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Das Thema Mobilitätswende wird unabhängig von Parteien und Koalitionen wohl auch nach der Bundestagswahl im Fokus stehen. Eine Lösung vom Paradigma der allmählichen Veränderungen und eine fundamentale Transformation fordern dabei nicht nur Parteien und Verbände, sondern auch die EU-Kommission. Es gibt künftig also viel zu tun und zu entscheiden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Zu sagen, es bewege sich nichts in Deutschland in Richtung Mobilitätswende, würde den vielfältigen Bemühungen auf allen Ebenen sowie den in weiten Teilen veränderten Wünschen der Bürgerinnen und Bürger sicher nicht gerecht. Andererseits lässt sich anhand vieler Beispiele festmachen, wie hoch die Beharrungskräfte hierzulande sind, vor allem bei politischen Entscheidungsträgern. Wenn man die Online-Konferenzen und Diskussionen verfolgte, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass trotz aller Bekenntnisse zu Veränderungen vor allem das Festhalten am Status quo Priorität hat. Egal, ob bei der Vorstellung des „Nationalen Radverkehrsplans – NRVP 3.0“, dem „3. Deutschen Fußverkehrskongress“ oder Kongressen und Diskussionsrunden zur Zukunftsmobilität in der Stadt oder auf dem Land – man kann zum Schluss kommen, dass es grundsätzlich nicht an Erkenntnissen mangelt, aber am Willen, diese konkret umzusetzen. Expert*innen und Verbände weisen immer wieder auf die Diskrepanz zwischen Wissen und Tun und das Fehlen konkreter Ziele und Planungen hin. Dabei scheint es fast egal, um welche Themen es im Einzelnen geht: mehr Gestaltungsfreiheit für die Kommunen, zum Beispiel beim Thema Tempo 30, wirksame Maßnahmen für deutlich weniger Tote und Verletzte, Geschwindigkeitsreduzierungen auf Autobahnen und Landstraßen oder das Ziel 25 Prozent Fahrradanteil in Nordrhein-Westfalen. Selbst der Vorschlag, private Lastenräder zu fördern, gerät schnell zum Politikum. Die Rahmenbedingungen könnten mit Blick auf die vielfältigen, längst erkannten Probleme, allen voran notwendige Klimaschutzmaßnahmen, sicher deutlich besser sein.

Notwendig: eine fundamentale Transformation

Ein alles andere als positives Fazit zieht auch die Agora Verkehrswende, die zusammen mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) die vorliegenden Daten im Verkehr gründlich analysiert hat. „Der immer noch wachsende motorisierte Verkehr auf Deutschlands Straßen führt zu erheblichen Nachteilen in anderen Bereichen“, heißt es hier. „Er beeinträchtigt zum Beispiel die Lebensqualität großer Bevölkerungsgruppen und rückt die Ziele der Verkehrswende in weite Ferne. Jenseits der hoch aggregierten Daten offenbart die präzise Betrachtung von Einzelindikatoren zwar auch positive Entwicklungen. Sie werden aber, noch, durch das schiere Mengenwachstum überlagert.“
Dazu der ergänzt der Verkehrsclub Deutschland VCD, dass die Entwicklung des Verkehrsgeschehens in Deutschland nicht nur in deutlichem Kontrast zu artikulierten Wünschen der Bevölkerung stehe, sondern auch zu politischen Ambitionen, die seit mindestens 20 Jahren in diversen Koalitionsverträgen verabredet worden seien. Ein grundlegender Hemmschuh seien die weiterhin bestehenden rechtlichen Regelwerke, die aus den 1930er-Jahren stammten und mit der Absicht geschaffen wurden, die Massenmotorisierung herbeizuführen. Ein anderer Systemfehler sei, dass eine in diversen Koalitionsvereinbarungen avisierte „integrierte Verkehrspolitik“ nach wie vor fehle. Selbst die OECD hat das jüngst in ihrem „Wirtschaftsbericht Deutschland 2018“ bemängelt: „Im Verkehrssektor fehlt es an einer übergeordneten Politikstrategie.“
Verändert sich etwas mit den anstehenden Bundestagswahlen in Deutschland? Die Umfragen sprechen bislang dafür. Vielfach unterschätzt und wenig in der Öffentlichkeit diskutiert wird aber ein ganz anderer Faktor, dessen Einfluss mindestens genauso groß dürfte: der sogenannte Green Deal, der von den 27 EU-Mitgliedsstaaten beschlossenen wurde und sukzessive mit Leben gefüllt wird. Was in der politischen Diskussion hierzulande oft untergeht, ist, dass es dabei um nicht weniger geht als die Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft in den EU-Ländern, und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt. Ganz oben auf der Liste der konzeptuellen Grundlagen für diesen Wandel steht der Bereich Verkehr, mit klaren Ansagen und Vorgaben an die Politik der Mitgliedsstaaten. „Grundsätzlich müssen wir uns vom bisherigen Paradigma der allmählichen Veränderungen lösen – denn wir brauchen eine fundamentale Transformation“, heißt es in einer im Dezember 2020 veröffentlichten Mitteilung der EU-Kommission mit dem Titel „Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität: Den Verkehr in Europa auf Zukunftskurs bringen“.

„Der europäische Grüne Deal fordert uns auf, die verkehrsbedingten Treibhausgasemissionen um 90 % zu verringern.“

EU-Kommission

Verkehr auf Zukunftskurs bringen

Wenn man sich anschaut, was andere EU-Länder und Städte in den letzten Monaten und Jahren beschlossen, geplant und in Teilen umgesetzt haben, dann verfestigt sich der Eindruck, dass Deutschland bei den beschlossenen Zielen im Verkehrssektor im europäischen Vergleich mittlerweile um einiges hinterherhängt. Dazu braucht man längst nicht mehr nur auf die Niederlande oder die skandinavischen Länder zu schauen, es lohnt sich auch ein Blick nach Spanien, wo vor Kurzem landesweit Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Ortschaften eingeführt wurde, oder nach Frankreich, wo die Mobilitätswende nicht nur in Paris mit vielen Akteuren sowie der Zustimmung der Bevölkerung und der großen Parteien in großen Schritten vorangetrieben wird.
Die EU geht im Rahmen des Green Deals sogar davon aus, dass Mobilität „neu erfunden“ werden muss. Angesichts des hohen Anteils des Verkehrssektors am gesamten europäischen Treibhausgasausstoß könne das EU-Ziel einer Verringerung der Treibhausgasemissionen um mindestens 55 Prozent bis 2030 und der Klimaneutralität bis 2050 nur erreicht werden, wenn sofort ehrgeizigere Maßnahmen ergriffen werden. Zugleich lägen darin große Chancen für mehr Lebensqualität und als Impuls für die europäische Industrie, auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette zu modernisieren, hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen, neue Waren und Dienstleistungen zu entwickeln, wettbewerbsfähiger zu werden und eine weltweite Spitzenposition einzunehmen.

Jetzt Maßnahmen umsetzen

Um die Ziele zu erreichen, müssten erstens alle Verkehrsträger nachhaltiger gemacht, zweitens nachhaltige Alternativen in einem multimodalen Verkehrssystem allgemein verfügbar sein und drittens die richtigen Anreize geschaffen werden, um den Wandel zu beschleunigen, so die EU-Kommission. Nötig seien unter anderem die Verlagerung auf nachhaltige Verkehrsträger sowie die Internalisierung externer Kosten. Wie soll das gehen? Detaillierte Pläne, wie die Ziele in Deutschland auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene umgesetzt werden können, welcher rechtliche Rahmen benötigt wird und wie die Infrastruktur aussehen muss, gibt es inzwischen.
Die Expert*innen, Vereinigungen und Verbände aus den Bereichen Nachhaltigkeit, Transformation, Verkehr, Fahrrad, Umwelt und seit Kurzem auch Mikromobilität bringen sich aktiv mit ihrem Know-how ein. In Nordrhein-Westfalen fordert beispielsweise ein breites Bündnis aus Radkomm, ADFC, Fuß e.V., NABU und VCD deutliche Verbesserungen beim geplanten Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz. Hauptkritikpunkte: Die Forderung, den Anteil des Radverkehrs von heute etwa 8 auf 25 Prozent zu steigern, bleibe bislang ohne Zieljahr. Insgesamt fehle es an Konsequenz, Verbindlichkeit, konkreten Aktionsplänen und messbaren Zwischenzielen. Auf Bundesebene fordert der Verkehrsclub Deutschland (VCD) zusammen mit Umweltverbänden ein Bundesmobilitätsgesetz, das einen modernen rechtlicher Rahmen bieten und eine integrierte Verkehrsplanung und -finanzierung vorschreiben soll. Die Verbände der Fahrradwirtschaft und der ADFC fordern gemeinsam unter anderem konkrete Zielsetzungen und Maßnahmen, um den Radverkehrsanteil bis 2025 auf 20 Prozent und bis 2030 auf 30 Prozent zu erhöhen, ein neues Straßenverkehrsgesetz und die Reform der StVO und der Regelwerke, mehr Handlungsspielräume für Kommunen und mehr Planungssicherheit bei der Finanzierung. Konkrete Vorschläge zur Änderung des Rechtsrahmens hat der ADFC bereits 2019 unter dem Titel „Das Gute-Straßen-für-alle-Gesetz“ vorgelegt. Was auch immer die Bundestagswahl bringt, das Thema Verkehr wird ganz sicher weiter im Fokus stehen, und auf den nächsten Minister/die nächste Ministerin kommt viel Arbeit zu. Positiv ist sicher, dass inzwischen eine ganze Palette an neuen technischen Möglichkeiten zur Verfügung steht, die Menschen zunehmend bereit sind für Veränderungen und die Länder, Städte und Kommunen viel voneinander lernen können.

Was war gut, was kommt?

Prominente Stimmen, gesammelt von „Agora Verkehrswende“

Was war für Sie der wichtigste Fortschritt für die Verkehrswende in den vergangenen fünf Jahren?

„Ein Fortschritt der Verkehrswende ist sicherlich, dass die Wahl der Mobilität bewusster geworden ist und Verkehrsangebote übergreifend genutzt und kombiniert werden: ob Fahrrad, Zug, ÖPNV, Roller oder das Auto; ob geliehen, geteilt oder das eigene.“

Dörte Schramm,
Abteilungsleiterin Regierungs- und Politikbeziehungen, Robert Bosch GmbH




„Die Notwendigkeit einer Verkehrswende wird nicht mehr bestritten. Wir sind mittendrin.“

Dr. Thomas Steg,
Leiter Außenbeziehungen und Nachhaltigkeit, Generalbevollmächtigter der Volkswagen AG




„Die stärksten Impulse für die Verkehrswende kamen von neuen Playern in der Automobilindustrie und der Sharing Economy. Sie rufen nicht nach Subventionen und politischer Flankierung. Sie fordern Freiräume.“

Dr. Bernhard Rohleder,
Hauptgeschäftsführer Bitkom e.V.




„Der Fortschritt bei E-Autos und E-Fahrrädern ist beachtlich. Das E-Auto muss Benziner und Diesel schnell ersetzen, das E-Fahrrad viele Zweitwagen, und es kann das Pendeln zur Arbeit revolutionieren.“

Dietmar Oeliger,
Programme Director Transport, European Climate Foundation (ECF)




Auf welchen Fortschritt für die Verkehrswende hoffen Sie in den kommenden fünf Jahren?

„Wir wollen den Verkehr in den Städten effizienter, klimaschonender und sicherer machen. Dafür brauchen wir vor Ort noch mehr Entscheidungsspielräume, um Neues unter Realbedingungen zu erproben.“

Burkhard Jung,
Präsident, Deutscher Städtetag; Oberbürgermeister, Stadt Leipzig




„Wir müssen weg von symbolpolitischen Maßnahmen aus dem Werkzeugkasten der Vergangenheit und Mobilität ganzheitlich denken, klar an Ergebniszielen von Nachhaltigkeit orientiert. Dabei sind neue, digitale Optionen der Schlüssel.“

Dr. Thomas Becker,
Unternehmensstrategie, Leiter Nachhaltigkeit, Mobilität, BMW Group




„Sichere Radinfrastruktur, viele Radschnellwege, den Deutschlandtakt bei der Bahn und noch bessere Batterien für die E-Mobilität.“

Dietmar Oeliger,
Programme Director Transport, European Climate Foundation (ECF)




„Alle zusammen müssen aus dem Fordern oder Ankündigen ins Umsetzen kommen. Es fehlt die Zeit, auf neue Technologien zu warten; Klimaschutz und Soziales müssen gemeinsam gedacht und angegangen werden.“

Jens Hilgenberg,
Leitung Verkehrspolitik, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND)

Diese Studie von Agora Verkehrswende in Zusammenarbeit mit dem Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) liefert einen Einblick in tiefere Schichten der Verkehrsentwicklung und damit in die grundsätzlichen Baustellen der Mobilitätswende.

Bilder: VCD – Jörg Farys

Schwerlastfahrräder haben ein enormes Potenzial, den urbanen Wirtschaftsverkehr nachhaltig zu verändern. Mit neuen, hochbelastbaren Komponenten ausgerüstet liefern sie gute Argumente für die Ergänzung oder Umstellung des Warentransports: kompakt, flexibel, umwelt- und klimafreundlich, verlässlich und günstig in Anschaffung und Unterhalt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Dreirädrige Lastenräder mit Motor gab es schon zur Jahrhundertwende. Unterwegs: Fotograf August F.W. Vogt (1871-1922) im Jahr 1905 in Amsterdam.

