Beiträge

Genug sichere Plätze zum Abstellen sind für mehr Fahrradmobilität unverzichtbar. Gute Konzepte und Produkte gibt es, bislang hapert es hierzulande aber noch an der Umsetzung. Experten fordern angesichts neuer Fördermöglichkeiten mehr Dynamik. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


Fahrräder und E-Bikes nehmen als städtische Verkehrsmittel immer mehr Fahrt auf, doch beim Abstellen wird es schwierig. Das Fahrrad vor das Haus stellen? Unsicher und auf den oft knappen Gehwegen wird es noch enger. Oder lieber in den Keller tragen? Insbesondere bei schwereren E-Bikes ein sehr mühsames Unterfangen. Und am Ziel? Kann man wenigstens dort sein teures Rad sicher abstellen – bei Bedarf auch über Nacht? Ganz reale Probleme im Alltag. Der Bedarf nach sicheren Parkmöglichkeiten und Abstellanlagen nimmt deutlich zu und wird sicher auch in den kommenden Jahren nicht nachlassen.

Begehrtes Diebesgut

Die Verkaufspreise für Fahrräder und E-Bikes liegen nach den Angaben der Branchenverbände bei Premium-Fachhändlern in der Regel zwischen rund 800 und 4.000 Euro. Noch einmal deutlich darüber liegen mit über 5.000 Euro sowohl E-Cargobikes als auch die von Pendlern geschätzten schnellen E-Bikes der 45-km/h-Klasse. Für Diebe lohnenswert ist auch der Teilediebstahl. Allein die Kosten für einen E-Bike-Akku belaufen sich auf 600 Euro und mehr und auch ein leistungsstarker Scheinwerfer kann schon mal 200 bis 300 Euro kosten.

Neue Mobilität braucht Diebstahlschutz

Andreas Hombach vom Abstellanlagen-Hersteller WSM betont die wichtige Rolle von E-Bikes für die Mobilitätswende: „Das E-Bike hat die neue Mobilität vor allem in Städten, in denen das Fahrrad bislang aus topografischen Gründen nicht angekommen war, vielfach verstärkt.“ Wie steht es aber mit Angeboten zum sicheren Abstellen im öffentlichen Raum? Schon im persönlichen Umfeld kennt wohl jeder Alltagsradler Orte, die er mit einem schlechten Gefühl anfährt, da es dort keine ausreichenden Möglichkeiten gibt, das Fahrrad sicher am Rahmen anzuschließen. Das Problem bremst die Mobilitätswende, weil hochwertige Fahrräder und E-Bikes auch bei Dieben immer begehrter werden. Abstellen, ohne den Rahmen anzuschließen, ist nirgends empfehlenswert, denn so landet das Rad trotz bestem Schloss schnell auf einem Transporter. Was also tun? Die gute Nachricht: An Geld fehlt es den Kommunen mittlerweile selten. An-dreas Hombach verweist als aktuelles Beispiel auf das „Sonderprogramm Stadt und Land“ des BMVI, das gerade in Kraft getreten ist. Dabei bekommen Regionen erstmals bis zu 90 Prozent der Kosten für Rad-Infrastruktur vom Bund – normal ist Radverkehr Ländersache. Dabei wird ausdrücklich auch Geld für den Bau von Abstellanlagen und Fahrradparkhäusern zur Verfügung gestellt. Oftmals fehlten jedoch die Planer und manchmal auch das tiefere Verständnis für das Thema. Noch immer sei zum Beispiel in vielen Verwaltungen nicht klar, welche Abstellanlagen empfehlenswert sind. „Bitte keine Felgenkiller für teure E-Bikes“, appelliert Andreas Hombach und spricht dabei den längst überholten Vorderradbügel an, der kaum Diebstahlschutz bietet, sondern parkende Räder nur ordnet, verbunden mit dem hohen Risiko, das Vorderrad zu beschädigen. Als „Eier legende Wollmilchsau“ empfiehlt der Experte stattdessen einen Anlehnbügel mit zweitem Querrohr, je nach Parksituation auch mit Überdachung. „Da kann man einfach alles anschließen; das ist auch die beste Lösung für Cargobikes und Liegeräder.“ Ein Vorteil sei, dass der Abstand der einzelnen Bügel zueinander flexibel angepasst werden kann. Wirklich sicher sind aber auch diese Lösungen nicht, denn mit der zunehmenden Verbreitung hochwertiger Räder wächst auch die Professionalität der Diebe. Mittlerweile werden an schlecht einsehbaren Orten statt der hochstabilen Schlösser lieber die Anlehnbügel durchschnitten. Diese Entwicklung könnte auch die Verbreitung von Fahrradparkhäusern oder abschließbaren Boxen für Fahrräder vorantreiben. Sie kosten zwar ein Vielfaches und benötigen mehr Platz, bieten dafür aber nicht nur Schutz vor Diebstahl und Nässe, sondern auch vor neugierigen Blicken.

10 %

Eigenfinanzierung.
Regionen erhalten bis zu 90 Prozent der Kosten für Radinfrastruktur
vom Bund – auch für Abstellanlagen und Fahrradparkhäuser.
Die Hamburger Fahrradhäuschen bieten Platz für 12 Räder und gehören seit den 1990er-Jahren zum Stadtbild.

Clevere Lösungen in Benelux und Hamburg

Während hierzulande in den letzten Jahren in Wohngebieten nach und nach immerhin mehr Abschließmöglichkeiten durch Bügelparker geschaffen wurden, gibt es bei den niederländischen Nachbarn schon seit Jahrzehnten bewährte Konzepte wie spezielle Parkhäuser oder die sogenannte Fietstrommel, eine geschlossene und überdachte Anlage in verschiedenen Versionen, die auf freien Flächen oder umgewidmeten Pkw-Parkplätzen aufgestellt wird. Anwohner können hier einen Radstellplatz im Abo für rund 60 Euro pro Jahr mieten. Die Nachfrage ist hoch und ähnliche Projekte und Anlagen finden sich (z. B. unter dem Namen Velo-Boxx) inzwischen auch großflächig in Belgien und Dänemark. In Deutschland gibt es zwar ebenfalls eine hohe Nachfrage, aber öffentlicher Raum ist knapp und Autoparkplätze umzuwidmen bleibt vielerorts bislang ein Tabu. Regional gibt es eine ähnliche Lösung tatsächlich aber auch hier. In Hamburg ist das „Fahrradhäuschen“ gut vertreten: „Wir haben mittlerweile einige Hundert in Wohngebieten aufgestellt“, sagt Rainer Köhnke, Geschäftsführer des Unternehmens Velopark. Ursprünglich entstanden war die Abstellanlage aus einem sozialpolitischen Projekt. Seit 1995 können Anwohner mit Platz vor dem Haus dieses zehneckige Häuschen von der Stadt aufstellen lassen. „Etwa 7.000 Euro kostet das, die Hälfte steuert die Kommune hinzu“, so Köhnke. Die Stadt Hamburg hat eine eigene Internetseite zur Beantragung eines Häuschens, das zu einem Hamburger Standard geworden ist. Es braucht maximal sechs Quadratmeter und bietet Platz für bis zu zwölf Räder. Die Aufhängung für die Hochkant-Unterbringung ist drehbar gelagert. So spart man Platz, da man den Raum nicht betreten muss. Wer sein Rad abholen will, öffnet die gut lenkerbreite Tür und dreht die Spindel so weit, bis sein Rad in der Öffnung erscheint. Das Rad in der Schiene leicht nach oben schieben, das Vorderrad aus dem Haken und aus dem Ständer nehmen, fertig. Trotz der Erfolgsgeschichte beliefert Velopark neben Hamburg nur wenige deutsche Städte. In Dortmund allerdings konnte das Hamburger Häuschen etwas Fuß fassen, auch hier subventioniert die Kommune einen Großteil der Anschaffungs- und Aufstellungskosten. In Düsseldorf und der Fahrraddiebstahl-Hochburg Münster schützen einige vergleichbare, regional und teils angelehnt ans Hamburger Vorbild entwickelte Fahrradgaragen E-Bikes und Fahrräder in Wohngebieten. Wichtig dabei immer: geringer Flächenbedarf bei maximaler Raumauslastung. Das originale Hamburger Häuschen ist laut Rainer Köhnke in der Schweiz stark vertreten.

„Man muss jetzt sehr schnell und groß handeln, es gibt heute eine enorme Dynamik.“

Jörg Thiemann-Linden, Mitglied Planerbüro „Team Red“, Bonn

Platz zum Abstellen ist eigentlich da

Ein Problem bei der Schaffung von Abstellflächen ist die Verfügbarkeit von Raum, vor allem in den Städten. Hier müssen die fehlenden Flächen künftig wohl vermehrt vom Auto kommen, was rein rechnerisch aber ein Vorteil ist. „Wir erreichen durch die Umwidmung eine enorme Stellplatzvermehrung“, so Jörg Thiemann-Linden, freier Planer für den Radverkehr und Mitglied des Planerbüros „Team Red“ in Bonn. „Ein Autostellplatz entspricht acht Stellplätzen für Fahrräder.“ Besonders wichtig für Fahrradabstellanlagen sei dabei die Positionierung nah an möglichen (Einkaufs-)Zielen. Auch die Geschäftsleute hätten mittlerweile erkannt, dass die Portemonnaie-Dichte steigt, je mehr Menschen ihr Fahrzeug abstellen können.
Mehr Platz fürs sichere Abstellen von Fahrrädern und gleichzeitig mehr Sicherheit verspricht auch das Konzept, das verbotene Kfz-Parken um Kreuzungen und Einmündungen wirkungsvoll mit Fahrradbügeln zu verhindern und wieder wichtige Sichtbeziehungen zu gewährleisten. So könnten allein an einer Standardkreuzung laut ADFC-Konzept 16 Bügel und damit 32 sichere Fahrradstellplätze entstehen.
Auch Lastenräder vergrößern das Platzproblem nach Expertenmeinung nicht, denn meist werden sie von Städtern anstelle eines Autos genutzt. Braucht es dazu spezielle Lastenrad-Parkplätze? „Meiner Einschätzung nach nicht“, so Arne Behrensen, Geschäftsführer der Beraterfirma Cargobike.jetzt und Mitglied im Vorstand des Radlogistik Verband Deutschland e. V. (RLVD). „Wenn der Raum vorhanden ist, ist nicht zu argumentieren, warum in diesem Gebiet separate Abstellanlagen für Cargobikes installiert werden sollten. Was die Ladezonen anbelangt: Wo geliefert wird, da muss eine Ladezone sein – ganz einfach.“
Zum Glück werde nach den Erfahrungen des Planers Thiemann-Linden heute fast grundsätzlich auch in Deutschland die Abstell-Infrastruktur einbezogen, wenn in einer Kommune neue Radweganlagen geplant werden oder wenn ein Marktplatz oder ein Shoppingcenter umgebaut wird. Das reiche aber noch nicht. „Man muss jetzt sehr schnell und groß handeln, es gibt heute eine enorme Dynamik.“

Bei ausreichendem Abstand lassen sich an Anlehnbügeln mit Querrohr auch Cargobikes bequem und sicher abstellen.
Beim Sharea-Angebot der ZEG-Tochter Eurorad können Kunden E-Fahrzeuge für spezifische Zeiträume aus extra gefertigten Garagen mit einem digitalen Verleihsystem mieten.

Neue Mobilität als Teamarbeit

Egal ob es ums sichere Abstellen, Abschließen, Lademöglichkeiten, neue Technologien oder Kommunikation geht, wenn neue Mobilität erfolgreich sein soll, dann ist persönlicher Einsatz und Teamarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren gefordert. Mit diesem Ziel lancierte der deutsche Sicherheitsspezialist Abus im letzten Jahr die Kampagne „Get Urbanized“. Ein Videoclip (s. Youtube / Get urbanized) motivierte dabei zum Radfahren. „Wir wollten zum Nachdenken anregen“, so Torsten Mendel, PR-Manager des Unternehmens. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit Humor wurden in dem Clip die kleinen Schrecken des Arbeitspendelns per Auto und öffentlichen Verkehrsmitteln dargestellt. Probleme, die man mit Fahrradpendeln umgehen kann. Interessant an der Kampagne: Sie zeigte keine Produktwerbung. „Das Primäre war für uns, für Fahrradmobilität zu werben. Erst dann der Gedanke: Wer sich aufs Fahrrad setzt, der kann unser Kunde werden“, sagt Mendel, dessen Unternehmen unter anderem Fahrradschlösser und -helme herstellt. Bei Abus glaubt man, dass man auch mit dem richtigen Schloss und dem passenden Anschließbügel die Mobilität vorantreiben kann. Dazu entwickelt der Hersteller heute auch digitale Lösungen, wie per App und Bluetooth steuerbare Schlösser mit Alarmfunktion. Für die weitere Entwicklung und neue digitale Lösungen ist man bei Abus mit Produzenten von Abstellanlagen genauso im Gespräch wie mit Stadtplanern und Wohnungsbaugesellschaften.
Auf vernetzte Lösungen setzt auch das Unternehmen Eurorad, einer der wichtigsten Innovatoren der Fahrradbranche. Unter dem Namen SHAREA stellt Eurorad Unternehmen, Städten und Kommunen, Wohnungsbaugesellschaften, Energieversorgern etc. eine neuartige Plattform zur Verfügung, welche die Möglichkeit bietet, ein eigenes Sharing-Konzept zu betreiben. Die maßgeschneiderte E-Mobility-Lösung aus einer Hand umfasst topaktuelle IoT-vernetzte E-Bikes, Cargobikes und E-Scooter, modernste App-Technologie, individuelle Abstellanlagen, kompletten Service und einen umfassenden Rundum-Versicherungsschutz. Vorteile für die Betreiber: fest kalkulierbare Kosten und kein Aufwand im laufenden Betrieb.
Angesichts der dynamischen Entwicklung bei der Technologie und den Möglichkeiten der Vernetzung lohnt es sich also auf jeden Fall, nicht nur „in Metall“, sondern auch in neuen Lösungen zu denken. Die Niederländer sind bei ihren Fahrradparkhäusern hier übrigens bereits viel weiter und arbeiten mit integrierten Lösungen für Zugänge und Abrechnungen per Smartcard und Apps und sorgen so für eine lückenlose Verbindung mit Sharing-Anbietern und dem öffentlichen Verkehr.

Umfassender Leitfaden zur Planung aus Hessen

Einen umfassenden Leitfaden zur Planung von Radabstellanlagen hat das hessische Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen herausgegeben. Für den Leitfaden wurden verschiedene Situationen vom Wohnhaus über den Gewerbebetrieb bis zu öffentlichen Plätzen untersucht. Die Aufgaben sei keineswegs trivial, so die Macherinnen und Macher, denn die Anforderungen seien von Ort zu Ort sehr unterschiedlich.

Zum Download:nahmobil-hessen.de/unterstuetzung/planen-und-bauen/radabstellanlagen


Bilder: SecuBike Fietstromme, Wikimedia – Creative Commons, Heinrich Strößenreuther, Eurorad

Mit dem Entschluss, die wohl berühmteste Allee der Welt komplett neu zu gestalten und dafür 225 Millionen Euro zu investieren, hat Paris ein starkes Zeichen für die Transformation der Stadt gesetzt. Statt Durchgangsverkehr, Lärm, Hitze und Smog soll es künftig ein grünes Band mit viel Platz zum Flanieren, Verweilen und nur noch Langsamverkehr geben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


Paris geht voran: flächendeckend Tempo 30 sofort, 170.000 neue Bäume und sichtbare Ergebnisse bis zu den Olympischen Spielen 2024.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die ehemalige Prachtstraße mit Ladengeschäften für Luxusartikel, teuren Cafés und den weltweit höchsten Gewerbemieten zu einer Hauptverkehrsader mit 3.000 Fahrzeugen pro Stunde gewandelt. Attraktiv ist die rund zwei Kilometer lange Allee vom Louvre-Palast zum Triumphbogen nach den Analysen der Architekturfirma PCA-Stream, die das Projekt mit initiierte, nur noch für Tourismus und Unternehmen. Von den schätzungsweise 100.000 Menschen, die hier vor der Pandemie täglich unterwegs waren, entfielen 72 Prozent auf Touristen, vorwiegend aus dem Ausland, und 22 Prozent auf dort Arbeitende. Von Pariserinnen und Parisern selbst wurde die berühmte Meile, abgesehen von Großveranstaltungen wie der jährlichen Parade am Nationalfeiertag, eher gemieden. Mit zum Niedergang haben zuletzt auch Ausschreitungen der „Gelbwesten“, die Gesundheits- und Wirtschaftskrise und nicht zu vergessen auch der Internethandel beigetragen. Deshalb brauchte nicht nur die Allee, sondern das ganze Viertel eine neue Perspektive. Dazu kommen als weitere zunehmende Probleme Smog und Hitze in der Stadt, die den Bedarf an Frischluftschneisen und baumbeschatteten Straßen immer drängender machen.

