschleunigen.“

Ralph Kaulen, Stadt- und Verkehrsplanung Kaulen

Beschleunigung durch strategische Lösungen

Auch der Leiter des Stadt- und Verkehrsplanungsbüros Kaulen in Aachen, Ralf Kaulen, sieht ein drängendes Zeitproblem. „Bei der Analytik, bei den Zielen Verkehrssicherheit und Klimaschonen herrscht Konsens. Zoff gibt’s, sobald die entsprechenden Maßnahmen geplant werden. Konkret ist es immer die Aufteilung des Platzes. Und da sind Rechtsstreite nicht selten. Schnell könnten zehn Jahre vergehen, bevor es weitergeht. In NRW sei zudem das Kommunalabgabengesetz des Landes problematisch, mit dem Anrainer finanziell an baulichen Veränderungen beteiligt werden. „Dieses Gesetz muss weg“, so die klare Stellung Kaulens. Es führe zu Scheindiskussionen und verschleppe Entscheidungen.
Ein weiterer problematischer Punkt ist für ihn die Platzumverteilung – vor allem auch das Abstellen und Parken von Fahrzeugen. „Ich muss den Menschen erklären können, wo sie in Zukunft ihre Autos lassen – und zwar, bevor ich anfange, die Parkplätze abzubauen“, so Kaulen.
Ein Katalysator hierbei: politisch-strategisches Denken. So nennt er als Beispiel den Leiter des Mobilitätsreferats in München, Georg Dunkel, der viel auf Aufklärung setzt, aber auch sehr strategisch vorgeht, um Entscheidungen zu beschleunigen: Er zeigte, dass die unvermeidliche Parkplatzumwidmung für eine neue Radachse, die durch eine Flanier- und Einkaufsmeile führt, wesentlich besser zu argumentieren ist, als eine Alternative durch ein Wohnviertel. Dort wären 2.000 Parkplätze wegfallen, so nur 900. Das Votum für die Route durch die Flaniermeile war entsprechend eindeutig. Und wie sieht Kaulen Pop-up-Radwege als Beschleuniger? „Dieser Pragmatismus ist gut, aber es geht letztendlich immer um die Knotenpunkte“, sagt der Planer. „Sie machen den Stress, hier muss man zuerst ansetzen und sie sicher gestalten.“

Integrativ denken, Tempo verringern

„Umsetzung von Infrastruktur-Plänen geht nicht von heute auf morgen“, warnt Burkhard Horn, manche Prozesse bräuchten einfach ihre Zeit. Der „oberste Verkehrsplaner von Berlin“, so ein Bericht in der Berliner Zeitung aus seiner Zeit in der Hauptstadt, hat 25 Jahre in Verwaltungen gearbeitet und ist heute freiberuflicher Berater an der Schnittstelle von Verkehrspolitik und Verkehrsplanung. „Manchmal tun sich Menschen in der Verwaltung schwer mit neuen Dingen, aber auch der Politik fällt es nicht leicht, Konflikte auszutragen.“ Grundsätzlich warnt er davor, sich auf die alleinige Umsetzung von Infrastrukturplänen zu konzentrieren und dabei das große Ganze aus dem Blick zu verlieren. Denn das könne eine Sackgasse sein. Beispiel: Auch hoch frequentierte innerstädtische Straßen sind oft zu schmal, um dort Radwege unterzubringen. „Hier hilft es beispielsweise, Tempo 30 anzuordnen, soweit das die StVO an der jeweiligen Stelle zulässt“, so Horn. „Integrativ zu denken ist immer gut.“ Und: Was man schnell umsetzen könne, das sollte man auch sofort tun, wie eben Tempo 30. „Damit Veränderung sichtbar wird.“ Der politische Wille werde so von der Öffentlichkeit erkannt und aus dem Erfolg provisorischer Veränderungen könne man lernen. Das Zurücknehmen von einfachen Veränderungen ohne großen baulichen Einsatz, wie etwa einem Pop-up-Radweg, sei ist kein Problem – falls es denn nötig werden sollte.

Bei breiten Straßen unproblematisch für Entscheider wie Planer: Radwege, die einen vollen Fahrstreifen einnehmen, sind sicherer und komfortabler als hinzu gezwängte Radspuren.

