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Eine Möglichkeit zur Entzerrung der Pendlerströme sehen Expert*innen unter anderem in der verstärkten Nutzung von schnellen S-Pedelecs/E-Bike 45. Um neue Potenziale zu erschließen, bringen Hersteller Innovationen, wie weitgehende Wartungsfreiheit, höhere Reichweiten, Blinker sowie eine adaptive Anpassung der Höchstgeschwindigkeit. Mit Letzterem ließen sich die bislang starren gesetzlichen Klassifizierungen auflösen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


S-Pedelecs funktionieren wie normale E-Bikes: Beim Pedalieren steuert ein Motor im Tretlager oder Hinterrad Kraft bei. Doch anders als das normale Pedelec schaltet der Motor nicht bei erreichten 25, sondern nach EU-Regelung bei maximal 45 Stundenkilometern ab. Realistische Reisegeschwindigkeiten bewegen sich in der Regel zwischen 30 und 35 km/h. Das S-Pedelec ist damit potenziell ein perfekter Autoersatz für Pendler auf Strecken von etwa 5 bis 25 Kilometern Länge. In Citys und Ballungsräumen sind die schnellen E-Bikes potenziell sogar schneller als Autos, die dort eine Durchschnittsgeschwindigkeit von gerade einmal 20 Stundenkilometern erreichen.

Ideales Verkehrsmittel für Pendler

Das S-Pedelec oder E-Bike 45 hat, anders als das normale E-Bike 25, rechtlich keinen Fahrradstatus, sondern wird in die Kleinkraftrad-Kategorie eingestuft (Klasse L1e-B). Neben Zulassung, Versicherungskennzeichen und Führerscheinpflicht hat das hierzulande auch infrastrukturell weitreichende Folgen: Es darf nicht auf Radwegen und auf für Fahrzeuge
gesperrten Straßen, wie Wirtschaftswegen fahren. Eigentlich müssten Fahrer*innen damit in der Praxis beispielsweise auch auf Bundesstraßen fahren, wo zum Teil eine Tempobegrenzung von 100 km/h gilt, selbst wenn nebenan ein breit ausgebauter Radweg oder Radschnellweg vorhanden ist. Oft müssen auch große Umwege im Kauf genommen werden, wenn man legal unterwegs sein möchte. All das sind Gründe, warum das S-Pedelec auf dem deutschen Markt im Gegensatz zu anderen Ländern wie der Schweiz oder den Beneluxländern fast nicht vertreten ist. In einem Hintergrundpapier des VCD wird daher eine Freigabe geeigneter Radwege und Radschnellwege inner- und außerorts für S-Pedelecs gefordert. Die VCD-Sprecherin Anika Meenken fasst es so zusammen: „Das Potenzial von S-Pedelecs wurde bislang vernachlässigt, und das können und dürfen wir uns nicht länger leisten. S-Pedelecs sind eine sinnvolle und wirksame Ergänzung für einen klima- und gesundheitsfreundlichen Mobilitätsmix – sofern die Politik die passenden Rahmenbedingungen schafft.“

„Die Verkehrswende braucht das S-Pedelec – und die Akzeptanz des schnellen E-Bikes nimmt weiter zu.“

David Eisenberger, ZIV

Deregulierung brächte Vorteile für alle

Auch beim Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) sieht man die Möglichkeiten des schnellen E-Bikes derzeit nicht ausgereizt. „Vor allem auf Strecken außerhalb von Ortschaften könnten S-Pedelecs aufgrund ihrer höheren Geschwindigkeit viele Autofahrten ersetzen, wäre diesen Rädern die sichere Nutzung nicht rechtlich verwehrt“, so David Eisenberger vom ZIV. Außerhalb von Ortschaften könne man sich aufgrund der hohen Geschwindigkeitsunterschiede zwischen Lkw, Pkw und E-Bikes auf einer gemeinsamen Fahrbahn nicht sicher fühlen. Meist ernte man völliges Unverständnis, wenn man regelkonform die Straße statt des Radwegs nutze. „Dabei profitierten auch Pkw-Fahrende von einer verstärkten Nutzung der schnellen Räder. Daher sollte auch der Autolobby daran gelegen sein, das Regelwerk zu ändern.“ Der ZIV wirbt als Radfahrer-Lobby der Indus-trie öffentlich, aber auch im direkten Kontakt mit Politikern „hinter geschlossenen Türen“ zunächst, insbesondere für die Änderung der Radwegnutzung außerhalb von Ortschaften. „Wir sind zuversichtlich, dass es bald eine Lösung geben wird. Die Verkehrswende braucht das S-Pedelec – und die Akzeptanz des schnellen E-Bikes nimmt weiter zu“, sagt David Eisenberger.

„Wir arbeiten daran,

die Stimme der Industrie

stärker zu machen.“

Ties Carlier, Van Moof

Dynamische Regelungen als neuer Lösungsansatz

Was wäre, wenn man mit technischer Hilfe die Maximalgeschwindigkeit entsprechend den äußeren Bedingungen anpassen könnte? Diese Frage werfen BMW sowie VanMoof, ein dynamisch wachsender niederländischer E-Bike-Hersteller, auf. VanMoof überraschte jüngst mit der Ankündigung, dass der Antrieb des neu vorgestellten S-Pedelec-Modells „V“ nicht EU-konform bei 45 km/h, sondern erst bei 50 km/h abgeregelt werden solle. Eine integrierte elektronische Anpassung der möglichen Höchstgeschwindigkeit solle zudem automatisch die Kompatibilität des „Hyperbikes“ für die jeweils vor Ort geltende Regelung gewährleisten.
Die VanMoof-Gründerbrüder Ties und Taco Carlier fordern dazu in einer Pressemitteilung Gesetzgeber und Stadtverwaltungen auf, die E-Bike-Vorschriften zu überarbeiten, um die Entwicklungen im Bereich S-Pedelec als Pendlerfahrzeug voranzutreiben. „Auch auf EU-Ebene arbeiten wir daran, die Stimme der Industrie stärker zu machen.“
Ein ganz ähnliches E-Bike-Konzept zeigte BMW kürzlich mit einer Studie auf der Messe IAA Mobility. Drei Fahrstufen mit maximal 25, 45 oder 60 km/h soll das Konzept-E-Bike „BMW i Vision Amby“ bieten und in der stärksten Stufe eine Reichweite von bis zu 75 Kilometern. Amby steht dabei für „Adaptive Mobility“. Eine manuelle Wahl der Fahrstufe soll ebenso denkbar sein, wie die automatische Erkennung von Position und Straßentyp per Geofencing-Technologie und eine damit verbundene automatische Anpassung der Höchstgeschwindigkeit. Da es die rechtlichen Rahmenbedingungen für derartige Fahrzeuge mit modularem Geschwindigkeitskonzept noch nicht gibt, wollen die Hersteller Möglichkeiten aufzeigen und einen Impuls für neue Gesetze geben. „Überall brechen scheinbar feste Kategorien auf – und das ist gut“, so Werner Haumayr, Leiter der BMW Group Designkonzeption. „In Zukunft sollen nicht Einteilungen wie ‚Auto‘, ‚Fahrrad‘ und ‚Motorrad‘ bestimmen, was wir denken, entwickeln und anbieten. Vielmehr gibt uns dieser Paradigmenwechsel die Möglichkeit, Produkte an den Lebensgewohnheiten von Menschen auszurichten.“

„In Zukunft sollen nicht Einteilungen wie ‚Auto‘, ‚Fahrrad‘ und ‚Motorrad‘ bestimmen, was wir denken, entwickeln und anbieten.“

Werner Haumayr, Leiter der BMW Group Designkonzeption
„Mit dem BMW i Vision Amby, dem ersten High-Speed-Pedelec für Urbanisten, präsentiert die BMW Group einen visionären zweirädrigen Lösungsansatz für die urbane Mobilität von morgen“, heißt es in der Pressemitteilung von BMW. Ein Schwestermodell aus dem Motorradsegment als Studie und verschiedene Serien-E-Roller sollen das Angebot komplettieren.

Lösung: Geschwindigkeiten regional anpassen

Mit Geofencing-Technik und einem entsprechenden Netzwerk würden die neuen E-Bikes so gesteuert, dass sie auf dem Radweg innerorts nur bis maximal 25 km/h unterstützen, auf freigegebenen Strecken etc. aber deutlich schneller sind. Dass sich die Gesetzgeber auf Länder- bzw. EU-Ebene in Kürze mit entsprechenden Regelungen beschäftigen, ist wenig wahrscheinlich. Leichter als vielfach gedacht, ist es dagegen für Stadtverwaltungen für Verbesserungen zu sorgen. Wie das Beispiel des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer zeigt, ist es in den Gemeinden mit wenig Aufwand möglich, Radwege für den S-Pedelec-Verkehr freizugeben und das Rad-Pendeln damit wesentlich zu erleichtern.

Viel Kraft, hohe Reichweite und extrem wartungsarm: S-Pedelecs der neuesten Generation, wie das Klever X Alpha, sind für viele ein echter Autoersatz.

Kraftvoll, wartungsfrei, innovativ und mit hoher Reichweite

Insgesamt hat sich bei der aktuellen Generation der S-Pedelecs inzwischen eine Menge getan. Die schnelle Klasse hat inzwischen bei vielen Herstellern einen festen Platz im Programm, unter anderem auch als Lastenrad. Auf kraftvolle Bikes als echte Auto-Alternative für Vielfahrer und Pendler haben sich beispielsweise Stromer aus der Schweiz und Klever Mobility, Tochter der weltweit für Motorroller bekannte Kymco Unternehmensgruppe spezialisiert. Beim neuen Spitzenmodell X Alpha setzt Klever erstmals einen 800 Watt starken Heckmotor für „echte 45 km/h“, so der Hersteller, ein. Der wird mit einem 12-Gang-High-End-Getriebe von Pinion und Riemenantrieb kombiniert. Damit ist das E-Bike enorm stark und zudem besonders wartungsarm. Der 1.200-Wh-Akku soll laut Hersteller bei maximaler Motorunterstützung für 70 Kilometer Reichweite selbst unter widrigen Bedingungen sorgen. Von außen zeigen EU-konforme Blinker, dass es sich hier nicht um ein normales Pedelec handelt. Und warum kein E-Roller? „Mit einem S-Pedelec bleibt man immer in Bewegung und gesund“, betont Niklas Lemm von der europäischen Klever Zentrale in Köln. „S-Pedelecs sind ideal als Ganzjahresfahrzeug für Pendler, weil man im Winter nicht friert und im Sommer nicht schwitzt.“ Mit der richtigen Bereifung, modernster Beleuchtung und guter Kleidung und Hightech-Helmen ist man auch in der dunklen Jahreszeit sicher unterwegs.


Bilder: BMW Group, ZIV, Vanmoof

Corona, Klimakrise, Verkehrschaos: Kommunen spüren immer deutlicher, dass der Ausbau von Radinfrastruktur schneller vorankommen muss. Warum dauert es oft so lange, und was könnte die Umsetzung beschleunigen? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Eine Spiegel-Meldung aus dem Juni karikierte die aktuelle Planungssituation geradezu: „Bahn baut 83 Oberleitungsmasten auf geplante Radschnellweg-Trasse“, hieß es da. Gemeint war der Radschnellweg Ruhr, der quer durch das Ruhrgebiet laufen soll, von Duisburg nach Hamm. In der Broschüre des Verkehrsministeriums von 2016 wird er als „ab 2020 durchgängig befahrbar“ angekündigt. Derzeit gibt es von geplanten gut 110 Kilometern allerdings nur rund 14 Kilometer, einen großen Teil zwischen Mühlheim und Essen. Man scheint so an den Planungs- beziehungsweise Umsetzungsstillstand gewöhnt, dass die schnelle Alternative für Radfahrende praktisch „vergessen“ wurde. Damit wurden Fakten geschaffen und die Radschnellweg-Route muss wieder umgeplant werden.
Vor dem Hintergrund der langwierigen Prozesse hat sich der Fokus der Diskussionen inzwischen verschoben: Den Verkehrs- und Fahrradinitiativen geht es heute kaum mehr um den „richtigen“ Modus, in dem sich die Radinfrastruktur innerstädtisch darstellt. Farblich gekennzeichneter Radweg auf der Fahrbahn, straßenbegleitend oder Protected Bike Lane als Königsweg – diese Fragen sind in den Hintergrund gerutscht. „Es muss jetzt etwas passieren“, hört man von den Sprecher*innen der Verbände.