Aufenthaltsqualität? Eingequetscht zwischen acht Autospuren bleibt heute kaum Raum für ein Foto. Nach dem Umbau soll der Platz wieder zum Flanieren einladen.

Breite Zustimmung zum Leuchtturmprojekt

Bei der Neugestaltung geht es nach den Plänen vor allem darum, den Einwohnern das Herz der Stadt zurückzugeben. Aufenthaltsqualität steht deshalb ganz oben auf der Prioritätenliste, mit Bäumen, Parkflächen, Sitzgelegenheiten, Spielplätzen, Außengastronomie und viel Raum für Fußverkehr. Unterstützung für die Änderungen kommt nicht nur aus verschiedenen politischen Lagern, sondern auch von den Unternehmen und aus der Bevölkerung. Die mythenhafte Avenue habe in den vergangenen drei Jahrzehnten ihren Glanz verloren, schreibt das „Komitee Champs-Élysées“, ein Zusammenschluss aus 180 Geschäftsleuten, Kulturschaffenden und Ladeninhabern, das vor zwei Jahren den Architekten Philippe Chiambaretta beauftragte, Vorschläge für die Begrünung und Umgestaltung zu entwickeln. Für eine breite Beteiligung der Bevölkerung sorgte eine Ausstellung mit Entwürfen und Modellen in der Halle Pavillon de l’Arsenal und eine Befragung im Internet, an der 100.000 Menschen teilnahmen. Zurückgedrängt werden soll der Autoverkehr unter anderem durch eine Umverteilung des Raums von acht auf maximal vier geschwindigkeitsreduzierte Fahrspuren mit hellem Straßenbelag, der sich weniger stark aufheizt. Geplant ist wenig Autoverkehr und, zumindest in den ersten Visualisierungen, eine gesonderte Spur für den Radverkehr. Neben der Allee sollen vor allem die berühmten Plätze umgestaltet und begrünt werden. Zum Beispiel der Place de la Concorde mit dem Obelisken und der Place Charles-de-Gaulle (ehem. Place de l‘Étoile) mit dem Triumphbogen. Denn hier werden im Sommer inzwischen regelmäßig Temperaturen von über 40 Grad gemessen. Seitenstraßen sollen zu Fußgängerzonen umgewandelt werden und insgesamt wieder „ein großer Garten“ entstehen.

„Wir müssen ein neues Modell erfinden. Die Stadt der Zukunft ist grün und verkehrsberuhigt.“

Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris

Ziel: Re-Transformation

Bürgermeisterin Anne Hidalgo und die Planer verweisen darauf, dass sie mit der Neugestaltung das Quartier zu seiner ursprünglichen Berufung zurückführen und damit gewissermaßen eine Re-Transformation planen. Denn noch bis 1833 bestanden die Champs-Élysées (übersetzt „die Gefilde der Seligen“) aus Park- und Grünflächen. Erst im 19. Jahrhundert kam es zur systematischen Bebauung und nachfolgend zu dem überbordenden Auto- und Lkw-Verkehr, der heute den Bereich um die berühmten Denkmäler bestimmt. Auch die Umgebung des Eiffelturms soll deshalb künftig grundlegend umgestaltet und begrünt werden. „Wir müssen ein neues Modell erfinden“, so die Bürgermeisterin. Die Stadt der Zukunft sei grün und verkehrsberuhigt. Auch in Bezug auf den zeitlichen Horizont hat sich Paris ambitionierte Ziele gesetzt. In diesem Jahr wird bis auf wenige Ausnahmen flächendeckend Tempo 30 in der Stadt eingeführt, und viele der geplanten Änderungen sollen bereits zu den Olympischen Sommerspielen in Paris im Jahr 2024 umgesetzt sein. Bis 2025 sollen beispielsweise rund 170.000 Bäume gepflanzt werden. Die komplette Umgestaltung der Champs-Élysées soll dann, wie viele andere Projekte der grünen und fahrradfreundlichen „Stadt der 1/4 Stunde“, bis 2030 abgeschlossen
sein.

Michel Lussault, Geograf Universität Tours:

„Die Champs-Élysées sind einer jener Hyper-Orte, die die Besonderheit haben, Repräsentationsräume im strengen Sinne des Wortes zu sein, in denen die Dynamik einer Gesellschaft inszeniert wird. In diesem Sinne ist es nicht verwunderlich, dass sich das moderne Modell der Champs-Élysées erschöpft hat, denn es verkörpert, was wir als urbane Gesellschaft geworden sind, das heißt, es zeigt, wie mächtig die Urbanisierung in den letzten sechzig Jahren war, aber auch, wie problematisch ihre Auswirkungen waren. Wenn die Pariser die Champs nicht mehr mögen, und wenn die Champs die Pariser nicht mehr mag, dann liegt das daran, dass dort die Sackgassen eines Entwicklungsmodells inszeniert werden.“


Bilder: PCA-Stream, Salem Mostefaoui

Der Radanteil in der Hansestadt ist hoch, das Image im Städtevergleich spitze und die Infrastruktur gut. Jetzt will die Stadt die Qualität nochmals deutlich steigern. Dazu gehören das erste Fahrradmodellquartier Deutschlands, Premiumrouten und neue Fahrradbrücken. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


Radfahren gehört seit vielen Jahren in Bremen zur Mobilitätskultur. 25 Prozent der Wege werden hier mit dem Fahrrad zurückgelegt, und im Städtevergleich gibt es immer wieder Bestnoten für die Fahrradfreundlichkeit. Allerdings sind viele Radwege weiter deutlich zu schmal und das Netz ist noch lückenhaft. Die Hansestadt will das in den kommenden Jahren ändern. Dafür gibt es bereits diverse Projekte mit fertigen Planungen und teils bewilligten Bundesfördermitteln. Schöner Radfahren, das geht in der Hansestadt inzwischen vor allem im Stadtteil „Alte Neustadt“. Dort wurde 2019 das erste Fahrradmodellquartier eröffnet. Seitdem gelten dort alle Vorzüge einer Fahrradstraße mit Tempo 30 und Vorrang vor dem Autoverkehr. Das Quartier umfasst zwölf Straßen. Das klingt nicht nach viel, setzt aber neue Qualitätsstandards in der Radverkehrsplanung. Separat betrachtet ist fast jede der zehn umgesetzten Maßnahmen relativ unspektakulär. Ihre Wirkung entfalten sie durch ihr Zusammenspiel und die konsequente Umsetzung jeder einzelnen Maßnahme.

Neue Infrastruktur und das Fahrrad als gleichberechtigtes Verkehrsmittel beim Fahren und Parken. So soll der Anteil des Radverkehrs in Bremen massiv weiter gesteigert werden.

Pkw-Übernutzung zurückgedrängt

Das Modellquartier liegt nur einen Kilometer vom historischen Rathaus entfernt. Doch anders als rund um den gotischen Prachtbau sind die Straßen in der „Alten Neustadt“ eng. Die Gehwege waren schmal und lange Zeit von Fahrrädern und Falschparkern zugestellt. Im Zuge des Umbaus zur Fahrradzone sollte das anders werden. Das Ziel lautete: Vorrang für Fuß- und Radverkehr – beim Fahren wie beim Parken. Als Erstes beendete Michael Glotz-Richter, Referent für nachhaltige Mobilität in Bremen, das „Wild-West-Parken“. „Wir hatten eine Übernutzung durch Pkw“, sagt er. Rechts und links am Fahrbahnrand standen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Häufig stellten die Falschparker ihre Wagen so ab, dass sie weit in die Kreuzung hineinreichten. Das war für Fahrzeuge der Müllabfuhr und der Rettungsdienste problematisch. Sie mussten in den schmalen Gassen Schritttempo fahren und blieben an den zugeparkten Kreuzungen öfters stecken. Um das Parken an Einmündungen und Kreuzungen grundsätzlich abzustellen, wurden deshalb im Rahmen des Projekts die Fußwege an diesen Stellen erweitert. Auf den vorgezogenen Bürgersteigen stellte die Stadt Fahrradbügel auf. Insgesamt 600 im gesamten Quartier. Wer zu Fuß geht, hat heute freie Wege, weil die Fahrräder nicht mehr an Straßenschildern und Gartenzäunen angeschlossen werden und Falschparken verhindert wird. Der Sicherheitsgewinn ist groß. Wenn Kinder und Erwachsene jetzt die Straße überqueren, haben sie die komplette Kreuzung im Blick – und umgekehrt werden sie von den Autofahrenden deutlich früher und besser wahrgenommen.

„Wir hatten eine Übernutzung durch Pkw.“

Michael Glotz-Richter
Referent für nachhaltige Mobilität in Bremen

Mehr Sicherheit, Vernetzung und Service

Sicherheit war ein zentrales Thema bei der Planung des Fahrradmodellquartiers, das auch Fahrradzone genannt wird, und es ist erst der Auftakt, um Radfahren in der Stadt insgesamt auf eine neue Qualitätsstufe zu heben. So waren die beiden Hauptstraßen, die das Fahrradquartier eingrenzen, lange ein Sorgenkind der Planer. „Als die Straßen gebaut wurden, hat man die Fußgänger vergessen“, sagt Glotz-Richter. Wenn sie die Straßen queren wollten, mussten sie aufpassen und schnell sein. Denn die beiden Straßen sind die direkten Zubringer zu den Brücken ins Zentrum. Entsprechend hoch ist dort der Auto- und S-Bahn-Verkehr. Im Zuge des Umbaus wurde in der Fahrbahnmitte eine Fahrspur entfernt und für Radfahrer und Fußgänger neu gepflastert. Außerdem wurde sie rot eingefärbt und mit Fahrradpiktogrammen versehen. Diese Querungshilfen, die Verkehrsinseln gleichen, wurden an strategisch wichtigen Stellen für Radfahrer platziert. Denn in den kommenden Jahren soll in der Hansestadt ein sogenanntes Premium-Radroutennetz entstehen. Das ist mit einem Radschnellwegenetz vergleichbar. Die Querungshilfen verbinden später das Fahrradquartier auf direktem Weg mit dem Premiumnetz. Die Fahrradzone ist im Grunde eine Ausweitung der Fahrradstraße. Deshalb gilt dort überall Tempo 30. „Die Geschwindigkeit war allerdings nie ein Problem“, sagt Gunter Mischner, Sprecher des Arbeitskreises Verkehr Neustadt und des ADFC-Landesverbands Bremen. Durch das historische Kopfsteinpflaster gebremst wurde nicht nur, wer Auto fuhr, sondern auch, wer das Rad nutzte. Um für Radfahrende mehr Fahrkomfort zu schaffen, wurde deshalb ein Asphaltband in der Mitte der Fahrbahn aufgebracht. Außerdem gibt es für sie nun sogenannte Servicepunkte im Quartier. An drei Stationen können E-Bikes geladen oder Reifen aufgepumpt werden. Außerdem gibt es an der Hochschule Bremen (HSB), die mit mehreren Standorten im Quartier vertreten ist, eine neue Leihradstation des Bremer Sharing-Systems. Hier befindet sich auch das Sahnehäubchen des Programms: das moderne Fahrrad-Repair-Café. Anwohner können ihre Räder hier warten lassen oder auch Lastenräder ausleihen. Die HSB spielt eine besondere Rolle in der Entstehung des Fahrradquartiers. Steffi Kollmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HSB, hatte die Idee, die Mobilität im Umfeld der Hochschule umzugestalten, und Gunter Mischner vom ADFC angesprochen. Gemeinsam entwickelten sie das Konzept für ein Fahrradquartier und stellten es dem Beirat der Neustadt vor, dem sie beide angehören. Die Idee war nicht komplett neu. Bereits 2015 hatten SPD und Bündnis 90/Die Grünen per Koalitionsvertrag vereinbart, ein Fahrradmodellquartier in Bremen zu schaffen. Seitdem war aber nichts mehr passiert. „Viele unserer Maßnahmen hatte der Beirat sowieso schon lange auf dem Zettel“, sagt Mischner. Entsprechend groß war die Zustimmung in der Politik und bei den Ortsansässigen.

Guter Anschluss und ausreichend Platz: Die neuen Querungshilfen machen das Wechseln der Straßenseite leicht. Die Überwege sollen später ans Premiumradnetz angebunden werden.

Bürger wollen Veränderungen

Ein Selbstläufer war das Projekt trotzdem nicht. Denn Bremen ist chronisch unterfinanziert. Nachdem ein Büro mit Mitteln aus der Bremer Verkehrsbehörde einen Projektantrag geschrieben hatte, bewarb sich das Verkehrsressort um Mittel aus der Nationalen Klimaschutzinitiative (NKI). Mit Erfolg: Der Bund steuerte 2,4 Millionen Euro bei, rund eine Million Euro zahlte das Land Bremen und fast 100.000 Euro kamen von der HSB. Aber das reichte noch nicht. „Am Ende wurde das Geld knapp“, sagt Mischner. Das hatte unterschiedliche Gründe. „Wir waren anfangs zu bescheiden“, sagt er. „Wir haben zu wenig Geld beantragt.“ Während der Bauphase habe der Beirat auch immer wieder mal berechtigte Änderungsvorschläge vorgebracht, die dann umgesetzt wurden. Das größte Pro-blem aber war, dass die Baukosten in der Zeit gestiegen sind. Einige Maßnahmen konnten deshalb gegen Ende des Umbaus nicht mehr umgesetzt werden. „In der Lahnstraße ist das Geld ausgegangen“, sagt Mischner. Die Zufahrt in die Straße wurde noch gepflastert. Dann war Schluss. Das Parkkonzept konnte nicht mehr verwirklicht werden. Deshalb werden dort weiterhin die Gehwege von falsch geparkten Autos zugestellt. In dieser Straße wird deutlich, dass das Projekt nur funktioniert, wenn alle Maßnahmen umgesetzt werden. Das spüren auch die Anwohnerinnen und Anwohner und wollen mehr davon. „Alle im Stadtteil profitieren von der Veränderung“, sagt Mischner. In der „Alten Neustadt“ werde inzwischen mehr Fahrrad gefahren als zuvor, die Fußgänger hätten freie Wege und im Sommer werde auch mal ein Stuhl auf den Gehweg gestellt. „Das Auto wird ein Stück zurückgedrängt“, sagt er. Den Bewohnern aus den anliegenden Stadtteilen gefalle das, „sie wollen weitere Verbesserungen.“ Die sollen auch kommen. Bremen will in den kommenden Jahren die Radinfrastruktur massiv umbauen. Acht Kilometer vom Zentrum entfernt in Osterholz soll in dem Stadtteil Blockdiek das zweite Fahrradquartier „Ellener Hof“ entstehen. Dort gibt es ein anderes Parkkonzept als in der „Alten Neustadt“. „Wir wollen das Autoparken nur am Rand des Gesamtquartiers zulassen“, erläutert Glotz-Richter. Das geht, weil das Viertel als Klima- und Fahrradquartier neu gebaut wird. Die Ziele: Den Radverkehr stärken, Treibhausgas-Emissionen reduzieren und dadurch insgesamt die Lebensqualität im Quartier für alle steigern.

Fahrradfreundlich und weniger Staus

Mehrfach wurde Bremen in der Vergangenheit als einer der fahrradfreundlichsten Städte in Deutschland ausgezeichnet. Im ADFC-Fahrradklimatest belegte die Hansestadt 2019 den ersten Platz in der Kategorie „Städte mit mehr als 500.000 Einwohnern“. Luft nach oben verrät dabei die Endnote 3,5. Auch beim Copenhagenize-Index, der die fahrradfreundlichsten Städte der Welt auszeichnet, erzielte Bremen 2019 mit dem elften Platz als beste deutsche Stadt ein hervorragendes Ergebnis. In der Wertung erhielt Bremen 58,9 Prozentpunkte, Spitzenreiter Kopenhagen kam auf 90,2 Prozent.
Trotz oder gerade wegen der hohen Fahrradfreundlichkeit gehörte Bremen nach einer Untersuchung des Navigationsanbieters Tomtom zu den wenigen deutschen Städten, in denen der Autoverkehr im Jahr 2019 flüssiger lief als im Vorjahr. Von 26 untersuchten deutschen Städten stiegen in 18 die Staus und die allgemeine Verkehrsbelastung an, am stärksten in Wiesbaden um acht Prozentpunkte. Bremen verzeichnete dagegen eine Abnahme um drei Prozentpunkte.

