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Der Verkehrsausschuss von Nordrhein-Westfalen ist am 20.11.2019 einstimmig dem Antrag der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ gefolgt. Der Mobilitätswandel pro Fahrrad soll gestaltet und in einem Fahrradgesetz festgeschrieben werden. NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst zufolge wird das Projekt mit hoher Priorität vorangetrieben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Zu den Hintergründen und Plänen haben wir mit Dr. Ute Symanski gesprochen. Die Kölner Organisationssoziologin, -beraterin und politische Aktivistin hat sowohl den Kongress Radkomm – Kölner Forum Radverkehr als auch Aufbruch Fahrrad mitinitiiert und geprägt. Als Vertrauensperson begleitet sie den weiteren Prozess.

Was waren Ihre Erwartungen beim Radgesetz und sind sie erfüllt worden?
Unsere Erwartungen sind mehr als erfüllt worden. Wir hätten tatsächlich nicht gedacht, dass es den Beschluss gibt, ein Fahrradgesetz für NRW zu machen. Wir haben neun Forderungen aufgestellt und als Zusatz den Wunsch, dass diese Forderungen in ein Fahrradgesetz überführt werden. Das haben wir bewusst abgeschwächt, weil wir es nicht fordern, aber trotzdem in den Raum stellen wollten. Es war dann überwältigend für uns zu hören, dass unsere Forderungen tatsächlich gesetzlich verankert werden sollen.

Sie haben dazu die „Volksinitiative Aufbruch Fahrrad“ gegründet. Was macht die Initiative aus?
Mit der Initiative Aufbruch Fahrrad verbindet sich viel mehr als einfach nur eine Unterschriftensammlung. Zum einen wollten wir gegenüber der Politik und der Verwaltung beweisen, dass es wirklich sehr viele Menschen im Land gibt, die dafür ihre Stimme geben. Das konnten wir nur mit einer Unterschriftensammlung. Zweitens wollten wir ein Bündnis schmieden und die zivilgesellschaftlichen Akteure, die etwas mit Umweltschutz, Nachhaltigkeit oder Mobilität zu tun haben, zusammenführen. 215 Vereine und Verbände und Initiativen sind mit dabei – ein ganz breites Spektrum, von den großen Organisationen wie dem ADFC oder VCD bis hin zu kirchlichen Initiativen oder Sportvereinen. Wir wollten nach außen zeigen, dass es viele sind, aber auch, dass die Menschen das untereinander mitbekommen und ihnen klar wird, dass sie durchaus eine zivilgesellschaftliche Macht haben. Deshalb ist es auch ein Aktionsbündnis und ein Netzwerk.

Sie haben 207.000 Unterschriften gesammelt. Das ist ein enormes Ergebnis. Haben Sie damit gerechnet?
66.000 Unterschriften mussten gesammelt werden und dass wir das schaffen, daran habe ich nie gezweifelt. Aber das wir dann unser Wunschziel von 100.000 Unterschriften mit 207.000 so deutlich getoppt haben, damit bin ich wirklich glücklich. Ich merke auch, dass das eine Zahl ist, die im Land und vor allem in der Politik richtig Eindruck macht.

Wie schätzen Sie die Ergebnisse der Unterschriftensammlung ein?
In der Politik wird die Zahl der Unterschriften sehr hoch gewertet, weil man weiß, dass sie ohne einen Lobbyverband im Rücken zustande gekommen ist und jede Unterschrift umgerechnet in Aufwand einen Euro kostet. Wir haben das alles ehrenamtlich gemacht. Dazu kommt, dass es kein Leitmedium in NRW gibt und wir deshalb wahnsinnig viel Netzwerkarbeit machen mussten.

Feierlaune nach Monaten harter Arbeit bei den Aktivisten der Volksinitiative – und auch eine herzliche Umarmung von Ute Symanski mit NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst fehlt nicht.

Was macht die Zustimmung der Politik in NRW zur Volksinitiative zu etwas Besonderem?
Aufbruch Fahrrad ist die erfolgreichste Volksinitiative in NRW, in dem Sinne, dass der Landtag noch nie die Forderungen einer Volksinitiative vollständig übernommen hat. Mit den gesammelten Unterschriften wird ja nur erreicht, dass sich der Landtag damit beschäftigt. Aber ob dann zugestimmt wird, steht auf einem anderen Blatt. Dass dann einstimmig zugestimmt wurde, das gab es bislang noch nie. Es gab auch nie eine Volksinitiative, die von einer Frau eingereicht wurde. Und dann noch mit einem Mobilitätsthema in einer Männerdomäne. Darüber freue ich mich auch im Sinne der Sache der Frauen. Interessanterweise wird das von vielen, auch in den Medien, bislang gar nicht so wahrgenommen.

Wie geht es jetzt weiter?
Sofort nach dem Beschluss des Landtags wurden Termine zur weiteren Besprechung mit uns und allen Anspruchsgruppen geplant, die jetzt laufen. Bis Mai soll ein erstes Eckpunktepapier erstellt werden. Meine Wahrnehmung aus vielen Gesprächen ist, dass es aktuell eines der priorisierten Projekte im Verkehrsministerium ist. Ich denke, Minister Hendrik Wüst möchte der Erste sein, der ein Radverkehrsgesetz in einem Flächenland umsetzt. Auch das NRW Umweltministerium mit Ursula Heinen-Esser steht dahinter. Sie war eine der Ersten, die sagte, dass die ersten Lesungen vielleicht schon im Herbst stattfinden könnten.

Wie schätzen Sie die Wirkung des Fahrradgesetzes ein?
Ich teile mit Christine Fuchs von der AGFS (Anm.: Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW) die Meinung, dass dieses Gesetz enorm wichtig ist, weil es den Kommunen einerseits Rückendeckung gibt und zudem auch einen Aufforderungscharakter hat. Politik und Verwaltung können sich nur noch schwer hinter einem „das dürfen wir nicht“ oder „das geht nicht“ verstecken.

Was braucht es, damit das Fahrradgesetz eine Signalwirkung in NRW und darüber hinaus entfalten kann?
Enorm wichtig sind Fürsprecher für das Thema. Wenn ein Minister und andere hochrangige Persönlichkeiten sagen: „Wir geben unserem Land ein Radverkehrsgesetz, weil wir zeigen wollen, wie wichtig uns der Radverkehr ist“, dann wird es eine große Signalwirkung geben. Wichtig ist hier auch der direkte Draht zum Bund und dem BMVI. NRW hat gerade beim Thema Mobilität ein großes Gewicht in Berlin.

Maßnahmen für NRW im Überblick

  1. Mehr Verkehrssicherheit auf Straßen und Radwegen
  2. NRW wirbt für mehr Radverkehr
  3. 1000 Kilometer Radschnellwege für den Pendelverkehr
  4. 300 Kilometer überregionale Radwege pro Jahr
  5. Fahrradstraßen und Radinfrastruktur in den Kommunen
  6. Mehr Fahrrad-Expertise in Ministerien und Behörden
  7. Kostenlose Mitnahme im Nahverkehr
  8. Fahrradparken und E-Bike-Stationen
  9. Förderung von Lastenrädern

Forderungen in Langform und aktuelle Informationen unter aufbruch-fahrrad.de


Bilder: Aufbruch Fahrrad, Reiner Kolberg

Mit ungewohnter Klarheit fordert der Deutsche Städtetag (staedtetag.de) seit einiger Zeit nachdrücklich eine Verkehrswende. Im Spitzenverband, der die Interessen der Städte auch gegenüber den politischen Institutionen bündelt, gibt es dazu offenbar große Einigkeit. Gründe, Positionen und Zielrichtungen erläutert Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy.


Herr Dedy, der Deutsche Städtetag setzt sich für eine schnelle Weichenstellung zu einer Verkehrswende ein. Was sind die Beweggründe?
Der Blick in die Städte zeigt: So wie der Verkehr heute organisiert ist, kommt er an seine Grenzen. Staus, Lärm und Abgasbelastungen mindern die Lebensqualität. Und der Verkehr hat in Deutschland noch nicht zu einer wirksamen CO2-Verringerung beigetragen. Deshalb brauchen wir eine Verkehrswende.