Natürlich kann man nicht jede Fahrt mit dem Lkw, Sprinter oder Hochdachkombi im Wirtschaftsverkehr ersetzen. Andererseits zeigen Studien und Beispiele aus der Praxis, wie gut sich sogenannte Schwerlastfahrräder oder Heavy Cargobikes für urbane Regionen eignen und wie viele Fahrten sich damit vergleichsweise leicht und wirtschaftlich sinnvoll verlagern lassen. Schon vor Jahren schätzten Experten das Verlagerungspotenzial auf rund 20 Prozent der Fahrten. Angesichts neuer Erkenntnisse, entscheidender Verbesserungen der Fahrzeuge und einem zunehmenden Bewusstseinswandel schätzt der Radlogistik Verband Deutschland (RLVD) das Potenzial inzwischen sogar auf bis zu 30 Prozent, eine Einschätzung, die auch die Politik inzwischen teilt.

Hohe Anforderungen an die Technik erfüllt

Die Technik für Lastenräder befindet sich mittlerweile auf einem hohen technischen Niveau. Insbesondere bei Schwerlasträdern werden Komponenten wie Antrieb, Bremsen und Fahrwerk ständig weiterentwickelt, denn die Anforderungen sind extrem, vor allem im täglichen Lieferverkehr. „Schwerlastfahrräder unterscheiden sich maßgeblich von Cargobikes im privaten Sektor und müssen höchsten Beanspruchungen standhalten“, sagt Dirk Stölting, Head of Marketing & Design der Pinion GmbH aus Denkendorf bei Stuttgart. „Nutzungsintensität und Wirtschaftlichkeit erfordern entsprechende Komponenten.“ Pinion hat sich als Hersteller besonders leistungsfähiger, hochbelastbarer und gleichzeitig praktisch wartungsfreier Getriebeschaltungen seit der Gründung 2008 einen Namen in der Fahrradbranche gemacht. Das Ziel der beiden Pinion-Gründer und ehemaligen Porsche-Ingenieure Christoph Lermen und Michael Schmitz war von Beginn an das Beste aus Automobil- und Fahrradtechnologien zu verbinden. So entstand ein am Tretlager untergebrachtes vollständig abgedichtetes High-End-Getriebe. Zusammen mit Partnern aus der Radlogistik haben die Pinion-Macher die besonderen Anforderungen im Bereich professioneller Lastenräder eingehend untersucht und so eine noch mal robustere Produktlinie mit einigen Ex-tras für den besonderen Einsatzzweck, wie zum Beispiel einen Neutralgang entwickelt. Bei der neuen T-Linie, die für Transport steht, wurden laut Pinion sämtliche Bauteile auf sehr hohe Laufleistungen, geringen Verschleiß und maximale Beanspruchung ausgelegt. „Das Besondere am Getriebe ist, dass sich die Gänge auch bei hohen Nutzlasten in jeder Situation schalten lassen, ob im Stand oder während dem Pedalieren“, erläutert Dirk Stölting. „Bei plötzlichen Stopps oder beim Anfahren an Ampeln ist das ein enormer Vorteil.“ Dazu kommt, dass das Getriebe auf bis zu 250 Newtonmeter Eingangsdrehmoment ausgelegt ist und keinerlei Einstellung oder Justage benötigt. „Alle 10.000 Kilometer ein Ölwechsel – mehr muss man nicht tun“, so Stölting. „Zudem bieten wir auch Servicekonzepte für Gewerbekunden, wie zum Beispiel eine lebenslange Verlängerung der Mobilitätsgarantie.“ Für den Pinion- Launchpartner Tricargo sind das ganz wesentliche Anforderungen, denn professionelle Fahrer*innen bringen mehr Kraft mit und haben, wie in anderen Berufszweigen, ganz andere Ansprüche an die Robustheit ihres Arbeitsgeräts. Die konkreten Herausforderungen kennt das Hamburger Unternehmen Tricargo sehr genau. Zum einen als lokaler Dienstleister für Radlogistik und zum anderen als Entwickler und Flottenhersteller des Schwerlast-Cargobikes „Lademeister“.

Profi-Cargobikes passen in die Zeit und hervorragend zu wieder lebenswerten Städten und Quartieren.

Innovationen aus der Garage für die Straße

Viele heutige Marktführer haben mit neuen Ansätzen und neuem Denken quasi „aus der Garage heraus“ Innovationen entwickelt, die unser Leben verändert haben und heute nicht mehr wegzudenken sind. Bemerkung am Rande: Auch Apple hat in einer Garage angefangen und dem Zitat von Steve Jobs, „Computers are like a bicycle for the mind“, folgend, sollte sein erster kommerzieller Computer nicht nach der Apfelsorte „Macintosh“, sondern schlicht „Bicycle“ heißen.
Auch Tricargo ist aus einer Garage heraus entstanden, mit dem Anspruch, genau den Service anzubieten, der im Hamburger Umfeld benötigt wird: flexible und nachhaltige Logistik per Fahrrad. Wobei die Idee nicht neu, sondern nur in Vergessenheit geraten ist. Bis zum Zweiten Weltkrieg gehörten Lastenräder für den günstigen Transport von Waren und Gütern und dem Verkauf auf der Straße nicht nur in den europäischen Städten zum alltäglichen Bild. Begonnen hat die Renaissance der Lastenräder mit der Entwicklung leistungsfähiger Lithium-Ionen-Akkus, die sich heute praktisch überall finden, und der Kombination mit entsprechend leistungsstarken Komponenten. Dazu kommen Aufbauten, die sich an den industriellen Standard-Industriemaßen von Paletten und Kisten und die einfache Beladung per Hubwagen orientieren. Was in der Theorie einfach klingt, führte vor allem in der ersten Zeit zu Problemen, die aber inzwischen gelöst sind. „Die Beschaffenheit des Materials und die Verarbeitung und Stabilität der Komponenten sind enorm wichtig für die Haltbarkeit des Rades und die Sicherheit des Fahrenden“, betont Heinrich Berger von Tricargo. Das gab letztlich auch den Ausschlag zur Entwicklung eigener Lastenräder, zuerst für den Eigenbedarf, aber natürlich mit dem Ziel, auch andere davon profitieren zu lassen. So entstand der sogenannte Lademeister als robustes Nutzfahrzeug, das zuverlässig tägliche Transportaufgaben erledigt. „Im Lademeister stecken mehr als 150.000 Kilometer Praxiserfahrung aus unserer Radlogistik“, erläutert Heinrich Berger. „Dort entwickelten und testeten wir den Lademeister für die Feinverteilung von Gütern auf der letzten Meile.“ Die Pedalkraft wird beim Lademeister mittels Pinion-Getriebe übersetzt und wirkt auf das rechte Hinterrad. Zusätzlich unterstützt ein 250-Watt- Elektromotor in der Vorderradnabe bis 25 km/h. Rechtlich ist das große zweispurige Rad damit ein Pedelec und dem Fahrrad gleichgestellt. Die Vorteile: Fahrer*innen benötigen keinen Führerschein und können überall dort fahren, wo auch einspurige Fahrräder gemäß StVO unterwegs sein dürfen. Auch das Parken auf dem Fußweg ist erlaubt. Die Geschwindigkeit reicht laut Heinrich Berger völlig aus, nur bei der zugelassenen Leistungsangabe, also der Watt-Zahl im Dauerbetrieb, würde er sich eine schnelle Änderung der EU-weit gültigen Regularien wünschen. „In Regionen wie Hamburg, Köln oder Bonn, wo sich unsere Räder im Einsatz befinden, kommen wir mit 250 Watt Motorunterstützung gut klar, aber wir müssen auch an Regionen mit anspruchsvolleren Topografien denken. Deshalb setzen wir uns, wie die Verbände, für die Anhebung der Leistungsgrenze ein.“

„In Regionen wie Hamburg, Köln oder Bonn kommen wir mit 250 Watt Motorunterstützung gut klar, aber wir müssen auch an Regionen mit anspruchsvolleren Topografien denken.“

Heinrich Berger, Tricargo

Profi-Lastenräder sind eine echte Alternative

Ansonsten habe man inzwischen ein sehr ausgereiftes Produkt, das sich in der harten täglichen Praxis bestens bewähre. Dafür sorgen beispielsweise ein hochstabiler Stahlrahmen, der in der Nähe von Osnabrück speziell für Tricargo gefertigt wird, sowie Räder und Scheibenbremsen aus der Motorradtechnik. Das ist wichtig, denn das zulässige Gesamtgewicht beträgt 425 kg, bei einer Nutzlast von 210 kg. Wer den Zustand der Radwege und die Vielzahl der Hindernisse wie Bordsteinkanten kennt, kann sich die Belastungen im Alltag gut vorstellen. „Auch wenn Profi-Lastenräder damit in der Anschaffung teurer werden, die hohe Qualität wirkt sich auf die Zuverlässigkeit, die Standzeiten der Komponenten und die Haltbarkeit der Räder insgesamt positiv aus“, sagt Heinrich Berger. Das mache sich vor allem mit Blick auf die Gesamtkosten, also die Total Cost of Ownership (TCO) der Lastenräder bemerkbar. Deshalb setzt Tricargo seit jeher unter anderem auch auf das Pinion-Getriebe. Als Launchpartner von Pinion nutzen die Hamburger erste Serienmodelle des neuen Lastenradgetriebes mit großer Begeisterung schon seit über 10.000 Kilometern. „Nicht die Idee des Lastenradtransports an sich macht den Erfolg und eine Revolution im Wirtschaftsverkehr möglich, sondern die Kombination hochleistungsfähiger Komponenten“, betont Berger. „Ich bin davon überzeugt, dass wir gerade einen Durchbruch erleben. Cargobikes mit neuer Technik sind eine echte Alternative, nicht irgendwann in der Zukunft, sondern jetzt.“

Neue Geschäftsmodelle und Chancen

Auch veränderte Kundenerwartungen und neue Geschäftsideen dürften den Markt künftig weiter befeuern. Zu den Abnehmern des Tricargo Lademeisters gehört beispielsweise das im Raum Köln/Bonn tätige wertegetriebene Unternehmen „Himmel un Ääd“ – analog zum rheinischen Gericht Äpfel (Himmel) und Kartoffeln (Ääd/ Erde). Das Geschäftsmodell ruht dabei auf zwei Säulen: Radlogistik und ein Onlineshop für regionale Lebensmittel, die mit dem Lastenrad ausgeliefert werden. Ein weiterer Kunde und gleichzeitig Multiplikator ist die Memo AG. Der Spezialist für nachhaltigen Öko-Bürobedarf mit über 20.000 Produkten im Sortiment legt Wert darauf, dass Bestellungen auf der letzten Meile mit E-Lastenrädern ausgeliefert werden, die ausschließlich Ökostrom als Energie nutzen und so komplett emissionsfrei unterwegs sind. Um das zu gewährleisten stellt das Unternehmen Radlogistikern entsprechend gebrandete Räder zur Verfügung.
Generell sind die Einsatzgebiete von Profi-Cargobikes enorm vielfältig. Aktuell sind sie nicht nur technisch ausgereift, sie passen auch in die Zeit und hervorragend zu wieder lebenswerten Städten und Quartieren. Entsprechende Verbesserungen bei der Infrastruktur vorausgesetzt, zum Beispiel mit mobilen oder stationären Sammelpunkten für Pakete, sogenannten Micro-Hubs/Mikro-Depots, breiten Radwegen und ausreichend großen Park- und Halteflächen, verschiedenen Push- und Pull-Faktoren und neuen gesetzlichen Regelungen könnte hier ein völlig neuer, klimafreundlicher Multimillionen-Markt entstehen. Technologietreiber sind aktuell vor allem kleine und mittelständische Unternehmen. Sie aktiv zu fördern und neuen Entwicklungen für den nachhaltigen Lastentransport keine unnötigen Steine, wie bei der Begrenzung der Motorkraft, in den Weg zu legen, sollte mit Blick auf die Herausforderungen der Zeit eine Selbstverständlichkeit sein. Besonders wichtig für die Zukunft ist laut Experten unter anderem, dass die rechtliche Gleichstellung von Schwerlasträdern bis zu einem Gewicht von 500 kg zum Fahrrad erhalten bleibt. Eine umfangreiche Stellungnahme zum Nationalen Radverkehrsplan 3.0 mit Wünschen an die Politik hat der Radlogistik Verband Deutschland e.V. (RLVD) vorgelegt (www.rlvd.bike/nrvp3punkt0).

Steckbrief Lademeister

Das Schwerlastrad Lademeister von Tricargo ist optimiert für den Transport von Europaletten und allen kompatiblen Kistenformaten. Er lässt sich ergonomisch be- und entladen – auch per Gabelstapler. Die effektive Nutzlast beträgt 210 kg und das zulässige Gesamtgewicht 425 kg, bei 140 kg Leergewicht inkl. Box. Die Reichweite beträgt in der Praxis 40 bis 60 km. Für die Energie sorgt ein Greenpack-Wechselakku mit 1.456 Wh und einer Ladezeit von vier Stunden. Der Vorderradnabenmotor unterstützt mit 250 Watt und verfügt über eine Anfahr- bzw. Schiebehilfe. Die hintere Scheibenbremsanlage sowie die Laufräder kommen aus dem Motorradbau. Die optionale Transportbox hat ein Volumen von 2,17 Kubikmetern, Ladefläche in der Box 1522 × 815 × 1520 mm (L × B × H). Weitere Konfigurationen sind optional verfügbar.