Landesweiter Ausbau und neue Brücken

Auch landesweit setzt Bremen auf die Stärkung des Radverkehrs. Bereits 2014 hat die Verkehrsbehörde in ihrem Verkehrsentwicklungsplan ein Netz aus neun Premiumrouten festgelegt. Das sind Fahrradwege für den Alltags- und Pendlerverkehr. Sie entsprechen in etwa den Qualitätsstandards von Radschnellwegen. Die längste Premiumroute soll über eine Länge von 35 Kilometern von Blumenthal-Farge im Westen der Stadt bis in den Osten nach Hemelingen verlaufen. Ein rund zwei Kilometer langes Teilstück davon in der Innenstadt soll noch in diesem Jahr gebaut werden. Die Strecke führt „Am Wall“ entlang, einer einseitig bebauten historischen Wohn- und Geschäftsstraße mit Blick auf die Parkanlage „Bremer Wallanlage“. Nach dem Umbau soll die Straße zur Einbahnstraße werden und eine kleine Barriere den Radverkehr vor dem Autoverkehr schützen. Damit baut Bremen die erste geschützte Fahrradstraße der Stadt. Auch ein anderes Problem soll künftig gelöst werden: Bremen ist eine Stadt am Wasser und die Weser teilt die Stadt in zwei große Teile. Bislang gibt es nur wenige Querungen für Fuß- und Radverkehr. Das soll nun anders werden. In den kommenden Jahren ist der Bau von drei Brücken geplant. Für die Entscheidung, welche Brücke zuerst gebaut wird und an welcher Stelle, wurde für die Planung unter anderem auf Radverkehrsdaten zurückgegriffen, die über die Fahrrad-App von „Bike Citizens“ gesammelt wurden.

Das Fahrrad-Repair-Café ist das Herzstück des Bremer Modellquartiers. Hier kann, wer mag, Räder selber reparieren oder reparieren lassen, Kaffee trinken oder an Veranstaltungen teilnehmen.

Radfahrende liefern wichtige Daten

Seit 2013 arbeitet Bremen mit dem Grazer Unternehmen Bike Citizens zusammen und bietet unter „Bremen Bike it“ verschiedene Möglichkeiten an wie Fahrrad-Navigation oder Vorschläge für Ausflüge mit dem Rad. Außerdem können die Nutzer im Zuge von verschiedenen Kampagnen immer mal wieder kleine Preise gewinnen. Mit diesen Angeboten verführt Bike Citizens Radfahrer dazu, ihre täglichen Wege zu tracken und diese Daten mit der Stadt zu teilen. Über eine Million Kilometer haben die Bremerinnen und Bremer auf diesem Weg in den vergangenen Jahren gesammelt. Ihre Routen werden auf sogenannten Heatmaps angezeigt. Je häufiger ein Straßenabschnitt befahren wird, umso intensiver wird seine Färbung. Neben den zurückgelegten Strecken werden per GPS auch das Tempo und die Stopps registriert. Die Daten gleicht „Bike Citizens“ mit dem Kartendienst OpenStreetMap (OSM) ab. Mithilfe verschiedener Analyse-Tools kann das Unternehmen so genau abbilden, an welchen Kreuzungen Radfahrer lange warten müssen, zu welcher Tages- und Jahreszeit sie unterwegs sind, welche Schleichwege sie nutzen und welche Wege sie meiden. Langfristig kann diese Datensammlung die Grundlage künftiger Planungen werden. „Momentan bestätigen wir mit ihnen vor allem unsere aktuelle Planung“, sagt Anne Mechels, die in der Bremer Senatsverwaltung die Nahmobilität plant. Dazu gehört der Bau der ersten der drei Rad- und Fußgängerbrücken über die Weser. Sie soll die Wilhelm-Kaisen-Brücke entlasten, die Hauptverkehrsader für Radverkehr Richtung Innenstadt. Das GPS-Datenanalyse-Tool „Bike Citizens Analytics“ zeigt bereits jetzt: 28 Prozent der Radfahrenden werden die neue Querung nutzen, weil ihre Wege kürzer werden. Für die Verkehrsplaner ist diese Erkenntnis wichtig. Erstmals können sie mithilfe von Radverkehrsdaten konkrete Aussagen über die Wirksamkeit von Bauvorhaben treffen. Sie liefern objektive Argumente für oder gegen den Bau von Radinfrastruktur. Für den Autoverkehr existieren diese Datenanalysetools und Verkehrsmodelle seit Jahrzehnten. Für den Radverkehr ist das neu.

Das wurde im Modellquartier umgesetzt.

  1. „Holperfreies“ Radfahren
  2. Umwandlung in Fahrradstraßen
  3. Anschluss an Premiumrouten
  4. Raum und Sicherheit mit Gehwegnasen
  5. Querungshilfen auf Hauptverkehrsstraßen
  6. Fahrradparken
  7. Fahrrad-Repair-Café
  8. Umgestaltung Campus Neustadtswall
  9. Sharing-Station für Fahrräder und Lastenräder
  10. Service-Stationen / E-Bike-Ladestation

Bilder: stock.adobe.com – Pascal, Visualisierung: Stadt Bremen, Michael Glotz-Richter, Qimby – Phillipp Böhme, stock.adobe.com – parallel dream, Stadt Bremen

Dr. Uwe Schneidewind ist seit Anfang November 2020 neuer Oberbürgermeister der bergischen Großstadt Wuppertal und hat dafür die Leitung des renommierten Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie aufgegeben. Was es für ihn braucht, ist „Zukunftskunst“. Also die Fähigkeit, kulturellen Wandel, kluge Politik, neues Wirtschaften und innovative Technologien miteinander zu verbinden. Was treibt den hoch angesehenen Vordenker und Transformationsforscher an und was sind seine Ziele im Bereich Verkehrswende? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Herr Dr. Schneidewind, wie geht es weiter in Wuppertal? Sie vertreten ja die grundsätzliche Auffassung, dass man Verkehr vermeiden, verlagern und verbessern müsste.

Das ist ja ein jahrzehntealtes verkehrspolitisches Paradigma im Sinne der grundlegenden Herangehensweise bei einem veränderten Verkehr. In der aktuellen Diskussion geht es vor allem um Verbesserungen, also vor allem Schadstoffe in den Innenstädten und Elektroautos. Aber das Thema ist ja viel grundsätzlicher.

Wo sehen Sie aktuell die eigentlichen Herausforderungen?
Es gilt eine umfassendere Perspektive einzunehmen. Dann werden die Diskussionen schwieriger, aber die Ergebnisse wirkungsmächtiger. Gerade das Thema „Verlagern“ vom Auto hin zu ÖPNV und Radverkehr mit einer anderen Verteilung des Straßenraums führt zu sehr kontroversen Diskussionen, die man aber führen muss. Die Debatte über Vermeidung berührt städtebauliche Strukturen und grundlegende Fragen des Wirtschaftswachstums. Sie ist damit noch langfristiger. Man kann sagen, je grundsätzlicher, aber am Ende auch wirkungsmächtiger, desto schwieriger wird die Diskussion.

Waren die schwierigen Diskussionen ein Grund, warum Sie von der Theorie in die Praxis, sprich in die Politik gewechselt sind?
Ich komme aus der Transformationsforschung, die verstehen will, wie Veränderungsprozesse im politischen und gesellschaftlichen Bereich möglich sind. Dazu gibt es viele Theorien, aber ich habe immer wieder gesehen, wie wenig sich da draußen tatsächlich bewegt. Jetzt die Chance zu haben, in dieses Gefüge einzutauchen und zu sehen, was möglich ist, das war für mich eine große Motivation.

Die mit großem Aufwand erbaute und im Jahr 1901 eröffnete Wuppertaler „Schwebebahn“ ist nicht nur das Wahrzeichen der Stadt, sondern auch die wichtigste Verkehrsverbindung. Auf 13,3 Kilometern führt die denkmalgeschützte Hängebahn, dem Flusslauf der Wupper folgend, durch das Tal.

Die auf der stillgelegten Rheinischen Bahnstrecke errichtete „Nordbahntrasse“ ist ein Magnet für Radfahrer und Fußgänger. Im und am alten Bahnhof Mirke befindet sich heute die „Utopiastadt“ als Ort für kreative Stadtentwicklung.

Spüren Sie aktuell Rückenwind für das Thema Verkehrswende?
Wir merken in der Bevölkerung, dass sich Wertvorstellungen verschieben. Es gibt ein neues Verständnis von qualitätsvollen Innenstädten und von neuen Anforderungen an den städtischen Verkehr. Deutlich wurde das zum Beispiel bei den Wahlen in Hannover, bei denen ein Oberbürgermeister (Anm. d. Red.: Belit Onay, Grüne) ins Amt gewählt wurde, der den Wahlkampf mit dem Versprechen einer autofreien Innenstadt geführt hat. Ähnliches hat sich in diesem November bei den Kommunalwahlen in Aachen und Bonn gezeigt. Wir kennen ja eigentlich seit dreißig Jahren die Konzepte, wie nachhaltiger Verkehr aussehen müsste. Mit der neuen Legitimation werden Ergebnisse plötzlich greifbar.

Eine Ihrer Leitlinien in Bezug auf den Verkehr ist ja, dass Sie die Grabenkämpfe zwischen Autofahrern und Radfahrern oder Radfahrern und Fußgängern beenden wollen.
Wir haben derzeit eine Diskussion, die eine falsche Rahmung hat: Die einen gegen die anderen. Das ist eine schwierige Rahmung für die politische Debatte. Insbesondere, weil eine so geführte Diskussion weit über die sachliche Ebene hinausgeht. Die Beteiligten nehmen das schnell als Kritik am eigenen Lebenskonzept, an eigenen Wertvorstellungen wahr. Immer wenn solche Sachkonflikte zu tiefen Wertkonflikten werden, dann sind sie politisch viel schwerer aufzulösen.

Wie sollte man aus Ihrer Sicht mit tief sitzenden Konflikten umgehen?
Es ist wichtig, eine gemeinsame Wertebasis zu finden, die auch in der Breite geteilt werden kann. Die kristallisiert sich aktuell immer mehr heraus: Lebensqualität in der unmittelbaren Wohnumgebung von Innenstädten. Darauf aufbauend müssen wir uns fragen, was heißt denn das jetzt für die Organisation der unterschiedlichen Mobilitätsformen in einer solchen Stadt? Das kann, so meine feste Überzeugung, den einen oder anderen Konflikt auflösen.

„Es ist wichtig, eine gemeinsame Wertebasis zu finden, die auch in der Breite geteilt werden kann.“

Es tut sich ja gerade international sehr viel. Was kann man aus anderen Städten lernen und wie beeinflussen diese uns hier in Deutschland?
Die Entwicklung in den anderen Städten ist auf unterschiedlichen Ebenen wichtig. Erstens: Es etablieren sich neue Leitbilder für die zukunftsfähige Stadtentwicklung, wie beispielsweise die Formel der „15-Minuten-Stadt“ durch die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Damit entstehen kraftvolle Bilder, die die neue Stadt beschreiben. Zweitens: Viele positive Beispiele anderer Städte stärken die Erfahrung mit erfolgreichen Transformationslogiken und -pfaden. Sie sensibilisieren aber auch für die Zeitspannen, die es dafür braucht. Beispiele wie Kopenhagen, wo sich die Veränderungen über 25 Jahre vollzogen haben, zeigen, dass wir einen langfristigen Kompass brauchen, viel, viel Ausdauer und konsequente Umsetzungsstrategien.

Wie schaut die Radverkehrssituation heute in Wuppertal aus? Was können andere Kommunen potenziell künftig von der Stadt lernen?
Wuppertal ist ja in vielerlei Hinsicht besonders, da es eine besonders autogerechte und fahrradungerechte Stadt ist. Der Fahrradanteil im Modal Split liegt hier, vor allem wegen der engen Bebauung und der schwierigen Topografie mit vielen Hanglagen, bislang im niedrigen einstelligen Bereich. Auf den ersten Blick scheint Wuppertal für eine Verkehrswende komplett ungeeignet. Insofern ist es gut, wenn sich eine Stadt wie Wuppertal jetzt aufmacht und selbst unter widrigsten Bedingungen Veränderungen anstößt. Das ist das Lernexempel, das Wuppertal setzen kann.

Was wollen Sie in Wuppertal im Bereich Verkehr erreicht haben, wenn Sie auf Ihre Amtszeit zurückblicken?
Um die Verhältnisse zu verändern, müssen wir erst einmal neue Angebote schaffen. Es gilt eine grundlegende Fahrradtrassen-Infrastruktur aufzubauen inklusive geeigneter Zuwegungen. Was wir aufbauen, sind Längsachsen entlang der Wupper im Tal und auf den Hängen inklusive Verbindungswegen. Damit entsteht eine Fahrrad-Grundstruktur, die man dann schrittweise ergänzen kann.

„Auf den ersten Blick scheint Wuppertal für eine Verkehrswende komplett ungeeignet. Das ist das Lernexempel, das Wuppertal setzen kann.“

Dr. Uwe Schneidewind, Oberbürgermeister von Wuppertal

Die Topografie ist bei Ihnen im Bergischen Land ja eine ganz besondere Herausforderung.
Deshalb muss es unsere Ambition sein, eine E-Bike-Hauptstadt zu werden. Wenn wir auf die Möglichkeiten des E-Bikes setzen, dann lassen sich relevante Teile der Bevölkerung aufs Rad bekommen. Niemand fährt, selbst wenn er trainiert ist, mit dem Anzug einen Hang mit zehn Prozent Steigung 300 oder 400 Meter hoch und kommt dann komplett durchgeschwitzt ins Büro. Und die meisten haben am Morgen oder nach der Arbeit auch einfach nicht die Lust und die Kraft dazu. So müssen wir aus der Not, was den Fahrradverkehr angeht, eine Tugend machen. Nach Corona lade ich gerne alle Beteiligten aus der Fahrradbranche auf einen E-Bike-Gipfel nach Wuppertal ein.

Wuppertal liegt rund 30 Kilometer östlich von Düsseldorf mitten im Bergischen Land und ist mit rund 350.000 Einwohnern die größte Stadt bzw. Verbindung von ehemals selbstständigen Städten entlang der Wupper. Mit den industriell geprägten Stadtkernen und den bewaldeten Hügeln ringsum gibt es hier ganz besondere Herausforderungen.

Wie wollen Sie Wuppertal mit seinen vielen Unterzentren zu einer weniger autodominierten Stadt machen?
Ich habe in meinem Wahlprogramm deutlich gemacht, dass ich nicht von oben anordnen werde, dieser oder jener Stadtteil wird autoarm. Sondern ich möchte in unserer autogerechten Stadt, wo das Thema bislang emotional sehr aufgeladen ist, „Inseln des Gelingens“ schaffen. Mein Angebot an die Bezirke ist: Wenn ihr mit der Unterstützung aus der Bevölkerung sagt, ihr wollt in eurem Umfeld eine höhere Innenstadtqualität und auch eine andere Form von Mobilität schaffen, dann bekommt ihr die volle Unterstützung aus der Verwaltung. Wir werden das eher als produktiven Wettbewerb ausgestalten mit der Frage, wer von euch hat schon am besten verstanden, was da eigentlich passiert im Hinblick auf neue urbane Qualität; und die, die es gut verstanden haben, haben unsere Unterstützung. Ich bin guter Dinge, dass sich Stadtbezirke finden, die unser Angebot gerne annehmen, und dass man damit eine produktive Dynamik und Spill-Over-Effekte auslöst.

Was machen Sie mit den Stadtteilen, die hier nicht mitziehen?
Wir haben alles Verständnis für die, die noch nicht so weit sind. Aber natürlich laufen sie Gefahr, dass ihre Quartiere künftig nicht mehr in die Zeit passen, weil sie sich der Veränderung verweigern.

Welche Rolle spielt künftig der auch in Wuppertal chronisch defizitäre ÖPNV?
Wie gesagt, bevor man an eine weitergehende Regulierung geht, müssen die Alternativangebote aufgebaut sein und in Wuppertal heißt das, im Modal Split einen noch besseren ÖPNV und seine langfristige finanzielle Stabilisierung. Wir brauchen andere Formen der Nahverkehrsfinanzierung. Wir werden uns zusammen mit den Stadtwerken bemühen, nach der kommenden Bundestagswahl, wenn es neue Finanzierungsinstrumente und Möglichkeiten gibt, dort mit Vorreiter zu sein.