Zeichen setzen mit pragmatischen Lösungen

Sind Pop-up-Lösungen und Umweltspuren politisch verträglicher als die Neuplanung von Radwegen? Das sehen heute viele Experten und Verbände wie der ADFC in Düsseldorf so. In der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt wurden beispielsweise im Sommer 2020 auf der den Rhein aus der Innenstadt heraus begleitenden Cecilienallee Pop-up-Radwege angelegt. Eine knappe Fahrspur der vierspurigen Straße wurde mit Warnbaken abgegrenzt und für den Radverkehr in Richtung der stark frequentierten Deich-Radwege umgewidmet. „Vom Grundsatz her fanden wir diesen pragmatischen Ansatz gut“, sagt Lerke Tyra, stellvertretende Vorsitzende des ADFC Düsseldorf, „auch wenn wir gern bei der Ausführung beraten hätten. Und auch die Umweltspuren waren von der Idee her gut.“ Dafür waren 2018 auf mehreren Straßen der Innenstadt die rechte von zwei Fahrspuren vorübergehend auf Bus-, Taxi- und Radverkehr umgewidmet worden – was dem damaligen OB Geisel neben viel Lob auch verärgerte Stimmen einbrachte. „Diese Umwidmungen waren ein pragmatisches, schnell umsetzbares Zeichen, dass der politische Wille da ist. Wir wünschen uns zwar eigene Radspuren für mehr Sicherheit und auch mehr Sicherheitsempfinden bei den Radfahrerinnen“, so Tyra, „aber es war ein echter Anfang.“ Beim Düsseldorfer ADFC findet man, dass sich Deutschland nicht nur bei der Form der Radinfrastruktur, sondern auch in deren Entwicklung und Ausbau viel von den Niederlanden abschauen könnte. Lerke Tyra bekommt in Besprechungen mit Expertinnen aus den Niederlanden immer wieder zu hören: „Ihr plant für die Ewigkeit, macht doch einfach mal.“ Damit es schneller geht, sitzt der ADFC in Düsseldorf zusammen mit einem Vertreter des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) in der sogenannten Kleinen Kommission Radverkehr. Hier wird dem Verkehrsausschuss zugearbeitet und die dortige Entscheidungsfindung vorbereitet. Diese Gremienstruktur bringt bereits Zeitersparnisse bei den Entschlüssen.

„Was man schnell umsetzen kann, sollte man auch sofort tun. Damit Veränderung sichtbar wird.“

Burkhard Horn, Berater und Verkehrsplaner

Schnelle Lösungen ohne große bauliche Veränderungen. Die geschützten Radwege in Berlin haben Vorbildfunktion und Signalwirkung.

Einfach mal etwas weglassen?

Wie wäre es mit Pragmatismus bei der baulichen Ausführung der Strecken? Kann man den Bau nicht beschleunigen, indem man „nicht für die Ewigkeit“ baut? Wäre es zum Beispiel beschleunigend für die Fertigstellung des Radschnellwegs Ruhr, bestimmte Abschnitte nicht zu versiegeln? Praxisgerecht wäre das nicht, so Planer Kaulen: „Die bauliche Ausführung macht zeitlich kaum einen Unterschied mehr. Der Weg muss ohnehin so aufgebaut sein, dass dort auch Wartungs- und Rettungsfahrzeuge fahren können. Ob auf den entsprechenden Unterbau nun eine Asphaltdecke oder eine wassergebundene Decke kommt, ist von der Bauzeit her sekundär.“ Außerdem sei, gerade auf Radschnellwegen, die fehlende Asphaltdecke aus Sicht der Radfahrenden eine starke Qualitätseinbuße.

„Einfach mal anfangen. Die Anfeindungen waren anfangs unglaublich, jetzt sind fast alle zufrieden.“

Reinhold Goss, Bicycle Mayor, zur preisgekrönten Initiative #RingFrei

Besser: Pragmatismus als Mut, schnell zu handeln

Im Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin läuft derzeit in Zusammenarbeit mit drei Kommunen ein Projekt zum Thema „Radverkehrsförderung beschleunigen, Planungsprozesse optimieren.“ „Was hemmt den Ablauf, was können Kommunen tun?“, fragt Projektleiter Thomas Stein. „Den Städten ist bewusst, dass es an vielen Stellen an geeigneter Infrastruktur mangelt. Für uns haben wir schon einen wichtigen Punkt herausgearbeitet: Wir müssen Akteure besser zusammenbringen.“ So soll auf Grundlage der Projektarbeit ein Leitfaden-Baukasten für die Kommunen entstehen. Redundante Diskussionen sind oft auch ein Organisations- und Informationsproblem, stellte man fest. Planende und anordnende Abteilungen sollten deshalb grundsätzlich zusammengeführt werden, auch räumlich. Das breite Interesse dafür ist da: Ein Beirat aus 15 Städten unterstützt das Projekt.
Temporäre Lösungen, wie Pop-up-Radwege sind auch hier ein zentraler Punkt. „Erst mal Dinge auf die Straße bringen, dann sehen, was ich damit erreichen kann. Die sogenannte Erprobungsklausel in der StVZO macht es möglich. Pragmatismus folgt aus dem Mut zu handeln“, betont Difu-Experte Thomas Stein.