Informationen: www.lademeister.bike
Informationen zur Pinion-Schaltung: www.pinion.eu


Bilder: Tricargo, Wikimedia Commons

Die Probleme unserer Zeit sind komplex und das Beharrungsvermögen vielfach groß. Keine leichte Aufgabe also, Dinge zu verändern und Neues zu denken. Komplex? Ja! Aber nur, weil es komplex ist, lassen wir ja auch nicht die Astrophysik sein oder die Forschung nach Impfstoffen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Große Herausforderungen und neues Denken stehen auch im Bereich Mobilität und Verkehr an. Vor allem, wenn man sich nicht nur darauf konzentriert, Menschen möglichst schnell von A nach B und zurück zu bringen, sondern andere Dimensionen mitdenkt. Ein entschlossener Kurs Richtung Klimaneutralität gehört ebenso dazu wie die Herausforderungen der Urbanisierung, die Bewegungsarmut von Kindern, die in wenigen Jahren massiv wachsende Gruppe der Älteren (Stichwort geburtenstarke Jahrgänge) und nicht zu vergessen die sozialen Komponenten der Mobilität. Zudem braucht es verstärkt eine weibliche Perspektive, denn Mobilität, oder das, was wir darunter verstehen, wurde und wird weiterhin vor allem von Männern gedacht und geplant, wie Kritiker*innen immer wieder anmerken. Die Probleme sind bekannt und die Konzepte liegen auf dem Tisch. Vernetztes Denken und praktische Lösungen, die nicht mehr das private Auto oder den Lieferwagen in den Mittelpunkt stellen, findet man bislang allerdings vor allem in den Nachbarländern. Vielfach scheint es so, als würden wir in einem Denken, das uns über Jahre geprägt hat, feststecken. Würden wir sonst den weiteren Zuwachs von im Schnitt immer größeren und schnelleren Fahrzeugen zulassen und sogar noch fördern und auf der anderen Seite neuen, umweltfreundlichen und eher am menschlichen Maß ausgerichteten oder besser „angemessenen“ Mobilitätsformen generell erst einmal kritisch gegenüberstehen?

„Es muss den Menschen Freude machen sich anderes zu verhalten.“

Ines Imdahl, Rheingold-Salon

Umparken im Kopf

Vor zwei Jahren wurde bei einer Podiumsdiskussion zum Thema Mikromobilität zum Beispiel ernsthaft die Frage diskutiert, wohin denn die ganzen neuen Fahrzeuge sollten. Für Professor Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsforscher und Leiter des Studiengangs Verkehrssysteme an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, zeugen solche Diskussionen und „das Gemecker über den Platz, den E-Trottis (E-Tretroller in der Schweiz) verstellen“ von einer „komplett verschobenen Wahrnehmung“. „Die am Fahrbahnrand parkierten Blechlawinen werden derweil als normal wahrgenommen.“ Ihm zu widersprechen fällt schwer, wenn man mit offenen Augen durch die Städte und Quartiere geht, sich alte Bilder von Plätzen und Straßen anschaut, die noch zum Flanieren und Verweilen einluden oder sich mit statistischen Daten befasst. Wie verändern wir also unser Umfeld und die Gewohnheiten? Mit dem wiederholten Ausrufen von Zielen, wie „mehr Güter auf die Schiene“, „Deutschland wird digitaler Vorreiter“ oder „Deutschland wird Fahrradland“ wird erfahrungsgemäß noch kein Wandel angestoßen, obwohl ein öffentliches Commitment natürlich wichtig ist. Aber dann muss es auch weitergehen. Und die Zeit drängt: „Die Welt befindet sich bereits im Klimanotstand, und das Autoabhängige Verkehrssystem ist dafür ein fataler Treiber“, heißt es dazu als Fazit in unserem Buchtipp „Nachhaltige Mobilität für alle“ (S. 80). Zu wissen, wohin die Reise gehen soll, sei der erste notwendige Schritt. „Der nächste sollte sein, mit der Reise unverzüglich zu beginnen.“
Expertinnen, Politikerinnen und Verbände beschäftigen sich aktuell intensiv auf vielen Ebenen damit, die Rahmenbedingungen an die Herausforderungen der Zeit anzupassen. Reicht das? Letztlich kommt es wohl vor allem auch darauf an, die Menschen mitzunehmen und dabei auch diejenigen nicht zu vergessen, die dem erst einmal eher ablehnend gegenüberstehen. Denn sonst ist schnell das Tor geöffnet für Populisten, die gezielt auf die Ängste der Menschen setzen. Kommunikativ lässt sich eine Menge erreichen, wenn man kreativ ist und wirklich will. Viele werden sich noch an „Umparken im Kopf“ erinnern. Die groß angelegte und viel beachtete Kampagne ließ 2014 erst einmal den Absender offen und stellte sich auf eine sympathisch-humorige Art generell gegen Vorurteile und warb so für eine andere innere Einstellung. Dabei ging es weder um die Mobilitätswende noch um den Klimawandel, sondern „nur“ um einen Imagewandel bei der angestaubten Automarke Opel. Nach Brancheneinschätzung ein „Himmelfahrtskommando“, das die frisch ernannte Marketing-Chefin Tina Müller trotzdem mit Bravour und Jürgen Klopp als positiv-sympathisch Andersdenkendem glaubhaft löste. Das Rezept, aus der Not eine Tugend zu machen, ging voll auf. Lax formuliert: Wenn man es beim Opel-Image schafft umzudenken, dann sollte es doch auch bei der Mobilitätswende möglich sein mit dem Umparken im Kopf.

Oft vergessen oder ausgeblendet: Ältere, Frauen und Bürger*innen mit Migrationsgeschichte (2019: 26 %).

Die Zukunft und den Wandel umarmen

Wie bringt man auf den ersten Blick völlig unterschiedliche Bereiche wie Verkehr, Soziales, Gesundheit, Städteplanung und Umwelt-/Klimaschutz zusammen? Wie vermeidet man Endlos-Diskussionsschleifen und wie bringt man Menschen zu Verhaltensänderungen? Leadership-Experten empfehlen, die Zukunft und den Wandel zu „umarmen“, positive Bilder zu schaffen und den Menschen einen neuen Sinn, neudeutsch Purpose zu geben. „Einfach nur etwas im Kopf zu ändern, reicht nicht aus“, diagnostiziert auch die Psychologin Ines Imdahl, Mitgeschäftsführerin der auf qualitative Marktforschung, tiefenpsychologische Erkenntnisse und strategische Umsetzungen spezialisierten Agentur Rheingold-Salon. Es müsse eine Vision geben. „Wozu tun wir das? Was wollen wir bewegen?“ Das gelte universell, denn letztlich ginge es immer um die Menschen und ihre Bedürfnisse, und die seien aus dem Blickfeld geraten. „Nur wenn ich verstehe, was die Menschen davon haben, sich so zu verhalten, wie sie sich verhalten, kann ich überlegen, gibt es Alternativen? Wenn ich einfach nur sage, wir müssen das ändern, dann ist das ein Schritt zu schnell.“ Entscheidend sei die Frage nach dem Warum. Erst danach könne man sagen „wie kann ich das ändern und was sind die Hebel?“ Psychologisch gesehen sei es schlicht so, dass die Menschen zuallererst an sich dächten. Zentrale Motive seien Selbsterhalt und die Vergrößerung der eigenen Wichtigkeit. „Die enorme Kulturleistung, auch an die anderen zu denken, müssen wir tagtäglich neu leisten.“ Wichtig sei ein neuer Blick auf das große Ganze und eine Abkehr vom sogenannten Silo-Denken, also der Fixierung auf Teilausschnitte. Die Sinnfrage könne helfen, Zusammenhänge wiederherzustellen. Dazu komme eine andere wichtige Komponente: Spaß und Lustgewinn. „Es muss den Menschen Freude machen, sich anders zu verhalten. Sie müssen Spaß daran haben, die Perspektive des anderen einzunehmen, und das muss belohnt werden.“ Wichtig sei in diesem Zusammenhang auch das Thema Diversität, zum Beispiel mit Blick auf die unterschiedlichen Strategien und Denkmuster von Männern und Frauen. „Diversität hilft, andere Perspektiven einzunehmen und einen Zusammenhang herzustellen.“

„Wir müssen Männer, Frauen und Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten, mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und Erfahrungen ansprechen.“

Anna Weiß

Freude am Fahren

Lustgewinn ist also ein guter Antrieb, und so wundert es nicht, dass der Autohersteller BMW schon seit den 1970er-Jahren mit dem Motto „Freude am Fahren“ lockt. Auch die Politik hat in Deutschland viel dafür getan und tut es noch, damit der Spaß am Autofahren aktiv gefördert und möglichst wenig getrübt wird. Praktisch als gedankliches Grundrecht hat sich zudem das Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“ in vielen Köpfen etabliert, mit dem der ADAC über Jahrzehnte erfolgreich gegen ein generelles Tempolimit auf Autobahnen opponierte. Freude am Radfahren und freie Fahrt für Radfahrerinnen und Radfahrer, Junge, wie Alte, sucht man dagegen oft vergebens. Genauso erfolglos sucht man vielerorts auch nach Freude am entspannten Zufußgehen, nach der Freiheit für kleine Kinder, ungefährdet auf dem Bürgersteig Rad zu fahren, in einer ausgewiesenen „Spielstraße“ wirklich spielen zu können oder überhaupt ohne Auto mobil zu sein. Natürlich kann man in diesem Zusammenhang fragen, ob nicht die Infrastruktur grundsätzlich anders gestaltet und anders genutzt werden müsste, oder warum der in der Straßenverkehrsordnung angelegte Schutz der „Flüssigkeit des Verkehrs“ höher wiegt als die Sicherheit der Menschen. Und natürlich kann man auch fragen, ob nicht die Reduzierung der in den 1950er-Jahren eingeführten Regelgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts noch zeitgemäß ist, wenn wir doch wissen, dass sich seit 1970 sowohl der Fahrzeugbestand als auch die Fahrleistung verdreifacht hat, die Verkehrsteilnehmer immer älter werden und die Lebensqualität in den Quartieren bei geringerem Tempo deutlich zunimmt.

Typisch Mann – typisch Frau

Männlichkeit sei in unseren Gesellschaften historisch sehr stark mit Unverletzlichkeit verknüpft, sagt die Soziologin Sabine Hark. Sie zeichne sich nach wie vor auch durch ein Verhalten aus, das einschließt, sich selbst und andere Risiken auszusetzen, statt sie zu vermeiden. Mit Blick auf Raser und illegale Autorennen in der Stadt – es säßen immer Männer am Steuer. Frauen würden dagegen stärker dazu erzogen, die Bedürfnisse von anderen wahrzunehmen und in das eigene Verhaltensrepertoire einzubeziehen.

Perspektiven wechseln und out of the box denken

Wie schafft man es aus dem „Silo-Denken“ herauszukommen, Perspektiven von anderen mitzudenken und neue Ansichten zu entwickeln? „Man muss die Entscheidungsträger selbst die Stadt ‚erfahren‘ lassen, in einem geführten Rahmen“, sagt die Expertin für Design Thinking Anna Weiß, die in ihrer Arbeit immer den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Dabei sollten die Bedingungen so realitätsnah wie möglich sein. „Wie fühlt es sich an, auf dem Fahrrad unterwegs zu sein, und wie zu Fuß? Wie schaut es bei schlechtem Wetter aus, wie mit Gepäck oder in Begleitung von Kindern oder einem Hund?“ Für Perspektivwechsel sorgt sie als Veranstalterin von Workshops in den Alpen zum Beispiel, indem sie Mountainbiker*innen und Wandernde die Rollen tauschen lässt. Wie fühlt es sich für eine wandernde Familie an, wenn unvermittelt ein Mountainbike von hinten vorbeischießt und wie sieht die gleiche Situation aus Sicht des Mountainbikers aus? „Bitte Rücksicht nehmen, ist leicht gesagt, aber vielen sind die Probleme gar nicht bewusst.“ Ebenso wenig präsent sei bei Entscheidern und vor allem in der Kommunikation nach außen ein realistisches Bild der Menschen und Kundengruppen. „In den Medien abgebildet werden meist junge sportlich-schlanke Models, gerade bei den Frauen. Die Menschen in der Realität sind aber messbar nicht nur älter, sondern auch viel diverser, als wir es in den Medien der Touristiker, in Fachzeitschriften, Publikumsmedien aber auch von den Verbänden sehen.“
Mit dieser verschobenen Realitätswahrnehmung sei es auch nicht verwunderlich, dass viele Entscheider Ältere, Übergewichtige oder Menschen aus anderen Kulturen weder auf dem Schirm hätten noch ihre Bedürfnisse und Probleme nachempfinden könnten. In Outdoor-Workshops nutzt Anna Weiß gern sogenannte Adipositasanzüge zur konkreten Simulation von Fettleibigkeit. „Der Aha-Effekt, der damit entsteht, schlägt jede theoretische Wissensvermittlung um Längen.“ Einen noch größeren Effekt sieht sie im Hinblick auf die stark alternde Bevölkerung in der Nutzung von sogenannten Alterssimulationsanzügen, die unter anderem das Hör- und Sehvermögen, das Gesichtsfeld und die Beweglichkeit von Kopf, Rumpf und Armen einschränken und durch Gewichte selbst einfache Bewegungen deutlich anstrengender machen. „Man muss ganz klar sagen, dass es schon für normale Radfahrerinnen und Radfahrer echt gefährlich auf den Straßen ist“, stellt Anna Weiß fest. „Wie schaut es dann erst für Kinder und Alte aus?“ Die Infrastruktur für den Radverkehr sei im Gegensatz zur Autoinfrastruktur so eingerichtet, dass sie hohe Anforderungen an die Nutzer stellt. Das müssten wir komplett umdrehen. „Wir brauchen einen Rahmen, in dem sich auch Unerfahrene und Unsichere aufs Rad trauen, einen Rahmen der Fehler verzeiht und der den Menschen vor allem wieder den Spaß an der Bewegung neu vermittelt.“ Um mehr Menschen zu motivieren, aufs Rad umzusteigen müsse man konkret auf die Menschen zugehen, sie beobachten und befragen. „Wir müssen Männer, Frauen und Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten, mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und Erfahrungen ansprechen.“