Erwarten Sie Rückenwind durch die große Bürgerbeteiligung für das Fahrradgesetz in Nordrhein-Westfalen?
Der Weg zum Fahrradgesetz ist ja ein enorm wichtiger institutioneller Innovationsprozess gewesen. Die Tatsache, dass wir bürgerschaftliches Engagement nicht nur mobilisieren für Einzelprojekte, sondern für einen gesamten Gesetzgebungsprozess, der dann einen Rahmen schafft. Das ist der große Sprung, den der Berliner Radverkehrsentscheid gebracht hat. Das ist für alle, die in den Städten eine Verkehrswende befördern wollen, ein wichtiger Rückenwind, weil sich Landespolitik dazu verhalten muss, weil sich Akteure über einzelne Städte hinaus vernetzen und man damit einen Raum hat, die Verkehrswende-Diskussion anders zu führen.

Was sind Ihre Forderungen an den Bund?
Mehrere Punkte spielen eine Rolle: Es geht es um Ressourcen und Umschichtungen im Verkehrsetat, um alternative Formen von Mobilität auszubauen. Gerade für stark verschuldete Kommunen, wie beispielsweise Wuppertal, ist das wichtig. Daneben geht es auch um Anpassungen in der Straßenverkehrsordnung, zum Beispiel in Bezug auf Geschwindigkeitsbeschränkungen in den Städten. Wir sind hier ja durch die nationalen Rahmenbedingungen sehr limitiert. Hilfreich wären Experimentierklauseln, Lust auf neue Konzepte und ein gemeinsames Lernen zwischen Kommunen, um Veränderungsprozessen noch mal einen neuen Antrieb zu geben.

Dr. Uwe Schneidewind

ist 1966 in Köln geboren, leitete zehn Jahre das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie als Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer und zählt nach einem Ranking der FAZ zu den einflussreichsten Ökonomen Deutschlands. Als Mitglied der Grünen trat er bei den Kommunalwahlen in Wuppertal unter dem Motto „Schneidewind verbindet“ für Grüne und CDU an und ist seit dem 1.11.2020 neuer Wuppertaler Oberbürgermeister.

Nach seinem Studium der Betriebswirtschaftslehre war er als Berater bei Roland Berger Consulting tätig, promovierte an der Universität St. Gallen am Institut für Wirtschaft und Ökologie und wurde ab 1998 zum Professor für Produktionswirtschaft und Umwelt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg berufen, die er von 2004 bis 2008 auch als Präsident leitete. Für sein „herausragendes wissenschaftliches Engagement und seine Impulse zur Weiterentwicklung der Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung“ wurde er im Juli 2020 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.
Schneidewind ist seit 2011 Mitglied im Club of Rome, Vorstandsmitglied der Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung und war bis Februar 2020 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen.

In seinem Buch “Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels.” beschreibt er seine Vorstellung von „Zukunftskunst“. Damit ist die Fähigkeit gemeint, kulturellen Wandel, kluge Politik, neues Wirtschaften und innovative Technologien miteinander zu verbinden. So würden Energie- und Mobilitätswende, die Ernährungswende oder der nachhaltige Wandel in unseren Städten möglich. Das Buch ermuntert Politik, Zivilgesellschaft, Unternehmen und jeden Einzelnen von uns, zu Zukunftskünstlern zu werden.


Bilder: Wolf Sondermann, Jan (stock.adobe.com) M. Tausch (stock.adobe.com), Martin Randelhoff (Qimby), S. Fischer Verlage

Wie geht es weiter mit dem Thema Mobilität und Verkehr? Worauf müssen wir uns einrichten, wenn wir langfristig strategisch planen wollen und wohl auch müssen?
Prof. Stephan Rammler gehört in Deutschland zu den profiliertesten Experten für Mobilitäts- und Zukunftsforschung und schlägt im Gespräch den großen Bogen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Herr Professor Rammler, manche Experten sehen mit Corona eine Aufbruchstimmung, andere wenig echte Veränderungen und viele wollen wieder zurück in die gute alte Zeit. Wie sehen Sie die aktuelle Lage?

Wenn ich im Augenblick gefragt werde, wie sieht die Zukunft aus, dann sage ich, dass es gute Gründe gibt, die Zeiten vor und nach Corona zu unterscheiden. Vor Corona war es so, dass die globalen Megatrends wie Urbanisierung, demografisches Wachstum, Nachhaltigkeitstransformation, Individualisierung und die digitale Transformation in ihrem synergetischen Zusammenwirken einen großen Handlungsdruck erzeugt haben, in Richtung Klimaneutralität, Schutz der ökologischen Vielfalt und Schutz der Lebensgrundlagen zu gehen. Allen voran das große fanalhafte Thema Klimawandel und Forderung der Klimaneutralität.

Die Diskussion hat ja auch Kontroversen um die Mobilitäts- und Verkehrswende mit angestoßen.
Das hat insbesondere für die Mobilität Auswirkungen gehabt, weil sie hochgradig fossil gebunden ist. Es gibt eine hohe Transformationsnotwendigkeit, gleichzeitig aber auch große Schwierigkeiten, weil eben so viel davon abhängt und die Mobilität so tief in die lebenspraktischen Notwendigkeiten moderner Alltagskultur eingebettet ist. Wir hatten auch eine starke Dynamik im Sinne von mehr Bewusstheit für das Thema und eine starke Bewegung auf der kommunalen Ebene.

Viele erleben gerade engagierte Bürger und Kommunen als starke Treiber.
In den Kommunen haben viele verstanden, dass es keinen Sinn macht, auf die Landes- oder Bundespolitik zu warten, weil die Menschen vor Ort ihre Probleme erleben und vor Ort auch Lösungen von den lokalen Entscheidern geliefert bekommen möchten. Deswegen ist für mich nach wie vor die kommunale und lokale Ebene der wichtigste Ort für die Verkehrs-politik.

Und die Zeit nach Corona? Was hat sich verändert und wo sehen Sie eine Zäsur?
Die Pandemie hat vor allem die grundsätzliche Frage nach Resilienz aufgerufen. Wenn wir fragen, was hat Corona eigentlich an Veränderungen gebracht, dann können wir als Zwischenfazit sicher sagen: Homeoffice, Telependeln, Restabilisierung des Automobils sowie ein starker Impuls für den Bereich der Lieferlogistik und die Themen Radverkehr und Mikromobilität. Gleichzeitig sehen wir zunehmende Starkwetterereignisse, Brände und Dürren.

Sie sehen uns verschiedenen Krisen ausgesetzt, in unsicheren Zeiten und fordern Strategien, damit umzugehen. Was meinen Sie damit?
Ich arbeitete dabei immer mit dem Begriff der transformativen Resilienz, den wir im IZT (Anm. d. Red.: Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung) geprägt haben. Was ich damit meine, das ist eine Doppelfigur: Wir haben ja in den letzten 30 Jahren ein Narrativ genutzt, dass wir politisch und ökonomisch alles tun müssen, damit wir 1,5 bis 2 Grad mehr als Stabilisierungsziel bis 2050 erreichen und dann ist alles gut. Jetzt sehen wir zwei Dinge: Erstens, dass dieses Versprechen womöglich obsolet wird, je mehr wir verstehen über Kipppunkte und Dynamiken, die, wenn sie erst einmal eintreten, nicht mehr bewältigbar sind. Und zum Zweiten müssen wir festhalten und akzeptieren, dass der Klimawandel bereits hier und heute eintritt.


Prof. Dr. Stephan Rammler

“Die Politik muss den Menschen ehrlich sagen, dass wir den Klimawandel in einem gewissen Grad nicht mehr aufhalten können.”

Was ist aus Ihrer Sicht konkret nötig, um mit diesen enormen Herausforderungen umzugehen?
Wir müssen alles dafür tun, damit der Klimawandel eingehegt und nicht dynamischer wird und gleichzeitig müssen wir strategische Maßnahmen entwickeln, mit den Klimafolgen umzugehen, und Infrastrukturen so umbauen, dass sie resilient werden.

Wo sehen Sie mit Blick auf den Klimawandel wichtige Handlungsfelder?

Die Politik muss den Menschen ehrlich sagen, dass wir den Klimawandel in einem gewissen Grad nicht mehr aufhalten können. Wir müssen versuchen klimaresiliente Landwirtschaftssysteme und Städte zu bauen, die mit Hitzestress und Wasserknappheit umgehen können. Wir müssen an den Küsten neue Infrastrukturen aufbauen, die mit den Anforderungen klarkommen. Und wir brauchen Verkehrssysteme, die Starkwetterereignissen gegenüber resilient und widerstandsfähig sind.

Für viele Menschen klingt das sicher erst einmal eher theoretisch.
Ganz im Gegenteil. Der Klimawandel passiert jetzt schon und wir sind mitten in der Situation, damit umzugehen. Er kommt nicht erst auf uns zu. Die Hitze wird in vielen Häusern unerträglich, das heißt, man braucht eigentlich eine Klimaanlage. Die Bäume, die kürzlich noch Schatten gespendet haben, sind vertrocknet und müssen gefällt werden. Die Solaranlage wird vom Dach geweht, der Keller durch Starkregen geflutet und die Zugverbindungen werden bei Stürmen komplett eingestellt. All das sind Effekte und Folgewirkungen des Klimawandels die ich, wie viele andere, unmittelbar erlebe.

Wie beeinflusst der Klimawandel unsere Mobilität konkret? Was müssen wir tun?
Wir müssen das Verkehrssystem widerstandsfähig machen und grundsätzlich klimaneutral. Wir brauchen eine Gestaltungsstrategie bei der Infrastruktur, dem politischen Rahmen etc., die diese Resilienzanforderungen jetzt schon mitdenkt und umsetzbar macht.

Extremwetterereignisse wie sintflutartige Regenfälle, orkanartige Stürme, Hitzewellen, Dürren oder extremer Schneefall nehmen mit dem Klimawandel deutlich zu. (Bilder: Adobe Stock)

In Bezug auf eine Mobilitätswende herrschte ja eher jahrelang Stillstand. Hat die Pandemie hier Veränderungsimpulse gegeben?
Bei aller Neigung zum Optimismus bin ich der Meinung, dass auch eine Pandemie wie diese nicht einen hinreichenden Impuls gesetzt hat, damit sich alles grundlegend ändert. Als Innovationsökonom arbeitet man gerne mit dem Begriff der Pfadabhängigkeit. All das, was wir in der Vergangenheit entschieden und geschaffen haben, wirkt fort für jede weitere Entwicklung. Die Zukunft und auch wir sind in einem viel größeren Maße, als wir uns das im Allgemeinen vorstellen, durch die Vergangenheit determiniert. Trotzdem hat es durch die Pandemie wichtige Veränderungen gegeben, die meiner Einschätzung nach auch bleiben werden.

Wo sehen Sie Beispiele für Veränderungen durch die Pandemie? Was bleibt und was würden Sie Verkehrsplanern empfehlen?
Im Wesentlichen drei Dinge. Erstens: Setzt auf das Thema Radverkehr und Mikromobilität und macht das auf eine kluge Art und Weise. Nutzt den Impuls von Corona, zum Beispiel mit temporären Radspuren. Mit der Pandemie haben Menschen tatsächlich Veränderungen und Gewohnheitsbrüche erlebt, an die man anschließen kann. Das Ziel: Radverkehr schnell, dynamisch, kommunikativ, konstruktiv und symbolisch überlagert mit guten Geschichten für den Personen-, Privat- und Güterverkehr.
Zum Zweiten sollten sie stark auf das Telependeln setzen, denn auch dieses Thema wird aus ökonomischen Gründen und weil jetzt die Infrastruktur und die Hardware da ist, nicht mehr weggehen. Ich kann damit sehr viel Verkehr und viele Emissionen vermeiden, brauche dafür allerdings auch ein neues Zusammenwirken unterschiedlicher Bereiche und unter anderem neue Immobilien- und Wohnraumkonzepte, für Familien, für Singles oder für Ältere.
Drittens kommt es wesentlich auf die intermodale Vernetzung von Mikromobilität, Zweirad und öffentlichem Verkehr an. Auch der öffentliche Verkehr muss dabei im Hinblick auf Pandemien, aber auch Hitze und Starkwetterereignisse resilient gestaltet werden.

Wie kann der öffentliche Verkehr resilienter werden?
Schon vor 17 Jahren haben wir zum Beispiel im Auftrag eines Verkehrsunternehmens darüber nachgedacht, wie wir Innenräume von Bussen und Bahnen entsprechend gestalten können, zum Beispiel mit besseren Belüftungs- und Klimasystemen, antibakteriellen Oberflächen etc. Es kann und darf auch nicht sein, dass Stürme oder niedrige Temperaturen den Bahnverkehr im ganzen Land lahmlegen.

„Das Eigenheim ist so stark mit dem Auto verknüpft, dass man von einer Eigenheim-Automobilkultur sprechen kann. Suburbia macht ohne Auto auch gar keinen Sinn.“

Prof. Dr. Stephan Rammler

Ist die Bevölkerung aus Ihrer Sicht bereit für eine Mobilitätswende?
Sie ist in den Städten auf jeden Fall weiter als die Bevölkerung auf dem Land. Vor allem aufgrund der strukturellen Zwänge, durch die Angebotsvielfalt, die sich in den letzten zehn Jahren enorm differenziert und digitalisiert hat, und durch innovative lokale Regulierungspolitik in Richtung einer postfossilen und postautomobilen Mobilität. Aber das muss man auch differenziert betrachten und die Lagen und die Milieus berücksichtigen. Außerhalb des S-Bahn-Rings ist die Situation schnell eine völlig andere und je weiter man rausgeht, desto höher wird der Grad der Automobilität und desto geringer ist die soziokulturelle Adressierbarkeit der Milieus, mit denen Sie es zu tun haben. Jede Stadt und jeder Stadtteil ist zudem anders und nicht gleichermaßen progressiv.

Was ist mit der Mobilität auf dem Land? Wie sehen Sie dort mögliche Veränderungen?
Wir haben eine sehr dynamische Suburbanisierungs- und Eigenheimkultur gehabt in der Nachkriegszeit. Das private Auto ist hier mit all seinen Vorteilen nicht zu ersetzen. Wir müssen auf dem Land eine ganz andere Verkehrspolitik betreiben als in den Städten. Das Eigenheim ist so stark mit dem Auto verknüpft, dass man von einer Eigenheim-Automobilkultur sprechen kann. Suburbia macht ohne Auto auch gar keinen Sinn.

Eine Verkehrspolitik für die Städte, eine für das Land? Warum genau? Und wie könnte das aussehen?
Wir haben in den urbanen Kommunen die raumökonomische Debatte und Diskurse über soziale Gerechtigkeit der Mobilität zusammen mit Umweltgerechtigkeit als Treiber. Das ist wichtig. Über die ländliche Mobilität zu reden, ist aber auch sehr wichtig, weil die Hauptemissionen auf dem Land und durch die längeren Distanzen der Berufspendler erzeugt werden. Es ist überhaupt nicht erkennbar, wie finanzschwache Kommunen funktional äquivalente Angebote im Bereich Verkehr anbieten könnten. Zudem sehen wir ja, dass die Pfadabhängigkeit hier weiter gegeben ist und sogar weiter wächst, zum Beispiel durch die Eigenheimpauschale, die Pendlerpauschale und Dieselsubventionen. Das ist natürlich auch in den Köpfen der Babyboomer drin, die jetzt ca. 60 Jahre alt sind. Die haben Zeit, Geld und sind eine in der Wolle gefärbte automobile Generation wie keine vor ihnen und keine nach ihnen.

Ist diese Babyboomer-Generation nicht gleichzeitig auch offen für klimaneutrale Mobilitätsformen wie E-Bikes?
Die Babyboomer können in meinen Augen eine der Pioniergruppen in der weiteren Verbreitung der Pedelec-Kultur sein. Das Pedelec hält die Leute länger auf dem Fahrrad, die es sonst aus Altersgründen nicht mehr tun würden, und es ist sehr wirksam in den Regionen, in denen man aufgrund von Gegenwind oder topografischen Gegebenheiten sonst nicht gerne Fahrrad fährt. Das Pedelec ist in ländlichen Regionen durchaus eine verlässliche und hoffnungsvoll stimmende Verhaltensalternative. Wir gehen ja auch aufgrund des Klimawandels in Zeiten hinein, wo wir fahrradfreundliches warmes und trockenes Wetter haben. Sieben bis acht Monate ist es überwiegend regenfrei. Ich glaube, dass man mit dem Ausbau von Schnellradwegen im ländlichen Raum durchaus attraktive Verhaltensalternativen anbieten kann.