Vor welchen Problemen stehen die Städte und Kommunen aktuell konkret?
Es gibt große Herausforderungen, denen sich die Städte stellen: Bezahlbarer Wohnraum, Luftreinhaltung, Investitionsstau, Fachkräftemangel – um einige zu nennen. Uns ist es wichtig, all diese Aufgaben über die einzelnen Fachbereiche hinaus anzugehen. Deswegen ist die Verkehrswende für die Städte nicht bloße Verkehrspolitik. Da geht es zum Beispiel auch um Stadtentwicklung. Unser Ansatz ist, Verkehr stärker als bisher in Regionen zu denken.
Und natürlich müssen die notwendigen Investitionen für die Verkehrswende auch finanziert werden. Bei der kommunalen Verkehrsinfrastruktur haben wir einen Investitionsstau von 38 Milliarden Euro. Deshalb ist es gut, dass die Bundesmittel mit dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz aufgestockt werden. Ab dem Jahr 2025 sollen es zwei Milliarden Euro jährlich sein. Das brauchen wir dauerhaft und dynamisiert. Nur dann haben die Städte Planungssicherheit, um den Umfang der Maßnahmen zu stemmen.

Helmut Dedy, Deutscher Städtetag

Die Städte wollen die Verkehrswende.”

Immer wieder kommen Einwürfe, dass Bemühungen um eine Verkehrswende ideologiegetrieben oder einfach nicht machbar seien. Wie sehen Sie das?
Die Städte wollen die Verkehrswende. Diese Entscheidung haben wir im Städtetag einstimmig und über alle Parteigrenzen hinweg getroffen. Natürlich werden wir in den Städten die Frage beantworten müssen, wie viel Raum will ich dem motorisierten Individualverkehr für andere Verkehrsmittel abnehmen. Wenn zum Beispiel eine Stadt neue Radwege bauen will, kann das nicht auf dem Bürgersteig geschehen. Das zeigt auch, dass Verkehrswende nicht bedeuten kann, einfach jedes Verbrennerauto durch ein E-Fahrzeug zu ersetzen. Diese Gleichung kann nicht aufgehen.

Angesichts langer Planungshorizonte beim Ausbau des ÖPNV sehen viele Experten einen wichtigen Lösungsansatz für die nächsten Jahre in der Stärkung des Fuß- und Radverkehrs.
Die Städte unterstützen es, wenn mehr Menschen im Alltag das Fahrrad nutzen oder zu Fuß gehen. In vielen Innenstädten werden schon jetzt über 30 Prozent der Wege mit dem Rad zurückgelegt, Tendenz steigend. Die Städte wollen das Fahrradfahren weiter stärken, etwa durch gut ausgebaute Radwege, Vorrangschaltungen an Ampeln für Radfahrer oder Fahrradparkhäuser, zum Beispiel an Bahnhöfen. Wo allerdings nicht nur umgeplant, sondern auch aufwendig umgebaut werden muss, da sind auch Bürgerinnen und Bürger und auch der Einzelhandel zu überzeugen.

“Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Der Bund muss den Städten vertrauen.”

Helmut Dedy, Deutscher Städtetag

Man gewinnt den Eindruck, dass immer mehr Städte im europäischen Ausland umdenken und viel stärker auf den Radverkehr setzen als bei uns. Hinken wir in Deutschland hinterher?
Immer mehr Städte in Deutschland erreichen gute Platzierungen beim Fahrradklima-Test des ADFC. Wir müssen daher nicht immer nur in die Niederlande oder nach Kopenhagen schauen. Denn nicht alle Maßnahmen würden in deutschen Städten funktionieren, auch die rechtlichen Rahmenbedingungen sind andere. Die Radverkehrsinfrastruktur wird sich durch die Förderung im Rahmen des Klimaschutzprogramms weiter verbessern – und das ist gut so. Denn der Radverkehr ist ein wichtiger Baustein für klimafreundliche Mobilität. Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Der Bund muss den Städten vertrauen.

Bundesverkehrsminister Scheuer hat mit dem „Bündnis für moderne Mobilität“, Fördermitteln für den Radverkehr und einer Reform der StVO ja einige Veränderungen auf den Weg gebracht. Sind Sie damit zufrieden?
Das Bündnis für moderne Mobilität ist ein sinnvoller Erfahrungs- und Wissensaustausch zwischen Bund, Städtetag und anderen Organisationen. Wir haben dadurch die Möglichkeit, dem Bund klarzumachen: Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Ein Beispiel: Bisher können die Städte nur an Gefahrenstellen Tempo 30 anordnen, etwa vor einer Schule oder einer Kita. Wenn aber der Schulweg auch an einer Hauptverkehrsstraße entlanggeht, ist das im Moment nicht möglich.
Positiv ist, dass Bund und Länder inzwischen einig darüber sind, dass ein neuer Gebührenrahmen für das Bewohnerparken notwendig ist. Die Städte fordern seit Langem, dass der Spielraum größer wird. Wir können uns einen Rahmen zwischen 20 und 200 Euro pro Jahr für das Anwohnerparken vorstellen. Denn bei dem bisherigen Gebührenrahmen bis 30 Euro werden noch nicht einmal die Verwaltungskosten gedeckt. Wenn der neue Rahmen in Kürze steht, können die Städte selbst entscheiden, wie sie ihre Satzungen ändern. Wichtig ist, dass zukünftig auch der wirtschaftliche Wert des Bewohnerparkausweises berücksichtigt werden kann. Öffentlicher Raum ist ein knappes Gut.

Aus den Kommunen ist zu hören, dass beim Radverkehr sowohl die Beantragung von Fördermitteln als auch Planungsprozesse zu aufwendig seien. Wie kann man das verändern?
Klar ist, dass die Städte den Ausbau der Radinfrastruktur nicht allein stemmen können. Durch das Sofortprogramm Saubere Luft haben die Städte eine Vielzahl unterschiedlicher, aber meist kurzfristiger Fördermöglichkeiten erhalten. Wir brauchen aber eine Verlässlichkeit und Verstetigung der Förderung über Jahre, damit es nicht bei einem „Strohfeuer“ bleibt. Das Ziel der Städte ist es, gemeinsam mit Bund und Ländern die Vision Zero zu erreichen (…) dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum.

Der Deutsche Städtetag will mehr Schutz für Radfahrer und Fußgänger. Wo sehen sie Veränderungsbedarf?

Die Zahl der im Verkehr getöteten Radfahrer bleibt seit 2010 besorgniserregend hoch. Dagegen müssen Kommunen, Bund und Länder gemeinsam mehr tun. Dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum, damit sie Mobilität so organisieren können, dass sie den Bedürfnissen der Menschen vor Ort gerecht wird. Deshalb ist die Entschließung zum sicheren Radverkehr, die die Regierungsfraktionen im Bundestag im Januar 2020 getroffen haben, ein guter Schritt. Darin wird z. B. betont, dass die Städte Erprobungsmöglichkeiten brauchen, zum Beispiel um ein generelles Tempolimit von 30 km/h auszuprobieren.

“Das Ziel der Städte ist es, gemeinsam mit Bund und Ländern die Vision Zero zu erreichen (…) dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum.”

Helmut Dedy, Deutscher Städtetag
Verkehrswende als Gesamtaufgabe: Der Deutsche Städtetag fordert mehr Freiheiten für die Kommunen und eine „konsistente Verkehrspolitik auf Bundes- und Länderebene für eine Transformation der Mobilität”.