„Wir brauchen mehr Frauen als Entscheiderinnen und vor allem muss die weibliche Perspektive stärker in Betracht gezogen werden.“

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan

Chancengleichheit für „weibliche“ Mobilität

Ein nach wie vor bestehendes Problem ist Analysen zufolge, dass Mobilität weiterhin vor allem aus männlicher Sicht gedacht wird. „Wenn wir echte Veränderungen wollen, dann müssen wir uns viel stärker als bislang mit den Bedürfnissen und spezifischen Sozialisierungen und Rollen von Männern und Frauen beschäftigen“, betont Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan, Geschäftsführerin des AEM Institute. Für Kommunen, Mobilitätsanbieter, Young Professionals und NGOs bietet sie Gender- und Accessibility-Beratung und unterstützt in der Umsetzung von gerechter und umweltfreundlicher Mobilität. „Es ist wichtig, das Thema Mobilität ganzheitlicher und diverser zu betrachten.“ Ein aktuelles Problem sei beispielsweise, dass das Denken stark technologisch geprägt ist. „Es wird weniger gefragt, welche Probleme haben wir und welche Lösungen gibt es dafür, sondern was ist technisch möglich und was könnte man damit machen?“ Letzteres sei der Technikfaszination von Männern ebenso geschuldet wie den Geldmitteln der Technologie-Fonds. Frauen hätten aus ihrer Sozialisation heraus dagegen ein ganz anderes Verständnis und andere Bedürfnisse. „Frauen wollen praktische und intuitiv bedienbare Produkte und Services.“ Viele Komponenten kämen in der männlichen Erlebniswelt gar nicht vor, deshalb hätten Entscheider sie oft auch nicht auf der Liste. Ganz oben: Sicherheit. Ein Begriff der im englischen Sprachraum deutlich differenzierter und treffender sei: Safety für körperliche Unversehrtheit und der oft zu wenig betrachtete Begriff Security – also die persönliche Sicherheit vor Angriffen. Zweites spiele im Alltag von Frauen eine besondere Rolle, zum Beispiel was bestimmte Routen, Orte oder besonderen Zeiten angeht, zum Beispiel mit Blick auf Haltestellen, Parkhäuser oder menschenleere Straßen. „Allgemein gilt: Mobilität und die dazugehörigen Verkehrsmittel, die Orte und die Infrastruktur dürfen nicht für Mutige gemacht sein.“ Umgekehrt dürften die Mutigen (sozialisationsbedingt meist Männer) ihr Umfeld nicht beeinträchtigen und für Angst sorgen. „Wichtig ist ein gesamtgesellschaftliches Umdenken.“
Handlungsbedarf gibt es aber noch in vielen anderen Feldern. Das fange schon bei Umfragen und Statistiken wie der Auswertung „Mobilität in Deutschland“ an, bei denen beispielsweise Berufspendler priorisiert würden. Besonders auffällig sei das Missverhältnis zeitweise beim Thema Elektromobilität. „Umfragen müssen ja nicht zwangsweise repräsentativ sein, aber was soll man bei einem Männeranteil von 96 Prozent erwarten?“
Ein Thema, das bei Untersuchungen zudem vielfach ausgeblendet werde, sind kulturelle Unterschiede und Besonderheiten, auch im Hinblick auf die hohe Zahl der Bürger mit Migrationsgeschichte. „In einigen Kulturen gilt der Fahrradsattel zwischen den Beinen einer Frau als unschicklich und für Männer ist Radfahren Ausdruck eines niedrigen sozialen Status.“ Solche Vorurteile könne man mit gezielten Maßnahmen aber aufbrechen. Ein großes Problem sei weiterhin auch die Infrastruktur. „Frauenmobilität ist meist Alltagsmobilität. Das wird vielfach weder gesehen noch gemessen.“ Geschlechtsspezifische Studien aus San Francisco hätten beispielsweise gezeigt, dass sich die Zahl der Radfahrerinnen durch die Verbesserung der Infrastruktur verdoppelte. Wie kann die Situation künftig insgesamt besser werden? „Wir brauchen eine Chancengleichheit auf einer gemeinsamen Ebene. Wir müssen die Unterschiede adressieren. Wir brauchen mehr Frauen als Entscheiderinnen und vor allem muss die weibliche Perspektive stärker in Betracht gezogen werden.“
Es lohnt sich also, Neues zu denken. Positive Beispiele, die inspirieren und motivieren, gibt es reichlich. So, wie der elektrische Anlasser die automobile Revolution möglich gemacht hat, schicken sich heute vor allem leistungsfähige Akkus, Elektromotoren und Apps an, den Markt mit neuen Mobilitätsformen zu revolutionieren. Ein entscheidendes Kriterium: die Angemessenheit. Die Produkte, Konzepte und Best-Practice-Lösungen sind längst da und es macht Spaß, sich damit zu beschäftigen und sie auszuprobieren, wann immer sich die Gelegenheit bietet.

Problem: rapide wachsende Zahl älterer Menschen

Der Anteil der über 65-Jährigen liegt hierzulande laut Statista in diesem Jahr bei 23,1 %. 2030 sind es aufgrund der geburtenstarken Jahrgänge bereits 27,8% und 2034 dann 30 %. Ältere sind als Verkehrsteilnehmer besonders gefährdet, einen tödlichen Unfall zu erleiden. Vor allem in Innenstädten und hier zu Fuß oder mit dem Fahrrad. 2019 starben rund 43 % der innerorts im Verkehr getöteten Menschen über 65 Jahren als Fußgänger*innen. Ein Hauptgrund: die altersbedingte Schwierigkeit, das Tempo von Fahrzeugen und Lücken im Verkehr richtig einzuschätzen. Der Anteil der tödlichen Unfälle per Fahrrad/Pedelec betrug hier 32,5 %. In Frankreich werden die Themen Mobilität bzw. Mobilitätsarmut im Alter inzwischen ganzheitlich als Querschnittsfunktion betrachtet. „Das Fehlen oder die fehlende Eignung des Mobilitätsangebots kann ein ‚soziales Sterben‘ älterer Menschen bewirken“, sagt die Interministerielle Delegierte für Verkehrssicherheit, Maria Gautier-Melleray.

Quellen: Statista, DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2021


Bilder: stock.adobe.com – j-mel, www.brompton.de – pd-f, stock.adobe.com – Halfpoint – JustLife, Anna Weiß, Ines Kawgan-Kagan, DEKRA Verkehrssicherheitsreport © DEKRA

Wie nachhaltig und aktiv Menschen tagsüber unterwegs sind, entscheidet sich meist morgens mit dem Schritt vor die Haustür. Städte und Kommunen haben viele Hebel, um die Entscheidung pro Fahrrad, ÖPNV oder Sharing zu beeinflussen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Der einfache Zugang zu umweltfreundlichen Verkehrsmitteln am Wohnort, die Verknüpfung der alternativen Angebote und eine gute In-frastruktur sind der zentrale Hebel, um nachhaltige Mobilität zu fördern. Dabei kommt es auf die Qualität der Angebote und den richtigen Mix entsprechend dem Bedarf vor Ort an. Teilen statt besitzen und Mobility as a Service (MaaS), also der Ansatz, Transport mit eigenen Fahrzeugen durch ein auf den jeweiligen Bedarf abgestimmtes Angebot an Mobilitätsdiensten zu ersetzen, eröffnen heute völlig neue Optionen. Gerade Städte und Kommunen haben vielfältige Push & Pull-Optionen und Fördermöglichkeiten.

„Unser Konzept mit zwei E-Sharing-Wagen und zwei Sigo-Lastenrädern hat uns den Bau der Stellplätze erspart“

Wolf-Bodo Friers, Vorstandsvorsitzender der Baugenossenschaft

(E-)Lastenräder im Viertel oder vom Vermieter

Der einfache Zugang zu umweltfreundlichen Verkehrsmitteln am Wohnort gilt als zentraler Hebel, um nachhaltige Mobilität zu fördern. Gerade die inzwischen technisch weitgehend ausgereiften motorunterstützten Lastenräder entwickeln sich dabei immer mehr zu einem begehrten Autoersatz. Allerdings ist es bei ihnen ähnlich wie mit dem eigenen Pkw: Für manche sind sie ein tägliches Mobilitätstool, für die meisten anderen eine willkommene Ergänzung, zum Beispiel für den Großeinkauf, die Fahrt zum Baumarkt oder einen Ausflug mit Kind, Kegel oder Hund. Sie sind wichtig und nützlich, aber viele brauchen sie relativ selten. Was als Lösung auf der Hand liegt, sind Sharing-Lastenräder, die sich nah am Wohnort ausleihen und idealerweise auch vorab buchen lassen. Schon seit Jahren gibt es sogenannte Freie Lastenräder. Hinter der 2013 in Köln entstandenen und unter anderem mit dem Deutschen Fahrradpreis ausgezeichneten Idee, die Mobilität in der Stadt ehrenamtlich mit kostenfreien Lastenrädern zu verbessern, stehen inzwischen rund 130 Graswurzelinitiativen, die über 400 Lastenräder zur nachbarschaftlichen Nutzung zur Verfügung stellen.
Auf der kommerziellen Seite ergänzen inzwischen auch Bikesharing-Anbieter in Norderstedt, Hamburg und Darmstadt sowie MaaS-Anbieter wie der E-Scooter-Verleiher Voi ihre Flotten durch E-Cargobikes. Regional haben sich in dem noch jungen Wachstumsmarkt verschiedene Anbieter mit unterschiedlichen Modellen etabliert, wie carvelo2go in der Schweiz, cargoroo in den Niederlanden und Donk-EE in Köln. Neu mit einem automatischen E-Cargobike-Verleihsystem auf dem Markt ist das Unternehmen Sigo. Das Darmstädter Start-up hat ein Lastenrad-Sharing-Konzept entwickelt für Kommunen, Stadtwerke, ÖPNV-Betreiber oder Wohnungsgenossenschaften. Sie bieten ein Komplettpaket an mit modernen E-Lastenrädern, einer vollautomatischen induktiven Ladestation sowie einer App für die Buchung und die Abrechnung. Sigo- Lastenrad-Stationen gibt es inzwischen in zwölf Städten. Das Unternehmen installiert die Stationen und übernimmt auch die Wartung der E-Cargobikes.
Ein Beispiel ist die „Baugenossenschaft Langen“. Sie hat im Sommer 2020 ihre erste Sigo-Ladestation in der 40.000-Einwohner-Stadt im hessischen Langen umgesetzt. Zuvor hatte die Genossenschaft eines ihrer Hochhäuser mit über 105 Wohnungen klimafreundlich saniert. Dabei wurde festgestellt, dass laut Stellplatzordnung 27 Stellplätze fehlten. Um den Bau einer Parkpalette mit zwei Etagen zu verhindern, hat die Baugenossenschaft ein Mobilitätskonzept erstellt. „Unser Konzept mit zwei E-Sharing-Wagen und zwei Sigo-E-Cargobikes hat uns den Bau der Stellplätze erspart“, sagt Wolf-Bodo Friers, Vorstandsvorsitzender der Baugenossenschaft. Das neue Sharing-Angebot steht sowohl den Mietern des sanierten Hochhauses zur Verfügung als auch den übrigen Bewohnern des Stadtteils. Die Installation war einfach. Für die Ladestation wurden lediglich ein Fundament und ein 230-Volt-Anschluss benötigt. Die beiden Transporträder werden automatisch in den Ladestationen verriegelt. Für die Ausleihe brauchen die Kundinnen und Kunden nach der Anmeldung nur die Sigo-App. Sobald das Cargobike in der Station steht, wird der Akku kontaktlos über eine Induktionsplatte geladen.

Flexibel leihen, statt besitzen. Cargobikes sind eine gute Ergänzung. Ideal für den Einkauf, Kinder- oder Hundetransport, Ausflüge ins Grüne mit großem Gepäck oder auch für Unternehmen.