Könnten E-Bikes das Auto ersetzen?
Ich denke die Babyboomer werden sich ein Pedelec eher zusätzlich zum Auto und ein Elektroauto als Zweitwagen anschaffen und für Langdistanzfahrten den fossilen Verbrenner behalten. Wir müssen uns auch klarmachen, dass das ganze Transformieren im Mobilitätsbereich nicht funktioniert, wenn wir nur auf die Freiwilligkeit moralisch hinterlegter Konsumentscheidungen setzen. Es braucht Regulierung und politische Entscheidung, die dazu führen, dass das fossile Auto unattraktiver und teurer wird. Nur so kommen wir aus den Pfadabhängigkeiten raus.

Was müssten Politik und Verkehrsplaner aus Ihrer Sicht ändern, um die alten Pfade zu verlassen und zu einer klimaneutralen Mobilität zu kommen?
Was die Citylagen angeht, würde ich auf das Thema erste und letzte Meile setzen. Das hat im Bereich Ride Hailing beispielsweise mit Moia oder Berlkönig sehr gut funktioniert. Allerdings haben die Systeme ihre Leistungsfähigkeit im Zuge der Pandemie noch gar nicht wirklich zeigen können. Verkehrsplanerisch geht es weiterhin um die Elektrifizierung, unter anderem mit Brennstoffzellen, und wir müssen auch die regulative Praxis mit Blick auf die planerischen Ansätze neu denken. Citymaut-Konzepte sind aus meiner Sicht zum Beispiel der beste Weg, externe Kosten in Sachen Umweltgerechtigkeit, Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit moderner Mobilitätssysteme zu minimieren und gleichzeitig finanzielle Spielräume zur Ertüchtigung von Alternativen zum eigenen Automobil zu erzeugen. Seit diesem Jahr steht auch die Forderung nach einer resilienten Mobilitätspolitik der Zukunft mit auf der Agenda.

Was sind Ihre konkreten Empfehlungen für ländliche Regionen?
Alle Konzepte, die wir für die Städte entwickeln, sollten und werden eigentlich auch auf dem Land funktionieren, mit dem Unterschied, dass wir hier eine starke Dominanz des Automobils haben. Ich würde dort empfehlen, den öffentlichen Verkehr nicht als echte Alternative zum Auto als Strategie zu verfolgen, sondern sagen, wir akzeptieren hier den Bedarf des Autos und setzen auf Elektroautos mit Range Extender, also einem kleinen fossil betriebenen Motor, der unterwegs bei Bedarf Strom produziert und die Reichweite verlängert. Das ist in meinen Augen die beste Technologie, die wir im Moment hätten in ländlichen Regionen.

Wenn Sie von Pfadabhängigkeit sprechen: Kommen wir mit Überlegungen zu einer wieder menschengerechten Stadt nicht auch wieder zurück auf einen bestehenden Pfad?
Dieser Pfad ist verschüttet. Wir haben die Städte ja nach dem Zweiten Weltkrieg autogerecht umgebaut und dort, wo keine Bombenschäden waren, hat die Umorientierung den Städten zum Teil den Rest gegeben, indem Schneisen für Autostraßen geschaffen wurden. Aktuell haben wir durch den Trend der Urbanisierung ein Raumproblem in den Städten und führen damit eine Debatte, die wir früher nicht führen mussten. Die verschiedensten Branchen greifen ja auf die immer knapper werdende Ressource urbaner Raum zu. Das ist auch ein wichtiger Treiber, warum sich die Debatte um automobile Mobilität ein Stück weit geöffnet hat vor Corona. Insofern ja, vielleicht kann man wieder an die alte europäische Funktion der Stadt anschließen.

„Seit diesem Jahr steht auch die Forderung nach einer resilienten Mobilitätspolitik der Zukunft mit auf der Agenda.“

Prof. Dr. Stephan Rammler

Wie sicher sehen Sie Ihre Annahmen in Bezug auf die Zukunft?
Ich denke mit dem skizzierten Setting hätten wir für die Zukunft alle Bestandteile einer zeitgemäßen, ökonomisch durchaus verlässlichen und dennoch nachhaltigen Verkehrspolitik. Wir „sogenannten“ Zukunftsforscher müssen ja immer Aussagen über die Validität unserer Annahmen treffen können. Wir können nur spekulieren auf der bestmöglichen Güte der Daten, aber wir können natürlich keine sicheren Aussagen treffen. Wir dürfen als Zukunftsforscher auch nicht mit sogenannten Wildcards rechnen. Wenn wir Szenarien bauen und Antworten auf die Frage geben wollen, wie wir von A nach B kommen, also welche Transformationspfade es gibt, dann ist es nicht zulässig, mit sogenannten Wildcards zu operieren. Trotzdem müssen wir sie als mögliche Option mitdenken. Die Pandemie hat als Wildcard gewirkt. Sie hat in der Fachwelt einiges an intellektuellen Diskursen fokussiert, dynamisiert und einiges an Einsichten mit sich gebracht.

Trotz aller angesprochener Probleme blicken Sie optimistisch in die Zukunft.
Resilienz bedeutet nicht zurückfedern in einen alten funktional stabilen Zustand, sondern auf sich permanent verändernde Rahmenbedingungen ausgerichtet und eingerichtet zu sein und die krisenhafte Veränderung als normal zu leben. Dazu müssen wir uns klarmachen, dass die Widerstandsfähigkeit der Menschen, mit Krisen umzugehen, Menschen zu dem gemacht hat, was Menschen sind. Die permanente Fähigkeit, auf Krisen zu reagieren und zu innovieren, ist ja in der Geschichte oft genug durch Krisen angetrieben worden. Deshalb bin ich für die Zukunft optimistisch. Wir müssen es nur auch so klar formulieren. Veränderung, Dynamik und Veränderungsbereitschaft sind, so glaube ich, die Mindsets der kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte.

Prof. Dr. Stephan Rammler

ist einer der renommiertesten Vordenker, wenn es um die Mobilität der Zukunft und große Zusammenhänge geht. Der Politikwissenschaftler, Soziologe und Ökonom ist seit 2018 wissenschaftlicher Direktor des IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, einer außeruniversitären Forschungseinrichtung für Zukunftsforschung und Technologiebewertung in Berlin. Er arbeitet in der Mobilitäts- und Zukunftsforschung und forscht insbesondere zu Verkehrs-, Energie- und Innovationspolitik sowie Fragen kultureller Transformation und zukunftsfähiger Umwelt- und Gesellschaftspolitik. Zuvor war er Gründungsdirektor des Instituts für Transportation Design und Professor für Transportation Design & Social Sciences an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Zu aktuellen Fragen bezieht er regelmäßig sehr dezidiert in Interviews und Podcasts Stellung. Viele seiner Grundgedanken findet man auch in seinen Büchern „Schubumkehr – die Zukunft der Mobilität“ (2014) und „Volk ohne Wagen: Streitschrift für eine neue Mobilität“ (2017). Darin entwickelt er Bilder einer Zukunft mit innovativen Technologien, klugen ökonomischen Strategien und einer veränderten politischen Kultur.


Bilder: Armin Akhtar, Adobe Stock, Rolf Schulten, S. Fischer Verlage

In den nächsten beiden Jahren wollen Unternehmen mit einem neuen Fahrzeugtyp europäische Straßen und Radwege erobern: Das elektrisch unterstützte Bike mit Dach über dem Kopf – quasi ein „Pedelcar“. Was bedeutet das für die Infrastruktur von heute und morgen? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Laut Gesetzgeber gehören die neuen muskelgetriebenen und motorunterstützten zweispurigen Gefährte zur Klasse der Pedelecs: Man könnte sie Pedelcar nennen. Sie haben drei oder vier Räder, sind meist um die 80 Zentimeter breit und etwa 2 Meter lang und erlauben die Mitnahme von mindestens einer Person. Das Wichtigste: Diese Fahrzeuge geben den Insassen einen Wetterschutz. Schon in den Achtzigerjahren gab es sogenannte Velomobile. Auch sie wurden als Autoersatz entwickelt und manche boten sogar elektrische Unterstützung. Sie gelten aufgrund vieler Besonderheiten aber immer noch als eigensinnige Fahrzeuge für Enthusiasten. Den großen Unterschied soll nun die Praxistauglichkeit machen, die Pedelcars bieten wollen: Wendigkeit für den urbanen Kurzstrecken-Einsatz in der City steht hier im Vordergrund, während die zigarrenförmigen Velomobile vor allem für mittlere Strecken jenseits der Stadt entwickelt wurden. Die neue Klasse bietet viel Komfort, der sich am Auto orientiert, und steht für aktuelles Hightech.

Der CityQ kommt aus Oslo, soll aber bald schon in Deutschland für deutsche Radwege gebaut werden. Wichtig ist den Machern auch hier, dass der Fahrkomfort möglichst nah am Auto liegt und das Design Emotionen anspricht.

Die Grenzen ausloten

„Das neue Fahrzeug muss dem Auto ebenbürtig sein und es substituieren können“, so Martin Halama, CEO und Gründer von Hopper. Zusammen mit einigen Kommilitonen hat er 2019 die Hopper GbR ins Leben gerufen, doch die ursprüngliche Idee geht schon auf seine Masterarbeit 2015 zurück. Sie beschäftigte sich mit der Frage: „Was ist auf dem Radweg möglich?“ Der Name Hopper steht dabei für die besondere Kurzstreckenpraktikabilität des Fahrzeugs – hop on, hop off. Ganz wichtig ist dem Leiter des Augsburger Unternehmens, dass grundsätzlich vom Auto gedacht wurde: „Da unterscheiden wir uns von den Mitbewerbern“, sagt er. „Die Menschen wollen die Vorteile des Autos nutzen, aber sie wollen auch lebenswertere Städte haben.“ Es gibt bereits einige Hopper-Prototypen und auch wenn noch nicht alles bis ins Detail konzipiert oder ausgeführt ist, die primären Dinge sind geklärt: So wird der Kofferraum beispielsweise größer, wenn statt eines Erwachsenen ein Kind mitfährt – dann lässt sich der Schulranzen gut hinter dem Sitz unterbringen. Das Äußere des Hoppers folgt eher der fließenden Formgebung durch einen Autodesigner als dem geraden Ingenieursblick. Die Macher können und wollen die Nähe zu einem Autohersteller der Premiumklasse nicht verhehlen.
Ziemlich einzigartig ist die Steuerung des Hoppers: Gelenkt wird über das angetriebene Hinterrad, was dem Fahrzeug eine hohe Wendigkeit bringt. Wer an enge Radwege oder gar Umlaufgitter denkt, die hierzulande des Öfteren Radfahrer- und Fußgängerbrücken und selbst Radwege begrenzen, der weiß, dass man hier bislang ein wendiges Fahrzeug braucht. Selbst mit normalen Dreirädern ist es gelegentlich schwierig. Auch die Radwegfurten können problematisch werden, denn meist sind die zugehörigen Bordsteine nicht auf Fahrbahnhöhe abgesenkt. Ein mehrspuriges Rad kann man dabei nicht entlasten wie ein normales Zweirad. Daher hat der Hopper eine aufwendige Vollfederung. Das Dreiradkonzept ermöglicht es auch, dass der Hopper mit nur einem Radnabenmotor angetrieben werden kann.

„Die Men­schen wollen die Vorteile des Autos nutzen, aber sie wollen auch lebens­wertere Städte haben.“

Martin Halama, CEO Hopper Mobility

Der Hopper aus Augsburg glänzt mit Integration und flächigem Design. Die Vorderräder können aufgrund der Hinterradlenkung versteckt werden. Sie soll wiederum im Radweg-Dschungel für viel Wendigkeit sorgen.

Neue Herausforderung für Planer

Für Verkehrs- und Städteplaner in Europa dürfte vor allem wichtig sein, wie die Kombination von Pedelcars mit der vorhandenen Infrastruktur künftig funktionieren könnte. „Wir hoffen, dass es in Sachen Radwegnutzung zu keinen Problemen kommen wird“, so Halama. Denn die Einstufung als Pedelec für die Mini-Autos zieht bislang eine Radweg-Benutzungspflicht nach sich – mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen. „Auf lange Sicht werden Fahrzeuge wie der Hopper dazu führen, dass die Infrastruktur angepasst wird. Die Gesellschaft muss schließlich mobil bleiben!“

Pedelcars müssen auf dem Radweg fahren. Ob das so harmonisch wird wie hier dargestellt, ist noch nicht entschieden. Mit Sicherheit muss aber die Infrastruktur verbessert werden.

„Keine Übermotorisierung auf dem Radweg“

Neue Fahrradmobilität, das bedeutet natürlich weniger Autos auf den Straßen, mehr Platz für Radfahrer und Fußgänger. Oder ist das nur Theorie? Stephanie Krone, Pressesprecherin des ADFC meint dazu: „Wir beobachten mit Spannung, wie sich die Welt der Fahrräder und Pedelecs immer weiter ausdifferenziert – und auch für den Wirtschaftsverkehr neue, faszinierende Lösungen hervorbringt. Gut, wenn es dafür jetzt viele neue Konzepte gibt. Aber die Radwege in Deutschland sind schon jetzt viel zu klein – deshalb sagen wir der Verkehrspolitik, dass sie bei der Planung die größeren Fahrzeuge mitdenken muss.“ Es ist also auch die Frage einer leistungsfähigen Rad-Infrastruktur, ob solche Geschäftsmodelle in Zukunft Erfolg haben. Aus Sicht des ADFC sei es aber essenziell, dass „normale Menschen auf normalen Rädern“ weiterhin die erste Geige auf Radwegen spielten. „Wir wollen keine Übermotorisierung in den Städten, auch nicht auf dem Radweg. Alles, was deutlich schneller als ein Radfahrer und nicht muskelbetrieben ist, gehört innerstädtisch nicht auf den Radweg, sondern auf die Fahrbahn.“

Infrastruktur nur für einspurige Fahrzeuge?

Das würde im Umkehrschluss bedeuten: Viele zweispurige Fahrzeuge müssten auf die Fahrbahn und verlören damit ihren wesentlichen infrastrukturellen Vorteil. Das beträfe derzeit besonders viele Lastenräder. Kommt es zu einer weiteren Verschärfung des Kampfes um den Platz auf der Straße? Wie sehen Verkehrsplaner das? Für Johannes Pickert, Raum- und Verkehrsplaner von der Planersocietät Frehn, Steinberg & Partner in Dortmund muss das nicht sein. „Der Radverkehr ist tatsächlich überall auf einem aufsteigenden Ast, aber die vorhandenen Radwege sind meist nur um einen Meter breit.“ Schmale Radwege und große Fahrzeuge – das funktioniere nur begrenzt. Allerdings sei die Perspektive besser als die aktuelle Lage. Derzeit würden grundsätzlich breitere Radwege gebaut, weiß der studierte Raumplaner auch schon aus seinen früheren Erfahrungen als Radverkehrsbeauftragter. „Auf Schutzstreifen auf der Fahrbahn sehe ich da kein großes Problem. Die Protected Bike Lanes, die heute vielfach angestrebt werden, lassen dagegen kaum ein Überholen mit Abstand zu.“ Für ihn stellt sich auch die Frage der grundsätzlichen Vor- und Nachteile dieser Fahrzeuge. „Der Wetterschutz ist wichtig, aber ich kann das Rad nicht mit ins Haus nehmen, und wenn ich mich beispielsweise nicht durch den Verkehr schlängeln kann wie mit dem Zweirad, ist das wieder eine deutliche Einschränkung.“ Vorteile sieht er in schnelleren Varianten, falls es dafür künftig eine gesetzliche Grundlage gäbe. „Auf der Straße mitschwimmen und wenn es eng wird, auf den Radweg ausweichen. Aber dort fehlt dann größenbedingt Flexibilität. Wenn es eng wird, ist ein Einspurer besser.“ Teil der Lösung unserer Mobilitätsprobleme könnten die Pedelcars trotzdem sein. Schon, weil sie eine subjektive Sicherheit der Passagiere böten, die das Fahrrad nicht leiste.

Eine Plattform, mehrere Varianten: Der Bio-Hybrid, bis vor Kurzem ein Kind des Autozulieferers Schaeffler, kann auch als Cargobike mit unterschiedlichen Aufbauten bestellt werden.