Beim Thema Lkw-Abbiegeassistent verweist Bundesverkehrsminister Scheuer immer wieder auf die EU. Was können Kommunen in der Zwischenzeit hier tun und warum folgen sie nicht dem Wiener Beispiel, Lkws ohne Assistenten die Durchfahrt zu verbieten?
Die Assistenzsysteme in Lkw für das Rechtsabbiegen helfen, Unfälle mit Fahrradfahrern an Kreuzungen zu verhindern. Das Bundesverkehrsministerium setzt auf eine freiwillige Selbstverpflichtung der Betreiber von Lkw, um den Abbiegeassistent möglichst flächendeckend einzuführen. Dieser Initiative haben sich auch viele städtische Betriebe angeschlossen. Das ist ein guter Weg, weil dadurch bereits vor dem Inkrafttreten der EU-weiten Regelung ab 2023 Maßnahmen angeschoben werden können, auch wenn nicht alle Lkw damit erreicht werden. Ein Vorgehen wie in Wien ist den deutschen Städten nicht möglich. Sie dürfen Lkw ohne Abbiegeassistenzsysteme die Einfahrt nicht einfach verbieten.

Der Verkehrsexperte Prof. Andreas Knie hat im Interview mit VELOPLAN die Auffassung vertreten, dass zwei Drittel der Menschen in den Großstädten bereit wären, dem Auto Raum zu nehmen und dem Fahrrad mehr Raum zu geben. Wie ist das Stimmungsbild in den Kommunen?
Wir werden es nicht schaffen, den Großteil der Autos von heute auf morgen aus den Innenstädten zu verdrängen. Auch wissen wir, dass sich die Stimmungsbilder zwischen Stadt und Land deutlich unterscheiden. Die Verkehrswende braucht die Akzeptanz der Bevölkerung, das ist klar. Wir wissen heute, dass der Verkehr von morgen vielseitiger und flexibler sein wird. Mit den Möglichkeiten der Digitalisierung wollen wir ihn auch umfassend vernetzen. Dann ist die Mobilität von morgen nicht nur umweltfreundlicher und klimaschonender, sondern komfortabler und schneller als heute.

Thema Bikesharing und E-Tretroller: Man hat den Eindruck, dass die Städte den Entwicklungen ziemlich hinterherlaufen. Was muss sich aus Ihrer Sicht verändern?
Die Zulassung von E-Tretrollern hat von der Idee bis zur Verwirklichung auf Bundesebene ein knappes Jahr gedauert. Die Städte hatten wenige Monate, um Anforderungen an Verleihsysteme umzusetzen. Wir haben deshalb eine Handlungsempfehlung zu E-Tretrollern im Stadtverkehr herausgegeben. Und mit den ersten Anbietern haben wir uns auf gemeinsames Vorgehen verständigt. Das zeigt: Wir setzen uns für Nachbesserungen in den gesetzlichen Regelungen ein, damit das Abstellen von Leihfahrzeugen auf Bürgersteigen und Fußgängerzonen ordentlicher erfolgt und Tabuzonen bei Fahrten mit den Scootern beachtet werden. Die aktuelle Initiative im Bundesrat begrüßen wir deshalb.

Lebenswerte Stadt? Wildwuchs nicht nur bei Pkws und Lieferdiensten, sondern auch bei Leihfahrzeugen.

Die KEP-Branche verzeichnet rasante Zuwächse und eine aktuelle Studie des IFH Köln geht davon aus, dass der Online-Anteil am Lebensmittelhandel bis 2030 auf neun Prozent ansteigt. Was sollten Städte hier tun?
Rund vier Milliarden Paketsendungen werden für das Jahr 2020 erwartet. Damit steigt das Verkehrsaufkommen in den Innenstädten durch Lieferverkehre. Es ist wichtig, dass die Städte und ihre Bürgerinnen und Bürger zuverlässig erreichbar sind. Aber wir wollen, dass die Logistiker sich auf der „letzten Meile“ zusammentun. Gemeinsame Mikrodepots für Paketsendungen und die gebündelte Auslieferung mit Elektrofahrzeugen oder Lastenrädern werden bereits in mehreren Städten erprobt. Das ist der richtige Weg, weil dadurch Lärm und Abgase in den Innenstädten verringert werden und der innerstädtische Verkehr entlastet wird.

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Das Interview mit Helmut Dedy hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im Februar 2020 geführt. Erschienen in Ausgabe 1/20.

Über den Deutschen Städtetag
Der Deutsche Städtetag ist ein freiwilliger Zusammenschluss von kreisfreien und kreisangehörigen Städten in Deutschland. Er vertritt aktiv die kommunale Selbstverwaltung und nimmt die Interessen der Städte gegenüber Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat, Europäischer Union und zahlreichen Organisationen wahr. Zudem berät er seine Mitgliedsstädte, informiert über Vorgänge und Entwicklungen und fördert den Erfahrungsaustausch. Der Verwaltungsjurist Helmut Dedy ist seit 2016 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages und Geschäftsführer des Städtetages Nordrhein-Westfalen.


Bilder: Deutscher Städtetag / Laurence Chaperon, ADFC, Pixabay / Thomas Wolter

Über Jahre hinweg wurde das Radfahren auch von Vertretern der Bundespolitik immer als wichtig und förderungswürdig betont. Nur von konkreten Maßnahmen war oft wenig zu spüren. Das ändert sich scheinbar gerade. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


„Mehr Radverkehr” war ebenso wie „mehr Elektroautos” ein in der Bundespolitik über die Jahre hinweg genauso oft wie folgenlos wiederholtes Mantra. Im politischen Mainstream wurde Verkehr noch bis vor Kurzem gleichgesetzt mit Autoverkehr. Radfahrer hingegen wurden noch vor wenigen Jahren aus Sicht von Bundespolitikern verkehrspolitisch mitunter in die selbe Schublade wie Oldtimer- oder Wohnmobil-Besitzer gesteckt: zwar irgendwie präsent im Straßenbild, aber insgesamt doch eher ein Freizeit- und Tourismus-Phänomen.
Aber inzwischen entsteht Handlungs- und Veränderungsdruck: Nicht nur Klima- und Verkehrsexperten sehen ein großes Problem in der Lücke zwischen den Zielen und Verpflichtungen auf der einen Seite und fehlenden konkreten Maßnahmen und Erfolgen auf der anderen. Mehr und mehr Druck kommt auch aus der Bevölkerung, zum Beispiel mit Radentscheiden, aber auch von den Kommunen, Verbänden und nicht zuletzt Gerichten sowie der Europäischen Union. Letztere stellen, und das ist neu, empfindliche Sanktionen in Aussicht.

„Ich bin Verkehrsminister und damit auch der Fahrradminister. Ich werde den Radverkehr in den nächsten Jahren deshalb deutlich stärken.“

Andreas Scheuer, Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur

Bundespolitik verändert sich gerade

Abseits von Sonntagsreden und Feigenblatt-Politik hat das Thema Radverkehr Fahrt aufgenommen. An ihre Stelle gerückt ist eine breite Diskussion zu Zielen und, auch das ein Novum, konkreten Maßnahmen. Zum Beispiel im Hinblick auf eine nach Expertenmeinungen längst überfällige Reform der StVO und vielen weiteren Themen. Die Veränderungen auf bundespolitischer Ebene sind augenfällig und an vielen Stellen zu beobachten. Hier einige Beispiele aus jüngster Zeit.

Bundesminister Scheuer (im Bild mit Ulrich Syberg und Burkhard Stork vom ADFC) kam per Bahn und Fahrrad und zeigte sich gesprächsbereit und bestens aufgelegt.