Städte und Kommunen als Vermittler

Städte und Kommunen können mit unterschiedlichen Angeboten den Einsatz von Lastenrädern vor Ort fördern. Im vergangenen Jahr hat die Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundlicher Kommunen (AGFK) in Baden-Württemberg eine Cargobike-Road-show für 14 Kommunen gebucht. Der Hintergrund ist, dass die Transporträder mit und ohne Motor immer noch eine relativ junge Fahrzeuggattung sind und potenzielle Nutzer, Käufer oder Multiplikatoren vor Ort eine ausführliche Beratung und Fahrtests im direkten Vergleich benötigen. Das Roadshow-Konzept entwickelt und umgesetzt haben die beiden Cargobike-Experten Arne Behrensen (cargo bike.jetzt) und Wasilis von Rauch (Bundesverband Zukunft Fahrrad, BVZF). Zweimal im Jahr sind sie mit zwölf Rädern unterwegs und stellen in AGFK-Mitgliedskommunen auf zentralen Plätzen die verschiedenen Modelle vor, beraten Interessierte und lassen die Fahrzeuge ausgiebig testen. Neben Privatleuten können auch viele Unternehmen von E-Cargobikes in ihrem Fuhrpark mit Blick auf Flexibilität, Kostenersparnis und Nachhaltigkeit profitieren. Es gibt also noch viel zu tun für die Länder, Kommunen und örtlichen IHKs.

Welche Angebote gibt es eigentlich auf dem noch jungen Cargobike-Markt? Und welches ist das geeignete Modell? Die von der AGFK in Baden-Württemberg initiierte Cargobike-Roadshow gibt Antworten.

Poller als modale Filter, wie links in Hamburg, sind nicht schön, aber zweckmäßig. Noch besser geht es mit mobilen Bäumen und Bänken, mit denen Kreuzungen zu klimafreundlichen beruhigten Aufenthaltszonen werden.

Ruhigere Straßen durch modale Filter

Wesentlich für Lebensqualität vor Ort und die Wahl des Verkehrsmittels sind auch die Gegebenheiten und die In-frastruktur. In Wohngebieten leiden Fußgänger und Radfahrer oft unter zu viel und zu schnellem Autoverkehr. Das gilt sowohl für Kleinstädte wie für Großstädte. Eine relativ einfache, aber effektive Lösung, um den ungewollten Autoverkehr zu reduzieren oder komplett auszusperren, sind sogenannte modale Filter. Dazu gehören Poller, Blumenkübel, aber auch Verkehrsschilder für Einbahnstraßen. Die Idee dahinter ist, einzelne Straßen oder Wohnviertel gezielt zu beruhigen. Hochbeete und Pflanzkübel werden so platziert, dass die Straße oder der Platz für zu Fuß Gehende und Radfahrende gut passierbar bleibt, Autos aber nicht durchkommen. Für sie wird die Straße durch das Hindernis zur Sackgasse beziehungweise sie werden auf einen Umweg geleitet. Werden Blumenkübel nur am Seitenrand aufgestellt, bremsen sie den Autoverkehr durch die verringerte Fahrbahnbreite ab. Das bietet sich an, wenn beispielsweise Busse und Rettungsdienste Nebenstraßen passieren sollen. Autofahrende, die Nebenstrecken ansonsten gerne im Alltag als Abkürzung nutzen, werden durch das verringerte Tempo oder die erfolgte Umleitung erfolgreich abgeschreckt. Mithilfe der Modalen Filter können aber auch kleinräumige Fußgängerzonen in Stadtvierteln angelegt werden. Das lohnt sich beispielsweise vor Schulen oder öffentlichen Einrichtungen wie Schwimmbädern, Marktplätzen oder Theatern. Die Verkehrsberuhigung wertet diese Orte häufig auf. In Wien ist auf diese Weise zum Beispiel vor einer Schule eine große Fläche für Roller- und Radfahrende entstanden. Manchmal wird der Abschnitt auch in einen sogenannten Pocket Park verwandelt. Das sind Miniatur-Grünflächen zwischen dicht gebauten Häusern.

„Gute Park&Ride- und Bike+Ride-Anlagen sind ein Schlüsselelement, um den Autoverkehr aus der Stadt herauszuhalten“

Martin Niebendahl, Radverkehrskoordinator der Region Hannover

Anreiz für Umsteiger: Bike+Ride-Anlagen im Umland

„Gute Park+Ride- und Bike+Ride-Anlagen sind ein Schlüsselelement, um den Autoverkehr aus der Stadt herauszuhalten“, sagt Martin Niebendahl, Radverkehrskoordinator der Region Hannover. Damit potenzielle Fahrradpendler und -pendlerinnen tatsächlich umsteigen, sollten die Bike+Ride-Anlagen im Umland strategisch platziert werden und modernen Sicherheits- und Qualitätsstandards entsprechen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts hat die Region Hannover eine moderne Bike+Ride-Abstellanlage entwickelt und im vergangenen Jahr an zwei Haltestellen entlang einer Schnellbuslinie im Umland aufgestellt. In Langenhagen (33.000 Einwohner) nördlich von Hannover und in Pattensen (13.000 Einwohner) 15 Kilometer südlich der Landeshauptstadt wurden jeweils für rund 150 Fahrräder überdachte abschließbare Garagen mit Doppelstockparkern und einigen Bügelstellplätzen für Lastenräder, Anhänger und Liegeräder gebaut. Außerdem gibt es vor Ort Schließfächer und fest installierte Luftpumpen. Die beiden Anlagen sind Pilotprojekte für die weiteren Anlagen, die in den kommenden Jahren entstehen sollen. 1,5 Millionen Euro investiert die Region Hannover jährlich für ihre Bike+Ride-Offensive an Haltestellen im Umland. An einigen Bus- und Bahn-Haltestellen sollen erstmals Stellplätze für Fahrräder entstehen oder die vorhandenen Anlagen deutlich verbessert werden. „Ein Kernpunkt der Anlagen ist das digitale Zugangssystem“, so Martin Niebendahl. Die Türen werden über eine Karte oder per App geöffnet. Damit will die Region Hannover den Kommunen Arbeit ersparen. Die Region baut zwar die Anlagen, aber die Kommunen betreiben sie anschließend. Die Digitalisierung soll Vorgänge wie die Schlüsselvergabe oder die Prüfung der Monatskarte ersetzen.

Umsteigen leicht gemacht. B+R-Anlagen sind praktisch und bringen Bahn und ÖPNV mehr Kunden.

Carsharing mit Dienstwagen im ländlichen Raum

Carsharing ist in kleinen Städten und in ländlichen Kommunen oft unrentabel, weil die meisten dort sowieso einen eigenen Wagen besitzen. Der Mitinhaber der Mobilitätsberatung EcoLibro, Michael Schramek, will dort trotzdem das Teilen von Autos eta-blieren, vor allem, um den Kauf von Zweit- und Drittwagen zu reduzieren. Deshalb hat er 2016 mit anderen Experten „Regiomobil“ gegründet. und verschiedene Modelle für den ländlichen Raum entwickelt. Eins wird bereits im Rahmen des Pilotprojekts „Betriebliches Mobilitätsmanagement im Schwalm-Eder-Kreis“ umgesetzt.
Seit rund zwei Jahren teilen sich die Mitarbeitenden der Stadtverwaltung Homberg, der dortigen Kreisverwaltung, der Kreissparkasse des Schwalm-Eder-Kreises sowie der KBG Kraftstrom-Bezugsgenossenschaft Homberg ihre Dienstwagen. Momentan sind sieben Autos des Carsharing-Anbieters Regio.Mobil im Einsatz. Einige werden abends von Mitarbeitenden der Kreisverwaltung in die benachbarten Kleinstädte wie Treysa (ca. 8.700 Einwohner) und Malsfeld (ca. 4.000 Einwohner) gefahren, wo sie das bestehende Carsharing-Angebot ergänzen oder die ersten Carsharing-Fahrzeuge vor Ort sind. Am Wohnort und am Arbeitsplatz stehen die Carsharing-Dienstwagen an festen Stationen, wo sie außerhalb der Arbeitszeiten von jedermann gebucht werden können. Die Mitarbeitenden, die mit den Dienstfahrzeugen unterwegs sind, benötigen für den Arbeitsweg keinen eigenen Pkw mehr. Eine Mitarbeiterin hat bereits ihren Privatwagen verkauft. Das Angebot kommt gut an und soll ausgeweitet werden.
In Thüringen sind außerdem elf Fahrgemeinschaften mit rund 80 Personen unterwegs, die Schrameks Modell des „pulsierendes Carsharing“ nutzen. Dort stellt Regio.Mobil den Unternehmen 7- oder 9-Sitzer-Autos zum Teilen für den Arbeitsweg zur Verfügung. Die Mitarbeiter „mieten“ dabei lediglich einen Sitzplatz im Fahrgemeinschaftsbus. „Der Betrag ist deutlich günstiger als die Nutzung eines eigenen Pkw“, sagt Schramek. Während der Arbeitszeit stehen die Fahrzeuge dem eigenen Unternehmen oder auch den umliegenden Firmen zur Verfügung. Abends oder am Wochenende werden die Mehrsitzer unter anderem von Vereinen für gemeinsame Fahrten genutzt. Von dem Angebot profitieren die Partner und Privatpersonen. Die Unternehmen und Verwaltungen senken ihre CO2– Bilanz, insbesondere, wenn ihre Mitarbeitenden Fahrgemeinschaften bilden. Außerdem senken sie ihre Fuhrparkkosten durch die Privatnutzung abends und am Wochenende.

Fazit: gute Lösungen sind da

Die eine Lösung, die für jede Kommune passt, gibt es nicht. Aber die Ansätze und Angebote sind mittlerweile so vielseitig, dass selbst kleinere oder ländliche Kommunen Lösungen finden, um den Menschen vor Ort nachhaltige Mobilität leichter zu machen. Für viele Projekte gibt es zudem momentan finanzielle Unterstützung vom Bundesverkehrsministerium.

Tink: So funktioniert Sharing mit Lastenrädern

Wo sind die besten Stellplätze für Cargobikes im Sharing in einer Stadt und wie schützt man die Räder vor Vandalismus? Antworten auf diese und viele weitere Fragen kennt die Transportrad Initiative nachhaltiger Kommunen (Tink) und gibt sie gerne weiter. Seit 2015 sammelt das Tink-Team um Marco Walter und Dr. Friederike Wagner Erfahrungen mit kommunalen Mietradsystemen für Lastenräder. In Norderstedt sind inzwischen 39 Tink-Lastenräder mit und ohne Motorunterstützung im Verleih und in Konstanz am Bodensee 26 Räder. Am Bodensee kommt das Angebot besonders gut an. Dort ersetzt die Hälfte der Nutzer*innen Autofahrten mit den Transporträdern. Deshalb soll ihre Zahl 2022 auf 70 aufgestockt werden. Die Förderanträge laufen noch. Mittlerweile berät das Tink-Team Kommunen beim Aufbau von Mietsystem für Lastenräder, entwickelt für sie passgenaue Sharing-Konzepte und unterstützt beim Erstellen von Förderanträgen. Die Informationen haben sie in einem Ratgeber für Kommunen zusammengefasst. Die Infobroschüre kann auf der Tink-Webseite bestellt werden: www.tink.bike


Bilder: Martin Randelhoff, Cargobike Roadshow – Katja Täubert, Cargobike Roadshow – Andreas Lörcher, Region Hannover – Ines Schiermann, Philipp Böhme, Ajuntament de Barcelona

Im Zuge der Klima- und Verkehrswende muss auch die Zustellung von Waren und Paketen neu geregelt und auch auf Lastenräder verteilt werden. Pilotprojekte und Vorschläge aus der Branche gibt es genug, doch bislang scheitern sie meist an den Widerständen der Entscheider. Im Ausland ist man bereits weiter. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Es ist eng in den Innenstädten und es wird immer enger. Jedes Jahr wächst die Flotte der Privatwagen um 500.000 bis 700.000 Fahrzeuge. Der Anteil der Kurier-, Express- und Paketdienste (KEP) ist mit rund sechs Prozent am Gesamtverkehr in den Städten relativ gering. Trotzdem geraten die Zusteller zunehmend in die Kritik. Kein Wunder. Sie fallen auf, wenn sie in zweiter Reihe parken oder in schmalen Straßen die Wege versperren. Im Rahmen der Mobilitätswende sollen auch ihre Wege in der Stadt klimafreundlicher werden. Die Logistikexperten haben dafür eine Vielzahl von Konzepten in der Schublade. Ihre Vorschläge scheitern oft an den Entscheidern in den Städten, die keine Flächen zur Verfügung stellen oder in der Pilotprojektphase stecken bleiben. Einige Städte im Ausland sind deutlich weiter. Sie haben den Privat- und den Wirtschaftsverkehr längst neu geordnet.

Erfolgreiche Konzepte in Gent

Wie so etwas aussehen kann, macht die belgische Stadt Gent vor. Dort wurde 2017 ein ehrgeiziger Mobilitätsplan umgesetzt. Der sogenannte Circulatieplan (Umlauf oder Zirkulationsplan) sperrt den Autoverkehr aus einem Teil der Innenstadt aus. In die angrenzenden sechs Quartiere können Autos zwar weiterhin hineinfahren, aber nicht mehr in die Nachbarquartiere wechseln. Die Verbindungsstraßen sind nur noch frei für Radfahrer, Fußgänger, Busse, Handwerker und bestimmte Dienstleister. Autofahrer, die von einem Viertel ins andere wechseln wollen, müssen einen Umweg über die Ringstraße in Kauf nehmen. Mit dem „Circulatieplan“ wurde auch die Innenstadtlogistik neu geordnet. Bis elf Uhr morgens können die Zusteller ihre Waren in der Innenstadt selbst abliefern. Wer später in die Stadt muss, nutzt dafür die städtische Vertriebsplattform GentLevert (Gent liefert). Verschiedene Transport- und Logistikdienstleister für Straße, Schiene und Wasser liefern als Partner der Stadt rund um die Uhr Trocken- und Kühlwaren an die Gastronomie, Händler und Privatpersonen im Zentrum. Dafür werden die Waren, Pakete und Lebensmittel zunächst in Depots und Lagerhallen am Stadtrand gebracht, vorsortiert und dann multimodal und nachhaltig per Lastenrad, E-Transporter oder Schiff zum Bestimmungsort transportiert. Um die Zustellung weiter zu optimieren, testen die GentLevert-Partner zudem neue Zustellkonzepte. Beispielsweise wurden die Baumaterialien für eine neue Turnhalle per Schiff angeliefert, um die Straßen und die Anwohner entlasten.