Mikromobil vom Autozulieferer

Mit der Bio-Hybrid GmbH ist die frühere Tochter des Autozulieferers Schaeffler ins Rennen um den Radweg eingetreten. Schaeffler, eines der größten Automotive-Unternehmen der Welt, gab Mitte Oktober den vollständigen Verkauf der Sparte an die Micromobility Solutions GmbH bekannt. Seit 2014 bei Schaeffler gewachsen, blickt man bei der Bio-
Hybrid GmbH nicht nur auf viel Erfahrung in Sachen Mobilität, sondern auch auf enormes technisches Know-how im Mutterunternehmen. Begonnen wurde mit einer Problemstellung, nicht mit der Idee eines neuen Fahrzeugs. „Wir haben uns Gedanken zu einer neuen Mobilität gemacht, die helfen kann, Staus zu vermeiden und unsere Städte lebenswerter zu machen“, sagt Patrick Seidel, Leiter Strategie und Unternehmensentwicklung von Bio-Hybrid. „Dazu haben wir viele Gespräche mit Verkehrs- und Städteplanern geführt.“ Dabei ging es um die durchschnittliche Besetzung der Fahrzeuge, Staus und allgemeine Platzprobleme. So hätten sie den Bio-Hybrid quasi als Lücke zwischen Fahrrad und Elektroauto identifiziert. Das entstandene Fahrzeug ist ganzjahrestauglich, mit Dach, Frontscheibe und einer Transportkapazität für den Wocheneinkauf – und im Flächenbedarf sowohl in Bewegung als auch stehend sehr effizient. Die Fahrzeugplattform des Bio-Hybrids soll es als Passagierfahrzeug und als Cargobike in drei Versionen geben. Eine davon kommt mit einem Wechselcontainermodul für Logistiker. Es wird Varianten mit einem oder zwei Akkus geben, Letztere sollten dann bis 120 Kilometer Reichweite haben. Wie sieht man bei der ehemaligen Schaeffler-Tochter die potenziellen Probleme mit der Infrastruktur? Mit Blick auf die Radwegnetze der Städte meint man im Unternehmen, der Platz sei ja da und die Städte gingen den Weg zu mehr Fahrradinfrastruktur ohnehin. Warten, bis die Städte den Wandel zur perfekten Infrastruktur für Mikromobilität vollzogen haben, muss man nach Meinung der Macher nicht. „Wir stellen fest, dass es auch heute schon gut funktioniert“, so der Geschäftsführer. „Man sucht sich ja automatisch andere Strecken, um von A nach B zu gelangen. Man fährt nicht dieselben Wege wie mit dem Auto.“ Aber auch um die Sicherheit bei starkem Verkehr sei es gut bestellt. So sei nach den Erfahrungen des Unternehmens beispielsweise der Überholabstand der Autos zum Bio-Hybrid, im Gegensatz zum Fahrrad, überhaupt kein Thema.

Das Future-Mobility-Projekt des Fahrradherstellers Canyon kommt nicht nur dem klassischen Auftritt eines Autos sehr nahe – es ist technisch auch kein reines Pedelec. Es soll als solches, aber auch als bis 60 km/h zugelassenes Fahrzeug betrieben werden, jeweils mit hybridem Antrieb. Bietet sich in der Rushhour das Fahren auf dem Radweg an, wird der Pedelec-Modus aktiviert, ansonsten kann man im Stadtverkehr mit 50 km/h mitschwimmen.

Aus Norwegen für Deutschland

Auch im Ausland schaut man zuerst Richtung E-Bike-Land Deutschland und seiner Infrastruktur. Morten Rynning vom Unternehmen CityQ sieht in Deutschland sogar schon bald eine mögliche Produktionsstätte seines vierrädrigen Pedelcars mit Business-Chic. Zunächst wird das Fahrzeug aber in seiner Heimat Norwegen gebaut. Bereits 2021 sollen die ersten Exemplare ausgeliefert werden. Auch hier gibt es bei 87 Zentimetern Breite und etwas mehr als 2 Metern Länge Vierradfederung, elektronischen Antrieb mit einem 250-Watt-Motor und etwa 100 Newtonmetern Drehmoment. Gute 70 Kilometer weit soll ein Erwachsener mit zwei Kindern, mit Fracht oder einem zweiten Erwachsenen kommen. Schon der Name erklärt: Es geht um die Innenstadt, also auch hier um die Radweg-Infrastruktur.
Erst seit vier Jahren steht das CityQ (das Q steht für Quattro/Vierrad) im Lastenheft des gleichnamigen Unternehmens. Auch dieses Pedelcar wurde in breiter Expertise angegangen, mit Planern und Stadt-Spezialisten zusammengearbeitet. Und von Anfang an hat man mit dem Vorzeige-Beratungsunternehmen Roland Berger einen Spezialisten für urbane Infrastruktur im Boot. Das Start-up um den CEO Rynning ist seit 2017 enorm gewachsen. Zum Team gehört unter anderem Ketil Solvik Olsen, Norwegens Ex-Verkehrsminister.
In Deutschland sollen nach den Plänen des Unternehmens in Kürze fünf bis zehn eigene CityQ-Stationen für Service und Wartung der Fahrzeuge entstehen. Und die Nachfrage? Bis September 2020 gab es bereits Vorbestellungen im dreistelligen Bereich. Diese Käufer zahlen aktuell 7.400 Euro für ein Fahrzeug. „Das Pricing ist schwierig“, erläutert Rynning. Es gelte aber dem Auto Paroli zu bieten. Mit viel digitalem Komfort wie Tempomat, automatischer Schaltung und einem Schwerlastmodus will man das erreichen. „Der E-Bike-Markt wandelt sich sehr schnell“, sagt Rynning. „Es kommt jetzt darauf an, dabei zu sein!“ Sollten die Pedelcars tatsächlich in den Zwanzigerjahren deutlich zulegen, dürften sie nicht nur den E-Bike-Markt, sondern auch die Vorherrschaft um die urbane Infrastruktur aufmischen. Man darf gespannt sein.

Parken? Kein Problem.

Die neuen zweispurigen Fahrzeuge werden bislang als Pedelecs/E-Bike 25 eingestuft und sind damit Fahrrädern gleichgestellt. Damit sind sie aktuell nicht versicherungspflichtig und dürfen dementsprechend gemäß StVO sowohl auf normalen Parkplätzen abgestellt werden als auch auf dem Gehweg, solange das Gebot beachtet wird, „platzsparend“ zu parken.


Bilder: Bio-Hybrid, CityQ, Hopper Mobility, Bio-Hybrid, Canyon, CityQ

Viele ländliche Regionen mit Höhenunterschieden, wie Stolberg in der Städteregion Aachen, haben keine Fahrrad-DNA. Wie bringt man die Bürger trotzdem aufs Rad? Politik, Verwaltung und die Menschen vor Ort gehen in der Kupferstadt gemeinsam neue Wege. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Die Einladung zur Bürgerbeteiligung per Fahrrad im Jahr 2017 war ein Testballon. Aber dann standen 40 Frauen und Männer vor Georg Trocha, dem Mobilitätsmanager der 57.000-Einwohner-Stadt Stolberg, und warteten auf sein Startsignal. Sie wollten ihm die Stellen zeigen, die aus Radfahrersicht dringend verbessert werden mussten. Zu der Zeit arbeitete der Geograf bereits zwei Jahre in Stolberg. Die Politik hatte ihn ins Rathaus geholt, damit er das Leben, das Wohnen und die Mobilität in der Stadt klimafreundlicher gestaltet. Damit ist es der Stadt und den Bürgern ernst. Klar ist aber auch: In Bezug auf die Mobilität steht die Stadt vor einer großen Aufgabe.

Mehr Komfort und mehr Sicherheit: Moderne Abstellanlagen, auch an den Schulen, zeigen die Wertschätzung, die man man Radfahrenden in Stolberg entgegenbringt.

Ausgangsbasis: zwei Prozent Radfahrer

In der alten Kupfer- und Messingstadt ist das Auto das Verkehrsmittel Nummer eins. Bei der letzten Zählung kamen Radfahrer gerade mal auf einen Anteil von zwei Prozent am Gesamtverkehr. Radwege gibt es innerorts nur wenige und die, die es gibt, sind veraltet. Hinzu kommt die schwierige Topografie: Das Zentrum liegt in einem engen, lang gestreckten Tal und dehnt sich über die umgebenden Höhenrücken bis weit in den Naturpark Nord-eifel aus. Für Alltagsradler heißt das: Sie müssen immer mal wieder Steigungen von 10 bis 15 Prozent bewältigen. Früher beschwerlich oder unmöglich, aber heute gibt es ja E-Bikes. Trotzdem, wer hier den Menschen das Radfahren und das Zu-Fuß-Gehen schmackhaft machen will, braucht Fantasie und muss ungewöhnliche Wege gehen. Die Rad-Exkursion im Sommer 2017 war deshalb ein wichtiger Beginn auf Augenhöhe: Die Mitarbeiter aus der Verwaltung stellten den Bürgern ihre Ideen zum Ausbau des Wegenetzes vor. Im Gegenzug zeigten diese ihnen die Schwächen im Netz und wo sie sich im Alltag von Autofahrern bedrängt fühlten. Die Tour habe die Sichtweise der Politiker auf das Thema verändert. „Ihr Blick auf Radverkehrsplanung ist nun deutlich komplexer“, sagt Georg Trocha. Er gehe weit über die rein technischen Elemente hinaus, die beispielsweise Wegebreiten festlegt. Jetzt wissen alle: Sollen Schüler und Erwerbstätige das Rad anstelle des Autos oder des Elterntaxis für ihre Alltagswege nutzen, müssen sie entspannt, sicher und gesund am Ziel ankommen. „Die Planungsphilosophie muss sich ändern, wenn man fahrradfreundlich werden will“, betont der Mobilitätsmanager.

Bürger und Politik wollen Klimaschutz, Bildung und neue Mobilität

Der amtierende Bürgermeister Patrick Haas (SPD) hat die Wahl 2019 mit den Themen Klimaschutz, Bildung und Mobilität gewonnen. Im zweiten Wahlgang erhielt er 60 Prozent der Stimmen. Allerdings steht die Kupferstadt auch unter Zugzwang. Mehr Klimaschutz macht hier nur Sinn, wenn die Mobilität deutlich nachhaltiger wird. Der Mobilitätsmanager der Stadt Georg Trocha hat ein Konzept erstellt, das mit einer Reihe von kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen die Menschen motivieren soll, ihre Autos stehenzulassen. Das Konzept haben die Politiker zunächst mit Trocha unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert und dann einstimmig angenommen. Entsprechend groß ist seitdem der Rückhalt für den Umbau der Stadt aus dem Rathaus. Vorgelebt wird das unter anderem von dem sportlichen 39-jährigen Bürgermeister der Stadt, der auch zu offiziellen Terminen regelmäßig per E-Bike erscheint.

Keine Zeit für jahrelange Umgestaltung

Eine allgemeine Annahme ist, dass eine Stadt über Jahre umgebaut werden muss, damit sich gravierende Verbesserungen für Radfahrer einstellen. Doch so viel Zeit hat Stolberg nicht. Hier produziert allein der Verkehr rund ein Drittel der Treibhausemissionen. Das ist deutlich mehr als im Bundesdurchschnitt, wo der Anteil bei einem Fünftel liegt. Die Menschen hier müssen zügig umsteigen. Radfahren im Alltag muss schnell sicherer und komfortabler werden. Deshalb hat Trocha in seinem Konzept Ziele benannt, die kurz-, mittel- und langfristig umgesetzt werden können. Bereits jetzt werden Radwege regelmäßig von Sträuchern freigeschnitten, Bordsteine abgesenkt oder auf manchen Routen eine Beleuchtung installiert. Hinweise und Tipps holt er sich dafür regelmäßig von Alltagsradlern und Radaktivisten vom ADFC.

Erfolgskritisch: Routinen ändern

Mobilitätsexperten betonen immer wieder die Notwendigkeit, Routinen zu verändern, wenn man zu anderen Mobilitätsmustern gelangen will. Bei Kindern und Jugendlichen ist das leichter, weil sie noch nicht festgelegt sind. Da sie zudem viel Bewegung brauchen, um ihre motorischen und kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln, suchte Trocha Schulen als Partner. Das Goethe-Gymnasium in der Stadt hatte bereits einiges an Vorarbeit geleistet. Seit Jahren gibt es dort eine Fahrrad-AG für Fünft- und Sechstklässler und eine Flotte von Leihrädern. „60 bis 80 der rund 800 Schüler kommen hier mit dem Rad“, sagt Trocha. Das sei wenig, aber an der angrenzenden Gesamtschule mit 500 Schülern wären es gerade mal eine Handvoll. Statt selbst zu laufen oder zu radeln, werden viele Schüler mit dem Auto bis vor das Schultor gebracht. Entsprechend groß ist in dem Quartier vor und nach Schulbeginn das Gedränge auf den Straßen.

„Wenn wir es mit einem Langstreckenlauf vergleichen, sind wir gerade erst aus dem Startblock herausgelaufen. Wir wollen aber mehr – viel mehr“

Georg Trocha, Mobilitätsmanager in Stolberg

Schüler entwickeln Schulwegeplan

Die Lehrer und Trocha wollten das Chaos abstellen. Ihre Idee: Die Bildungseinrichtung sollte „Fahrradfreundliche Schule“ werden. Um das Label zu erhalten, brauchte sie einen Schulwegeplan. Das Besondere an ihrem Vorhaben war, dass die Jugendlichen den Plan erstellten und nicht die Lehrer. Allerdings konnten die Schüler das nicht allein, sondern brauchten dazu professionelle Hilfe. Im Rahmen einer Förderung vom Zukunftsnetz Mobilität NRW unterstützt jetzt der Verkehrsplaner Jan Leven vom Wuppertaler „Büro für Forschung, Entwicklung und Evaluation“ (Bueffee) die Projektgruppe. Etwa zehn Schüler der elften Jahrgangsstufe erarbeiten mit seiner Unterstützung den Wegeplan. Dabei gehen sie vor wie Verkehrsplaner. „Die Jugendlichen analysierten zunächst ihr eigenes schulisches Umfeld“, erläutert Jan Leven. Die Grundlage dafür ist eine Online-Befragung aller 800 Schüler des Goethe-Gymnasiums. Anhand ihrer Antworten identifizieren die Jugendlichen dann die Hauptrouten sowie mögliche Gefahrenstellen entlang der Strecken. Nach den Sommerferien werden sie die Strecken zu Fuß und per Rad abfahren und mögliche Gefahrenstellen fotografieren. Aus den momentan üblichen Routen, ihren Erkenntnissen und ihren Zielen zur nachhaltigen Mobilität an der Goethe-Schule entwickeln die Jugendlichen dann ihr eigenes Wegenetz. Das wird Routen bereithalten für Radfahrer, E-Tretroller-Fahrer und Kinder, die zu Fuß gehen. Damit die Empfehlungen rechtlich abgesichert sind, übernimmt Leven die Feinjustierung. „Das Ziel ist es, ein Radschulnetz zu entwickeln, das sicher befahren werden kann“, sagt Leven.

Auto sollen für sichere Wege Platz machen

Neben den bereits üblichen Routen markieren die Schüler unter anderem auch Haltestellen für Elterntaxis, mehrere Hundert Meter vom Schultor entfernt. Hier sollen Mütter und Väter zukünftig ihre Kinder verabschieden. Wie gut die Bring- und Hol-Zonen bei den Eltern ankommen, kann wahrscheinlich bereits im September getestet werden. Im Rahmen der europäischen Mobilitätswoche will Georg Trocha in Kooperation mit der Schule autofreie Tage im Wohngebiet der Goethe-Schule organisieren. Geht es nach ihm, werden dann einige der Hauptstraßen für kurze Zeit zu Fahrradstraßen. Bislang gibt es noch keine in Stolberg. Für Planer und Radfahrer wäre das die Gelegenheit, die Fahrradstraße als weiteres Planungselement zu testen. Für sein Vorhaben sucht der Mobilitätsmanager nun Verbündete. Vor allem die Anwohner müssen die Entscheidungen mittragen, denn sie werden während dieser Zeit ihre Routinen ändern müssen. „Sie müssen ihre Autos in der Garage oder in ihrer Einfahrt parken und nicht mehr auf der Straße“, sagt Trocha. Ohne die Reihen an parkenden Wagen überblicken die Kinder beim Queren besser die Straße und sind auch als Radfahrer deutlich sicherer unterwegs. Aber auch die Anlieger würden von der Projektwoche profitieren. „Sie erleben, wie ruhig ihr Viertel ohne den Bring- und Holdienst sein kann“, sagt Trocha. Den Bürgermeister Stolbergs hat er dabei voll auf seiner Seite. Der oberste Entscheider der Stadt sieht in dem Wohngebiet rund um die Goethe-Schule einen möglichen Vorreiter für ein autoarmes Quartier in seiner Stadt.