„Politisch-strategisches Denken kann Vorgänge beschleunigen.“

Ralph Kaulen, Stadt- und Verkehrsplanung Kaulen

Beschleunigung durch strategische Lösungen

Auch der Leiter des Stadt- und Verkehrsplanungsbüros Kaulen in Aachen, Ralf Kaulen, sieht ein drängendes Zeitproblem. „Bei der Analytik, bei den Zielen Verkehrssicherheit und Klimaschonen herrscht Konsens. Zoff gibt’s, sobald die entsprechenden Maßnahmen geplant werden. Konkret ist es immer die Aufteilung des Platzes. Und da sind Rechtsstreite nicht selten. Schnell könnten zehn Jahre vergehen, bevor es weitergeht. In NRW sei zudem das Kommunalabgabengesetz des Landes problematisch, mit dem Anrainer finanziell an baulichen Veränderungen beteiligt werden. „Dieses Gesetz muss weg“, so die klare Stellung Kaulens. Es führe zu Scheindiskussionen und verschleppe Entscheidungen.
Ein weiterer problematischer Punkt ist für ihn die Platzumverteilung – vor allem auch das Abstellen und Parken von Fahrzeugen. „Ich muss den Menschen erklären können, wo sie in Zukunft ihre Autos lassen – und zwar, bevor ich anfange, die Parkplätze abzubauen“, so Kaulen.
Ein Katalysator hierbei: politisch-strategisches Denken. So nennt er als Beispiel den Leiter des Mobilitätsreferats in München, Georg Dunkel, der viel auf Aufklärung setzt, aber auch sehr strategisch vorgeht, um Entscheidungen zu beschleunigen: Er zeigte, dass die unvermeidliche Parkplatzumwidmung für eine neue Radachse, die durch eine Flanier- und Einkaufsmeile führt, wesentlich besser zu argumentieren ist, als eine Alternative durch ein Wohnviertel. Dort wären 2.000 Parkplätze wegfallen, so nur 900. Das Votum für die Route durch die Flaniermeile war entsprechend eindeutig. Und wie sieht Kaulen Pop-up-Radwege als Beschleuniger? „Dieser Pragmatismus ist gut, aber es geht letztendlich immer um die Knotenpunkte“, sagt der Planer. „Sie machen den Stress, hier muss man zuerst ansetzen und sie sicher gestalten.“

Integrativ denken, Tempo verringern

„Umsetzung von Infrastruktur-Plänen geht nicht von heute auf morgen“, warnt Burkhard Horn, manche Prozesse bräuchten einfach ihre Zeit. Der „oberste Verkehrsplaner von Berlin“, so ein Bericht in der Berliner Zeitung aus seiner Zeit in der Hauptstadt, hat 25 Jahre in Verwaltungen gearbeitet und ist heute freiberuflicher Berater an der Schnittstelle von Verkehrspolitik und Verkehrsplanung. „Manchmal tun sich Menschen in der Verwaltung schwer mit neuen Dingen, aber auch der Politik fällt es nicht leicht, Konflikte auszutragen.“ Grundsätzlich warnt er davor, sich auf die alleinige Umsetzung von Infrastrukturplänen zu konzentrieren und dabei das große Ganze aus dem Blick zu verlieren. Denn das könne eine Sackgasse sein. Beispiel: Auch hoch frequentierte innerstädtische Straßen sind oft zu schmal, um dort Radwege unterzubringen. „Hier hilft es beispielsweise, Tempo 30 anzuordnen, soweit das die StVO an der jeweiligen Stelle zulässt“, so Horn. „Integrativ zu denken ist immer gut.“ Und: Was man schnell umsetzen könne, das sollte man auch sofort tun, wie eben Tempo 30. „Damit Veränderung sichtbar wird.“ Der politische Wille werde so von der Öffentlichkeit erkannt und aus dem Erfolg provisorischer Veränderungen könne man lernen. Das Zurücknehmen von einfachen Veränderungen ohne großen baulichen Einsatz, wie etwa einem Pop-up-Radweg, sei ist kein Problem – falls es denn nötig werden sollte.

Bei breiten Straßen unproblematisch für Entscheider wie Planer: Radwege, die einen vollen Fahrstreifen einnehmen, sind sicherer und komfortabler als hinzu gezwängte Radspuren.

Zeichen setzen mit pragmatischen Lösungen

Sind Pop-up-Lösungen und Umweltspuren politisch verträglicher als die Neuplanung von Radwegen? Das sehen heute viele Experten und Verbände wie der ADFC in Düsseldorf so. In der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt wurden beispielsweise im Sommer 2020 auf der den Rhein aus der Innenstadt heraus begleitenden Cecilienallee Pop-up-Radwege angelegt. Eine knappe Fahrspur der vierspurigen Straße wurde mit Warnbaken abgegrenzt und für den Radverkehr in Richtung der stark frequentierten Deich-Radwege umgewidmet. „Vom Grundsatz her fanden wir diesen pragmatischen Ansatz gut“, sagt Lerke Tyra, stellvertretende Vorsitzende des ADFC Düsseldorf, „auch wenn wir gern bei der Ausführung beraten hätten. Und auch die Umweltspuren waren von der Idee her gut.“ Dafür waren 2018 auf mehreren Straßen der Innenstadt die rechte von zwei Fahrspuren vorübergehend auf Bus-, Taxi- und Radverkehr umgewidmet worden – was dem damaligen OB Geisel neben viel Lob auch verärgerte Stimmen einbrachte. „Diese Umwidmungen waren ein pragmatisches, schnell umsetzbares Zeichen, dass der politische Wille da ist. Wir wünschen uns zwar eigene Radspuren für mehr Sicherheit und auch mehr Sicherheitsempfinden bei den Radfahrerinnen“, so Tyra, „aber es war ein echter Anfang.“ Beim Düsseldorfer ADFC findet man, dass sich Deutschland nicht nur bei der Form der Radinfrastruktur, sondern auch in deren Entwicklung und Ausbau viel von den Niederlanden abschauen könnte. Lerke Tyra bekommt in Besprechungen mit Expertinnen aus den Niederlanden immer wieder zu hören: „Ihr plant für die Ewigkeit, macht doch einfach mal.“ Damit es schneller geht, sitzt der ADFC in Düsseldorf zusammen mit einem Vertreter des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) in der sogenannten Kleinen Kommission Radverkehr. Hier wird dem Verkehrsausschuss zugearbeitet und die dortige Entscheidungsfindung vorbereitet. Diese Gremienstruktur bringt bereits Zeitersparnisse bei den Entschlüssen.

„Was man schnell umsetzen kann, sollte man auch sofort tun. Damit Veränderung sichtbar wird.“

Burkhard Horn, Berater und Verkehrsplaner

Schnelle Lösungen ohne große bauliche Veränderungen. Die geschützten Radwege in Berlin haben Vorbildfunktion und Signalwirkung.

Einfach mal etwas weglassen?

Wie wäre es mit Pragmatismus bei der baulichen Ausführung der Strecken? Kann man den Bau nicht beschleunigen, indem man „nicht für die Ewigkeit“ baut? Wäre es zum Beispiel beschleunigend für die Fertigstellung des Radschnellwegs Ruhr, bestimmte Abschnitte nicht zu versiegeln? Praxisgerecht wäre das nicht, so Planer Kaulen: „Die bauliche Ausführung macht zeitlich kaum einen Unterschied mehr. Der Weg muss ohnehin so aufgebaut sein, dass dort auch Wartungs- und Rettungsfahrzeuge fahren können. Ob auf den entsprechenden Unterbau nun eine Asphaltdecke oder eine wassergebundene Decke kommt, ist von der Bauzeit her sekundär.“ Außerdem sei, gerade auf Radschnellwegen, die fehlende Asphaltdecke aus Sicht der Radfahrenden eine starke Qualitätseinbuße.

„Einfach mal anfangen. Die Anfeindungen waren anfangs unglaublich, jetzt sind fast alle zufrieden.“

Reinhold Goss, Bicycle Mayor, zur preisgekrönten Initiative #RingFrei

Besser: Pragmatismus als Mut, schnell zu handeln

Im Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin läuft derzeit in Zusammenarbeit mit drei Kommunen ein Projekt zum Thema „Radverkehrsförderung beschleunigen, Planungsprozesse optimieren.“ „Was hemmt den Ablauf, was können Kommunen tun?“, fragt Projektleiter Thomas Stein. „Den Städten ist bewusst, dass es an vielen Stellen an geeigneter Infrastruktur mangelt. Für uns haben wir schon einen wichtigen Punkt herausgearbeitet: Wir müssen Akteure besser zusammenbringen.“ So soll auf Grundlage der Projektarbeit ein Leitfaden-Baukasten für die Kommunen entstehen. Redundante Diskussionen sind oft auch ein Organisations- und Informationsproblem, stellte man fest. Planende und anordnende Abteilungen sollten deshalb grundsätzlich zusammengeführt werden, auch räumlich. Das breite Interesse dafür ist da: Ein Beirat aus 15 Städten unterstützt das Projekt.
Temporäre Lösungen, wie Pop-up-Radwege sind auch hier ein zentraler Punkt. „Erst mal Dinge auf die Straße bringen, dann sehen, was ich damit erreichen kann. Die sogenannte Erprobungsklausel in der StVZO macht es möglich. Pragmatismus folgt aus dem Mut zu handeln“, betont Difu-Experte Thomas Stein.

Entspannt und sicher unterwegs. Der RS1, Radschnellweg Ruhr, wird sowohl werktags von Pendlern als auch am Wochenende viel frequentiert.

Evaluation fördert die Akzeptanz

„Ein numerischer Nachweis von Erfolg im Nachgang ist für die Überzeugungskraft von mutigen Entscheidungen aber oft wichtig“, ergänzt Thomas Stein. Evaluationen der Ergebnisse einer Umstrukturierung seien meist auch relativ einfach zu erhalten. So hat die Technische Universität Dresden einen Leitfaden zur Evaluierung von Radverkehrsanlagen erarbeitet. Sie verweist auf die klassische Verkehrszählung mit mobilen Radargeräten oder den typischen Fahrradzählsäulen. Oft können Städte auch durch Partnerschaften mit Bike-Pendler-Apps, wie Bike Citizens, bereits ohnehin auf viele Daten zum Radverkehr zurückgreifen. Weitere Partner können digitale Sportler-Tracking-Portale mit Handy-Apps wie Strava sein. Allerdings muss dabei zwischen Routen, die vor allem von Freizeitfahrerinnen und Sportlerinnen genutzt werden, und Alltags- beziehungsweise Pendlerstrecken bei der Auswertung unterschieden werden.

Köln: „Pragmatismus ist
Bürger-Mitverantwortung“

Der Umbau des Kölner Sachsenrings ermöglichte eine sichere und schnelle Route vom Westen in die Südstadt.

Nach einer Reihe schlimmer, zum Teil tödlicher Unfälle zwischen Autofahrenden, Radfahrenden und zu Fuß gehenden am Kölner Innenstadtring gründete Reinhold Goss 2016 zusammen mit Mitstreiter*innen, unter anderem aus dem Einzelhandel, die Initiative #RingFrei. Sie setzte sich das Ziel, den Ring, der lange Zeit gleichzeitig Flanier- und Autoposer-Meile war, für alle sicherer und attraktiver zu machen. „Wir trafen nach den Unfällen den Nerv der Zeit“,
erzählt der heutige ehrenamtliche Fahrradbürgermeister der Stadt Köln. Die Bezirksvertretung stellte sich schnell hinter ein 10-Punkte-Papier der Initiative: Von „Tempo 30“, „Umwidmung einer ganzen Fahrspur“ bis hin zu einer begleitenden Kampagne „Radverkehr ist Verkehr“ waren viele wichtige Forderungen darin. Und man ging schnell praktisch an die Sache. Ein Workshop mit verschiedenen Verbänden, der Polizei und Vertretern des Verkehrsausschusses fing 2016 an zu entwickeln. Auch wenn die Verwaltung nach Reinhold Goss zunächst wenig Elan für Veränderungen zeigte, gab es schnell Fortschritte. Ein Aktionstag im September 2017 bestätigte in der Praxis auf einer Strecke von 800 Metern, wie der Kölner Ring fahrradfreundlich werden könnte. „Der Aktionstag war ein voller Erfolg“, so Goss. „2018 wurden dann die ersten Abschnitte des Rings umgebaut, die rechte Fahrspur zur Fahrradspur umgewidmet.“ Er schränkt ein: „Es ist aber heute noch ein Flickenteppich. Wir sind bei 80 Prozent Umsetzung, aber an die wirklich gefährlichen Stellen trauen wir uns noch nicht ran.“ Was ist für ihn das Learning aus dieser Entwicklung? „Wir brauchen zunächst die richtige Vorgehensweise“, resümiert Goss. „Dazu müssen wir immer wieder erst ausprobieren!“ So wie beim Aktionstag, der tatsächlich sehr schnell auch Zweifler überzeugen konnte. „Einfach mal anfangen. Die Anfeindungen waren anfangs unglaublich, jetzt sind fast alle zufrieden“, sagt er. Und die Verwaltung sei stolz, dass man das so gut hinbekommen hat. Ein weiteres Learning: Standards, die für Radverkehr selbstverständlich sind, müssen gleich mitgedacht werden. „Da ist zum Beispiel das freie Rechtsabbiegen an der roten Ampel für den Radfahrer. Wir müssen so weit kommen, dass diese Dinge in die Planung integriert werden.“ Und Tempo 30 sollte immer eine Basis sein. „Die Unfallquote ist jetzt sehr gering. Aber die Hauptsache“, resümiert der Kölner Fahrradbürgermeister, „Pragmatismus ist Bürger-Mitverantwortung.“


Bilder: Georg Bleicher, Philipp Boehme, Reinhold Goss, Stadt- und Verkehrsplanungsbüro Kaulen SVK

Rotterdam baut seine Innenstadt seit einigen Jahren fundamental um. Das Zentrum soll zur „City Lounge“ werden. Zufußgehen und Radfahren haben dann ebenso oberste Priorität wie der Zugang zu mehr Grün für alle Bewohner der Hafen- und Industriestadt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Von Rotterdams Innenstadt war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr viel übrig. Alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen riesige Brachflächen rund um die Laurenskerk (Laurenskirche). Dort, wo sich einst die Altstadt befand, wurden in der Folge breite, mehrspurige Straßen gebaut sowie riesige Kreisverkehre für Autos und Straßenbahnen. Bis zum Jahr 2000 hatte die boomende Industriestadt am Flussdelta von Rhein und Maas das amerikanischste Straßennetz der Niederlande. Dann fand ein Kurswechsel statt. Das neue politische Ziel ist, das Zentrum in eine moderne „City Lounge“ zu verwandeln. Wo heute noch Autos fahren und parken, sollen Wiesen und Parks entstehen und der rasant wachsenden Bevölkerung Platz zum Bewegen, Spielen und Pausieren bieten. Dafür muss der Autoverkehr massiv zurückgedrängt und durch mehr Rad- und Fußverkehr ersetzt werden. Das Tempo, mit dem Politik und Planer den Wandel vorantreiben, ist hoch.