Anschub durch Verkehrsminister: NRVK 2019

Eine positive Überraschung für Fahrrad-Aktivisten war zum Beispiel der 6. Nationale Radverkehrskongress (NRVK) am 13./14. Mai in Dresden. Zu der mit rund 800 Teilnehmern bestens besuchten Veranstaltung erschien der Bundesverkehrsminister nicht nur persönlich – er reiste auch mediengerecht mit der Bahn und dem Fahrrad an und brachte für viele Anwesende völlig unerwartet acht Leitziele und Beispiele für geplante Maßnahmen mit.
Entsprechend positiv fielen die Resümees einiger Teilnehmer aus. Mit seinem Auftritt, seinen Worten und konkret angekündigten Maßnahmen habe der Minister ein klares Zeichen gesetzt und allen, die mit dem Thema Radverkehr befasst sind, den Rücken gestärkt. Ohne Flurschäden sei ein Zurückrudern jetzt kaum möglich, und demnach wohl auch unwahrscheinlich. Beeindruckt und für die Zukunft positiv gestimmt zeigte sich auch ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork: „Minister Scheuer hat verstanden, dass es ohne mehr Platz und Wegequalität für den Radverkehr nicht geht. Er hat bei vielen von uns das Gefühl hinterlassen, dass man den Radverkehr in Zukunft nicht mehr gegen einen CSU-Minister vorantreiben muss, sondern jetzt vielleicht mit ihm.“

Neuer Nationaler Radverkehrsplan: NRVP 3.0

Gestartet wurde auf dem NRVK auch der Erarbeitungsprozess zum neuen Nationalen Radverkehrsplan (NRVP 3.0) mit dem die Bundesregierung ihre „aktive Rolle als Impulsgeber, Förderer und Koordinator der Radverkehrsförderung übernehmen und ausbauen“ möchte. Nach dem Abschluss eines Onlinebeteiligungsverfahrens und eines Dialogforums im Ministerium mit Experten, zu dem 20 Fachleute aus Universitäten und Verbänden, darunter auch der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) und der Verbund Service und Fahrrad (VSF) als feste Mitglieder eingeladen sind, soll das Bundeskabinett dann Anfang 2021 den neuen NRVP 2030 offiziell beschließen.

Parlamentskreis Fahrrad: ganz große Koalition für mehr Radverkehr.

Parlamentskreis Fahrrad als feste Institution

Nur etwas mehr als ein Jahr ist es her, dass im Bundestag der fraktionsübergreifende Parlamentskreis Fahrrad gegründet wurde nach langer Vorarbeit durch die inzwischen auch in Berlin vertretenen Fahrradverbände, regelmäßigen parlamentarischen Abenden, interfraktionellen Radtouren und vielen Gesprächen im kleinen Kreis. Inzwischen ist der Parlamentskreis Fahrrad mit 44 parlamentarischen Mitgliedern unter dem Vorsitz von Gero Storjohann (CDU) ein feste Institution, die sich mehrmals im Jahr trifft und sich mit Experten und Gästen von Interessenvertretungen austauscht. Laut Gero Storjohann wurde im ersten Treffen zu Beginn des Jahres deutlich, „dass für den Radverkehr schon viel auf den Weg gebracht wurde, es aber auch noch einiges bedarf, um ihm den gleichen Stellenwert wie anderen Mobilitätsformen zu verschaffen“. Daran werde der Parlamentskreis gemeinsam arbeiten. Unter anderem geht es dabei auch um eine Vernetzung und einen Know-how-Transfer, zum Beispiel mit dem Verkehrsausschuss, dem BMVI und natürlich auch den Parteien selbst. „Der Wandel in den Köpfen ist gelungen: Radverkehr wird als wichtiges Thema betrachtet“, so Albert Herresthal vom Fachverband der Fahrradwirtschaft VSF.

Rege Diskussionen im Plenum und in Fachforen bei der „Bewegungskonferenz: Freie Fahrt fürs Rad!“

Grüne Bewegungskonferenz im Bundestag

Wie bringt man, auch auf Bundesebene, mehr Bewegung in das Thema Verkehrswende? Das war eines der Hauptthemen bei der Bewegungskonferenz, zu der die Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen am 13. und 14. September einlud. Unter dem Motto „Freie Fahrt fürs Rad!“ gab es für Interessierte und Experten im Paul-Löbe-Haus eine Fülle von Informationen mit Kurzvorträgen, Diskussionen und Workshops sowie ein Rahmenprogramm u.a. mit einer Radtour zu neuralgischen Punkten der Berliner Verkehrsplanung.
Mit Reden und Moderationen vertreten waren von Grüner Seite unter anderem Anton Hofreiter (Vorsitzender der Bundestagsfraktion), Cem Özdemir (Vorsitzender Ausschuss Verkehr und digitale Infrastruktur) und weitere Parteiexperten. Das Thema Radverkehr sei zwar in der Bundespolitik angekommen, so Cem Özdemir und vieles ginge nun endlich in die richtige Richtung. Für eine Verkehrswende griffen die angegangenen Maßnahmen allerdings immer noch deutlich zu kurz. Angesichts der aktuellen Probleme zeigte sich Cem Özdemir sicher: „Das Fahrrad führt aus der Krise!“ Trotzdem würden Radfahrer immer noch als „Stiefkinder der Politik“ behandelt. Dass müsse sich ändern.

278.000 Arbeitsplätze in der Fahrradwirtschaft

Als Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag wünscht sich Cem Özdemir „nicht immer nur von der wirtschaftlichen Bedeutung des Autos, sondern öfters auch von der Bedeutung des Fahrrades und des Fahrradtourismus zu hören“. Tatsächlich steht die Fahrradbranche in Deutschland nach Verbandsangaben für 16 Milliarden Euro Gesamtumsatz und 278.000 Vollzeit-Arbeitsplätze.


Bilder: JFL Photography stock.adobe.com, BMVI, ADFC/Deckbar-Photographie, Reiner Kolberg

Während man sich hierzulande noch Gedanken macht zur Bedeutung und Tragweite von „Vision Zero“, arbeitet die schwedische Regierung bereits an einer deutlichen Ausweitung des Programms. Im Zentrum stehen Gesundheit und aktive Mobilität. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Vor 22 Jahren hat Schweden mit großem Erfolg das Ziel „Vision Zero“, also null Schwerverletzte und Verkehrstote, als Verkehrs-Konzept eingeführt und damit nicht nur Maßstäbe gesetzt, sondern weltweit auch viele Nachahmer gefunden. Darunter auch die EU-Kommission, die wenige Jahre später das Ziel „null Verkehrstote bis 2050“ beschloss und Zwischenziele festlegte.
Aber erst rund 18 Jahre später einigte sich auch die Bundesregierung im Rahmen der letzten Koalitionsvereinbarung verbindlich darauf, sich den Zielen anzuschließen. Entsprechende Maßnahmen sind inzwischen zwar angekündigt, aber noch nicht final beschlossen. Und Experten bezweifeln, ob sie ausreichend wirksam sein werden. Angesichts der beengten Verhältnisse und dem hohen Verkehrsaufkommen in Städten halten sie zum Beispiel die Einführung von Tempo 30 bei Mischverkehren als Regelgeschwindigkeit für geboten, um die Reaktionsmöglichkeiten zu verbessern, die Unfallschwere abzumildern und das Todesrisiko abzusenken.

20x

Die gesundheitlichen Vorteile des Radfahrens
übertreffen die Ge­fahren um das 20-fache.

Neue Leitlinie: Bewegungsaktivierung

Während es bei Vision Zero darum ging, Leben zu retten und Verkehrstote und -verletzungen zu reduzieren, gehen die im Jahr 2017 von der schwedischen Regierung unter dem Titel „Moving Beyond Zero“ beschlossenen Ziele deutlich weiter. Im Kern geht es darum, ein Verkehrssystem zu realisieren, das die „aktive Mobilität in Form von Radfahren und Gehen fördert, um die Lebensqualität und die öffentliche Gesundheit zu verbessern“. Dabei stehen nicht Verbesserungen für Fahrzeuge im Vordergrund – nach Meinung der Schweden ein „falsches, flüchtiges Ziel“ – sondern bewegungsaktivierende Strukturen. Zielgruppen unter anderem: Kinder und Senioren, die sich wieder frei, sicher und mit Lust selbstständig zu Fuß oder mit dem Rad bewegen sollen. „Wenn wir aus der Perspektive eines Kindes arbeiten, erhalten wir eine Verkehrsumgebung, die uns allen zugutekommt“, betont dazu die schwedische Umweltministerin Karolina Skog. Mit dieser Auffassung sind die Schweden nicht allein. Verkehrssicherheit, Klima- und Umweltaspekte ergänzen sich bestens mit gesundheitlichen Vorteilen, darin sind sich die Fachleute einig. Denn die Haupttodesursache sind und bleiben Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Hier ist Bewegung unbestritten die beste Prävention und Medizin.
Mehr Informationen zum Konzept, Hintergründe und Informationen gibt es auf der Seite movingbeyondzero.com

Siegfried Brockmann:

Vision Zero als Paradigmenwechsel

Wie kaum ein anderer ist Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV), seit Jahrzehnten mit dem Thema Verkehrssicherheit befasst. Das neu gesetzte Ziel, die Zahl der Verkehrsopfer deutlich zu senken, bedeutet für ihn einen Paradigmenwechsel, den man seiner Meinung nach gar nicht hoch genug schätzen könne. Seit dem Zweiten Weltkrieg gelte „das Primat der Flüssigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs“, so der Fachmann in einem Interview mit der Zeitschrift Bike Bild. „Sicherheit ja, aber den Autoverkehr dabei nicht behindern.“ Faktisch könne die Flüssigkeit des Verkehrs aber der Sicherheit entgegenstehen.