„Hinter jeder Wohnungstür befindet sich inzwischen ein Einkaufscenter.“

Carsten Hansen, Bundesverband Paket & Expresslogistik (BIEK)

Lieferverkehr und Paketaufkommen steigen drastisch

Wie in Gent sind auch in vielen deutschen Städten und Quartieren die Straßen für den hohen Durchgangsverkehr und die vielen Pendlerverkehre nicht gemacht. Gerade zu den Stoßzeiten haben sie ihr Limit längst erreicht. Ein großes Problem ist, dass neben immer mehr fahrenden und parkenden Pkws auch immer mehr Lieferdienste und KEP-Dienstleister (Kurier-, Express- und Paketdienste) unterwegs sind. Der Online-Handel ist beliebter denn je und die Zahl der Zustellungen steigt enorm weiter. „Hinter jeder Wohnungstür befindet sich inzwischen ein Einkaufscenter und die Leute kaufen ein“, sagt Carsten Hansen, Leiter Grundsatzfragen/ Innenstadtlogistik beim Bundesverband Paket & Expresslogistik (BIEK). Seit 2000 hat sich die Menge von KEP-Sendungen von 1,69 Milliarden auf 3,65 Milliarden Sendungen im Jahr 2019 mehr als verdoppelt. Die Corona-Pandemie hat diesen Trend noch einmal beschleunigt. Allein im ersten Halbjahr 2020 ist das Sendungsvolumen laut einer Marktanalyse im Auftrag des BIEK um 7,4 Prozent gestiegen. Das sind täglich über 800.000 Sendungen mehr als im Vorjahr. Die Prognose für das gesamte Jahr 2020 ist noch deutlich höher und Experten gehen inzwischen davon aus, dass sich die mit der Pandemie deutlich beschleunigte Entwicklung weiter fortsetzen wird.

Hubs und nachhaltige Fahrzeugflotten für das drastisch steigende Transportaufkommen.
Ein Konzept, das funktioniert: In der Mariahilferstraße hat die Stadt Wien großzügige Ladezonen eingerichtet. Die Parkraumüberwachung kontrolliert hier regelmäßig.

Gewerbliche Ladezonen fehlen

Die zunehmenden Paket- und Warenlieferungen in der Innenstadt sehen Planer und Politiker oft als Problem an. Wenn Fahrzeuge in zweiter Reihe parken oder Rad- und Gehwege zustellen, sind beispielsweise Radfahrer gefährdet, wenn sie beim Umfahren die Spur wechseln. Die Logistikexperten haben dafür eine Vielzahl von Lösungen entwickelt. Eine einfache und schnelle Möglichkeit sind ausreichende gewerbliche Ladezonen für Zusteller und andere Lieferfahrzeuge. In der Stadt- und Verkehrsplanung wurden sie allerdings lange Zeit nicht mitgedacht oder nicht an den aktuellen Bedarf angepasst. Wien macht vor, dass Ladezonen selbst in autofreien Zonen gut funktionieren. Ein Beispiel ist die Mariahilferstraße. Lange Zeit war der rund 1,8 Kilometer lange Abschnitt der beliebten Einkaufsstraße die Hauptverkehrsader für Autofahrerinnen vom Westbahnhof in die Innenstadt. Links und rechts neben der zweispurigen Fahrbahn reihten sich parkende Pkw Stoßstange an Stoßstange. Die Fußgänger drängelten sich auf viel zu schmalen Gehwegen aneinander vorbei. 2015 wurde die Straße umgebaut. Seitdem sind hier alle gleichberechtigt – Auto-, Rad- und Rollerfahrer und die Fußgänger. Die großzügigen Ladezonen, die es in regelmäßigen Abständen auf beiden Seiten der Begegnungszone nun gibt, dürfen die Lieferdienste rund um die Uhr nutzen. „Die Lieferzonen werden durch die Parkraumüberwachung kontrolliert“, sagt eine Sprecherin der Stadt. Die regelmäßigen Stippvisiten zeigen: Die Ladezonen sind bis auf die Zeiten der Zustellung in der Regel frei. In Deutschland ist das anders. Hier sind die bestehenden Ladezonen auch für nicht-gewerbliche Ladetätigkeiten offen und werden so immer wieder von Falschparkern versperrt. Der Bundesverband hat deshalb vorgeschlagen, rein gewerbliche Ladezonen einzuführen und diese durch ein neues Verkehrszeichen für Privatwagen zum absoluten Halteverbot zu erklären. „Das Halteverbot kann zeitlich begrenzt sein“, sagt Hansen. Außerhalb der Zustellzeiten kann die Fläche dann von allen Verkehrsteilnehmern genutzt werden. Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) hat das schon vor Jahren vorgeschlagen. Im Zuge der Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) hat der BIEK den Vorschlag eingereicht, aber das Bundesverkehrsministerium hat ihn abgelehnt.

„Der Fahrradzusteller schafft dieselbe Menge an Paketen wie der Zusteller mit dem Transporter.“

Rainer Kiehl, Projektmanager City Logistik UPS

Politik und Planer gefordert: Logistiker brauchen Flächen für Mikro-Depots als Zwischenlager für die Feinverteilung.

Förderung von Mikro-Depots notwendig

Eine Alternative zum rollenden Transporter als Depot sind stationäre Mikro-Depots. Das können Lagerräume sein oder Container, die morgens in einem Parkhaus, einer Tiefgarage oder auf einem Parkplatz in der Stadt abgestellt werden. Von dort beginnt dann die Feinverteilung der Pakete etwa mit Sackkarre oder E-Lastenrädern. Pionier der Branche ist UPS. Rainer Kiehl, Projektmanager der Abteilung City Logistik bei UPS, startete 2012 in Hamburgs schicker Flaniermeile zwischen Rathaus und Alster das erste Lastenradprojekt. Die Grundstückseigentümer hatten ihn damals um Hilfe gebeten, weil immer mehr Zusteller mit ihren Transportern die Gehwege versperrten oder in zweiter Reihe parkten. Das minderte das Kaufvergnügen. Um das Quartier zu verschönern und aufzuwerten, sollte Kiehl den Lieferverkehr reduzieren. Das hat geklappt. UPS stellte morgens vor zehn Uhr in einer Sackgasse auf ehemaligen Parkplätzen einen Lkw-Container als sogenanntes Mikro-Depot ab. Von dort brachten die Zusteller die Ware zu Fuß oder per Rad zum Kunden. „Der Fahrradzusteller schafft dieselbe Menge an Paketen wie der Zusteller mit dem Transporter“, sagt Rainer Kiehl. Das funktionierte bis vor ein paar Monaten. Da hat die Stadt die Sondergenehmigungen ohne Vorankündigungen und Begründungen gekündigt. Auf Nachfrage hat die Behörde für Wirtschaft und Innovation bis Redaktionsschluss nicht reagiert. Inzwischen hat Kiehl zwar Ausweichflächen in Parkhäusern gefunden, trotzdem ist die Kündigung für ihn ein herber Rückschlag. Mehr noch: Sie gefährdet das Konzept als Ganzes. Denn wenn ein eta-bliertes System wie in Hamburg ohne Begründung aufgekündigt werde, zögerten die Entscheider in den Logistikunternehmen, weitere Mikro-Depots einzurichten, sagt der Projektmanager, „einfach, weil ihnen die Planungssicherheit fehlt“. In 30 Städten gibt es bundesweit inzwischen Mikro-Depots von UPS. Viele weitere Städte würden das Modell gern kopieren, aber die Umsetzung scheitert immer wieder am Platz. „Es fehlen Stellflächen im öffentlichen Raum“, sagt Kiehl.
Dem Projektmanager fehlt eine klare Strategie von den Entscheidern, wie die Logistik in ihrer Stadt langfristig nachhaltig organisiert werden soll. Der Beweis, dass Mikro-Depots funktionieren, sei längst erbracht. In Berlin haben 2018 acht KEP-Dienstleister die gemeinsame Nutzung eines Mikro-Depots getestet. Ihr Fazit nach einem Jahr: Es hat sich bewährt. Ein Jahr später hat das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) eine Studie dazu vorgelegt. Die Wissenschaftlerinnen haben in den Städten Mönchengladbach, Neuss und Krefeld untersucht, ob Mikro-Depots Sinn machen und wie sie aussehen müssten, um den Lkw-Verkehr und die Emissionen in der Stadt zu reduzieren. Das Ergebnis: Mikro-Depots funktionieren. Ihre Erkenntnisse, die Leitlinien und Rahmenbedingungen zum Aufbau von Depots haben sie in einem Handbuch für Kommunen festgehalten. Trotz aller Untersuchungen und positiven Ergebnisse bleibt es bislang aber bei Pilotprojekten. In Berlin startete im Herbst ein weiteres am Tempelhofer Damm, in Dortmund eins in der City am Ostwall und Hamburg eröffnete ein Reallabor für die Warenlogistik per Lastenrad. Kiehl organisiert seit zehn Jahren Mikro-Depots für UPS und meint „jetzt muss es in die Umsetzung gehen“. Weitere Pilotprojekte brauche es nicht. Was es vielmehr brauche, sei ein bundesweit gültiger Leitfaden zur Citylogistik der Zukunft, der auf nationaler Ebene von den Entscheiderinnen sowie den Expert*innen aus der Verwaltung und der Logistik gemeinsam entwickeln wird.

30 Prozent der Waren auf die Räder

Der Anteil der Waren, die vom Laster aufs Lastenrad verlagert werden können, ist groß. 2016 berechneten Forscher der Abteilung Verkehr vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in einer Studie, dass bis zu 23 Prozent der Sendungen per Cargobike zum Kunden gebracht werden können. Das Bundesverkehrsministerium geht im Nationalen Radverkehrsplan 3.0 sogar von 30 Prozent aus. Neben der Kombination von verschiedenen Systemen spielt allerdings auch die ständige Weiterentwicklung der Transporträder eine Rolle. Ihre Boxen und Container haben inzwischen ein Fassungsvermögen von bis zu zwei Kubikmeter. Mit speziellen Anhängern können die Fahrer*innen das Volumen auf vier Kubikmeter erweitern. Zudem macht die Standardisierung der Container auf Europalettenbreite die Kombination mit Transportern und anderen Verkehrsmitteln leicht möglich.

Logistik neu denken

Neben einer platzsparenden und klimafreundlichen Zustellung geht es den KEP-Dienstleistern auch stets darum, sogenannte Mehrfachzustellungen zu vermeiden. „Dafür muss man Logistik neu denken“, sagt Hansen. Die Zustellung kann ganz unterschiedlich aussehen: Privatempfänger können ihre Bestellungen in Paketshops, am Arbeitsplatz oder an Paketstationen in Empfang nehmen. Einen neuen Service hat Hamburg 2020 zusammen mit der Deutschen Bahn eingerichtet. Die „Hamburg Box“ bietet jeweils 100 Fächer an 22 S-, RE- und U-Bahnhöfen. Alle Paketdienste, Händler und Unternehmen können die Stationen nutzen und ihre Waren in die Boxen liefern. „Der kontinuierliche Anstieg der Sendungen in den letzten Monaten deutet darauf hin, dass offene Abholstationen an ÖPNV-Standorten einen wichtigen Beitrag zu einer effizienteren und nachhaltigeren logistischen letzten Meile leisten können“, sagt dazu eine Sprecherin der Bahn.
Ein großes Problem ist bislang, dass die Logistik bislang weder bei der Verkehrs- noch bei der Bauplanung von Straßen und Quartieren mitgedacht wurde. Das müsse sich aus der Sicht von Hansen dringend ändern. „Bei der Planung von Neubauquartieren können Flächen für logistische Zwecke von Beginn an berücksichtigt, beziehungsweise für Mehrfachnutzungen vorgesehen werden“, sagt Hansen. Sein Verband plädiert dafür, die Logistik ins Baugesetz zu integrieren.

Attraktivitätsgewinn für den ÖV: An 22 Bahnstationen gibt es die „Hamburg Box“.

Warenzustellung über Tunnelsysteme und Trams?