Ambitionierte Ziele für die Industriestadt

Außenstehenden erscheint die Stadt mit dem größten Seehafen Europas wie ein riesiges Pilotprojekt. Seit 15 Jahren wird die Stadt bereits umgebaut. Das hat einen Grund: Die Industrie- und Autostadt soll klimaresilient werden. Um das zu erreichen, hat die Stadt 2020 beschlossen, in den kommenden zehn Jahren sieben Stadtprojekte umzusetzen. Mit 230 Millionen Euro sollen sieben grüne Lungen im Zentrum entstehen, die bei Starkregen das Wasser aufnehmen und bei extremer Hitze die Umgebung kühlen. Dafür wird etwa ein großer Parkplatz begrünt, ein Park in Größe von elf Fußballfeldern direkt am Hafen geschaffen und ein Eisenbahnviadukt in einen Park verwandelt, der sich durch mehrere dicht besiedelte Stadtteile zieht. „Rotterdam hat ambitionierte Ziele und traut sich, sehr innovativ zu sein“, sagt Sophie Simon, Mobilitätsexpertin des niederländischen Beratungsunternehmens Mobycon. Die Verkehrsexpertin lebt in der Hafenstadt und bekommt den Umbau täglich mit. Der Wandel ist rasant. Noch vor zehn Jahren lag der Anteil des Radverkehrs hier mit gerade mal 20 Prozent und damit weit unter dem landesweiten Wert von 27 Prozent. Aber die Hafenstadt holt auf. 2020 legten bereits 28 Prozent der Menschen ihre Wege mit dem Rad zurück und es werden stetig mehr. Die Basis für den Umstieg bilden unter anderem die Fußgängerstrategie, das neue Parkraummanagement und das zukunftsweisende Mobilitäts- und Fahrradkonzept.
Der Name des Fahrradkonzepts ist Programm: „Fahrradkurs 2025 – Das Fahrrad als Hebel in der Rotterdamer Mobilitätswende“ heißt der Titel (Fietskoers 2025 – De Fiets als hefboom in de Rotterdamse mobiliteitstransitie). Für die Hafenstadt bedeutet das: Menschen jeden Alters und Einkommens sollen hier zukünftig sicher und komfortabel mit dem Rad von zu Hause ans Ziel kommen.

„Die Menschen suchen sich nicht nur alternative Routen, sie steigen auch auf andere Verkehrsmittel um.“

Bart Christiaens, Fahrradkoordinator in Rotterdam

Mehr als der Wechsel von einem Verkehrsmittel zum anderen. Die Stadt soll grüner werden, den Menschen im Sommer Schatten spenden und Platz zum Verweilen anbieten.

Umbauprojekt „Coolsingel“

Wie die neue Infrastruktur dafür in der Praxis aussehen könnte, lässt sich heute ein wenig in der umgebauten Straße „Coolsingel“ erahnen. Sie ist rund 700 Meter lang und eine der Hauptachsen in der Innenstadt. Anfang 2018 waren hier noch täglich rund 22.000 Autos unterwegs, außerdem Straßenbahnen sowie Rad-fahrerinnen und Fußgängerinnen. Dann wurde der Coolsingel umgebaut. Seitdem gibt es auf der Westseite der Tram statt einer zweispurigen Fahrbahn einen 4,5 Meter breiten Zweiwege-Radweg. Der Rest der Fahrbahn wurde zum Fußweg. Autoverkehr gibt es nur noch auf zwei Fahrspuren östlich der Tram und nur noch mit Tempo 30. Das zeigt Wirkung. Der Verkehrslärm ist seit dem Umbau deutlich zurückgegangen. Auch der sandfarbene Radweg und das helle Pflaster der erweiterten Fußgängerpromenade – gut gegen das Aufheizen im Sommer – haben die Straße verändert. Mit den 77 schattenspendenden Baumriesen (38 wurden neu gepflanzt) und den vielen neuen Sitzgelegenheiten unter den Laubbäumen steigt die Aufenthaltsqualität. Es erinnert an die großzügigen Boulevards in Südeuropa. Rund 58 Millionen Euro hat der Umbau gekostet. Geht das Konzept der Planerinnen auf, sind hier langfristig nur noch 10.000 Autos unterwegs. „Wenn ich dort bin, habe ich den Eindruck, dass bereits heute deutlich weniger Autos unterwegs sind“, sagt Bart Christiaens, Fahrradkoordinator von Rotterdam. Die genauen Zahlen kennt er noch nicht, denn die will die Gemeinde für eine realistische Einschätzung erst nach der Pandemie erheben. Aber schon während der Bauphase habe sich ein Teil des Verkehrs verlagert, sagt Christiaens. In einigen Nebenstraßen sei die Zahl der Autos etwas gestiegen, aber in einem geringeren Ausmaß, als es die Verkehrsanalyse vorhergesagt habe. Ein Teil der Fahrzeuge, die zuvor auf dem Coolsingel unterwegs gewesen seien, seien einfach verschwunden. Dieses Phänomen erleben Verkehrsplaner immer wieder, selbst beim Einrichten von Baustellen. „Die Menschen suchen sich nicht nur alternative Routen, sie steigen auch auf andere Verkehrsmittel um“, erläutert Christiaens das Phänomen. Trotz des guten Starts bleibt für ihn die Verkehrsentwicklung im Coolsingel in den kommenden Monaten spannend. In der unmittelbaren Nähe der Straße befindet sich rund ein halbes Dutzend Parkhäuser. „Die Frage ist, ob die Menschen zu den Einkaufszentren und in die Kinos weiterhin mit dem Auto fahren oder Alternativen nutzen“, sagt er. Das neue Parkraummanagement sieht vor, dass mehr Menschen den ÖPNV nutzen (siehe Kasten). Aber Christiaens weiß: „Die Menschen brauchen eine gewisse Zeit, um sich an die neue In-frastruktur zu gewöhnen.“ Rund um den Coolsingel wird diese Phase wohl noch eine Weile andauern. Schließlich sind die nächsten Großprojekte dort bereits in Planung. In ein paar Jahren soll der angrenzende Hofplein (Hofplatz) mit seinem 20 Meter breiten Springbrunnen umgebaut werden. Seine Neugestaltung ist eines der sieben Stadtprojekte und soll Radfahrerinnen, Fußgängerin-nen und Anwohnerinnen den Zugang überhaupt erst ermöglichen. Bislang umrunden Autos und Busse auf drei Fahrspuren den Brunnen, dazwischen kreuzen die Straßenbahnen. Fuß- oder Radverkehr waren hier nicht vorgesehen. Nach dem Umbau soll der Brunnen zum Herzstück des neuen Parks werden, mit vielen Fußwegen und Sitzgelegenheiten für die Anwohner. Die Straßenbahn darf weiterhin passieren, der Autoverkehr wird jedoch in einem großen Bogen um den Park herumgeführt.

Die Illustration zeigt, wie der Hofplein nach dem Umbau aussehen soll: Der Springbrunnen wird zum Zentrum eines neuen Parks für die Anwohner des Viertels.
Der Bahnhof im Zentrum ist Rotterdams Foyer zur Stadt und gibt einen Ausblick auf ihre Zukunft. Rad fahren, zu Fuß gehen oder der Umstieg auf Bus und Bahn sollen überall so leicht und komfortabel werden wie hier.

Schnelle Umsetzung von Großprojekten

Für die Transformation setzt Rotterdam auf eine breite interdisziplinäre Beteiligung. 25 Partner haben die sieben Stadtprojekte mitentwickelt. Ihre Fachrichtungen reichen von der Architektur über die Kunst und den Jugendrat, bis hin zu Vertreter*innen sozialer Organisationen und der Gemeinde. Die Phase von der Planung bis zur Eröffnung ist mit rund zehn Jahren sehr knapp bemessen. „Der Coolsingel ist etwa innerhalb von drei Jahren geplant und umgebaut worden“, sagt Sophie Simon. Dass es so schnell geht, liegt aus ihrer Sicht an dem Regelwerk „CROW“ für Verkehrsplaner, das der deutschen ERA (Empfehlungen für Radverkehrsanlagen) entspricht. „Sämtliche Infrastruktur aus den Niederlanden baut auf den CROW-Richtlinien auf“, sagt die Mobycon-Expertin. Die Planer und die Verwaltungen orientierten sich an den modernen Richtlinien, weshalb der Bau von Radinfrastruktur in den Niederlanden deutlich schneller vonstattengehe als in Deutschland. „Die ERA ist veraltet. Viele deutsche Städte entwickeln deshalb eigene Standards“, sagt die Expertin. Das kostet Zeit. Sie sagt: „Es wäre viel einfacher, wenn alle ein einheitliches Regelwerk verwenden würden.“

28 %

28 Prozent der Menschen legten 2020
ihre Wege mit dem Rad
zurück, und es werden stetig mehr.

Vor dem Umbau: Bürgerbeteiligung und Pop-up-Tests

Zu jeder Planung gehört in den Niederlanden auch der intensive Austausch mit den Bürgerinnen vor Ort. „Bereits vor der ersten Planung befragt man die Anwohnerinnen; was gut und was schlecht in ihrer Straße funktioniert, worauf sie stolz sind und wo sie sich gerne aufhalten“, sagt Sophie Simon. Dieser Austausch werde zur Halbzeit und gegen Ende der Planung wiederholt. Für sie ist das Feedback wertvoll. „Manche Pläne funktionieren gut in der Theorie, aber nicht in der Praxis“, sagt sie. Deshalb sei es wichtig, nachbessern zu können. Außerdem zeige der Dialog den Bürgerinnen und Bürgern, dass Entscheidungen nicht über ihren Kopf hinweg getroffen werden.
In Rotterdam werden die neuen Pläne vor dem schlussendlichen Umbau in einem Testlauf ausprobiert. Das gilt beispielsweise auch für die Sperrung einer Nebenstraße des Coolsingels. In der „Meent“ störten „Auto-Poser“ seit Langem die Nachtruhe der Anwohnerinnen. Um das abzustellen, wurde die beliebte Flaniermeile für den Autoverkehr zeitweise gesperrt. Zunächst für zwei Monate jeweils donnerstags, freitags und am Wochenende. Bewährt sich die Sperrung, soll sie laut Sophie Simons dauerhaft umgesetzt werden. Auch in den Niederlanden sind nicht alle vom Kurs der Politik begeistert. Trotzdem bleibt der große Protest aus. „Die Akzeptanz ist größer, weil das Fahrrad omnipräsent in unserer Gesellschaft ist“, sagt Sophie Simon. Aber anscheinend zeigt auch die Umgestaltung der Innenstadt Wirkung. Christiaens bemerkt einen Wandel während des Feedback-Prozesses. „Die Menschen kommen zu unseren Veranstaltungen und unterstützen unsere Idee zum Umbau der Stadt“, sagt er. Das ist selbst in den Niederlanden neu und bestärkt die Planerinnen auf ihrem Weg.

Sichtbare Mobilitätswende

Die Mobilitätswende und die steigende Aufenthaltsqualität sind bereits vielerorts sichtbar und spürbar. Besonders deutlich ist das für Touristinnen am Hauptbahnhof. Früher verliefen direkt vor der Eingangshalle eine mehrspurige Straße und das Schienennetz. Wer heute aus der lichtdurchfluteten, weitläufigen Halle tritt, steht auf einem riesigen Vorplatz, auf dem sich vor allem Fußgängerinnen und Radfahrerinnen tummeln. Linke Hand geht es für Pendelnde und Reisende weiter zur Straßenbahn. Fahrradpendlerinnen erreichen nach wenigen Schritten einen der beiden Eingänge zum unterirdischen Fahrradparkhaus. Laufbänder bringen sie ins Untergeschoss zu den rund 5.200 Fahrradstellplätzen. Autopendler*innen hingegen müssen ein paar Hundert Meter laufen, um zu unterirdischen Parkhäusern zu gelangen. Wer nicht unbedingt darauf angewiesen ist, lässt sich auch nicht mit dem Auto abholen, denn die einspurige Einbahnstraße vor dem Bahnhof lässt keinen Stopp zu. Ähnlich sieht es auf der Rückseite des Bahnhofs aus. Die wenigen Parkplätze dort sind für Taxis reserviert. Mit dem neuen Bahnhof hat die Stadt ein Statement gesetzt. Das Zeitalter des Autos geht langsam zu Ende in der Stadt. Wer in Rotterdam zu Fuß, mit Bus, Bahn oder Rad unterwegs ist, bekommt Vorrang – jedenfalls langfristig. Bis es tatsächlich so weit ist, müssen noch viele Straßen umgebaut werden. Neben Raum zum Fahren brauchen Radfahrende aber auch Stellplätze für ihre Räder.

Ein Fahrradparkhaus und 1.000 zusätzliche Stellplätze am Bahnhof reichen nicht mehr aus, um den Bedarf zu decken.

Auch die Doppelstockparker an der Markthalle reichen nicht mehr für Pendler*innen, die von hier aus per Bus, Bahn oder Metro weiterreisen.