Ähnliche Ansätze aus Nordrhein-Westfalen

Zusammen mit dem Landessportbund Nordrhein-Westfalen hat die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW (AGFS) die Broschüre „Städte in Bewegung“ zum Thema bewegungsaktivierender Infrastrukturelemente in Städten veröffentlicht. Mit Analysen, Ergebnissen und konkreten Handlungsempfehlungen zur Gestaltung einer urbanen bewegungsaktivierenden Verkehrsinfrastruktur in der „Stadt als Bewegungs- und Lebensraum“.

Zum Bestellen oder zum Download www.agfs-nrw.de/service/mediathek

Annahmen von Moving Beyond Zero:

  • Die gesundheitlichen Vorteile des Radfahrens übertreffen die Gefahren um das Zwanzigfache.
  • Länder mit dem höchsten Anteil an Radfahrern und Fußgängern sind am wenigsten von Übergewicht betroffen.
  • Radfahren hat einen positiven Effekt auf die psychische Gesundheit: Verbesserung des Wohlbefindens, des Selbstvertrauens und der Stressresistenz, Reduzierung von Müdigkeit und Schlafstörungen und anderer medizinische Syndrome.
  • Radfahrer leben im Schnitt zwei Jahre länger als Nichtradfahrer und haben 15 Prozent weniger Fehltage am Arbeitsplatz aufgrund von Krankheit.
Handlungsbedarf:

Höchster Stand bei getöteten Radfahrern seit zehn Jahren

Vision Zero? Davon kann in Deutschland bei ungeschützten Verkehrsteilnehmern keine Rede sein. So ist die Zahl der tödlichen Fahrradunfälle zuletzt um 16,5 Prozent gestiegen. 445 Tote gab es 2018 bundesweit (2017: 382 Tote). Das ist der höchste Wert seit zehn Jahren. Nicht nur in den Medien wurde diese fatale Entwicklung prominent thematisiert, auch Politiker, Verbände und Experten wie Professor Walter Eichendorf, Präsident des Deutschen Verkehrssicherheitsrats zeigten sich betroffen: „Der Straßenraum muss so gestaltet werden, dass Rad- und Kraftradfahrer sicher ankommen können“, so Eichendorf. Das bedeute auch, dass die neu geplanten Empfehlungen zu Radverkehrsanlagen (ERA) dem gewachsenen Verkehr Rechnung tragen müssten.

Dramatische Unterschiede:

Schweden vs. Deutschland

In der schwedischen Hauptstadt Stockholm sind zwischen 2013 und 2017 zwölf Fahrradfahrer umgekommen. Zum Vergleich: In Köln starben bei vergleichbarer Einwohnerzahl allein im vergangenen Jahr acht Radfahrer. Im europäischen Vergleich hält Stockholm auch insgesamt bei den Verkehrstoten pro 100.000 Einwohnern einen Spitzenplatz.

Bild: ADFC Berlin

Oslo ist kein Vorreiter bei der Fahrradpolitik. Aber eine Stadt mit extrem engagierter Verwaltung – und jeder Menge Geld. Bis 2025 will man den urbanen Nahverkehr umbauen. Das Fahrrad spielt eine Schlüsselrolle. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Es lässt sich nicht behaupten, dass Oslo ein Paradies wäre für Radfahrer, dass es hier besonders viele Menschen auf Velos gäbe oder dass die Stadt Lösungen hätte, die sich sonst noch nirgendwo finden. Dennoch ist die norwegische Hauptstadt aktuell eine der spannendsten Städte Europas, wenn es um die Umgestaltung des urbanen Raums und verbesserte Bedingungen für den Fahrradverkehr geht.
Spricht man mit überzeugten Radlern in der nordischen Metropole, ist die Story stets ähnlich. Noch vor vier, fünf Jahren fühlten sich Radler oft wie „Aussätzige“ im Straßenverkehr. „Damals brauchtest du nur 15 Minuten auf dem Rad durch die Stadt zu fahren, schon warst du Aktivistin“, sagt etwa Kari Anne Solfjeld Eid, überzeugte „E-Assist Mother“ und ehrenamtlich im nationalen Fahrradverband tätig. Inzwischen aber hat sich die Sache geändert: Politik und Verwaltung betonen den Wert des Fahrrads für die Stadtentwicklung, stecken ehrgeizige Ziele und investieren erhebliche Geldsummen ins Radwegenetz. Im Copenhagenize-Index der radfreundlichsten Städte erreichte Oslo zuletzt Platz 7, vor Paris, Wien und mit Abstand auch vor Berlin.

Oslo-Standard: Nicht nur mehr Radinfrastruktur, auch eine höhere Qualität ist entscheidend für eine höhere Akzeptanz.

Kessellage wie in Stuttgart

Relevant ist Oslo vor allem, weil es eine ähnliche Ausgangslage hat wie viele andere Großstädte. Zwar gab es seit 1977 in Norwegen einen nationalen Plan, mit dem ein kohärentes Radwegesystem in den Städten des Königreichs entstehen sollte. Doch faktisch entwickelte sich die Lage anders. In Oslo prägten Autos das Bild, große Straßen von überregionaler Bedeutung führten mitten durch die Stadt, der Anteil der Radfahrer blieb verschwindend gering. Doch die Konsequenzen zeigten sich wie vielerorts: Staus verstopften die Stadt, Emissionen versauten die Luft, 60 Prozent der CO2-Gase in Oslo kommen aus dem Verkehr. Ähnlich wie Stuttgart hat Oslo eine Kessellage – wenn auch mit einer Küste. Ähnlich wie in vielen deutschen Städten kollidierte hier der Wunsch nach lebenswerten urbanen Zentren mit der Realität von Diesel-Abgas und Parkplatzchaos. In Oslo jedoch geht die Administration die Probleme mit Entschlossenheit an – und ist dafür auch bereit, Konflikte auszutragen. „Man kann hier vielleicht mehr lernen als in Amsterdam und Utrecht, weil viele Städte einen ähnlichen Nachholbedarf haben“, sagt der Architekt Christoffer Olavsson Evju von Norconsult, der die Kommune zur Radplanung beraten hat.