Manche Logistikexperten wollen die Warenzustellung in den Untergrund verlegen. In Hamburg soll die Idee Smart City Loop getestet werden. Dahinter verbirgt sich ein Tunnel, der vier Meter unter der Elbe den Stadtteil Hamburg Wilhelmsburg auf der linken Elbseite mit Altona auf der rechten Elbseite verbindet. Durch unterirdische Röhren sollen die Waren auf Paletten die fünf Kilometer lange Strecke in Minutenschnelle passieren. 1500 Lastwagen könnten auf diesem Weg im Zentrum eingespart werden und 21 Tonnen CO2. Das haben die Experten der Smart City Loop GmbH herausgefunden, die die Machbarkeitsstudie erstellt haben. Der Logis-tikexperte Hansen ist skeptisch. „Wenn die Gütermengen wieder oben ankommen, müssen sie verteilt werden“, sagt er. Der Platzbedarf dafür sei immens. Schließlich müssen die Waren von 1500 Lastwagen auf viele kleinere Transporter verteilt werden, die sie dann in die verschiedenen Stadtteile bringen, wo die Feinverteilung weitergeht. Laut Ingrid Janßen, Sprecherin von Smart City Loop, sollen größtenteils Lastenräder diesen Part übernehmen. Der Shared-City-Hub in Altona soll außerdem weit mehr werden als ein reiner Warenumschlagplatz. Dort soll ein City-Hub entstehen, der verschiedene Funktionen vereint. Dazu gehören Paket- und Click&Collect-Stationen sowie Aufenthaltsräume für die Fahrer der E-Autos und Transporträder. Außerdem sollen die Waren nicht nur in die Stadt hineingebracht werden, sondern das recycelbare Leergut über das Tunnelsystem auch wieder aus dem Zentrum zurück an den Stadtrand transportiert werden. Momentan sucht das Unternehmen Investoren. Wenn die Finanzierung steht, könne der Bau ganz schnell gehen. „Das Planfeststellungsverfahren dauert etwa ein Jahr“, sagt die Sprecherin. Die Bauzeit des Tunnels etwa ebenso lange. „2025 wollen wir die erste Palette durchschieben“, sagt sie. Die Stadt Hamburg selbst will sich bislang allerdings nicht an der Finanzierung beteiligen.
Eine andere Option ist die emissionsfreie Zustellung im Zentrum per Straßenbahn und Cargobike. In Hessen und Baden-Württemberg gab und gibt es dazu bereits verschiedene Pilotprojekte. Im Frühjahr haben außerdem der Berliner Cargobike-Hersteller Onomotion, die Frankfurter University of Applied Science mit einer Gruppe von Logistikexperten in einem Whitepaper gezeigt: Die Kombination aus Lkw, Tram und E-Transportrad ist günstiger als die Zustellung per Sprinter und reduziert zudem noch die Emissionen.

„Essen auf Rädern“ per Lastenrad im Zentrum die schnellste und günstigste Lösung.

Umsetzung liegt bei der Politik

Schlussendlich entscheidet immer die Politik, wie die Logistik in ihrer Stadt organisiert wird. Der Spielraum einzelner Unternehmen für eine klimafreundliche Zustellung auf der letzten Meile ist begrenzt. Dennoch finden sie immer wieder Alternativen, wenn der Wille da ist oder man mit dem Auto in der Stadt nicht mehr weiterkommt. So liefert beispielsweise in Wien der Samariterbund seit 2017 „Essen auf Rädern“ in den Innenstadtbezirken per E-Cargobike aus. „Der Parkplatzmangel ist dort groß und die Zustellung so einfach effizienter“, sagt Edina Imamovic, die den Bereich leitet. Aber in manchen Gebieten kommen inzwischen selbst die Transporträder an ihre Grenzen, so wie in Hamburg-Ottensen. „In den schmalen Straßen von Ottensen verursacht jeder Zusteller und jeder Pkw, der auf der Straße hält, einen Mi-krostau“, sagt Björn Fischer, Gründer und Vorstandsmitglied von Tricargo. Der Radlogistikverband beliefert seit 2016 unter anderem Hamburger Kindertagesstätten mit Essen oder leert Briefkästen im Auftrag der Post. In Ottensen steht Fischer mit seinem Lastenrad manchmal selbst im Stau. Dort gibt es keine Radwege und die Gehwege sind zu schmal, um das Rad während der Zustellung dort abzustellen. Für ihn ist das zentrale Pro-blem der motorisierte Individualverkehr (MIV). „Es stehen zu viele Autos rechts und links am Fahrbahnrand in den engen Straßen. Der Schlüssel ist, den MIV aus diesen Gebieten auszusperren“, sagt er. Das wurde 2019 mit dem Projekt „Ottensen macht Platz“ getestet. „Für uns war das ein Treiber des Geschäftsmodells“, sagt er. Apotheken, Bäckereien und Einzelhändler fragten, ob Tricargo ihre Waren per Lastenrad an- und ausliefern könne. Sie konnten, und Fischer ist sich sicher: Von autofreien Vierteln würden auch die KEP-Dienstleister profitieren. „Die 1.200 Transporter, die täglich in Hamburg unterwegs sind, fallen kaum auf“, sagt er. „Transporter sind kein Problem, wenn der MIV nicht länger die Straßen versperrt.“
Nachhaltige Lieferdienste und KEP-Dienstleister allein können das Verkehrsproblem in den Zentren nicht lösen. Sie sind ein wichtiger Teil der Mobilitätswende und können ihren Teil beitragen. Konzepte für eine deutlich umwelt- und klimafreundlichere Citylogistik haben sie. Die Umsetzung liegt nun bei der Politik. Im Bund, in den Ländern und vor Ort in den Kommunen.

Förderung von Mikro-Depots und Cargobikes

Das Bundesumweltministerium (BMU) fördert seit dem 1. März im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative Mikro-Depots und E-Lastenfahrräder. Der innerstädtische Verkehr soll dadurch entlastet, die Luftqualität verbessert und vor allem die CO2-Emissionen gemindert werden. Die Förderprogramme richten sich unter anderem an große Logistik-Unternehmen, Baumärkte, Möbelhäuser, mittelständische Unternehmen und Lieferdienste. Weitere Informationen auf der Webseite des BMU.


Bilder: SmartCity Loop, Tricargo, Andrea Reidl, UPS, Hamburger Hochbahn AG, Smart City-DB, Samariterbund, Urban Arrow

Das heutige Verkehrssystem ist laut Untersuchungen von Experten und Expertinnen nicht nur klimafeindlich, sondern auch sozial ungerecht. Die Mobilitätswende besitzt das Potenzial, die Verkehre fairer zu organisieren. Vorschläge aus Verbänden und kommunale Beispiele liegen vor. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Das Thema Verkehrsgerechtigkeit spannt ein weites Feld: So weist der Verkehrsclub Deutschland (VCD) in einem Factsheet „Die Verkehrswende ist sozial gerecht“ auf die Schieflage hin zwischen Verursacher und Leidtragende klimaschädlicher Mobilität: „Auf der einen Seite sind die Menschen, die sehr mobil sind – die regelmäßig pendeln, mehrmals im Jahr in den Urlaub fliegen, dienstlich fahren oder fliegen…“ Diese häufig besser verdienenden „Hypermobilen“ gestalteten ihre Freizeit mobilitätsintensiv mit einem hohen CO2-Fußabdruck.
Im Gegensatz dazu nutzten einkommensschwächere Haushalte häufiger Bus und Bahn (Anteil 29 Prozent) als Haushalte mit höheren Einkommen (18 bis 24 Prozent). Menschen mit geringem Einkommen investieren entweder einen großen Anteil ihres Budgets in Mobilität. Oder sie sind weniger mobil. Auf dem Land können viele Ziele schwer ohne Auto erreicht werden. Der Mangel an alternativen Verkehrsmitteln kann dann zu einem „erzwungenen Autobesitz“ führen, heißt es in dem Factsheet weiter.

„Auf dem Weg zur Arbeit sind es die SUVs der Reichen, die sich durch die Quartiere der Abgehängten schieben.“

Stephan Rammler und Oliver Schwedes (Mobilität für alle!)

Doppelt ungerecht: Die schlechtere Wohnqualität der Mobilitätsarmen

Damit nicht genug: Der Berliner Umweltgerechtigkeitsatlas bestätigt, dass einkommensarme Bevölkerungsschichten in Quartieren mit wenig Grünflächen überproportional von Luft- und Lärmemissionen betroffen sind. Denn bezahlbare Wohnungen oder Sozialwohnungen liegen häufiger entlang viel befahrener Magistralen. Bürgerliche Grundstücke und Eigentumswohnungen finden sich dagegen vor allem im Grünen. In einem Papier der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) spitzen Stephan Rammler und Oliver Schwedes die daraus folgende Gerechtigkeitslücke wie folgt zu: „Auf dem Weg zur Arbeit sind es die SUVs der Reichen, die sich durch die Quartiere der Abgehängten schieben, die dann deren Emissionen einatmen.“ Hinzu kommt, dass Quartiere mit hohem Autoverkehrsaufkommen Einschränkungen der Lebensqualität durch Verkehrsgefährdungen bergen: „Spielräume für Kinder aus schwachen sozialen Lagen werden zerschnitten, eigene Wege der Kinder sind in solchen Quartieren tendenziell gefährlicher.“
Deutlich sichtbar wird die Ungleichgewichtung bei der räumlichen Auto-dominanz. Rammler und Schwedes verweisen auf Ergebnisse des Austrian Mobility Research der Forschungsgesellschaft Mobilität für die Stadt Graz. Dort gibt es Radabstellflächen auf zwei Prozent der öffentlichen Fläche. Jeweils weitere drei Prozent entfallen auf Haltestellen und Bahnhöfe sowie ruhenden Fußgängerverkehr (Straßencafés, Parkbänke.). Ganze 92 Prozent beansprucht das Parken von Kraftfahrzeugen im Straßenraum. Dieses Verhältnis sei europäisch übertragbar. Im Durchschnitt steht ein Auto 23 Stunden am Tag im öffentlichen Raum: „Es ist also seinem eigentlichen Wesen nach genau genommen mehr ein Stehzeug als ein Fahrzeug.“ Angemessene Preise für die Nutzung des knappen öffentlichen Gutes Raum? Bisher Fehlanzeige – weil politisch nicht gewollt.

Der VCD hat im Factsheet „Die Verkehrswende ist sozial gerecht“ (11/2020) zentrale Daten übersichtlich zusammengestellt. Zum Download unter vcd.org

Unfaire Subventionen: Geld für Dienstwagen, höhere ÖPNV-Preise

Auf der anderen Seite stiegen die Preise zwischen 2000 und 2018 im ÖPNV doppelt so stark wie die Kosten für den Kauf und die Unterhaltung von Kraftfahrzeugen. Darauf weist Dirk Messner hin in einem Positionspapier des Umweltbundesamtes (UBA): „Seit der Jahrtausendwende sind die Kosten für Anschaffung und Unterhalt eines Kfz um etwa 36 Prozent gestiegen, die ÖPNV-Preise hingegen um knapp 80 Prozent. Das verstärkt die Ungerechtigkeit zwischen den Verkehrsarten noch mehr und bestraft gerade die, die sich umweltfreundlich verhalten.“ Zusätzlich profitierten reichere Haushalte überproportional von umweltschädlichen Subventionen wie dem Dienstwagenprivileg und der Entfernungspauschale. Messner: „Das Dienstwagenprivileg ist ein besonders offensichtlicher Fall von sozialer Ungerechtigkeit. Von diesem profitiert nur ein kleiner, meist privilegierter Teil der Bevölkerung, während die Kosten dafür alle Steuerzahlenden tragen müssen.“

Viele Haushalte mit niedrigem Einkommen besitzen kein Auto. In Städten mit hohem Mietniveau können sie sich das oft auch gar nicht leisten.

Alternative Unterstützung: Mobilitätsprämie für alle

Bereits vor dem Autogipfel im Frühjahr 2020, als die Autoindustrie Kaufprämien zur Kompensation Pandemie-bedingter Ausfälle forderte, konterte ein breites Bündnis aus Verbänden und Unternehmen mit der Idee, eine Mobilitätsprämie für alle einzuführen. Das Ziel: der wahlweise Kauf von Fahrrädern, E-Bikes, ÖPNV-Tickets oder Bahn-Abos. Der damalige ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork sagte dazu: „Auch der Kauf eines E-Lastenrads oder eines ÖPNV-Abos scheitert bei vielen Menschen am Geld. Wir wollen nicht, dass die Regierung den Bürgerinnen und Bürgern die Verkehrsmittelwahl diktiert, sondern ihnen alle Optionen ermöglicht!“ Daraus wurde vorerst nichts.
Bis heute wird selbst der Kauf ökologisch bedenklicher Plug-in-Hybridfahrzeuge mit bis zu 6.750 Euro „Umweltbonus“ (E-Autos bis 9.000 Euro) belohnt. Zwar bieten Bund und Länder Kaufprämien an für gewerbliche Cargobikes. Aber eine, klimatechnisch sicher sinnvollere bundesweite Prämie für private Fahrräder, E-Bikes oder Lastenräder steht noch aus. Auch der jüngste Vorschlag von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, Fahrräder oder Pedelecs bis zu einem Betrag von 1000 Euro steuerlich zu begünstigen, berücksichtigt zunächst nur Menschen, die auch Einkommensteuer zahlen.

Für eine sozial gerechte Mobilitätswende

Ein Bündnis aus Umweltverbänden, Gewerkschaften, Wohlfahrts- und Sozialverbänden sowie der Evangelischen Kirche fordert eine sozial gerechte und ökologische Mobilitätswende und stellt Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung vor. Das Bündnis identifiziert dabei vier Dimensionen, in denen gehandelt werden muss:


Dimension 1: Daseinsvorsorge und gesellschaftliche Teilhabe

Mobilität muss als Teil der Daseinsvorsorge anerkannt werden. Maßnahmen dafür umfassen die Erhöhung der Regelsätze der Grundsicherung für Mobilität, eine gesetzliche Verpflichtung aller Verkehrsanbieter zu Barrierefreiheit, einheitliche Bedienstandards für den öffentlichen Personennahverkehr, verständliche Preis- und Buchungssysteme, eine integrierte Planung von Versorgung und Mobilität, eine sichere Infrastruktur für Fuß- und Radverkehr, die solidarische Senkung und Reduktion auf null Emissionen und die Bereitstellung von Geldern für die Finanzierung der Mobilitätswende.