Mehr Fahrradstellplätze benötigt

15.000 Fahrradstellplätze gibt es momentan im Zentrum. Das klingt viel. Gebraucht werden aber 45.000, also dreimal so viele. Dass die Stellplätze nicht reichen, hat einen Grund: In den vergangenen zehn Jahren sind 60 Prozent mehr Menschen aufs Rad gestiegen als zuvor und es werden täglich mehr. „Entsprechend viele Räder stehen überall in der Innenstadt am Straßenrand“, sagt Sophie Simon. Das gilt auch für die Wohngebiete. „In der Straße, in der ich wohne, gibt es zehn Fahrradbügel“, sagt sie. Dabei würden Hunderte gebraucht. Aus ihrer Sicht wäre es am einfachsten, in jeder Wohnstraße ein bis zwei Pkw-Stellplätze in Fahrradparkplätze umzuwandeln. Das ist momentan nicht vorgesehen. Allerdings können sich die Anwohnerinnen bei Bedarf direkt an die Stadt wenden. „Wenn drei Anwohner gemeinsam eine Anfrage stellen, dann wird für drei bis sechs Monate ein sogenanntes Fietsvlonder (Fahrradgeländer) aufgestellt“, sagt der Fahrradkoordinator. Das Pop-up-Kunststoffdeck mit zehn Fahrradbügeln wird auf einem Parkplatz abgestellt. Wenn die Fahrradbügel gut genutzt werden und sich die übrigen Anwohnerinnen nicht beschweren, dann wird das temporäre Modul durch einen dauerhaften Fahrradstellplatz ersetzt. Das gelingt laut Christiaens bei 80 Prozent der Pop-up-Stellplätze. Die Maßnahme ist jedoch nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. „Das Fahrradparken ist aktuell unsere Achillesferse“, so Christiaens. Mit seinem Team stockt er die Zahl der Stellplätze zwar permanent auf. Erst im Sommer kamen unter anderem rund 1.000 Stellplätze am Bahnhof hinzu und in der Nähe des Coolsingels wurde eine Fahrradgarage für 450 Räder eröffnet. Trotzdem fehlen große Flächen zum Fahrradparken im Zentrum. Bald sollen deshalb unter anderem im Keller eines ehemaligen Kaufhauses sowie in einer Bibliothek eine Parkgarage entstehen. Denkbar seien auch leerstehende Ladenlokale. Die Suche nach Flächen wird den Fahrradkoordinator auf jeden Fall auch in den kommenden Jahren beschäftigen. Die Gemeinde geht davon aus, dass 2030 mehr als 60.000 Fahrradstellplätze benötigt werden.

„Rotterdam hat

ambitionierte Ziele

und traut sich,

sehr innovativ zu sein“

Sophie Simon, Mobycon

Fahrradmobilität für alle

Eine weitere Herausforderung für die Politik ist es, den Anteil des Radverkehrs möglichst im gesamten Stadtgebiet gleichmäßig zu erhöhen. Das ist gar nicht so leicht. Im Süden der Stadt gaben zum Beispiel 52 Prozent der Befragten bei der letzten Mobilitätserhebung an, nie oder fast nie das Fahrrad zu nutzen. Christiaens kennt die Zahlen seit Jahren. „In Rotterdam Zuid leben traditionell viele Hafenarbeiter und Migrantinnen in der zweiten oder dritten Generation“, sagt er. Die niederländische Fahrradkultur habe sich dort noch nicht durchsetzen können. Manche der dort lebenden Rotterdamerinnen können gar nicht Radfahren oder besitzen kein Fahrrad. Um das zu ändern, startete die Gemeinde mit verschiedenen Partnern vor fünf Jahren das Programm „Fietsen op Zuid“. Die verschiedenen Organisatoren arbeiten eng mit Ansprechpartnerinnen vor Ort zusammen und versuchen über verschiedene Projekte, das Fahrrad als Alltagsverkehrsmittel bei den Menschen zu etablieren. „Cycle Along“ ist einer von vielen Bausteinen des Programms und wendet sich an Frauen mit bikulturellem Hintergrund. Neben Radfahrkursen für Hunderte von Frauen wird auch ein Botschafterinnen-Netzwerk aufgebaut. Das heißt, die ehemaligen Teilnehmerinnen bringen anderen Frauen vor Ort Fahrradfahren bei. Damit erweitern die Frauen gemeinsam ihren Aktionsradius und bilden neue Netzwerke. Für Kinder gibt es spezielle Kurse über die dortige BMX-Schule. Damit alle nach den Kursen weiterradeln können, hat die Stadt die „Fietserbank“ (Fahrradbank) eingerichtet. Wer sich kein eigenes Rad leisten kann, bekommt dort ein verwaistes Fahrrad. Rund 1.000 Fahrräder bekommen so jedes Jahr einen neue Besitzerinnen.
Aber es geht nicht nur darum, dass jeder und jede fähig ist, Rad zu fahren. Die neu gewonnenen Radfahrerinnen müssen sich auch trauen, mit dem Rad quer durch die Stadt zu fahren. Das will der „Fietskoers 2025“ sicherstellen. „Eine der Hauptkomponenten des Plans ist, dass die Infrastruktur gleichermaßen für schnelle und langsame Radfahrerinnen ausgelegt wird“, sagt Sophie Simon. Für sie ist das ausschlaggebend, um alle potenziellen Radfahrerinnen und Radfahrer in den Sattel zu bringen. Viele der älteren Radwege Rotterdams sind für die stetig wachsende Zahl an Radfahrenden jedoch zu schmal. Christiaens hat dazu bereits eine Idee. Die langsameren Radfahrenden sollten zukünftig weiterhin die Radwege nutzen, sagt er. Sportliche Radfahrerinnen und schnelle E-Bike-Fahrerinnen könnten dagegen auf die Fahrbahn wechseln und sich mit den Autos den Platz teilen. Das funktioniert aus seiner Sicht jedoch nur, wenn stadtweit Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit eingeführt wird. Für ihn ist das der nächste Schritt. Künftig also Tempo 30 auch in Rotterdam. Das passe auch deutlich besser zu dem Ziel der Stadt, das Zentrum in eine City Lounge umzuwandeln.



Industrie- und
Hafenstadt
Rotterdam

Rotterdam ist mit rund 650.000 Einwohnerinnen und Einwohnern nach Amsterdam die zweitgrößte Stadt der Niederlande. Die an der Mündung von Rhein und Maas gelegene Stadt ist vor allem für den wichtigsten Industriehafen Europas bekannt. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Innenstadt im Jahr 1940 bei einem deutschen Luftangriff mit verheerenden Bränden fast vollständig zerstört und danach neu aufgebaut. Die Bevölkerung hat sich heute durch Zuwanderung verjüngt und ist sehr durchmischt. Rund die Hälfte der Menschen hat eine migrantische Geschichte. Eine Besonderheit gibt es beim Einkommen: Während das Durchschnittseinkommen im Stadtgebiet niedriger ist als im Landesschnitt, ist es im Umland der Stadt höher. Die Arbeitslosenquote lag in den letzten Jahren deutlich über dem Durchschnitt der Niederlande.


Bilder: Dutch Cycle Embassy, Gemeinde Rotterdam, Andrea Reidl, Melissa und Chris Bruntlett – Mobycon, stock.adobe.com – markus thoenen

Ein Plädoyer für mehr Verkehrsgerechtigkeit

von Peter Hennicke, Thorsten Koska, Jana Rasch et al.

Die Zeit ist reif für mehr Klimaschutz und dieses Buch kommt damit genau richtig. Die neue Veröffentlichung des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie bringt alles mit, was es für ein grundsätzliches Neudenken im Verkehr braucht. Die fast 400 Textseiten sind dicht mit wertvollen Informationen gespickt. Zielgerichtet und handlungsorientiert wird hier gezeigt, warum die Mobilitätswende kommen muss, und noch wichtiger: wie der Wandel vonstattengehen kann. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Es erstaunt zu sehen, wie einfach faktenbasiertes Handeln sein kann. Das vielschichtige Thema Verkehrsgerechtigkeit, das alle Lebensbereiche buchstäblich miteinander verbindet, wird von den Autorinnen erläutert und konstruktiv angegangen. Dabei werden zahlreiche wichtige Fragen nach aktuellem wissenschaftlichem Kenntnisstand beantwortet. Welche Rolle spielt beispielsweise der kommunale Strukturwandel bei der Verkehrswende? Welche politischen Entscheidungen sind wirkungsvoll und welche haben schwerwiegende Schlupflöcher? „Die Grenzen des Verkehrswachstums sind erreicht. Klimaschutz und Lebensqualität sind wichtiger als hochgerüstete Autoflotten, die für Millionen Menschen ohne Auto Belastungen und Mobilitätsnachteile bedeuten. Notwendig ist eine radikale sozial-ökologische Transformation des Verkehrssystems: Ausbau und Förderung des Umweltverbundes aus ÖPNV, Schiene, Sharing-Systemen, Rad- und Fußverkehr – das sind bekannte Strategieelemente, die aber durch die herrschende Privilegierung des Autos ausgebremst werden.“ Das Buch liefert Kritik an historischen und aktuellen Entwicklungen. In „Nachhaltige Mobilität für alle“ ist diese nicht oberflächlich und plakativ, sondern wird mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und genauen Beobachtungen und Analysen unterfüttert. Mit Blick auf die Zukunft sind die Autorinnen zwiegespalten: „Ob diese Zeit all jene schon vor der Corona-Pandemie wirkenden multiplen Krisen auf die Spitze treibt oder ob Einsichten in allen Ländern gewachsen sind und weltweite Aktionsprogramme für eine wirkliche Wende zur Nachhaltigkeit aufgelegt werden, wird sich in wenigen Jahren zeigen.“ Wir bleiben ebenso gespannt, ob und wie sich die Wende entwickeln wird, und empfehlen bis dahin die Lektüre des Buches, die Probleme, Lösungsansätze und Entwicklungspfade aufzeigt.

Peter Hennicke war Präsident des Wuppertal Instituts. Er ist Träger des deutschen Umweltpreises und Mitglied des Club of Rome. Er gilt als einer der Vordenker der deutschen Energiewende.


Nachhaltige Mobilität für alle Ein Plädoyer für mehr Verkehrsgerechtigkeit | Oekom Verlag | 1. Auflage, Mai 2021 | 432 Seiten (farbig), Softcover/E-Book | ISBN: 978-3-96238-279-7 | 28,00 Euro


Bilder: Wuppertal Institut, VisLab, Sabine Michaelis

Die gebürtige Amerikanerin Meredith Glaser beschäftigt sich beim Urban Cycling Institute der Universität Amsterdam mit den Schwerpunkten Collective und Social Learning. Dabei befasst sie sich vor allem mit der Transformation von Städten. Unter anderem im Rahmen des „Handshake“-Programms (handshakecycling.eu) zum Austausch von Erfahrungen, an dem 13 europäische Metropolen teilnehmen, darunter Kopenhagen, Amsterdam und München. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Frau Glaser, wo sehen Sie die Kernprobleme des heutigen Stadtverkehrs und was muss sich aus Ihrer Sicht ändern?
Wir fassen das Thema Verkehr als Transport-Engineering-Problem auf. Es geht um Zeit, nicht um Wert. Das Ziel ist, Zeit zu sparen und mögliche Verspätungen zu reduzieren. Das schlägt sich im Design der Straßen nieder und den Regeln, die hier gelten. Die Gesetze und Richtlinien, denen Verkehrsplaner folgen, sind aber schon rund hundert Jahre alt. Wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass sich seitdem eine Menge verändert hat, in der Gesellschaft, bei Innovationen und Technologien. Vor allem die Art, wie wir unsere Städte heute nutzen, hat sich stark verändert.

Welche Anforderungen gibt es heute mit Blick auf die Städte und Straßen?
Wir sehen heute einen bunten Mix: Die Menschen wollen in der Stadt wohnen und leben, nah bei anderen Menschen. Wichtig ist auch die Nähe zu Aktivitätsmöglichkeiten und Annehmlichkeiten wie Kultur, Restaurants, Cafés – und natürlich die Nähe zu den Arbeitsplätzen. All das hat für Stadtbewohner*innen heute Priorität. Aber unsere Straßen werden immer noch so gedacht und durch die gleichen Regeln und Paradigmen bestimmt, wie vor hundert Jahren. Sie haben sich nicht weiterentwickelt, sondern versuchen, all diese neuen Anwendungen und Qualitäten mit unterzubringen. Wenn wir Straßen als Technologie sehen, dann wäre das vielleicht so, als würden wir versuchen, eine Floppy Disk in ein iPhone 12 einzulegen. Es funktioniert einfach nicht.

Was hat sich inzwischen technologisch verändert und wo gibt es Probleme?
Es gibt große gesellschaftliche Veränderungen und auch viele technische Innovationen. Neben Fahrrädern und E-Bikes die Mikromobilität, die Sharing Economy und Mobility as a Service. Aktuell dienen die Straßen aber nur einem Nutzer: dem Auto! Was wir sehen, sind Konflikte, die zu Verkehrsunfällen mit Todesfolge führen. Allein 3.000 Tote im Verkehr in Deutschland im Jahr 2020 und 300.000 Verletzte. Fakt ist: Viele wären vermeidbar.

Sind Straßen, wie wir sie heute zum Beispiel in Deutschland kennen, dann überhaupt zeitgemäß?
Straßen sind der größte öffentliche Raum jeder Stadt, es gibt also ein großes Potenzial. Derzeit ist jedoch ein Großteil dieses Raums allein für Autos reserviert.

„Wir brauchen mehr Urban Design, mehr Stadtplaner und mehr Input von allen Bürgern und nicht nur von Verkehrsplanern.“

Bei der Sicherheit hat man den Eindruck, dass die Verantwortung oft auf die Verkehrsteilnehmer geschoben wird.
Unsere Forschung hat gezeigt, dass Schuld sozial konstruiert ist. Viele Akteure spielen dabei eine Rolle, wie zum Beispiel die Medien und die Autoindustrie. Die Fakten zeigen, dass die Fahrzeuge immer größer und leistungsfähiger werden. Das bedeutet, dass Menschen außerhalb von Autos, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf Straßen unterwegs sind, einem noch größeren Risiko ausgesetzt sind. Es gibt definitiv eine Verantwortung der Entscheidungsträger, unsere Straßen, besonders in den Städten, sehr sicher zu machen und sie sicher zu halten, besonders für diejenigen, die zu Fuß gehen und Rad fahren.