Neue Verkehrsstrategie 2015-2025

Seit 2013 bemüht sich die Verwaltung darum, das Fahrrad als Verkehrsmittel nicht nur moralisch zu fördern. Zunächst ließ sie die alte Fahrradstrategie der Stadt von einem Fahrradprojekt auf die Probe stellen – und dann eine neue Strategie ausarbeiten. Es gab Grund zur Unzufriedenheit: Zwischen 2005 und 2015 hatte die Stadt im Schnitt nur 1,5 Kilometer neuer Radinfrastruktur gebaut. Und nur 9 Prozent der Menschen fühlten sich in einer Umfrage als Radfahrer in Oslo sicher. Das galt es zu ändern. Interessanterweise geschah das Umdenken schon unter einer rechten Stadtregierung, die 2015 abgewählt wurde. Inzwischen hat Oslo eine links-links-grüne Regierung – doch die Strategie besteht fort. Auf Basis des politischen Willens soll der Radverkehr nun mit hohem Tempo ausgebaut werden. Etwa 20 Kilometer neuer Radinfrastruktur möchte man 2020 anlegen, 2019 sollten es sogar 25 sein. Doch das Ziel war noch etwas zu hoch gesteckt, etwa 20 waren es am Ende. Die neue Strategie nimmt das Zeitfenster 2015-2025 ins Visier. Der Anteil der Radfahrer am städtischen Verkehr soll von 8 Prozent auf 16 Prozent steigen. Die Stadtregierung fordert nun sogar 25 Prozent. Ausgebaut hat man die zuständige Abteilung in der Verwaltung auf heute 40 Mitarbeiter. Vor fünf Jahren waren es fünf beim externen Fahrradprojekt und zehn in der Verwaltung.

„Früher haben die Planer eher dort angefangen, wo man Projekte leicht umsetzen konnte“

Liv Jorun Andenes, Umwelt- und Verkehrsressort

„Man kann hier vielleicht mehr lernen als in Amsterdam und Utrecht, weil viele Städte einen ähnlichen Nachholbedarf haben.“ Liv Jorun Andenes (links) und Olavsson Evju „leben“ das Radfahren.

Connecting the Dots

Oslo hat sich für einen pragmatischen planerischen Ansatz entschieden. Es gibt im Fahrradnetzwerk der Planer zwei Arten von Straßen: graue und rote. Die roten sind wichtige große Verbindungsstraßen, die erheblichen Planungsbedarf haben. „Die grauen dagegen sind eher ruhigere Straßen, in denen wir mit kleineren Maßnahmen dafür sorgen können, dass sich Radfahrer sicherer fühlen und auch sicherer sind“, sagt Liv Jorun Andenes, die im Umwelt- und Verkehrsressort der Kommune das Fahrradbüro leitet. Genau auf solchen Straßen geht die Verwaltung mit hohem Druck die Umgestaltung des Verkehrsraums an, man möchte möglichst schnell Wegbeziehungen verbessern – „connecting the dots“, sagen die Planer dazu. Die Bedingungen für die Radfahrer sollen sich in kurzer Zeit merklich verbessern. Außerdem geht es darum, die Veränderungen dort zu planen, wo sie am nötigsten sind. Im Zentrum. „Früher haben die Planer eher dort angefangen, wo man Projekte leicht umsetzen konnte“, so Liv Jorun Andenes.

Oslo: Grüne Stadt und schnelle Klimawende

Mit einer Million Einwohnern, davon 680.000 in der Kommune, ist die nor­wegische Hauptstadt Oslo der mit Ab­stand größte Ballungsraum des Lan­des. In der Region leben über 1,5 Millionen Menschen, also fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung Norwegens von rund 5,3 Millionen. Gleichzeitig legt die Stadt, die in diesem Jahr zur Green Capital 2019 gewählt wurde, großen Wert auf ein lebenswertes Umfeld und eine Vorreiterrolle in Bezug auf fossile Energien und klimaschädliche Emissionen. So hat sich Oslo das Ziel gesetzt, die Emissionen an fossilen Brennstoffen bis zu zum Jahr 2030 zu halbieren und bis 2050 fossilfrei zu werden. Nach aktuellen Plänen sollen die CO2-Emissionen bis 2020 um 50 Prozent und bis 2030 um 95 Prozent gesenkt werden.
Die „Klima- und Energiestrategie“ betrifft dabei die Energieressourcen, die Energieerzeugung und -verteilung sowie den Energieverbrauch in allen Sektoren. Als größte Herausforderung wurde in Oslo der Verkehr ausgemacht, auf den vor Jahren noch 63 Prozent der Emissionen entfielen. Ziel ist es daher, den Verkehr umweltfreundlich zu gestalten und die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Radfahren und das Zufußgehen deutlich zu steigern.
Ab 2020 sollen alle öffentlichen Busse und alle neuen Taxis und ab 2025 alle in Oslo verkauften Neuwagen fossilfrei oder als Hybrid ausgelegt sein. „Der Übergang von fossilfreien Energie- und Verkehrs­syste­men ist ein Paradigmenwechsel, der große Investitionen und starke Initiativen erfordert, die alle Teile der Gesellschaft und die Stadtentwicklung betreffen werden“, so Linn Helland, Leiter der Energieabteilung der internationalen Ingenieur- und Planungsberatung Rambøll, die zusammen mit Oslo am Umsetzungsplan arbeitet.

Globales Know-how auch für Kommunen Deutschland:

Mit 15.500 Mitarbeitern und Büros in 35 Ländern, davon 12 in Deutschland, kombiniert Rambøll (ramboll.com) lokale Expertise mit globalem Know-how. In Deutschland arbeiten über 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Bereichen Ingenieur-, Planungs- und Managementberatung – u.a. zu neuen Radschnellwegen in Berlin.

Beispiel: City Route 1

Die Stadtverwaltung hat insgesamt acht neue City-Routen geplant, entlang derer das Radfahren deutlich verbessert werden soll – und die sich untereinander kombinieren lassen. Zwischen 2016 und 2020 hat sie das Ziel, entlang all dieser Routen Veränderungen vorzunehmen, um Radfahrern gegenüber Autofahrern bessere Bedingungen einzuräumen. Ein Beispiel dafür, wie das in der Praxis aussieht, ist die City Route 1. Sie führt von Torshov im Norden mitten durch das hippe Viertel Grünerløkka und dann ins Stadtzentrum. „Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Bedingungen für Radfahrer verbessert haben und was man hier in nur wenigen Jahren umgesetzt hat“, findet Planungsberater Christoffer Olavsson Evju. Dabei wurde eben nicht alles neu gebaut. Vielmehr hat man in die bestehende Infrastruktur eingegriffen. Ein farbig abgesetzter Radstreifen führt gegen eine Einbahnstraße, es gibt neuen Asphalt mit mehr Komfort, spezielle Ampeln für die Radfahrer und auch eine Passage über einen Fußgängerweg, der Radlern die Durchfahrt ermöglicht – und Autos ausschließt.

Oslos eigener Standard

Wenn heute in Oslo Straßen neu geplant werden – oder wenn die Verwaltung ihre Pläne für einen besseren Radverkehr umsetzt – greift sie auf einen eigenen Standard zurück. 2017 definierte sie diesen „Oslostandarden“, daran wirkte auch Olavsson Evju mit. Die These: Nicht nur mehr Radinfrastruktur, auch eine höhere Qualität ist entscheidend für eine höhere Akzeptanz. Nun gibt es ein Manual, das bei städtischen Straßenbaumaßnahmen herangezogen wird. Spannend ist ein Konflikt, der sich zwischen Zentralstaat und Kommune zeigt. Die norwegische Regierung hat einen eigenen Baustandard für Radinfrastruktur – demnach dürfen Radstreifen maximal 1,80 Meter breit sein – in Oslo ist das die Mindestmarke, man zielt auf deutlich mehr und darf maximal bis 2,50 Meter breite Radstreifen schaffen. Kernelemente sind darüber hinaus die bessere Sichtbarkeit von Radinfrastruktur, neue Kreuzungslösungen und auch Abstellmöglichkeiten, die sowohl für übliche Stadträder als auch für Lastenfahrräder praktisch zu nutzen sind. Da es in Oslo einen sehr gut ausgebauten ÖPNV mit Busverkehr gibt, hat man auch neue Regelungen definiert, damit Radler an Bushaltestellen nicht gefährdet werden.