Entspannt und sicher unterwegs. Der RS1, Radschnellweg Ruhr, wird sowohl werktags von Pendlern als auch am Wochenende viel frequentiert.

Evaluation fördert die Akzeptanz

„Ein numerischer Nachweis von Erfolg im Nachgang ist für die Überzeugungskraft von mutigen Entscheidungen aber oft wichtig“, ergänzt Thomas Stein. Evaluationen der Ergebnisse einer Umstrukturierung seien meist auch relativ einfach zu erhalten. So hat die Technische Universität Dresden einen Leitfaden zur Evaluierung von Radverkehrsanlagen erarbeitet. Sie verweist auf die klassische Verkehrszählung mit mobilen Radargeräten oder den typischen Fahrradzählsäulen. Oft können Städte auch durch Partnerschaften mit Bike-Pendler-Apps, wie Bike Citizens, bereits ohnehin auf viele Daten zum Radverkehr zurückgreifen. Weitere Partner können digitale Sportler-Tracking-Portale mit Handy-Apps wie Strava sein. Allerdings muss dabei zwischen Routen, die vor allem von Freizeitfahrerinnen und Sportlerinnen genutzt werden, und Alltags- beziehungsweise Pendlerstrecken bei der Auswertung unterschieden werden.

Köln: „Pragmatismus ist
Bürger-Mitverantwortung“

Der Umbau des Kölner Sachsenrings ermöglichte eine sichere und schnelle Route vom Westen in die Südstadt.

Nach einer Reihe schlimmer, zum Teil tödlicher Unfälle zwischen Autofahrenden, Radfahrenden und zu Fuß gehenden am Kölner Innenstadtring gründete Reinhold Goss 2016 zusammen mit Mitstreiter*innen, unter anderem aus dem Einzelhandel, die Initiative #RingFrei. Sie setzte sich das Ziel, den Ring, der lange Zeit gleichzeitig Flanier- und Autoposer-Meile war, für alle sicherer und attraktiver zu machen. „Wir trafen nach den Unfällen den Nerv der Zeit“,
erzählt der heutige ehrenamtliche Fahrradbürgermeister der Stadt Köln. Die Bezirksvertretung stellte sich schnell hinter ein 10-Punkte-Papier der Initiative: Von „Tempo 30“, „Umwidmung einer ganzen Fahrspur“ bis hin zu einer begleitenden Kampagne „Radverkehr ist Verkehr“ waren viele wichtige Forderungen darin. Und man ging schnell praktisch an die Sache. Ein Workshop mit verschiedenen Verbänden, der Polizei und Vertretern des Verkehrsausschusses fing 2016 an zu entwickeln. Auch wenn die Verwaltung nach Reinhold Goss zunächst wenig Elan für Veränderungen zeigte, gab es schnell Fortschritte. Ein Aktionstag im September 2017 bestätigte in der Praxis auf einer Strecke von 800 Metern, wie der Kölner Ring fahrradfreundlich werden könnte. „Der Aktionstag war ein voller Erfolg“, so Goss. „2018 wurden dann die ersten Abschnitte des Rings umgebaut, die rechte Fahrspur zur Fahrradspur umgewidmet.“ Er schränkt ein: „Es ist aber heute noch ein Flickenteppich. Wir sind bei 80 Prozent Umsetzung, aber an die wirklich gefährlichen Stellen trauen wir uns noch nicht ran.“ Was ist für ihn das Learning aus dieser Entwicklung? „Wir brauchen zunächst die richtige Vorgehensweise“, resümiert Goss. „Dazu müssen wir immer wieder erst ausprobieren!“ So wie beim Aktionstag, der tatsächlich sehr schnell auch Zweifler überzeugen konnte. „Einfach mal anfangen. Die Anfeindungen waren anfangs unglaublich, jetzt sind fast alle zufrieden“, sagt er. Und die Verwaltung sei stolz, dass man das so gut hinbekommen hat. Ein weiteres Learning: Standards, die für Radverkehr selbstverständlich sind, müssen gleich mitgedacht werden. „Da ist zum Beispiel das freie Rechtsabbiegen an der roten Ampel für den Radfahrer. Wir müssen so weit kommen, dass diese Dinge in die Planung integriert werden.“ Und Tempo 30 sollte immer eine Basis sein. „Die Unfallquote ist jetzt sehr gering. Aber die Hauptsache“, resümiert der Kölner Fahrradbürgermeister, „Pragmatismus ist Bürger-Mitverantwortung.“


Bilder: Georg Bleicher, Philipp Boehme, Reinhold Goss, Stadt- und Verkehrsplanungsbüro Kaulen SVK