Vielfach wird das Thema Angst angesprochen, wenn es um den Straßenverkehr oder neben der Straße spielende Kinder geht.
Straßen sind das Lebenselixier einer jeden Stadt. Wenn Straßen für jeden einladend sind, unabhängig davon, wie sie oder er sich fortbewegen kann, dann strömen die Menschen auf diese Straßen. Wenn Menschen Angst zeigen, dann wird es schwierig, diesen mentalen Zustand zu ändern. Angst kann nicht das sein, was wir wollen. Wir wollen menschen- und innovationsfreundliche Städte und Straßen.

Warum sind niedrigere Geschwindigkeiten wichtig und welche Maßnahmen wirken?
Die Absenkung der Geschwindigkeit in Städten ist eine wichtige Maßnahme, denn wir wissen, dass sowohl die Zahl der schweren Crashs, wie auch die Schwere der Verletzungen drastisch gesenkt werden. Die Senkung der Geschwindigkeiten in Städten ist eine wichtige Maßnahme, denn wir wissen, dass sowohl die Zahl der schweren Unfälle als auch die Schwere der Verletzungen drastisch reduziert werden. Aber neben Gesetzen und Regeln gibt es noch eine weitere wichtige Komponente: die Veränderung der Straßen durch Design. Wenn Sie auf einer sehr breiten Straße ohne Verkehr fahren, wollen Sie schnell fahren. Und warum sollte man die Geschwindigkeit reduzieren, zum Beispiel in Tempo-30-Abschnitten, wenn es keine Überwachung gibt? Ein wichtiger Faktor, der mitgedacht werden muss, ist das Design unter anderem durch Fahrbahnmarkierungen, Landschaftsplanung und Beleuchtung. Man muss den Leuten das Gefühl geben, dass sie hier langsam fahren müssen. In den Niederlanden gibt es eine klare Trennung zwischen Durchgangs- und Wohnstraßen.

In den Niederlanden gibt es eine klare Trennung zwischen Durchgangs- und Wohnstraßen. Was ist der Unterschied zu anderen Ländern?
In den Niederlanden wurde das in Schweden entwickelte „Sustainable Safety“-Konzept (Red. Anm.: Vision Zero) erfolgreich durch das Prinzip der hierarchischen Straßen adaptiert. Diese Hierarchie ist selbsterklärend und sehr logisch. Fahrer merken sofort, wo sie sind und was von ihnen erwartet wird. Die Unterschiede zwischen den mehrspurigen Hauptverkehrsstraßen, einer Arterie und einer Wohnstraße merkt man sofort. Wohnstraßen sind meist Einbahnstraßen, sehr schmal und kompakt, mit Bäumen und Grünbepflanzungen und einem Tempolimit von 15 bis 20 km/h. Manchmal ist die Zufahrt für Autos auch ganz gesperrt.

Menschen statt Autos: Die Govert Flinckstraat in Amsterdam 1973 und heute.

Was können andere Länder beim Straßendesign von den Niederlanden lernen?
Die Lehre für andere Städte ist klar, dass ein intuitiv erfassbares Design eine wichtige Rolle spielt. Auch um den Menschen zu signalisieren, dass man an diesen Stellen Zufußgehen und Radfahren präferiert und erwartet. Damit sind wir übrigens nicht nur in Wohnstraßen erfolgreich, sondern auch in Einkaufsstraßen mit Shops und Cafés. Die zweite wichtige Sache: Menschen machen Fehler. Die Gestaltung der Straßen sollte mit einbeziehen, dass menschliches Versagen unvermeidlich ist. Natürlich lässt sich das nicht von heute auf morgen erledigen, aber wir können auch jetzt schon viel tun. Wir brauchen mehr Urban Design, mehr Stadtplaner und mehr Input von allen Bürgern und nicht nur von Verkehrsplanern.

Brauchen wir für die Veränderungen auch ein anderes Mindset?
Die größte Veränderung, die wir sicher brauchen, ist eine kollektive Zustimmung. Natürlich muss nicht jeder Bürger und Verantwortliche direkt zustimmen, aber jeder sollte zumindest anerkennen, dass wir eine Verschiebung bzw. Veränderung benötigen. München hat hier zum Beispiel mit dem Konzept der „Radlhauptstadt“ vor einigen Jahren kommunikativ einen wirklich super Job gemacht und die Menschen mitgenommen.

Wie hoch sind aus Ihrer Sicht die Chancen für schnelle Veränderungen?
Was wirklich wertvoll ist, vor allem jetzt, sind die Learnings aus der Pandemie. Wir haben gesehen, dass Veränderungen wirklich möglich sind. Mit weniger Verkehr, Veränderung im Verhalten der Menschen, zum Beispiel indem man nicht mehr jeden Tag zur Arbeit pendeln muss und mehr lokal unterwegs ist. Es ist traurig, dass es einer Pandemie bedurfte, aber es ist faszinierend zu sehen, wie mit preiswerten Materialien und Kreativität Veränderungen in Gang gesetzt wurden.

Wie ist Ihre Sicht auf die Veränderungen im Verkehr während der Pandemie mit Blick auf Deutschland?
Berlin ist ein fantastisches Beispiel! Die Stadt hat sehr schnell und sehr flexibel reagiert mit einem Netz aus Pop-up-Bikelanes in der Stadt. Diese Fähigkeit, Flexibilität zu zeigen und eine schnelle Antwort zu geben, ist sehr beeindruckend. Wichtig sind aber auch die vielen kleinen Projekte, mit denen Städte zum Beispiel Neues ausprobieren und Akzeptanzgrenzen austesten. Auch zwei Kilometer Straße, die beispielsweise gerade in San Francisco verändert wurden, können etwas sein, was den Menschen die Augen öffnet und ein anderes Denken anstößt.

Wie ist Ihre Einschätzung? Werden temporäre Lösungen nach der Pandemie wieder zurückgebaut oder sind sie ein Durchbruch?
Es wird eine Hauptaufgabe sein die Projekte, aber auch das Umdenken, was klar eingesetzt hat, zu verstetigen. Es ist gut, dass die Menschen merken, dass sich etwas ändert. Was dabei enorm wichtig ist: Die Projekte und Maßnahmen legitimieren Änderungen in der Zukunft. Jedes Experiment, das erfolgreich und permanent wird, wird automatisch zu einer Referenz für jeden Planer, Politiker oder jede Lobbygruppe, die Änderungen möchte. Sie können sagen, schaut her, wie erfolgreich das war! Das ist, wie Dinge sich ändern können.

Online-Kurse: Unraveling the Cycling City

Die akademischen Online-Kurse „Unraveling the Cycling City“ der Universität von Amsterdam werden auf Coursera.com angeboten. Sie werden regelmäßig mit Bestnoten bewertet und wurden inzwischen von über 10.000 Teilnehmer*innen besucht.

urbancyclinginstitute.com/mooc

Welche Fehler sollte man als Verantwortlicher, Politiker oder Planer heute vermeiden?
Der größte Fehler ist sicherlich, Angst vor Veränderungen zu haben, in seiner alten Perspektive und Denkweise stecken zu bleiben. Es ist einfach und bequem für Planer und Beamte, den Status quo beizubehalten, mit Bürokratie, Regeln usw. Der schwierigste Teil ist sicherlich die Arbeit innerhalb der Bürokratie, um das Denken und die Standards zu ändern.

Was würden Sie Verantwortlichen raten? Was brauchen wir für eine Mobilitätswende?
Wir haben heute sehr gute Daten und wissen, dass 30 bis 50 Prozent der Menschen eine Mobilitätswende wollen und sich viele gerne auf das Fahrrad setzen würden. Die Menschen tun es meist nur nicht, weil sie sich unsicher fühlen. Für die, die zusätzlich aufs Rad wollen, brauchen wir andere Zustände im Verkehr. Wir brauchen Straßen, die sich sicher anfühlen, wir brauchen langsameren und weniger Autoverkehr, geschützte Radwege, sichere Abstellanlagen und wir brauchen eine Infrastruktur, die sicher genug ist für Kinder.

„Bieten die Straßen Freiheit für alle Arten von Menschen, alle Altersgruppen und alle Fähigkeiten?“

Orte wie Schulen, an denen Kinder zusammenkommen, sind großartige Gelegenheiten, den Straßenraum neu zu denken. In den 1980er-Jahren wurde die „Van Ostadestraat“ für den Durchgangsverkehr und Parkplätze gesperrt; dadurch entstand Raum für einen Spielplatz, Bäume und viel Platz für Eltern, die sich beim Bringen der Kinder treffen und unterhalten können.

Wieso ist die eigenständige Mobilität von Kindern so wichtig?
Ich komme ja aus Kalifornien und bin als Kind immer von meinen Eltern gefahren worden. Es ist unglaublich zu sehen, dass Kinder in den Niederlanden mit 10 Jahren sicher alleine mit dem Fahrrad zur Schule, zum Sport oder zu Freunden fahren können. Für die Kinder bedeutet das ein wichtiges Empowerment, das sie ihr ganzes Leben begleitet, und außerdem enorme Freiheiten. Die Freiheit gibt es gleichzeitig auch für die Eltern, die ihre Kinder nicht mehr überall hinfahren müssen. Ich bin vor über einem Jahrzehnt nach Amsterdam gezogen, habe selbst zwei Kinder und kann es mir gar nicht mehr anders vorstellen.

Wie müssten Straßen idealerweise aussehen?
Es gibt keine Blaupause oder ein Patentrezept. Die zentrale Frage ist: Bieten die Straßen, die wir haben, Freiheit für alle Arten von Menschen, alle Altersgruppen und alle Fähigkeiten? Können Kinder unbeaufsichtigt sicher neben der Straße spielen? Die meisten Städte werden nein sagen. Daran müssen wir dringend arbeiten – gerade Kinder brauchen in der Zeit nach der Pandemie viel mehr sichere Räume.

Meredith Glaser

ist als Doktorandin am Urban Cycling Institute der Universität Amsterdam tätig. Hier lehrt Professor Dr. Marco te Brömmelstroet, bekannt auch als „Cycling Professor“, Infrastrukturplanung und geografisches Informationsmanagement. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen politische Innovation, Wissenstransfer und Kapazitätsaufbau für eine beschleunigte Umsetzung von nachhaltigen Verkehrszielen. Sie hat den akademischen Output für europäische Projekte (CYCLEWALK und HANDSHAKE) akquiriert und verwaltet, ist Co-Leiterin des Sommerprogramms Planning the Cycling City und hat zur Produktion des Onlinekurs-Programms „Unraveling the Cycling City“ beigetragen. Meredith Glaser stammt aus Kalifornien und hat einen Master-Abschluss in Stadtplanung und öffentliche Gesundheit der Berkeley University. Seit fast 10 Jahren arbeitet sie im Bereich Stadtentwicklung und Transfer nachhaltiger Mobilitätspolitik und ist eine erfahrene Ausbilderin für Fachleute, die die niederländische Verkehrsplanungspolitik und -praxis erlernen möchten.


Bilder: Meredith Galser / Urban Arrow, Amsterdam City Archives (Bilddatenbank), Urban Cycling Institute

„Wieso kann man nicht den Platz oberhalb einer Straßenbahn nutzen, um schnell mit dem Fahrrad unterwegs zu sein?“ Diese Frage stand am Anfang eines Denkprozesses und der folgenden Gründung des Schweizer Start-ups Urb-X. Ein Radhochweg aus Holz, modular und flexibel wie eine Carrera-Bahn, so ließe sich die Idee wohl am besten beschreiben. Hinzu kommen smarte Anwendungen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Die Grundidee eines Radhochwegs ist kein Novum. Schon im Jahr 1900 wurde der erste Weg dieser Art, der „California Cycleway“, zwischen Pasadena und Los Angeles konzipiert. Auch in anderen Regionen gibt es Radhochwege; wo jedoch bisher immer kostenintensive Individuallösungen vonnöten waren, soll es bei Urb-X (urb-x.ch) einen Baukasten geben, aus dem sich Planer*innen bedienen können. Mittels Standardisierung und Modularität soll ein konkurrenzfähiges Produkt entstehen. Die nötigen Investitionen belaufen sich nach Angaben des Unternehmens auf zwei bis drei Millionen Euro pro Kilometer. Unterschiede ergeben sich je nach Streckenverlauf und der Anzahl der nötigen gekrümmten Module. Mit kalkulieren müsse man zusätzliche 25 Prozent für die Errichtung der notwendigen Stützpfeiler.

Pendeln fernab des Autoverkehrs

Die Firma plant, einzelne, standardmäßig je 20 Meter lange Module auf Stahlpfeilern zu montieren. Auf einer Breite von 4,40 Metern sollen so „Schnellstraßen“ für Radfahrende entstehen, mit je zwei 1,10 Metern breiten Spuren pro Fahrtrichtung. Besonders attraktiv sei der Bau durch die Trennung des Radverkehrs von anderen Verkehrswegen für Pendlerinnen. „Die Verkehrsinfrastruktur stößt weltweit in den meisten Städten an ihre Kapazitätsgrenzen – wir müssen deshalb urbane Mobilität neu denken“, sagt Bálint Csontos, COO und Mitbegründer der Schweizer Firma. „Die aufgeständerten Bike-Highways ermöglichen eine Entflechtung des Fahrrads von den anderen Verkehrsträgern, was ein schnelles und sicheres Pendeln bei gleichzeitig hohen Kapazitäten erlaubt.“ Bislang ist ein erstes Modul in Zusammenarbeit mit einem Schweizer Holzbauunternehmen entstanden. Folgen soll bald eine Teststrecke auf einem Grundstück in Basel, welches die Schweizer Bundesbahnen für Smart-City-Initiativen zur Verfügung stellt. An der Finanzierung wird derzeit gearbeitet. Die Chancen stünden gut, dass die Teststrecke im nächsten Jahr besucht werden kann und dann der globale Roll-out erfolge, heißt es. In Gesprächen mit Stadtplanerinnen werde viel Interesse bekundet. Aktuell investiere die Firma viel Zeit in die Bauvorbereitung der Teststrecke. Parallel dazu wird auch an einem Tool gearbeitet, das die Planung und Visualisierung von Fahrradstrecken wesentlich erleichtern soll.