Stolberg will noch viel mehr

Mit dem Projekt will sich die Schule das Label „fahrradfreundlich“ verdienen und den Radanteil an ihrem Gymnasium verändern. Aber das ist nicht alles. Nach den Erfahrungen von Verkehrsplaner Jan Leven haben solche Projekte auch eine hohe Strahlkraft. „Sie wirken immer auch in die Stadtverwaltung“, betont er. Dort ist der Wandel längst angekommen. Bereits 2017 hat eine Umfrage zur Mobilität in der Verwaltung gezeigt, dass viele Verwaltungsmitarbeiter gerne zu Fuß, per Bahn, Fahrrad oder E-Bike ins Rathaus kommen würden. Aber es gab noch Knackpunkte: So brauchten sie zum Beispiel ihre Privatwagen für Dienstfahrten. Außerdem fehlten sichere Fahrradabstellanlagen am Rathaus. Die Verwaltung hat auf die Umfrage inzwischen reagiert und mithilfe von Förderprogrammen einen eigenen Fuhrpark aufgebaut. Jetzt gibt es drei E-Dienstwagen und fünf Dienst-E-Bikes. Das zeigt Wirkung. Mehr als 20 Mitarbeiter kommen inzwischen per Rad. Zuvor waren es nur drei. Der neue Fahrradkeller ist für sie bereits zu klein geworden. Jetzt muss angebaut werden. Für Trocha sind das gute Signale und er hat mit breiter Unterstützung aus der Bevölkerung und der Politik noch viel vor. „Wenn wir es mit einem Langstreckenlauf vergleichen, sind wir gerade erst aus dem Startblock herausgelaufen. Das, was wir jetzt machen, sind unsere Anfangsschritte. Wir wollen aber mehr – viel mehr.“

Schritte auf dem Weg zur Fahrradstadt

Zu einer guten Radinfrastruktur gehören auch gute Abstellmöglichkeiten für Fahr-räder. Das schätzen besonders Pendler. Am Stolberger Bahnhof wurde die Zahl der abschließbaren Fahrradboxen von 16 auf 36 erhöht. Außerdem werden in diesem Jahr neue Radabstellanlagen an den weiterführenden Schulen aufgestellt. Als Nächstes sollen nun die Grundschüler überdachte Fahrradstellplätze bekommen. Für den Außendienst der Mitarbeiter hat die Stadt E-Bikes angeschafft. Bald können die Stolberger auch mit „Moritz“, dem ersten „freien E-Lastenrad“ der Stadt, ihren Einkauf erledigen oder mit ihren Kindern auf Tour gehen. Das Rad wird über die Touristeninformation kostenlos verliehen. 2019 hat die Stadt erstmals beim „Stadtradeln“ mitgemacht. Während im vergangenen Jahr rund 40 Teilnehmer dabei waren, waren es in diesem Jahr bereits fast 170. Außerdem veranstaltet die Stadt seit vergangenem Jahr einen Rad-Kulturtag mit Fahrradflohmarkt, Schrauberwerkstatt, Parcours und vielen weiteren Angeboten.


Bilder: Georg Trocha

Die Niederlande stellen für viele das Land dar, wie man es sich hier nach einer Verkehrswende wünscht. Beispiele zeigen: Mit Radwegen allein ist es nicht getan. Man muss dranbleiben und in größeren Zusammenhängen denken. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Wer an der Station Centraal in Amsterdam aus dem Zug steigt, steht mitten in einer Großstadt – und in einer Mobilitäts-Idylle: Über den weiten Vorplatz nur Radfahrer, Taxis und kleine E-Autos auf schmalen Wegen. Ansonsten ist der Platz von Fußgängern bevölkert, viele auf dem Weg zur wenige Meter entfernten Straßenbahn- und Busstation. Von hier aus fahren Bahnen in alle Winkel der weitverzweigten Stadt, die sich in den letzten Jahren sogar über künstlich angelegte Inseln im Norden ausgebreitet hat. Kurz vor dem Haupteingang des Bahnhofs beginnt die nahezu autofreie Einkaufsstadt.
In den letzten 15 bis 20 Jahren gab es auch durch Zuwanderung einen Schub an Arbeitsplätzen in der größten Stadt der Niederlande. Sie wächst kontinuierlich. Heute hat sie gut 850.000 Einwohner, vor 20 Jahren waren es noch 680.000. Die Räder der Fahrradpendler stehen wenige Meter von den Gleisen entfernt in teils schwimmenden Fahrradparkhäusern am Hinterausgang des Bahnhofs. Ihre Zahl wird laufend aufgestockt, trotzdem hinkt die Stadt dem weiter wachsenden Bedarf oft hinterher. Amsterdam ist aber auch die touristisch wichtigste Stadt in den Niederlanden. In den letzten Jahren lockte sie immer mehr Touristen und Hotelketten an.

Beispiel Amsterdam: die permanente Arbeit an der Lebensqualität

Die holländische Weltstadt wird, wie alle größeren Wirtschaftszentren, täglich von enormen Pendlerströmen heimgesucht. Natürlich leidet auch die Grachtenstadt unter der Verkehrslast, vor allem in Sachen Autoverkehr, auch wenn man es am bahnhöflichen Idyll zunächst gar nicht sieht. Staus wie in München oder Köln auf und neben den Hauptverkehrsadern, schlechte Luft, zu wenig Platz. Das gibt es auch hier. Doch die Stadt kämpft dagegen an. Autos aus dem Innenstadtbereich heraus zu halten, ist nicht einfach. Offizielle Internetseiten der Stadt raten davon ab, die Stadt per Auto zu besuchen. Ein dichtes Netz aus Park & Ride-Plätzen sorgt für etwas Entlastung. Die relativ hohen Gebühren eines elektronisch gesteuerten Bezahlsystems schrecken vom Besuch per Auto ab.
Und die Bewohner? In den Wohnvierteln wurden in den letzten 15 Jahren Parkausweise für Anwohner extrem verteuert. 535 Euro kosten sie in Amsterdam im Schnitt. Und die Parkplätze werden abgebaut: jährlich um etwa 1.500. Wer innerhalb der Stadt umzieht, muss im neuen Viertel auf seinen Parkausweis obligatorisch verzichten.
Intelligente Verkehrsplanung und -routing, ein ständig optimiertes Netz der öffentlichen Verkehrsmittel und, natürlich, das bekannte feingliedrige und eigenständige Radwege-Netz sind hier die größten Mobilitäts-Garanten. „Für unsere Städte gibt es nur eine Möglichkeit zu mehr Lebensqualität, und der führt über die Verringerung des Autoverkehrs“, sagt Bernhard Ensink, strategischer Berater beim Verkehrsplanungs- und Beratungsunternehmen Mobycon. Mittlerweile hat die Firma 45 Mitarbeiter an drei niederländischen Standorten, zudem einen Standort in Nordamerika. Ensink hat Erfahrung in Sachen Lenkung von Mobilitätsströmen und Förderung von Fahrradverkehr. Er war Gründer und Leiter der internationalen Fachkonferenz Velocity und leitete ab 2006 den Dachverband der europäischen Radfahrerverbände ECF.

Neue Herausforderungen und Pop-up-Radwege durch Corona

Die aktuelle Corona-Krise bringt neue Herausforderungen und bedeutet für Mobycon noch mehr Arbeit: Das Unternehmen war auch als Berater bei Corona-Pop-up-Radwegen in Berlin involviert. Für ihre Planung wurde kurzfristig sogar ein Handbuch in mehreren Sprachen herausgegeben – abrufbar auf der Internetseite mobycon.com. Eine Erfahrung aus Ensinks langjähriger Beratung und Analyse, die er für allgemeingültig hält: „Überall, wo mehr als 30 Stundenkilometer gefahren werden darf, macht Mischverkehr keinen Sinn!“ Eine klare Trennung der Wege für Autos und Fahrräder – ein Konzept, wie man es in den Niederlanden fast überall bestätigt bekommt. „In Holland ist es so, dass ambitionierte Städte mit eigenem Personal Projekte und Programme erarbeiten.“ Für die erste Analyse und Beratungen wird gern auf externe Unternehmen zurückgriffen. „Die Analyse ist das Wichtigste. Unterschiedliche Ausgangslagen brauchen unterschiedliche Maßnahmen“, sagt er und verweist auf Projekte in Delft und Rotterdam, wo regionale Fahrrad-Schnellstraßen gebaut wurden. In anderen Städten hätte man diese vielleicht ganz anders angelegt – entscheidend seien die Arten der Pendlerströme, vorhandene In­frastrukturen und vieles mehr. Und stehen bleiben gibt es nicht: Seit einigen Jahren werden bei Mobycon auch spezifische Besonderheiten für die schnellen S-Pedelecs in die Netzplanung einbezogen.

Fahrradsozialisation: in den Niederlanden eine gesellschaftliche Aufgabe

Natürlich muss man nicht nur baulich nachhelfen, um die Bewohner und Touristen auf die Räder zu bekommen, sondern zunächst gesellschaftlich. Wie mit einer Fahrrad-Bürgermeisterin für Amsterdam. Diese Ehrenamtsstelle gibt es in Amsterdam seit 2016 und mittlerweile auch andernorts. Katelijne Boer­mas Aufgabe ist es unter anderem, in der Bevölkerung Ideen für noch mehr Fahrradmobilität aufzuspüren und weiterzugeben – auch an die Behörden. Vernetzung ist für sie hier ein Zauberwort. Ein Fokus ihrer aktuellen Arbeit ist das Thema „Kinder aufs Fahrrad“. Helikopter-Eltern sind keine deutsche Erfindung, auch in Amsterdam gibt es den Trend, Kinder per SUV zur Schule und zu Freizeitaktivitäten zu chauffieren. Hier versucht man, dem entgegenzutreten. Aufklärung, Lernprogramme, Verbreitung von Lastenrädern. Schließlich sollen die Kinder nicht an das Auto gewöhnt werden, sondern an intelligente Nutzung nachhaltiger Mobilitäten – und das Fahrrad. Mit bis ins Detail abgestimmten Programmen lernen Kinder hier, gut und sicher Fahrrad zu fahren.

Vernetzt denken bringt Mobilitäts-Mehrwert. Die Hälfte der Bahnreisenden nutzt in den Niederlanden das Fahrrad als Zubringer.

Fahrradparadies? Das ist nur die halbe Geschichte

Das Bild der Niederlande als Fahrradnation ist richtig, aber es ist nur die Perspektive der letzten 30 bis 40 Jahre. Oft wird vergessen, dass auch Städte wie Amsterdam nicht als „Biketown“ geboren wurden. Es hilft, die Situation in Deutschland zu verstehen, wenn man sich die Geschichte der Fahrradnation vor Augen führt. Zunächst gleicht die Vergangenheit der Niederlande der bundesdeutschen Geschichte: Vor dem Zweiten Weltkrieg dominierte das Fahrrad das Stadtbild uneingeschränkt. Radwege? Auch sie gab es, aber Autos waren in der Unterzahl, in den meisten kleineren Städten waren Radwege kaum vorhanden, da unnötig. Durch eine dem deutschen Wirtschaftswunder ähnliche ökonomische Dynamik erreichten die Niederländer nach dem Krieg schnell einen hohen Wohlstand. Prosperität hieß auch hier: Konzentration auf das Auto. Ab Mitte der 1950er Jahre musste deshalb in vielen Städten mehr Platz fürs Auto geschaffen werden. Ganze Straßenzüge wurden abgerissen und neu aufgebaut. Mehrspurige Führungen, riesige Parkplätze in den Innenstädten. Es gab die ganze Palette an Umwidmungen der Flächen, die man auch aus Deutschland kennt. Die Zahl der Radfahrer sank dabei jedes Jahr um sechs Prozent.

„Wir müssen jetzt darüber nachdenken, was wir der jungen Generation vermitteln“

Katelijne Boerma, Amsterdamer Fahrrad-Bürgermeisterin

Mehr Auto-Mobilität – mehr Unfälle

Die durchschnittlich pro Tag zurückgelegte Strecke pro Person versiebenfachte sich auf fast 30 Kilometer. 1971 erreichte eine Folge der Entwicklung seinen traurigen Höhepunkt: 3300 Menschen starben bei Verkehrsunfällen, darunter ein hoher Prozentsatz an Kindern.
Hier trennen sich die Entwicklungen der beiden Länder: Ab den Siebzigern gingen die Holländer zu Tausenden auf die Straßen, um gegen die Verkehrstoten zu demonstrieren. Sie forderten sicherere Straßen und lebenswertere Innenstädte für Menschen, denen der Platz zum Leben weggenommen worden war. Wesentlich mit zu einem Umdenken beigetragen hat dabei die Ölkrise 1973. Sie verstärkte den Protest und stellte neben mehr Sicherheit und Menschenfreundlichkeit im Verkehr auch den Umweltgedanken und die Unabhängigkeit vom Erdöl in den Mittelpunkt. Einige kleinere Städte gingen voraus und schufen autofreie Innenstädte. Wo Mischverkehr bleiben sollte, da wurde ein neues Radwegenetz entwickelt – mit getrennten Wegen für Autos und Räder, Autostraßen wurden oft zurückgebaut. Wo komplette Fahrrad-Netze umgesetzt wurden, stieg der Anteil der Fahrradnutzung binnen kurzer Zeit wieder um bis zu 75 Prozent an. Mit fahrradpolitischen Richtlinien, die nicht verpflichtend waren, aber vom ganzen Land übernommen wurden, hatten sich die Niederlande auf den Weg zum Fahrradland gemacht, wie wir es heute kennen. Nebeneffekt: Laut Statista gab es im Jahr 2018 nur 678 Verkehrstote im ganzen Land.
Eine Voraussetzung für so einen Wandel ist unerlässlich: „Das Fahrrad muss als vollwertiges Verkehrsmittel anerkannt werden – von allen Beteiligten, vom Verkehrsplaner über die Behörden bis hin zum Nutzer“, betont auch Bernhard Ensink.

Fahrradanteil Utrecht: 40 Prozent und steigend

Eine der Städte, die in und nach den Siebzigern weitreichend umgebaut wurden, ist Utrecht. Die Stadt zählt 350.000 Einwohner, 125.000 Radfahrer sind laut Statistik täglich mit dem Rad in der City unterwegs. Das braucht entsprechend breite Radwege für die Rushhours, aber auch Parkmöglichkeiten. Um die 35.000 Plätze sollen es allein in der Innenstadt sein. Doch Utrecht ist auch eine Durchgangsstadt. Sie liegt zentral im Land, der Bahnhof Utrecht Centraal spielt eine herausragende Rolle für den Fernverkehr. Vor allem ins 45 Kilometer entfernte Amsterdam pendeln die Bewohner und die der umliegenden Ortschaften zur Arbeit. Für die Möglichkeit, das mit der Bahn in 25 Minuten zu tun, sorgt unter anderem auch das größte Fahrradparkhaus der Welt. Von der Einfahrt ins Parkhaus unter dem Bahnhof bis zum Zug brauchen Pendler etwa 10 Minuten – inklusive sicherem Abstellen des Zweirads. Seit Ende 2019 sind allein dort 12.500 Rad-Parkplätze vorhanden, dazu um die Ecke mehrere Hundert weitere für Spezial- und Lastenräder. Das Parkhaus ist mit einem Leitsystem ausgestattet, das die Reihen angibt, in denen sich freie Plätze befinden.
Dieses Beispiel zeigt: Vernetzt zu denken bringt Mobilitäts-Mehrwert. Wer Auto-Pendlerströme vermindern will, sorgt für gute Anschlüsse bei der alternativen Mobilität schon auf halbem Weg dorthin. In den Niederlanden erreicht rund die Hälfte der Pendler den Bahnhof mit dem Fahrrad. Schon innerhalb der Stadt sichert ein auf den Radverkehr zugeschnittenes Wegenetz eine komfortable Anfahrt zum Bahnhof. Am Ankunftsort wird die Fahrt mit dem öffentlichen Verkehr OV oder Leihrädern von OV Fiets. Diese auch am kleinsten holländischen Bahnhof vorhandenen Leihräder kosten 3,85 Euro je Tag. Deutlich günstiger wird es mit dem Jahresticket, das nur wenige Euro kostet. Von der Stadt finanzierte Fahrradlehrer geben Unterricht oder helfen Neuzugezogenen, sich auf dem Rad in der Großstadt zurechtzufinden. E-Tretroller, die hierzulande vor Kurzem noch als vermeintliche Mobilitätsrevolution gefeiert wurden, sind in den meisten niederländischen Städten übrigens so gut wie nicht vertreten; sie werden einfach nicht gebraucht.