Zweite Phase: Eine separate Infrastruktur

Während die Stadt mit hoher Geschwindigkeit die niedrigschwelligeren Änderungen umsetzt, beginnt auch die Vorbereitung der zweiten Phase. Hierfür wird es sicher nochmal mehr internationale Beachtung geben. Denn es sollen an viel befahrenen Hauptstraßen möglichst viele erhöhte, separate Radwege entstehen – auf einem Qualitätsniveau wie in Kopenhagen. Einen solchen Weg hat die Stadt im Herbst bereits fertiggestellt: Auf dem Åkebergveien gibt es nun sowohl bergauf als auch bergab eine parallel laufende Radspur. Wichtig: Sie verläuft nicht hinter parkenden PKW, der Radweg ist durch sechs Zentimeter breite Grenzsteine von der Straße und auch vom etwas höher gelegenen Fußgängerweg getrennt.

373 Millionen Kronen Budget

Der Ausbau der Radinfrastruktur erfordert nicht nur politischen Willen, sondern auch und vor allem Geld. Dank der seit den Neunzigerjahren zunehmend erhobenen Maut für Autofahrer in Oslo gibt es relevante Einnahmen. Doch erst seit wenigen Jahren wagt sich die Stadtverwaltung daran, dieses Geld auch anzuzapfen. Die Investitionen in den besseren Radverkehr speisen sich aus diesen Einnahmen. Für 2020 sind 373 Millionen Norwegische Kronen für die Radbaumaßnahmen budgetiert – knapp 40 Millionen Euro. Pro Einwohner gibt Oslo also für den Radverkehr 63 Euro aus. Zum Vergleich: In Deutschland ist Stuttgart mit 5 Euro pro Einwohner Spitzenreiter.

„Wir glauben, dass wir im Laufe der Zeit die positiven Effekte auch bei den Unternehmen sehen werden“

Terje Elvsaas,Car-free Livability

Terje Ehrsaas erläutert das Programm, Menschen Straßen zurückzugeben.

Autos aus der Stadt

Die rot-rot-grüne Stadtregierung ist bereit, für ihre Pläne erhebliche Konflikte einzugehen. Der ehemalige Bürgermeister Fabian Stang kündigte zivilen Ungehorsam an gegen den Plan der Stadtverwaltung, eine neue Radspur im reichen Stadtteil Uranienborg zu bauen.Denn auch dort plant die Stadtverwaltung das Entfernen von Parkplätzen. Liv Jorun Andenes erklärt: „Heute nutzen wir bei den meisten Projekten die vorhandene Straße und verteilen den Raum einfach neu. Meistens bedeutet das: Wir entfernen Autos.“ Oslo, Europas grüne Hauptstadt 2019, hat damit auch im Stadtzentrum ernstgemacht. Das so genannte „Car-free Livability Programme“ soll dazu führen, dass im innersten Stadtring neue Lebensqualität gewonnen wird – indem man Menschen mehr Raum zugesteht. Bis Ende 2019 wurden etwa 760 Parkplätze in einem etwa 1,3 Quadratkilometer großen Areal entfernt. Parkflächen für Lieferanten sind übrigens immer vorgesehen, auch im Oslostandarden wird darauf Bezug genommen. Doch die Verwaltung ist in den Konflikt mit Händlern gegangen, die um Kundschaft fürchten. „Wir glauben, dass wir im Laufe der Zeit die positiven Effekte auch bei den Unternehmen sehen werden“, sagt Terje Elvsaas vom Car-free Livability Program.

Erst am Anfang

Oslo macht viel. Die Entschlossenheit der Maßnahmen ist kaum zu übersehen. Die Politik erklärt den Umbau des innerstädtischen Verkehrs zur Priorität. Der Anteil der PKW ist dabei mit 34 Prozent übrigens nicht höher als in Kopenhagen, dank eines sehr gut ausgebauten ÖPNV. Doch der Radverkehr soll hier den entscheidenden Durchbruch bringen. Es gibt Kampagnen, es gibt in Anbetracht der Winterkapriolen Gratis-Stollenreifen für Studenten und priorisierte Räumdienste auf Radwegen bei Schneefall. Käufer von E-Bikes bekommen von der Kommune finanzielle Unterstützung. Alles Maßnahmen, mit denen der Radverkehr vorangebracht werden soll. Doch um das Ziel zu erreichen und den Anteil am Modal Split zu verdoppeln, ist der Weg noch weit. „Wir müssen eine revolutionäre Veränderung sehen“, sagt Liv Jorun Andenes, „wir sind in den Startblöcken.“

Fahrraddaten: Oslo

Radverkehr mit Wachstumsschub

Top-10: Oslo gehört laut dem Anbieter von Messstellen, Eco Counter, zu den Top-10-Städten mit dem größten Wachstum an Radfahrern zwischen 2017 und 2018

Sicher: In einer Untersuchung von Greenpeace und dem Wuppertal Institut zur nachhaltigen urbanen Mobilität gehört Oslo neben Amsterdam und Kopenhagen zu den Städten mit der geringsten Zahl an Verkehrstoten verglichen mit der Anzahl der Fußgänger und Radfahrer.

530 Kilometer: So umfangreich soll das ausgebaute Radwegenetz langfristig sein. Jährlich schafft die Stadt derzeit ca. 20 Kilometer neuer Radinfrastruktur.

25 Prozent: Diesen Anteil von Fahrradfahrern möchte der Stadtrat bis 2025 im Stadtverkehr erreichen. Derzeit beträgt der Anteil im Jahresmittel nur sieben Prozent, bedingt auch durch den norwegischen Winter mit nur zwei Prozent Radverkehrsanteil. Das norwegische Institut für Verkehrsökonomie hält die Pläne des Stadtrats für unrealistisch und geht eher von 11 bis 14 Prozent als Potenzial für den Radverkehr aus.

29 Jahre: So lange gibt es hier bereits eine Innenstadtmaut. Mit den Einnahmen werden Straßenbaumaßnahmen in Oslo und Umgebung finanziert.



Bilder: Christian Rølla

Keine weiteren Lippenbekenntnisse, sondern mehr Raum fürs Rad und zwar sofort fordert Verkehrsforscher Prof. Dr. Andreas Knie. Der Berliner Politologe und Soziologe sieht gute Chancen für eine Rad-Verkehrswende. Die Bevölkerung in den Großstädten sei hier schon viel weiter als die Politik. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Herr Professor Knie, die Länder wollen mehr Radverkehr, die Kommunen wollen es und selbst der Verkehrsminister hat sich kürzlich zum Fahrradminister erklärt. Man fragt sich also, wo gibt es eigentlich ein Problem?
Das Problem ist, dass das alles Lippenbekenntnisse sind. Wenn man mehr Fahrradverkehr haben will, dann muss man dem Rad mehr Raum einräumen. Das heißt schlicht, wenn man den Raum nicht erweitern kann, dann muss man den bestehenden Verkehrsmitteln Raum wegnehmen. Da geht es um das Automobil. Und da traut sich kein Verkehrsminister und kaum ein Bürgermeister in Deutschland ran.

Bevor man nach einer filigranen Lösung sucht, am besten einfach machen.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach grundlegend ändern?
In den letzten Jahrzehnten ist dem Auto immer mehr Platz eingeräumt worden. Und auch der unter anderem durch die StVO gesetzlich definierte Rahmen gibt dem Auto
quasi unbeschränkte Freiheit. Das muss man neu diskutieren, eine klare Position finden und diese auch in den politischen Alltag überführen. Das Fahrrad ist ein ideales Verkehrsmittel. 15 bis 20 Prozent der Wege könnten mit dem Rad oder dem E-Bike zurückgelegt werden.

Die Forderung nach weniger Raum für das Auto hört sich nicht besonders populär an. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass es hier zu Veränderungen kommt?
Es gibt unseren Erkenntnissen nach die begründete Aussicht, dass der Kampf um mehr Platz fürs Rad aussichtsreich ist und dass er gewonnen werden kann. Wir behaupten, dass zwei Drittel der Menschen in den Großstädten bereit sind, dem Auto Raum zu nehmen und dem Fahrrad mehr Raum zu geben.