Bálint Csontos, COO und Mitbegründer des Unternehmens Urb-X AG aus Birsfelden in der Schweiz sieht für das Konzept große Chancen.

Integration von smarter Technik geplant

Das Trägerelement des Radhochwegs bildet eine Hohlkammer aus Holz, die über die Stahlstützpfeiler mit dem Boden verbunden ist. Damit sind die Einwirkungen auf den Boden – Stichwort Versiegelung – minimal. Je Trägerelement werden acht Fahrbahnelemente aufgesetzt, die modular vorgefertigt werden. Holz ist für das Unternehmen dafür das perfekte Material, auch aus Gründen der Nachhaltigkeit. In die Fahrbahn werden nach dem Urb-X-Konzept Heizelemente und Sensoren eingearbeitet, die beispielsweise eine bedarfsgesteuerte „mitfahrende“ Beleuchtung ermöglichen sollen. Die Fahrdaten, die ermittelt werden, können der Stadtplanung zudem zur Verkehrsleitung zur Verfügung gestellt werden. Am Rand der Fahrbahn wird ein Geländer installiert, das gleichzeitig als Träger für eine großflächige Photovoltaikanlage dienen soll. Damit soll mehr Strom produziert werden, als verbraucht wird. Pro Kilometer Strecke rechnet das Unternehmen mit bis zu einem Megawatt Leistung. Potenziell machbar soll auch eine Beschattung mit Rankpflanzen sein.

Baukasten als Vorteil

Ein fertiges Trägerelement wiegt 5,4 Tonnen; pro Fahrbahn-Element inklusive Geländer etc. fallen weitere 725 Kilogramm an. Insgesamt ergibt sich so ein Gewicht von 11,3 Tonnen pro 20-Meter-Modul. Bei Problemen wird selbstständig Alarm ausgelöst und bei Bedarf sollen sich einzelne Module problemlos austauschen lassen. Vorteile soll es auch bei der Baugeschwindigkeit geben. Man erwarte, eine Bauleistung von 150 bis 250 Metern pro Woche erbringen zu können, Fundamente und Stützen ausgenommen. Denkbar seien auch Interimslösungen für fünf bis zehn Jahre. So ließe sich beispielsweise eine größere Baustelle überbrücken. Flexibilität soll es auch bei der Herstellung und der Nutzung geben. Es gibt eine Produktionspartnerschaft in der Schweiz, der Bau der Module könne aber auch lokal umgesetzt werden. Möglich seien auch gemischte Lösungen für Fuß- und Radverkehr. Auch der Aufbau der Stützpfeiler erlaube Spielräume. Kürzer können die Abstände ohnehin immer werden, aber auch andere Lösungen, wie Flussquerungen mit einer Hängebrücke sollen möglich sein.


Bilder: Andreas Zimmermann Fotografie, Urb-X AG

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Kommt Ihnen unser Titel „Plan-Build-Ride“ bekannt vor aus Ihrem Unternehmen, Ihrer Organisation oder Verwaltung? „Plan-Build-Run“ war viele Jahre das gelebte Mantra in der IT – und mehr oder weniger bewusst sicher auch ein gutes Stück im Verkehrssektor. Grob gesagt war diese Philosophie in erster Linie auf Sicherheit, Prozesskonformität und Effizienz ausgelegt. Innovationen bedeuten vor allem weitere Effizienzsteigerungen und Kostensenkungen, nicht mehr, nicht weniger. Damit fuhr man jahrelang gut. Mit der heutigen Realität hat das System, das Unternehmen und das Denken einer ganzen Generation prägte, aber nur noch wenig gemein. Längst fordert die enorme Geschwindigkeit der allgemeinen Veränderungen neue Ansätze. Umkehrt beschleunigen diese wiederum Veränderungen.
„Das Plan-Build-Run-Modell ist tot“, behaupteten schon vor über zehn Jahren die Technologieberater von Forrester Research. Die Zukunft sei „Agilität“. Dieser neue Ansatz hat Konzerne wie Amazon, Google oder Tesla mit hervorgebracht und tatsächlich gibt es heute kaum noch ein Unternehmen, das sich nicht intensiv mit dem Thema befasst. Allerdings ist Umfragen zufolge der Anteil der Mitarbeitenden, die damit bislang noch nicht viel anfangen können, groß. Zeit also, auch in den Bereichen Mobilität und Verkehrsplanung über Agilität als neue Basis und Zukunftsstrategie nachzudenken? Sicher ist, dass auch hier die Geschwindigkeit der Veränderungen immer weiter zunimmt. Ein Treiber ist das Ziel Klimaneutralität mit seinen Verpflichtungen, wie dem Pariser Abkommen und dem Green Deal der EU, ein anderer die Einsicht, dass sich die Städte und Kommunen beim Thema Mobilität in einer Sackgasse befinden. „Die Städte wollen die Verkehrswende“, sagte im Februar letzten Jahres der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages Helmut Dedy im VELOPLAN-Interview (online unter veloplan.de).

Schneller Wandel und Disruption

„Allein durch alternative Antriebe werden wir die Klimaziele im Verkehr keinesfalls erreichen“, sagt der gefragte Analyst und Mikromobilitätsexperte Horace Dediu. Weltweit steige mit dem zunehmenden Wohlstand auch die Anzahl der Pkw, ihr Gewicht und ihre Motorisierung. Den zusätzlichen Material- und Energieverbrauch könne keine Technologie auffangen. Wer sich die Statistiken anschaut, wird ihm kaum widersprechen wollen. Auch in Deutschland steigen die Pkw-Zulassungen und der Anteil an schweren SUVs weiter und die durchschnittliche PS-Zahl ist im letzten Jahr um 7 auf nun 165 gestiegen. Notwendig ist nach der Meinung von Experten wie Horace Dediu ein Umdenken auf breiter Ebene hin zu kleineren, leichteren und umweltfreundlicheren Fahrzeugen.
Mit neuen Technologien entwickeln sich heute zudem auch Geschäftsmodelle um ein Vielfaches schneller. Während vielerorts beispielsweise noch über den zunehmenden Internethandel und steigendes Paket- und Lieferaufkommen geredet (oder geschimpft) wird, sind längst Fakten geschaffen. Amazon und Zalando oder Start-ups wie Lieferando oder Flaschenpost krempeln komplette Märkte um. Schnelligkeit und maximale Verfügbarkeit werden zum Geschäftsmodell. On-Demand-Lieferdienste, wie „Gorillas“, versprechen heute Lebensmittellieferungen – dank E-Bikes – innerhalb von zehn Minuten. Was macht das mit den Kaufhäusern, dem Einzelhandel und unseren Städten? Und welche Funktionen müssen sie künftig erfüllen?
„Der Wandel verlangsamt sich nicht“, sagt der amerikanische Keynote-Speaker Scott Stratten (UnMarketing Inc.). In seinen Vorträgen macht er das anhand eingängiger Bilder deutlich: „Es hat 76 Jahre gedauert, bis sich Elektrizität in den amerikanischen Haushalten durchgesetzt hat, 43 Jahre für den Kühlschrank, 27 Jahre für die Mikrowelle, 6 Jahre für das Internet, 4 Jahre für Smartphones, 2 Jahre für Social Media. Sehen wir da ein Muster?“ Für die junge Generation der Millennials, also die ca. zwischen 1980 und 2000 Geborenen, sei „Disruption“ die einzige bekannte Erfahrung und „ein Asset für jedes Business und ein Asset für diese Welt“. Der Begriff Disruption steht dabei für Revolution statt Evolution. Eine alte, etablierte Lösung wird durch eine potenziell deutlich einfachere, schnellere oder bequemere in rasantem Tempo ersetzt. Unter dieser Perspektive kann man das schnelle Verschwinden von CDs und DVDs ebenso besser verstehen wie den sprichwörtlichen Durchmarsch der E-Scooter-Sharer. Mit enormer Geschwindigkeit bei der Innovation und Expansion, viel Investorenkapital im Rücken und dem festen Willen, Fakten zu schaffen und Konkurrenz aus dem Rennen zu schlagen, träfen die Betreiber nach Scott Stratten auf absolut unvorbereitete und völlig andersdenkende Städte und Verantwortliche. Von heute auf morgen würden einige Tausend E-Kickscooter in einer Stadt aufgestellt, verbunden mit der impliziten Botschaft „kommt damit klar“. Widerstand sei weitgehend sinnlos, denn genau das sei das Wesen von Disruption: „Wandel, ohne Zeit, ihm zu widerstehen.“

Mehr Agilität

Angesichts der enormen Herausforderungen und der Geschwindigkeit der in vielerlei Hinsicht unumkehrbaren Veränderungen wirken viele der seit Jahren andauernden Diskussionen um Fahrrad versus Auto oder Jahrzehnte alte Normen, Gesetze und Verwaltungsvorschriften wie aus der Zeit gefallen. Was will man bewegen mit Planungshorizonten von fünf oder mehr Jahren und Reformen, die ein um das andere Mal auf die nächste Legislaturperiode vertagt oder nur in homöopathischen Dosen umgesetzt werden? „Da brennt die Hütte und wir legen einen Plan auf, wie wir die Temperatur des Feuers messen und machen anschließend ein Konzept zur optimalen Temperatur des Löschwassers“, so die Meinung von Dr. Christoph Hupfer, Professor für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik an der Hochschule Karlsruhe zur Situation der Radverkehrsförderung im Rahmen einer Podiumsdiskussion im März dieses Jahres.
Auf der anderen Seite waren die Voraussetzungen für neue Mobilität noch nie so gut wie jetzt. Auf technischer Seite wächst gerade viel zusammen, mit extrem leistungsfähiger und gleichzeitig preiswerter Technik und der weltweiten Marktdurchdringung mit Smartphones. Finanzkräftige Investoren suchen nach neuen, klimafreundlichen Geschäftsfeldern und Anbieter aus allen Bereichen tun sich mit Kooperationspartnern für neue Services und Geschäftsmodelle zusammen. Auch die in den letzten Jahrzehnten dominante Vorstellung, dass Straßenräume für den motorisierten Individualverkehr, sprich Pkw, freigehalten werden müssten, bekommt immer mehr Risse. Ein großer Teil der Bevölkerung wünscht sich Veränderungen hin zu mehr umwelt-, menschen- und städteverträglichem Verkehr und mehr Lebensqualität. Und vielen geht es längst nicht schnell genug. Neuverteilung und Umgestaltung sind machbar und engagierte Bürgerinnen und Bürger wirken gerne aktiv mit. Das zeigen Beispiele aus ganz Europa, und das macht Hoffnung und Lust auf mehr. „Wenn wir jetzt die Potenziale nutzen, auch aus der Bevölkerung und den Hochschulen, dann können wir sehr viel schneller in die Pötte kommen“, so Professor Christoph Hupfer zu den Chancen für mehr Radverkehr und eine echte Mobilitätswende. Zeit also für mehr Tempo, mehr Flexibilität oder, wie Berater und Coaches wohl sagen würden, mehr Agilität.


Bild: Illustration: stock.adobe.com – j-mel

Nordrhein-Westfalen setzt Signale für den Mobilitätswandel. Im November 2019 stimmte der Verkehrsausschuss im Landtag einstimmig einem Antrag der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ für das erste Fahrradgesetz in einem Flächenland zu. Die Zeit für einen Umbruch scheint reif und die breite Zustimmung in der Bevölkerung mit über 200.000 gesammelten Unterschriften hatte Eindruck hinterlassen. Im Interview erläutert Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU) Hintergründe und Ziele im Hinblick auf die Förderung des Radverkehrs und der Nahmobilität in NRW.


Herr Minister Wüst, Umfragen im Rahmen der NRW-Kommunalwahlen haben gezeigt, dass den Bürgerinnen und Bürgern die Themen Umwelt und Klima und in den Städten vor allem der Verkehr bzw. eine Verkehrswende sehr wichtig sind. Sehen Sie hier eine Zäsur?
Mobilität ist Lebensqualität und Standortfaktor. Mobilität muss besser, sicherer und sauberer werden. Wir erreichen die Klimaziele nur, wenn wir die Mobilität vielfach neu denken. Dazu müssen wir die Chancen der Digitalisierung für die Mobilität konsequent nutzen, den ÖPNV zum Rückgrat vernetzter Wegeketten machen, die Chancen der Elektrifizierung des Fahrrades nutzen und das Fahrrad überall im Land für die Pendler nutzbar machen. Und Deutschland muss wieder Bahnland werden. Die Zäsur besteht darin, dass das alles nicht nur von breiten Schichten der Bevölkerung mitgetragen wird, sondern dass jetzt auch sehr viel Geld dafür da ist und wir umsetzen.