Auf einem guten Weg: Die vorhandenen Radschnellwege in den Niederlanden in Grün, die orangefarbenen sind in der Planungs- oder Ausführungsphase. Zentren sind bereits teils sehr gut abgedeckt. Grau: Verbindungsrouten der Kluster.

Niederländer denken größer und vernetzter

„Hier in Holland sind alle Autofahrer auch Fahrradfahrer“, sagt Marion Kresken vom IPV Delft, einem Ingenieurbüro in der gleichnamigen Stadt, das sich mit der Planung und Durchführung von Radweganlagen, speziell Brücken beschäftigt. „Das fördert das Verständnis füreinander und für die Radnetz-Planungen ungemein. Überhaupt gibt es in den Niederlanden viel mehr Institutionen und Verbände, die netzwerkartig zusammenarbeiten und vom öffentlichen Träger auch gern einbezogen werden. Man analysiert zusammen und denkt zusammen nach, das kann sehr effektiv sein.“ Und auch die unterschiedliche Mentalität und Lebensweise wirke sich auf die Entwicklung und Dynamik hin zur neuen Mobilität aus. „Man denkt hier vernetzter, größer.“ Ein gutes Beispiel ist der geradezu ikonische Hovenring in Eindhoven, der die Radfahrer aus dem gefährlichen Kreuzungsverkehr nimmt und ihnen auf lichter Höhe einen eigenen Kreisverkehr gibt. Dabei war nicht der Wunsch nach einem besseren Fluss des Fahrradverkehrs der Anlass, „sondern der Wunsch nach ungehindertem Autoverkehr“, erklärt dazu Bernhard Ensink. Der kühne Entwurf von IPV Delft kam bei den Entscheidern in Niederlanden gut an. „Unsere Entwürfe für deutsche Projekte sind dagegen oft zu gewagt, was die Reichweite der Lösungen anbetrifft“, so Marion Kresken. In Deutschland traue man sich derzeit weniger zu und es sei komplizierter, etwas auf die Beine zu stellen.

IPV Delft hat den Hovenring in Eindhoven mitentwickelt und gebaut. Der erhöhte Kreisverkehr wurde wie eine Hängebrücke mit Abspannseilen an einem Pylon aufgehängt. Die Anfahrrampen für die Radfahrer sind relativ lang, um die Steigung gering zu halten. Täglich nutzen etwa 4000 bis 5000 Radfahrende das Bauwerk. Die Kosten des Projekts betrugen elf Millionen Euro.

Beispiel Houten – Modellstadt statt Utopie

Die Kleinstadt Houten, wenige Kilometer südlich von Utrecht, wird auch „Verkehrskonzept der Zu-kunft“ genannt. Das ursprüngliche 8000-Einwohner-Dorf im Umkreis von Utrecht wurde so umgebaut, dass man von seinem Viertel aus die angrenzenden Wohnviertel zu Fuß oder mit dem Fahrrad direkt erreichen kann; mit dem Auto aber muss man auf eine Umgehungsstraße, der Weg wird ungleich länger und unbequemer. Die direkten Wege sind umgekehrt dadurch ruhig und sicher. Das Rad hat Vorrang vor dem Autoverkehr. Das neue Zentrum von Houten ist fast komplett autofrei, Radverkehrs- und Autostraßen sind praktisch völlig entkoppelt. Die Trennung der Verkehrsspuren hat Erfolg: Seit 30 Jahren soll es in Houten keinen tödlichen Unfall gegeben haben. Die neuen Bereiche der Stadt wurden von Anfang an als Viertel der alternativen Mobilität und der kurzen Wege für Fußgänger und Radfahrer geplant. Die Einkaufsregion im neuen Zentrum rund um den Bahnhof ist – gegen anfängliche Bedenken der Einzelhändler – gut besucht. Die Zufahrt zu den umliegenden günstigen Parkhäusern ist unkompliziert, die Wege sind kurz.

Deutschland als Fahrradland?

Auch wenn Konzepte wie die von Amsterdam, Utrecht oder Houten nicht auf jede Stadt und schon gar nicht für jede Stadtgröße transformierbar sind: Sie zeigen, wie viel Lebensqualität möglich wird, wenn Autos nicht mehr den Verkehrsraum bestimmen. Mobycon-Berater Bernhard Ensink kennt die Entwicklung beider Länder auf dem Verkehrs-sektor und glaubt an Deutschland als potenzielle Fahrradnation: „In Deutschland will man jetzt schneller voran, man spürt es in allen Kontakten bis hin zum Verkehrsminister. Ich glaube fest, dass Deutschland ein Fahrradland werden kann!“


Bilder: Hector Hoogstad Architecten – Petra Appelhof, Georg Bleicher, Fietsersbond

Europaweit erkennen die Städte und Kommunen langsam die Tragweite der Pro­bleme, denen sie aktuell gegenüberstehen. Im Bereich des Verkehrs und der öffentlichen Räume gehen immer mehr konsequent voran und ziehen u. a. geplante Maßnahmen vor. Wir haben uns bei unseren Nachbarn umgesehen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Wie soll es mittel- und langfristig weitergehen? Kaum jemand rechnet wohl ernsthaft mit dem schnellen Ende der Pandemie und einer Aufhebung der Vorsichtsmaßnahmen. Wie können Menschen auf viel zu engen Rad- und Fußwegen Abstand halten? Wie schafft man Sicherheit auch für Radfahrer, denen Erfahrung und Routine fehlen? Und was passiert eigentlich mit der Gastronomie ohne zusätzliche Flächen? In Deutschland warnen Verbände und Experten vor dem Verkehrskollaps und einem Anstieg der Unfälle mit Radfahrern. Der Hotel- und Gaststättenverband fürchtet das Aus für jeden dritten Betrieb im Gastgewerbe. Wenn es um Straßenraum, Parkplätze, Änderungen der Geschwindigkeit oder Ausnahmeregelungen geht, ist man hierzulande allerdings sehr zurückhaltend. Ganz anders im Ausland.

London

Ziel London: Verzehnfachung des Radverkehrs und
Verfünffachung des Fußgängerverkehrs nach der Lockdownphase.

Mehr Platz für Menschen: Weltweit wird intensiv an Corona- und umwelttauglichem Verkehr gearbeitet.

London

„Wir müssen die Zahl der Menschen, die den öffentlichen Verkehr nutzen, so gering wie möglich halten. Und wir können nicht zulassen, dass diese Fahrten künftig mit dem Auto erledigt werden, weil unsere Straßen sofort blockiert wären und die toxische Luftverschmutzung anschwellen würde”, so Bürgermeister Sadiq Khan zu den Herausforderungen in seiner Stadt. Mit dem „London Streetspace“-Programm sollen Straßen rasch umgestaltet werden, um eine Verzehnfachung des Radverkehrs und eine Verfünffachung des Fußgängerverkehrs zu ermöglichen, wenn die Sperrmaßnahmen gelockert werden. Da die Kapazität des öffentlichen Nahverkehrs in London potenziell nur ein Fünftel des Niveaus von vor der Krise erreichen könnte, müssten Millionen von Fahrten pro Tag mit anderen Verkehrsmitteln durchgeführt werden.

Paris

Die Region Paris will unter anderem 300 Millionen Euro in das – ohnehin geplante – Radwegenetz der Île-de-France schneller investieren mit dem Ziel, die Fahrradnutzung zu verfünffachen. Helfen sollen nicht nur neue (temporäre) Radwege, sondern auch das Fahrradverleihsystem Véligo und Kaufanreize für Pedelecs. Als Sofortmaßnahme wurden Fahrradreparaturen mit 50 Euro pro Rad subventioniert, finanziert werden künftig auch zusätzliche Fahrradständer sowie Radkurse und Sicherheitstrainings. Die Bürgermeisterin Anne Hidalgo sieht sich in ihren Plänen für ein lebenswerteres Paris, die von den Einwohnern mit großer Mehrheit mitgetragen werden, bestätigt. Eine Rückkehr zu alten Verhältnissen sei nach ihren Worten völlig undenkbar.

Brüssel

Dem Vorbild der Stadt Wien, die als eine der ersten Metropolen während der Ausgangsbeschränkungen temporäre Begegnungszonen geschaffen hat, ist auch Brüssel gefolgt und macht deutlich mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer. So wurde das gesamte Zentrum zur Begegnungszone deklariert. Innerhalb des inneren Stadtrings haben Fußgänger und Radfahrer Vorrang. Busse, Straßenbahnen und Autos dürfen zwar weiter in die Zone einfahren, aber nur mit bis zu 20 km/h. Im Hinblick auf weitere Verbesserungen soll ab 2021 im gesamten Stadtgebiet Tempo 30 gelten.

Mailand

Insgesamt 35 Kilometer neuer Radwege sollen in Mailand demnächst entstehen – bis Ende des Sommers allein 22. Aktuell entsteht eine „Maxipiste“ für Fahrräder vom Zentrum in Richtung Norden. Auf einem ersten Teilstück hat man zwei von vier Autospuren umgewidmet. Radfahrer und Fußgänger haben damit viel mehr Platz, ebenso wie die Gastronomen. Zudem soll in weiten Teilen Tempo 30 gelten. Um schnelle Änderungen zu ermöglichen und die Bedingungen für Radfahrer zu verbessern, wurde das italienische Verkehrsgesetz geändert. Und es gibt Kaufprämien vom Staat für Fahrräder. 60 Prozent des Kaufbetrags –maximal 500 Euro – werden volljährigen Einwohnern von Kommunen mit mehr als 50.000 Einwohnern erstattet.


Bilder: Guillaume Louyot – stock.adobe.com, www.abus.de | pd-f

Tempora mutantur. Die Zeiten ändern sich. Bürgermeister und Kommunen stehen heute überall auf der Welt vor einer zentralen Herausforderung: Wie sollen sie Mobilität erhalten während der öffentliche Verkehr als Leistungsträger, wohl nicht nur kurzfristig, vor schwierigen Zeiten steht? Wir werfen einen Blick auf temporäre Lösungen in Deutschland und Europa. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Gerade ungeübte Radfahrer brauchen die Gewissheit, sicher und bequem ans Ziel zu kommen.

Solange die Pandemie nicht beherrschbar ist, wollen und müssen Städte und Kommunen aktive Mobilität mit ausreichend Abstand sicherstellen. Mit seiner Entscheidung pro Radverkehr hat sich Berlin zu Beginn der Krise mit der kolumbianischen Hauptstadt Bogota an die Spitze einer internationalen Bewegung gestellt. Seitdem wirkt Corona in der Hauptstadt wie ein Beschleunigungsprogramm der ohnehin geplanten Verkehrswende.

Andauernde Pandemie forciert Umbau

Für Radfahrer und Fußgänger läuft es zurzeit gut in Berlin. Allein im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wurden in den vergangenen Wochen rund 20 Kilometer temporäre Radwege mit Baustellenbaken markiert. Für die grüne Umwelt- und Verkehrssenatorin Regine Günther hat die Umverteilung des Raums Priorität. Sie lässt ihre Verwaltung Abschnitte des bereits fertig geplanten Radwegenetzes mit provisorischen Mitteln wie Baustellenbaken umsetzen. Dabei soll es aber nicht bleiben. „Unser Ziel ist es, aus diesen vorgezogenen Maßnahmen möglichst überall dauerhafte Anordnungen zu machen und die provisorische Technik durch dauerhafte zu ersetzen“, betont die Berliner Senatorin.

Pop-up-Lösungen als ideales Tool

Nach wenigen Wochen zeigt sich: Die Pop-up-Lösungen haben für die Planer durchaus Vorteile. Der Praxistest mache Schwächen auf der Strecke oder Sicherheitsrisiken für Radfahrer sichtbar, sagt Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes in Friedrichshain-Kreuzberg. Ist das der Fall, kann sein Team schnell und kostengünstig nachjustieren. Bei neu gebauten Radwegen war das bislang nicht möglich. Die Radfahrer in Berlin erhalten demnach eine deutlich alltagstauglichere Radinfrastruktur als ohne Probelauf. Über ein Dutzend Pop-up-Bikelanes gibt es inzwischen in der Hauptstadt, und im Wochenrhythmus kommen neue hinzu. Mal werden Lücken im Netz geschlossen, mal an Hauptstraßen neue, sichere Radwege in Fahrspurbreite markiert, wo es zuvor keine Radanlage gab.

Neue Kundengruppen auf neuen Radwegen

Die neuen Radwege kommen nicht nur gut an in der Bevölkerung, sie gewinnen auch neue „Kundengruppen“. Burkhard Stork, Bundesgeschäftsführer des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs trifft dort Menschen, die er seit Jahren aufs Rad bringen will: Kinder, Erwachsene, die jahrelang nicht im Sattel saßen, und Menschen mit Migrationshintergrund. Er erkennt sie an ihren Rädern, die im Keller Staub angesetzt haben, und ihrem Fahrverhalten. „Sie sind deutlich langsamer unterwegs als der typische Berliner Radfahrer“, sagt Stork. „Wenn wir die Verkehrswende wollen, brauchen wir eine Radinfrastruktur, die Menschen dazu einlädt, aufs Rad zu steigen“, wiederholt der Fahrradlobbyist seit vielen Jahren. Die Pop-up- Bikelanes machen genau das.

Die Broschüre erklärt, wie man Pop-up-Bikelanes einrichtet und in nur zehn Tagen auf die Straße bringt. Download unter mobycon.nl

Gesucht: Beschleuniger im Radwegebau

Ob die Lösung permanent oder temporär ist, ist für Stork momentan zweitrangig. Die Menschen brauchten erst mal die Gewissheit, sicher und bequem ans Ziel kommen. In den Niederlanden und Kopenhagen ist das der Fall. Allerdings benötigten die Planer dort Jahrzehnte, um ihr Radwegenetz entsprechend aufzubauen. Die Zeit hat Deutschland nicht. Zwar hat das Bundesverkehrsministerium für den Ausbau des Radverkehrs 900 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, aber Stork mahnt: „Das Geld muss in den kommenden vier Jahren investiert werden, sonst ist es weg.“ Das schafft aus seiner Sicht aber kaum eine Stadt. In Berlin dauert der Bau eines Radwegs von der Planung bis zur Fertigstellung immer noch vier Jahre – manchmal sogar länger. Deshalb fordert Stork, Radwegenetze zügig zu planen und sie zunächst als Pop-up-Lösungen anzulegen. „Pop-up ist das neue Maß im Radwegebau“, betont der international anerkannte und bestens vernetzte Experte.

Berlin als Modellstadt und zur Nachahmung empfohlen

In Deutschland ist die Hauptstadt Berlin bislang eine Ausnahme. Hier wird sichtbar, wie Corona bestehende Prozesse beschleunigt. Hier ist die Bevölkerung ebenso wie die Politik und die Verwaltung für einen Wechsel bereit. Bereits zuvor hat die Zivilgesellschaft in Berlin das 2018 beschlossene Mobilitätsgesetz durchgesetzt und damit den Bau moderner Radwegenetze mit Protected Bikelanes legitimiert. Der Anklang bei anderen deutschen Städten und Kommunen ist bislang noch sehr verhalten. Echte Nachahmer für die Einrichtung gibt es kaum, obwohl sich immer mehr Initiativen vor Ort für ihre Einrichtung stark machen. So hat Greenpeace Ende Mai in Zusammenarbeit mit anderen Verbänden in 30 deutschen Städten mit Warnstreifen, Pylonen und Piktogrammen auf die Probleme aufmerksam gemacht. Am Geld und am Know-how kann es eigentlich nicht liegen. Felix Weisbrich vom Berliner Straßen- und Grünflächenamt will Kollegen zum Nachahmen animieren. In seinem Auftrag hat das Planungsbüro Mobycon gerade einen Leitfaden zum Bau von Pop-up-Bikelanes erstellt.


Bilder: Peter Broytman, Peter Broytman, Mobycon