Wie kommt es zur wachsenden Bereitschaft für eine Rad-­Verkehrswende?
Es ist eine Entwicklung, die schon sehr lange vor sich hin wuchert. Langsam ist das Bewusstsein immer breiter geworden, dass das Rad gut ist, dass wir mehr Rad brauchen und dass tatsächlich auch immer mehr Menschen Rad fahren. Das Fahrrad ist einfach ein ideales Verkehrsmittel. Seit ein bis zwei Jahren ist den Menschen in der Stadt klar: Die Verkehrswende muss kommen. Das Signal ist so stark, dass das Thema in den letzten Jahren auch politisch diskutiert wird.

Vor welchen Herausforderungen stehen die Verkehrsplaner und die Politik vor Ort konkret?
Zum einen muss man bereit sein, den politischen Kampf zu führen und Menschen zu überzeugen. Denn es müssen Parkplätze weggenommen und Fahrbahnen verengt werden. Im Weiteren geht es darum, Fahrradwege, Fahrradstraßen und Kreuzungen so zu führen und zu gestalten, dass sie sicher sind. Und zum Dritten muss das Problem angegangen werden, dass es auf Planerseite kapazitive Engpässe gibt. Planer und gerade Fahrradplaner sind heute selten.

Man muss bereit sein, den politischen Kampf zu führen und Menschen zu überzeugen.

Prof. Dr. Andreas Knie

Sollten die Verantwortlichen mehr auf Nachbarländer schauen und sich von ausländischen Experten beraten und unterstützen lassen?
Unbedingt! Denn das Gespräch, das wir jetzt führen, haben die Holländer zum Beispiel schon in den 1960er Jahren geführt und seitdem viel Erfahrung darin, wie es geht und was nicht geht. Holland ist das Mutterland des Radverkehrs. Hier kann man sich umschauen und Erfahrung schöpfen.

Wann sind Ihrer Meinung nach Veränderungen nötig?
Sofort! Das Klima duldet keinen Aufschub; die Probleme, die wir in den Städten haben, dulden keinen Aufschub. Es ist dringend nötig, hier sehr schnell zu agieren. Wir müssen jetzt ran an den Speck. Wir haben keine Zeit zu warten, sondern müssen dem Fahrrad jetzt den Raum geben, der diesem Verkehrsmittel auch gebührt.

Das Klima duldet keinen Aufschub; die Probleme, die wir in den Städten haben, dulden keinen Aufschub.

Prof. Dr. Andreas Knie

Verkehrsplanung dauert aber Jahre, oder?
Wir haben keine Zeit zu warten. Wir müssen das Fahrrad deshalb aus dem engen Korsett des Radwegs herausnehmen und auf die Straße stellen. Bevor man nach einer filigranen Lösung sucht, also am besten einfach machen und zum Beispiel eine Fahrspur oder Parkplätze für den Radverkehr umwidmen. Wichtig ist auch Tempo 30 in den Straßen, die keine Ausfallstraßen sind. All das lässt sich sehr schnell umsetzen.

Laut Prof. Knie sollten Kommunen „am besten einfach machen“ und zum Beispiel eine Fahrspur oder Parkplätze für den Radverkehr umwidmen.

Wie sehen Sie das Problem der vielen parkenden Autos in der Stadt?
Es gibt eine klare Flächenkonkurrenz. Dabei muss man sich klarmachen, dass das praktisch kostenlose private Abstellen des Autos im öffentlichen Raum eine politische Entscheidung war, um das Auto zu popularisieren und seine Attraktivität zu fördern. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass man diese Entscheidung jederzeit wieder ändern kann.

Wie sollten Veränderung in den Städten mit Bezug auf das Parken konkret aussehen?
Städte und Kommunen haben die Möglichkeit zu sagen, dass das Abstellen auf öffentlichem Grund nicht mehr erlaubt ist. Parkplätze können so beispielsweise problemlos in Radwege umgewandelt werden. Weitere wichtige Maßnahmen sind auch die flächendeckende Parkraumbewirtschaftung und das deutliche Anheben der Kosten für das Abstellen eines Pkws im öffentlichen Raum.

Im Regelfall ist ein Auto ja nur mit einer Person besetzt, das heißt, es sind noch vier Plätze verfügbar. Jedes private Auto kann so quasi zu einem kollektiven Bus werden.

Prof. Dr. Andreas Knie

Was sagen Sie zu den Menschen, die auf das Auto angewiesen sind? Zum Beispiel auf dem Land?
Viele haben von ihrer Biografie her nur das Auto im Kopf, wenn es um Mobilität geht. Aber auch auf dem Land kann man das Fahrrad oder für längere Strecken das E-Bike als Verkehrsmittel sehr gut nutzen, wenn man die passende Infrastruktur dafür schafft. Auf einer Bundesstraße zu fahren ist natürlich gefährlich, aber ein guter Radweg daneben schafft eine echte Mobilitätsalternative.

Intermodal und in seiner Heimat Berlin viel per „Call a Bike“-Rad unterwegs. Seinen Privat-Pkw hat Prof. Knie längst abgeschafft.

Und wenn man doch ein Auto braucht?
Die digitalen Plattformen bieten heute viele Möglichkeiten, Autos zu kollektivieren. Auch auf dem Land. Im Regelfall ist ein Auto ja nur mit einer Person besetzt, das heißt, es sind noch vier Plätze verfügbar. Jedes private Auto kann so quasi zu einem kollektiven Bus werden. Dazu kommt, dass sich im Zuge von Digitalisierung und Social Media das Verhältnis der Menschen zur Privatsphäre stark verändert hat. Mit Fremden nebeneinander im gleichen Fahrzeug zu sitzen, ist heute kein Problem mehr.

Prof. Dr. phil. Andreas Knie

Der Berliner Politik- und Sozialwissenschaftler zählt hierzulande zu den bekanntesten Verkehrsforschern. Im Jahr 2006 gründete Knie das Innovationszentrums für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) und ist heute unter anderem Leiter der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Professor für Soziologie an der TU Berlin. Bis 2016 verantwortete er als Bereichsleiter Intermodale Angebote und Geschäftsentwicklung der Deutschen Bahn AG zudem die Einführung des DB ­Carsharing und des Radverleihsystems Call a Bike.


Bilder: Reiner Kolberg (Portrait Prof. Andreas Knie) , A. Bueckert/stock.adobe.com

Unter dem Namen Carla Cargo hat ein junges Team aus Kenzingen bei Freiburg einen Fahrradanhänger für Schwerlasten entwickelt. Er kann wahlweise mit oder ohne eingebaute Motorunterstützung im Gespann mit Fahrrädern oder Pedelecs, oder solo als Handwagen genutzt werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Für eine hohe Reichweite und Komfort sorgt die optional erhältliche Motorunterstützung, für die Sicherheit eine Auflaufbremse. Einen engen Wendekreis gewährleistet das lenkbare Vorderrad, in dem optional auch ein Radnabenmotor verbaut wird.

Der dreirädrige Cargo-Trailer darf bis zu 150 Kilogramm transportieren, verfügt über eine Ladefläche von 165 x 65 Zentimeter und kann mit verschiedenen Aufbauten ausgerüstet werden. So eine Lösung suchte der Online-Versender Amazon, wurde im Breisgau fündig und bestellte 300 Trailer, um im New Yorker Stadtteil Manhattan Bio-Lebensmittel seiner Food-Tochter schnell und klimafreundlich auszuliefern. Aktuell sind die Lastenanhänger an sieben Tagen der Woche jeweils 14 Stunden im Einsatz und stehen in Ruhezeiten platzsparend hochkant an der Wand.

Nicht nur Lieferdienste gehören zu den Kunden. Ebenso vielfältig wie die Einsatzgebiete sind auch die Nutzer der Anhänger. Nach ökologischen Landwirtschaftsbetrieben in der Anfangszeit kamen Nachfragen von Kurierdiensten, Entsorgern, Handwerkern, Unternehmen und Selbständigen – darunter u.a. Veranstaltungstechniker und Kaminkehrer. Inzwischen liefert Carla Cargo in viele europäische Länder. In den USA, wo die Trailer nach Unternehmensangaben bislang einzigartig sind, soll ein weiteres Standbein aufgebaut werden.


Bilder: Carla Cargo