Ihre Heimat und ihr Wahlkreis liegen in Rhede, direkt an der niederländischen Grenze. Was machen die Niederländer aus Ihrer Sicht besser und was würden Sie gerne übernehmen?
Unsere Nachbarn in den Niederlanden machen seit Jahren eine sehr pragmatische Verkehrspolitik. Davon haben wir uns viel abgeguckt, denn lange Zeit war das in Nordrhein-Westfalen politisch nicht gewollt. In den Niederlanden ist es zum Beispiel selbstverständlich, dass in Infrastruktur für jeden Verkehrsträger investiert wird. In Nordrhein-Westfalen wurde viel zu lange Parteipolitik zulasten der Infrastruktur gemacht. Jetzt müssen wir große Rückstände bei der Sanierung und Modernisierung aufholen. Auf der Schiene. Auf der Straße. Und bei Wasser- und Radwegen.

Angesichts von Kämpfen um Platz für Fahrrad und Auto verweisen Sie in Interviews gerne auf intelligente Verkehrskonzepte aus den Niederlanden. Was kann man sich aus Ihrer Sicht hier konkret abschauen?
In den Niederlanden wird pragmatisch nach Lösungen gesucht, nicht um jeden Preis nach Konflikten. Bei unseren Nachbarn wird jedem Verkehrsträger nach seinen Stärken Raum gegeben. Es wird in langen Linien gedacht und dann Schritt für Schritt konsequent umgesetzt.

Aus dem Umfeld des Landesministeriums ist zu hören, dass das Fahrradgesetz mit hoher Priorität vorangetrieben wird, warum ist Ihnen das Thema wichtig?
Ich komme aus dem Münsterland. Da ist das Fahrrad schon immer Teil der Alltagsmobilität. Mit digital vernetzten Wegeketten wird das Fahrrad – ganz besonders mit E-Bikes und Pedelecs – zu einem vollwertigen alltagstauglichen Allround-Verkehrsmittel, das das Klima schont und auch noch gesund ist. Wir wollen in Nordrhein-Westfalen Fahrradland Nummer 1 bleiben. Deswegen investieren wir Hirn und Herz in das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz. Radverkehr ist ein elementarer Bestandteil moderner Mobilitätskonzepte.

Mitte Juni dieses Jahres haben Sie bereits Eckpunkte für ein Gesetz zur Förderung des Radverkehrs und der Nahmobilität (FaNaG) vorgestellt. Wie geht es jetzt weiter?
Zurzeit wird der Referentenentwurf erstellt, dann geht’s in die Ressortabstimmung und ins Kabinett. Danach wird es die Verbändebeteiligung geben. Anschließend soll der Gesetzentwurf in den Landtag eingebracht werden, damit er dieses Jahr verabschiedet werden kann und das Gesetz Anfang 2022 in Kraft tritt.

Radverkehr ist ein elementarer Bestandteil moderner Mobilitätskonzepte.

NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst

Sie haben die Forderung der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“, dass künftig 25 Prozent des Verkehrsaufkommens in NRW auf das Rad entfallen sollen, als Ziel übernommen. Ist das realistisch?
Ja. Wir sind überzeugt, dass sich mit den angestrebten Verbesserungen für den Radverkehr so viele Menschen fürs Radfahren entscheiden, dass ein Radverkehrsanteil von 25 Prozent im Modalsplit erreicht wird. Der Modalsplit liegt im Münsterland im Durchschnitt schon jetzt deutlich über 25 Prozent. In Bocholt bei 38 Prozent, in Borken bei 30, in Coesfeld bei 32 Prozent. Mit E-Bikes und Pedelecs und besserer Infrastruktur geht das überall.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass es bei neuer Radinfrastruktur, wie Radschnellwegen, nicht richtig vorwärtsgeht. Woran liegt das?
In Nordrhein-Westfalen wurden seit dem Regierungswechsel 2017 485 Kilometer neue Radwege gebaut. Der Bau eines Radschnellweges ist nicht weniger aufwendig als der Bau einer Straße. Bis auf Lärmschutzgutachten gelten dort dieselben Regeln. Aber klar ist: Ich will mehr! Und es muss schnell vorangehen. Deshalb erhöhen wir seit Jahren die Haushaltsmittel für den Radverkehr. Standen 2017 noch 29 Millionen Euro zur Verfügung, werden es 2021 54 Millionen Euro sein. Zusätzlich stellt auch der Bund insgesamt 900 Millionen Euro Bundesmittel bis 2023 für den Radverkehr bereit.

Der passionierte Alltagsradler Hendrik Wüst bei der Eröffnung eines Teilstücks des Radschnellwegs RS1 in Mülheim an der Ruhr im Jahr 2019.

Wie wollen Sie die Prozesse künftig verbessern und beschleunigen?
Wir forcieren seit dem Regierungswechsel 2017 einen Planungs-, Genehmigungs- und Bauhochlauf. Und zwar für alle Infrastrukturen: Schiene, Straße, Wasser- und Radwege. Konkret heißt das: Neben unserer eigenen „Stabsstelle Radverkehr und Verkehrssicherheit“ im Verkehrsministerium haben wir zehn Planerstellen beim Landesbetrieb und fünf Stellen bei den Bezirksregierungen für mehr Tempo bei Planung, Genehmigung und Bau der Radinfrastruktur geschaffen.
Bei der Akquise der Fachleute gehen wir neue Wege. In Kooperation mit der AGFS starten wir eine Fachkräfteinitiative, um junge Menschen für das Berufsfeld der Radwegeverkehrsplanung zu begeistern. Flankiert wird das von einer Stiftungsprofessur „Radverkehr“ des Bundes bei uns an der Bergischen Universität Wuppertal.
Wir haben zudem das Landesstraßen- und Wegegesetz geändert, in dem auch die Planung der Radschnellwege geregelt ist, und dort überflüssigen Planungsaufwand herausgenommen.

Welche Änderungen sind mit dem Fahrradgesetz konkret in der Fläche zu erwarten?
Mit dem Gesetz werden wir unter anderem ein Radvorrangnetz in Nordrhein-Westfalen etablieren. Auf Premium-Radschnellverbindungen bieten wir den Menschen Routen für schnellen, sicheren und störungsfreien Radverkehr an. Mit dem Gesetz soll zudem die Möglichkeit geschaffen werden, verstärkt Wirtschaftswege für den Radverkehr zu nutzen. Durch Verbesserung von Wirtschafts- und Betriebswegen kann das Radwegenetz schnell durch zusätzliche Kilometer erweitert werden. Außerdem vernetzen wir das Fahrrad mit anderen Verkehrsträgern und schaffen so die Voraussetzung, dass das Rad mindestens für einen Teil der Wegstrecke zu einer echten Alternative für Pendlerrinnen und Pendler wird.

Die Mitinitiatorin der Volksinitiative Dr. Ute Symanski hofft auf starken Rückenwind durch das Gesetz für die Verantwortlichen in den Kommunen. Was sagen Sie ihr?
Ich mache gerade in einer digitalen Veranstaltungsreihe mit den Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern, Landrätinnen und Landräten, Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern auf die erhöhte Förderung für den Radwegebau, auf unsere Zwei-Milliarden-Euro ÖPNV-Offensive und andere Fördermöglichkeiten aufmerksam. Im Wahlkampf war Mobilität oft Thema, jetzt müssen Taten folgen.

Anfang Februar 2020 stand der Minister auf der „RADKOMM Quarterly“ in Köln Rede und Antwort zu den Zielen und Problemen der aktuellen Mobilitätspolitik.

Weit nach vorne gedacht: Wie sieht die Mobilität am Ende der nächsten Legislaturperiode, also im Jahr 2027 in NRW aus?
Wir nutzen die Chancen der Digitalisierung für eine bessere Vernetzung aller Verkehrsmittel. Mobilität wie wir sie heute kennen, wird sich deutlich verändern. Wir werden vernetzte Verkehre mit digital buchbaren Wegeketten haben.
Die Mobilität der Zukunft ist multimodal, vernetzt und automatisiert – und im Mittelpunkt stehen immer die Mobilitätsbedürfnisse der Nutzer nach flexibler und sauberer Mobilität. Das Fahrrad wird zu einem alltäglichen, alltagstauglichen Verkehrsmittel – überall im Land! Dafür wird Nordrhein-Westfalen ein gut ausgebautes, lückenloses Fahrradnetz aus Radvorrangrouten und weiteren Radverbindungen haben.
Intermodale Wegeketten werden effizienter, umweltfreundlicher und attraktiver für Pendler und Reisende. So schaffen wir in Nordrhein-Westfalen ein Mobilitätsangebot, in dem die unterschiedlichen Verkehrsträger mit ihren jeweiligen Stärken kombiniert werden.
Mobilstationen sind die Schnittstelle der Verkehrsträger. Hier steigen Pendler und Reisende vom (Leih-)Fahrrad, E-Scooter, Car-Sharing-Auto um auf Bus, Bahn und On-Demand-Verkehre. Tarifkenntnisse und aufwendige Planung von Wegeketten sind Geschichte. 2021 werden wir in Nordrhein-Westfalen einen landesweiten eTarif ohne Verbundgrenzen einführen. Einfach mit dem Smartphone einchecken, am Ziel auschecken. Bezahlt wird ein Grundpreis plus die Luftlinien-Kilometer zwischen Start und Ziel. Das geht einfach, ist transparent und bequem. Solche Angebote werden für das Verkehrsverhalten der Menschen entscheidend sein.
Vielleicht werden schon 2027 Hauptbahnhöfe und Flughäfen, Messen und Universitäten, aber auch suburbane Regionen mit bezahlbaren, elektrisch betriebenen Flugtaxis erreichbar sein. In der Logistik werden auf der letzten Meile emissionsfreie und automatisierte Fahrzeuge eingesetzt. In Nordrhein-Westfalen werden viele dieser Innovationen bereits heute erforscht, entwickelt – und sind teilweise auch jetzt schon erlebbar!

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Das Interview mit NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im Februar 2021 geführt. Erschienen in Ausgabe 1/21.

Hendrik Wüst

wurde 1975 in Rhede an der niederländischen Grenze geboren und lebt dort zusammen mit seiner Familie. Der gelernte Jurist und Rechtsanwalt war von 2000 bis 2006 Landesvorsitzender der Jungen Union Nordrhein-Westfalen und ist seit 2005 für die CDU im Landtag vertreten. Seit Juni 2017 ist Hendrik Wüst Minister für Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen. Medienberichten zufolge hat er gute Chancen, Nachfolger von NRW Ministerpräsident Armin Laschet zu werden.


Bilder: NRW-Verkehrsministerium, Anja Tiwisina; RADKOMM, Diane Müller

Kann ein Fahrradparkhaus die Bahnhofsumgebung aufwerten? Wenn man nach Oranienburg schaut, dann lautet die Antwort ganz klar „Ja“. Sowohl in Bezug auf die Optik als auch den Mehrwert gelungen ist die Anlage eine echte Best-Practice-Empfehlung. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


Nicht nur funktional, sondern auch optisch ansprechend und ein klares Statement für den Radverkehr.Spezialisierte Hersteller wie Orion Bausysteme beraten bei der Ausstattung und bieten erprobte und zertifizierte modulare Lösungen.

Nach knapp einjähriger Bauzeit wurde das Bike+Ride-Fahrradparkhaus am Bahnhof Oranienburg, rund 30 Kilometer nördlich von Berlin, 2018 eröffnet. Der Bedarf war durch die verbesserten Zugverbindungen ins rund 30 Kilometer entfernte Berlin entstanden. Mit den neuen Verbindungen stieg auch die Zahl der Bahnreisenden und Pendler, die mit dem Fahrrad zum Bahnhof kamen. Die Folge: eine Vielzahl wild geparkter Fahrräder im Umfeld. Zählungen im Vorfeld des Neubaus ergaben, dass der Bedarf mehr als doppelt so hoch war wie die Kapazität der alten Anlage mit 350 Plätzen.
Mit der Errichtung des neuen Fahrradparkhauses sollte aber nicht nur eine praktische Lösung zum sicheren und wettergeschützten Abstellen entstehen, der Bahnhofsbereich sollte auch insgesamt aufgewertet werden. So entstand das Fahrradparkhaus als architektonisch ansprechendes „durchlässiges“ Gebäude, das durch die gute Beleuchtung auch nachts attraktiv wirkt und ein sicheres Gefühl vermittelt. Auch in Bezug auf den Platz ist das Fahrradparkhaus ein Gewinn. Es wurde direkt am S-Bahndamm auf einer Fläche angelegt, die anderweitig kaum nutzbar gewesen wäre. An den Standort der alten Abstellanlage rückten überdachte Bushaltestellen und Taxistände – auch das ein Vorteil.
Das neue Fahrradparkhaus bietet auf zwei Etagen Platz für über 1.000 Räder. Die können kostenlos im sogenannten Doppelstockparksystem eingestellt werden. Während die Abstellplätze im Erdgeschoss vom Gehweg aus zugänglich sind, kann das Obergeschoss über zwei Treppenanlagen mit seitlichen Schieberampen erreicht werden. Von hier aus gibt es auch eine direkte Verbindung zum S-Bahnsteig. Neben den kostenfreien Abstellmöglichkeiten wurden zusätzlich Fahrradboxen zum Mieten und Schließfächer mit Lademöglichkeiten für E-Bike-Akkus eingeplant. Als Service gibt es zudem eine kombinierte Luftpumpstation mit Werkzeugausstattung. Auch eine WC-Anlage wurde als Ergänzung zur vorhandenen öffentlichen Toilette am Bahnhofsplatz in das Parkhaus integriert. Vorausschauend wurden auch gleich die technischen Voraussetzungen für eine Videoüberwachung geschaffen. Dank der modularen Bauweise des Fahrradparkhauses ist es zudem möglich, die Nutzung zu variieren, indem zum Beispiel ein Teil der Anlage für die Unterbringung einer Serviceeinrichtung (Werkstatt oder Fahrradverleih) abgetrennt wird.
Um die Verkehrssicherheit am nun aufgeweiteten Bahnhofsplatz zu erhöhen, wurde er als verkehrsberuhigter Bereich mit Tempo 20 ausgewiesen. Die Kosten für das Fahrradparkhaus beliefen sich auf rund 1,75 Millionen Euro. Die Finanzierung erfolgt aus Städtebaufördermitteln im Rahmen des Förderprogramms „Aktive Stadtzentren“, wonach je ein Drittel der Aufwendungen von Bund, Land und Kommune getragen werden.

Ausstattung Fahrradparkhaus Oranienburg im Überblick

  • 1.056 Abstellplätze in Doppelstock-parkern – nach DIN 79008 „stationäre Fahrradparksysteme“ geprüftes und vom ADFC zertifiziertes Modell
  • 14 Gepäckschließfächer inklusive Lademöglichkeit für E-Bike-Akkus
  • 9 Fahrradboxen zur Anmietung
  • Reparatursäule inklusive Luftpumpe, Werkzeugset und Haltevorrichtung
  • Die Kosten für die Ausstattung, die durch die Unternehmen Orion Bausysteme und Orion Stadtmöblierung realisiert wurde, beliefen sich auf 264.000 Euro. Mehr Informationen unter orion-bausysteme.de

Bilder: Orion Bausysteme – Nikolay Kazakov, Stadt Oranienburg – Sven Dehler

Was bürgerliches Engagement alles für eine Stadt bewegen kann, das hat Reinhold Goss, frisch gewählter „Bicycle Mayor“ in Köln, bereits als Mitinitiator und Sprecher der Initiative #RingFrei bewiesen, die 2019 mit dem Deutschen Fahrradpreis ausgezeichnet wurde. Aber das soll erst der Anfang sein. Für ihn kann und sollte Köln mithilfe von breitem zivilgesellschaftlichen Engagement bis 2025 Fahrradhauptstadt werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


In seiner Freizeit ist Reinhold Goss gerne auf dem Rad unterwegs – hier auf der Critical Mass mit einem E-Cargobike des Kölner Sharinganbieters Donk-ee.

Wie kommt man zum Ehrenamt als Bicycle Mayor von Köln und was sind Ihre Ziele?
Es gab viele Menschen, die mich dabei unterstützt haben. Ich freue mich sehr, für zwei Jahre diesem global agierenden Netzwerk anzugehören, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Ausbau des Radverkehrs in Städten zu beschleunigen, indem die Rolle der Zivilgesellschaft besonders hervorgehoben wird. Ich bin übrigens zusammen mit Dr. Ute Symanski, die als Mitinitiatorin der Radkomm-Konferenz und der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ bekannt ist, als Doppelspitze für dieses Amt angetreten. Leider war das aber aus formalen Gründen nicht möglich. Zu den Zielen: Das größte ist sicherlich, Köln bis 2025 zur deutschen Fahrradhauptstadt zu machen.

Köln ist nicht nur als Standort für Automobilbauer und Motorenproduzenten, sondern auch sonst als Autostadt bekannt. Ist das Ziel Fahrradhauptstadt nicht sehr ambitioniert?
Köln hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer autogerechten Stadt entwickelt. Damals wurden die engen Straßen radikal verbreitert und der Autoverkehr hatte Vorrang vor allem anderen. Inzwischen sehen das die Menschen in der Innenstadt anders, über 60 Prozent der Haushalte haben kein eigenes Auto mehr. Dazu kommt, wenn wir den Klimaschutz und die vereinbarten Ziele ernst nehmen, dann sind wir praktisch zum Erfolg verdammt. 2019 war das heißeste Jahr in der Geschichte Europas und Köln war, gemessen an der Durchschnittstemperatur, der wärmste Ort in Deutschland. Wir müssen die Stadt also für die Zukunft konsequent umbauen, unter anderem mit mehr als 50 Prozent Radverkehr und doppelt so vielen Bäumen.

Die gleiche Stelle an den Kölner Ringen. Nach der Umgestaltung gibt es einen klar sichtbaren geschützten Raum für Radfahrende.

Wie würden Sie Ihre Ziele als Fahrradbürgermeister am besten beschreiben?
Fortbewegung muss Spaß machen oder zumindest als angenehm empfunden werden, egal ob es um den Weg zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen oder zu Freunden geht. Dafür brauchen wir eine Infrastruktur, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt – eine solche Infrastruktur verzeiht Fehler. Das ist wirklich wichtig! Außerdem kennt jeder das Sprichwort: „Man kann einem alten Hund keine neuen Tricks beibringen“ – es beschreibt ganz gut unsere besondere Verantwortung, sichere Möglichkeiten für Kinder zu schaffen, ihre Stadt zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu entdecken.

Wollen die Menschen in der Stadt überhaupt mehr Radverkehr?
In den letzten Jahren hat sich hier eine Menge für den Radverkehr getan. Die laufende Umgestaltung der Kölner Ringe auf 7,5 Kilometern mit breiten Fahrradwegen und durchgehend Tempo 30 war sicher ein wichtiger Meilenstein. Wen ich heute mit den Menschen spreche, dann ist mein Eindruck, niemand will zurück. Die allermeisten wollen sogar, dass es schneller vorangeht beim Umbau hin zu mehr Radwegen, auf denen sich auch Schüler und Senioren sicher fühlen, und hin zu mehr Lebensqualität.

Vielfach wird darüber geklagt, dass die Stadt unattraktiver würde, wenn man das Autofahren zurückdrängt.
Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen intelligenter mit dem zur Verfügung stehenden Raum umgehen. Ein Beispiel: Vielfach wird die potenziell mangelnde Erreichbarkeit von Geschäften per Auto als kritisch angesehen. Dabei zeigen die Daten, dass ein bedeutender Teil des Verkehrs in der Innenstadt reiner Durchgangsverkehr ist. Im Klartext: Wenn es auf der Autobahn einen Stau gibt, leitet das Navi die Autofahrer mitten durch die Stadt. Und was die Parkplätze angeht. zeigen Untersuchungen, dass die Parkhäuser nicht ausgelastet sind, während auf der Straße auch Fahrradstreifen und Lieferzonen zugeparkt werden. Hier spielen sicher das oft geringe Entdeckungsrisiko und niedrige Bußgelder eine Rolle.

Manche Geschäfte klagen, ihr Kunden könnten sie nicht mehr erreichen.
Für mich gehört das mit zu den immer wieder gerne wiederholten Mythen. Kurz vor einem Ladengeschäft zu parken, ist auch heute legal praktisch unmöglich und andere Städte wie Maastricht zeigen, dass die Menschen sehr gerne vom Parkhaus zu Fuß zum Geschäft gehen und die Aufenthaltsqualität genießen. Auch hier ändert sich inzwischen einiges, denn die Ladenbesitzer registrieren sehr genau, dass ein besseres Umfeld zu höheren Umsätzen führt. Dazu kommt, dass sie auch selbst gerne mit dem Fahrrad kommen und die Situation damit durch eine neue Brille sehen.

„Wir müssen die Stadt für die Zukunft konsequent umbauen, unter anderem mit mehr als 50 Prozent Radverkehr und doppelt so vielen Bäumen.“

Mehr Platz für Radfahrende durch bis zu 2,50 m statt 0,95 m Breite und mehr für zu Fuß Gehende durch die Führung auf der Straße.

Aktuell hat man den Eindruck, dass Konflikte zwischen Autofahrenden und Radfahrenden, aber auch zwischen Radfahrenden und zu Fuß Gehenden zunehmen. as kann man dagegen tun?
Grundsätzlich geht es meiner Erfahrung nach vor allem darum, mehr gemeinsame Sache zu machen und nicht zu spalten. Konkret verzeichnen wir in der Pandemie einen starken Anstieg im Rad- und Fußverkehr. Das führt natürlich zu Konflikten, wenn es nicht mehr Raum gibt. Das haben wir übrigens auch vorher schon auf den Kölner Ringen so gesehen. Wichtig ist auch, zu realisieren, dass wir alle Fußgänger sind und viele sowohl Auto- und Radfahrer. Lösungen wären relativ schnell möglich. So könnten zum Beispiel schnell Pop-up-Radwege eingerichtet werden, um die Situation auf gemeinsam genutzten Wegen zu entspannen. Für mehr Sicherheit könnte Tempo 30 angeordnet werden und mehr Fahrradstraßen könnten entstehen.

Damit würde dem Autoverkehr allerdings wieder Platz weggenommen. Ist das akzeptabel?
Neben verkehrstechnischen Belangen wird es immer wichtiger auch ökologische, stadtklimatische, ökonomische, gesundheitspolitische und soziale Aspekte zu berücksichtigen. Dazu muss man natürlich zuerst Daten erheben und mit Zielen verknüpfen. Ein Beispiel aus der Praxis: ehrenamtliche Aktivisten erstellen regelmäßig auf Basis öffentlich verfügbarer Daten Analysen. So entstand erstmals eine Karte, auf der die Bildungseinrichtungen im Umfeld der Kölner Ringe erfasst wurden.

„Es gibt eine Menge an fachlichem Know-how und den Willen, sich in die Materie einzuarbeiten. Zudem kennen Bürger die Situation vor Ort oft am besten.“

Wie viele Bildungseinrichtungen gibt es entlang der Kölner Ringe und welche Schlüsse kann man daraus für den Verkehr ziehen?
Bei der Analyse kam man auf über 80 Bildungseinrichtungen, darunter die Technische Hochschule, eine Gesamtschule, Gymnasien, Berufsschulen und verschiedene private Bildungsträger. Viele Schüler, Studenten und Lehrkräfte kommen aus dem Nahbereich mit dem Fahrrad. Trotzdem wurde dem Durchgangsverkehr bislang eine deutlich höhere Priorität eingeräumt. Das müssen wir schnell ändern.

Brauchen Städte mehr Mitarbeit von ehrenamtlichen Aktivisten?
Wenn man schnelle Veränderungen anstrebt, und die brauchen wir, wenn wir auf die Klimaziele schauen, dann auf jeden Fall. Die Kommunen haben einen Schatz an Menschen und Ideen. Es gibt eine Menge an fachlichem Know-how und den Willen, sich in die Materie einzuarbeiten, zum Beispiel beim ADFC, beim VCD oder beim Verein Fuß e. V. Zudem kennen Bürger die Situation vor Ort oft am besten.

Wie kann man das ehrenamtliche Engagement mit einbinden?
Unsere Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat eine Verwaltungsreform angeschoben, die vieles verbessert. Darüber hinaus gibt es die berechtigte Forderung nach mehr Offenheit der Verwaltung nach außen, um das enorme Potenzial zu heben und deutlich schneller voranzukommen bei der Planung und Umsetzung. Es lohnt sich, mit möglichst vielen Gruppen, Parteien und Organisationen in den Dialog zu treten und zu bleiben. Man könnte zum Beispiel Aktivisten ein Planungsbüro zur Seite stellen, um zu konkreten und fachlich fundierten Vorschlägen zu kommen.

Weltweites Netzwerk der Fahrradbürgermeister

Das Bicycle Mayor Network ist nach eigener Definition eine globale Initiative, um den Fortschritt des Radverkehrs in Städten zu beschleunigen, indem es die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Durchsetzung dauerhafter, gemeinschaftlich getragener Veränderungen hervorhebt und unterstützt. Bicycle Mayors sollen „Change-Maker“ und das „menschliche Gesicht und die Stimme der Radverkehrsförderung“ in einer Stadt sein. Dabei geht es nicht nur um Mobilität, sondern auch darum, die Umweltverschmutzung zu bekämpfen, die Zahl der Verkehrstoten zu senken, Gemeinschaften zu stärken, soziale Barrieren abzubauen und einen besseren Zugang zu wichtigen Dienstleistungen und wirtschaftlichen Möglichkeiten zu gewährleisten. Das Netzwerk wurde 2016 mit Amsterdams erstem Fahrradbürgermeister ins Leben gerufen und ist seitdem auf über 100 Botschafter aus Städten in mehr als 30 Ländern angewachsen.

Reinhold Goss

ist selbstständiger IT-Consultant und war lange Zeit Vorsitzender der Kölner Stadtschulpflegschaft, also der Vereinigung der Elternvertretungen aller Kölner Schulen. Zum Thema Sicherheit für Radfahrer kam der passionierte Amateur-Rennradfahrer durch mehre schwere und zum Teil tödliche Unfälle in der Kölner Innenstadt, verursacht durch abbiegende Lkws und Imponierfahrten von Autofahrern und illegale Straßenrennen. Zu den prominentesten Raseropfern gehört dabei der Sohn des damaligen Kölner Oberbürgermeisters Fritz Schramma, der 2001 an den „Ringen“, der überregional bekannten Amüsier- und Flaniermeile, als unbeteiligter Fußgänger ums Leben kam.
Er ist Mitinitiator und Sprecher der mit dem Deutschen Fahrradpreis ausgezeichneten Initiative #RingFrei, die sich für Tempo 30 und einen umfassenden fahrrad- und fußgängerfreundlichen Umbau der Ringstraße entlang der ehemaligen Stadtmauer einsetzt und ist bestens auch über die Radverkehrsszene hinaus vernetzt. Als Bicycle Mayor für Köln hat sich der engagierte und ausdauernde Netzwerker unter anderem vorgenommen, den Dialog mit Organisationen zu suchen, die dem Radverkehr eher skeptisch gegenüberstehen, neue Projekte wie die Fahrradrikscha-Initiative „Radeln ohne Alter“ voranzutreiben und die Themen Vision Zero und sichere Schulwege für Kinder und Jugendliche als Ziele zu verankern.


Bilder: Radkomm – verenafotografiert.de, Reinhold Goss – privat, Reinhold Goss – #RingFrei, Qimby – Reinhold Goss – #RingFrei, Screenshot bycs.org, Reinhold Goss – privat