Dimension 2: Lebensqualität und Gesundheit

Das Verkehrssystem muss verändert werden, damit Lebensqualität und Gesundheit nicht länger eingeschränkt werden. Hierfür braucht es konsequente Strategien zur Senkung von Schadstoff- und Lärmemissionen, verkehrsberuhigende Maßnahmen und die Umgestaltung von Quartieren für lebenswerte Wohngebiete, eine soziale Wohnungspolitik und Maßnahmen für das Ziel von null Verkehrstoten („Vision Zero“).

Dimension 3: Mobilitätswirtschaft

Die Mobilitätswirtschaft trägt zu Beschäftigung und Wertschöpfung in Deutschland bei. Damit die Transformation nicht zu ökonomischen oder sozialen Verwerfungen führt, braucht es Maßnahmen wie rechtliche Rahmensetzungen für klimafreundliche Mobilität und Zukunftstechnologien, eine industrie- und strukturpolitische Begleitung der Transformation des Automobilsektors, die Etablierung des Leitbilds „Gute Arbeit“ im gesamten Mobilitätssektor sowie umfassende Weiterbildungsinitiativen und eine visionäre Qualifikationspolitik.

Dimension 4: Kulturwandel

Ohne eine Veränderung der Mobilitätskultur kann die Mobilitätswende nicht gelingen. Für eine solche Veränderung braucht es Reallabore, um neue Mobilitätskultur erfahrbar zu machen, die Entwicklung von Mobilitätsstrategien durch sämtliche Unternehmen und Institutionen, ein kritisches Hinterfragen von Konsumgewohnheiten, die Beteiligung von Bürger*innen und Mobilitätsbildung für alle Altersklassen.

Das komplette Papier gibt es u.a. beim VCD zum download unter vcd.org

Vorreiter Kommunen: Die neuen Sozialen Tickets

Einzelne Kommunen preschen inzwischen vor. So beschloss die Kleinstadt Telgte bei Münster die Unterstützung einkommensschwächerer Familien. Mit einem Gehalt bis 37.000 Euro werden zusätzlich 30 Prozent auf die Lastenradfördersumme (30 Prozent) geschlagen. In Stuttgart beträgt die Förderquote für Familien mit mindestens einem Kind bis zu 90 Prozent des Anschaffungspreises eines E-Cargobikes. In Freising stehen sogar Pedelecs bis 30 Prozent der Nettokosten auf dem Programm. Die Hürden stecken jedoch im Detail: Nicht nur muss ein mit Benzin oder Dieselkraftstoff betriebenes Fahrzeug ersetzt werden. Auch wird der Fahrzeugtyp diktiert: S-Pedelecs sind ebenso ausgeschlossen wie E-Mountainbikes oder E-Rennräder. Dass sämtliche Förderungsanträge zwingend den Bezug von Öko-strom zur Voraussetzung machen, blendet die Möglichkeiten von Geringverdienenden aus. Damit auch finanzschwache Haushalte einen niederschwelligen Zugang zu Cargobikes erhalten, geht das Land Brandenburg mit gutem Beispiel voran. Wer privat eine Kaufprämie erhalten will, muss das Fahrzeug kostenfrei „der Allgemeinheit“ zur Verfügung stellen. Bis zu 80 Prozent des Kaufpreises sind drin. Lastenradinitiativen werden so unterstützt.

Breit informieren: Kommunikation an alle

Um alle bei der Verkehrswende erfolgreich mitzunehmen, müssen auch alle kommunikativ erreicht werden. Alexander Kaas Elias, Sprecher für klima- und sozialverträgliche Mobilität beim VCD, kritisiert die Kommunikation am Beispiel von Berlin. Anders als etwa bei Bundessteuermitteln für den E-Autokauf, waren die Lastenradfördermittel 2018 in Höhe von 200.000 Euro bereits zwei Tage nach Ankündigung erschöpft: „Wenn die zuständige Senatsverwaltung dazu eine Pressemeldung herausgibt, und das dann vielleicht in den großen Tageszeitungen steht: Erreiche ich damit alle Leute, die ein Lastenrad benötigen? Da würde ich eher sagen: schwierig!“

Bis heute wird selbst der Kauf ökologisch bedenklicher Plug-in-Hybridfahrzeuge mit bis zu 6.750 Euro „Umweltbonus“ (E-Autos bis 9.000 Euro) belohnt.

Attraktiver Angebotsmix: Dienstfahrrad, Mikromobilität und ÖPNV-Jahresticket

Als Basisangebot verlangt eine gerechte Neuverteilung der Verkehrsräume eine hochwertige Fuß- und Radwegeinfrastruktur. Und zwar auch in Gegenden mit ärmeren Bevölkerungsanteilen. Wie dabei die Verlagerung der Verkehrsmittel vom Auto zum Fahrrad gelingt, zeigt die positive Entwicklung beim Dienstfahrrad seit seiner Einführung 2012. Allein im letzten Jahr wurde mit 350.000 neuen Diensträdern über eine Milliarde Euro Umsatz im Fachhandel gemacht, schätzt Wasilis von Rauch vom Bundesverband Zukunft Fahrrad e. V. Davon profitiert allerdings nur, wer auch eine Beschäftigung hat.
Flexible E-Scooter gelten als Ergänzung im Mix der Verkehrsmittel. Eine Potenzialanalyse am Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin (DLR) ergab, dass rund 20 Prozent aller Pkw-Wege unter vier Kilometern durch E-Scooter ersetzt werden könnten. Mobilitätsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin betont im „Spiegel“ ihre Rolle als Zubringer zum öffentlichen Nahverkehr. („Was vom E-Scooter-Hype geblieben ist“, Spiegel 14.06.2020): „Es müssen gemeinsame Preismodelle mit dem ÖPNV her, die den Weg zur Haltestelle, die S-Bahn-Fahrt und die letzte Meile abdecken.“ Und die Anbieter müssten ihre Roller auch in Randlagen anbieten. Manch Ärger von Fuß- und Radnutzern über die Roller ließe sich über eine gerechtere Raumaufteilung lösen: Für Knie stehen nicht die Roller im Weg, sondern die Autos. So passen auf einen Pkw-Parkplatz etwa 20 Roller.
Für den ÖPNV fordert der VCD Sozialtickets, die nicht den dafür vorgesehenen Satz im Arbeitslosengeld II (etwa 35 Euro) übersteigen. Ein 365-Euro-Jahresticket gehört zu den Ad-hoc-Maßnahmen, wie sie das FES-Papier fordert. Nach Wien wurde das für die Stadt Leipzig beschlossen – beschränkt auf einen einkommensschwachen Personenkreis.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung nennt als weiteres Beispiel für einen gerechten Ausgleich zwischen allen Verkehrsteilnehmern auch das Berliner Mobilitätsgesetz. Damit bekamen verkehrspolitische Ziele unter anderem zugunsten des Radverkehrs erstmals Rechtsverbindlichkeit. Das könnte wiederum als Blaupause dienen, um den Rechtsrahmen auf Bundesebene neu zu gestalten.

„Die Verkehrswende ist sozial“

Alexander Kaas Elias. Der VCD-Projektleiter „Verkehrswende: klimaverträglich und sozial gerecht“ und Sprecher für klima- und sozialverträgliche Mobilität hat am Papier des Bündnisses für sozialverträgliche Mobilitätswende mitgearbeitet.

Wie gehen Klimaschutzziele und eine soziale Verkehrswende zusammen?
Klimaschutz ist ohne Verkehrswende nicht machbar. Wir halten die Verkehrswende für sozial, weil vielen Menschen, die kein Auto haben oder besitzen wollen, damit Mobilität ermöglicht wird. Im unteren Einkommensfünftel haben 53 Prozent gar kein Auto. Wenn ich höre, Autofahren ist auch eine soziale Frage, frage ich mich: Was ist eigentlich die soziale Frage bei Menschen, die gar kein Auto besitzen? Von daher ist eine gute Anbindung mit Bus, Bahn und Rad- und Fußverkehrsinfrastruktur, Leihrad und Lastenrad ganz wesentlich, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.

Was halten Sie von Kaufprämien?
Die Förderung für E-Autos ist leider noch einmal erhöht worden. Selbst für Plug-in-Hybride, die wir ökologisch nicht für sinnvoll halten. Der VCD hatte ja das grüne Startgeld Mobilität gefordert. Wo wir gesagt haben, jeder soll einen bestimmten Beitrag bekommen für ein ÖPNV-Ticket oder einen Zuschuss zum Lastenrad. Das hätten wir für zielführender gehalten als die ganzen speziellen Prämien. So schön der Boom der Elektromobilität im Bereich des motorisierten Individualverkehrs ist. Die Menschen, die jetzt schon sozial abgehängt sind, erreicht man damit nicht.

Worin besteht die soziale Ungleichheit bei den Prämien?
Von den Autokaufprämien profitieren in der Regel nur die Leute, die sich ohnehin ein Auto leisten können. Wir haben das Dienstwagenprivileg, die Entfernungspauschale, die jetzt sogar nochmals erhöht wurde. Wenn ich z.B. wegen meines geringen Einkommens keine Steuern zahle, kann ich die Entfernungspauschale nicht abbuchen. Zwar gilt sie auch für den ÖPNV. Aber ich muss auf die entsprechenden Beiträge kommen. Bin ich zum Beispiel im ALG-II-Bezug, zahle ich keine direkten Steuern. Dann fällt diese Förderung ohnehin für mich weg. Insofern ist es unfair verteilt.

Der Lastenradkauf wird auf bundes- und kommunaler Ebene gefördert…
Die bestehende Lastenradförderung ist überwiegend gewerblich. Berlin hatte sie vor zwei, drei Jahren für jeden geöffnet. In zwei Tagen waren die Mittel abgerufen. Da stellt sich die Frage: Wenn die zuständige Senatsverwaltung dazu eine Pressemeldung herausgibt und das vielleicht in den großen Tageszeitungen steht: Erreiche ich damit alle Leute, die ein Lastenrad benötigen? Da würde ich eher sagen: schwierig!

Also spielt auch die Kommunikation eine wichtige Rolle?
Die Frage ist, wie erreiche ich Leute, die nicht die klassischen Strukturen nutzen? Das ist genau der Punkt, den das Projekt „MobileInclusion“ festgestellt hat. Dort wurden Interviews mit Betroffenen geführt, die wenig Einkommen haben, ohne Berufsausbildung und im Bezug vom Arbeitslosengeld II sind oder einen Migrationshintergrund haben. Was für viele Menschen alltäglich ist: Ich brauche mal eben ein Leihrad, greife ich halt zur App, fällt für sie weg. Weil es etwas kostet. Selbst Projekte wie „fLotte Berlin“, wo Fahrräder kostenlos verfügbar sind und sie sich nur anmelden müssen: Für Menschen, die nicht täglich in dem Bereich unterwegs sind, ist das schwierig. Ich bekomme mit, dass Menschen teilweise noch keinen Internetanschluss haben. Mobilitätsangebote laufen nicht groß über das Jobcenter. Abgesehen davon, dass das nicht der Ort ist, wo sich die Menschen mit diesem Problem vertrauensvoll hinwenden würden. Da braucht es eine Alternative. Wie etwa ein Stadtteilzentrum, wo man auch mal auf die Leute zugeht.

Zum Vertiefen

Informationen und Argumente


MOBILITÄT FÜR ALLE!
Gedanken zur Gerechtigkeitslücke in der Mobilitätspolitik

Stephan Rammler und Oliver Schwedes
Friedrich-Ebert-Stiftung: library.fes.de/pdf-files/dialog/14779.pdf


Verkehrswende für ALLE – So erreichen wir eine sozial gerechtere und umweltverträglichere Mobilität

UBA: umweltbundesamt.de/publikationen/verkehrswende-fuer-alle


MobileInclusion – Forschung zu Mobilität und sozialer Ausgrenzung

TU Berlin: mobileinclusion.projects.tu-berlin.de


Bilder: stock.adobe.co – Kara, VCD, Erik Marquardt

Nordrhein-Westfalen setzt Signale für den Mobilitätswandel. Im November 2019 stimmte der Verkehrsausschuss im Landtag einstimmig einem Antrag der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ für das erste Fahrradgesetz in einem Flächenland zu. Die Zeit für einen Umbruch scheint reif und die breite Zustimmung in der Bevölkerung mit über 200.000 gesammelten Unterschriften hatte Eindruck hinterlassen. Im Interview erläutert Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU) Hintergründe und Ziele im Hinblick auf die Förderung des Radverkehrs und der Nahmobilität in NRW.


Herr Minister Wüst, Umfragen im Rahmen der NRW-Kommunalwahlen haben gezeigt, dass den Bürgerinnen und Bürgern die Themen Umwelt und Klima und in den Städten vor allem der Verkehr bzw. eine Verkehrswende sehr wichtig sind. Sehen Sie hier eine Zäsur?
Mobilität ist Lebensqualität und Standortfaktor. Mobilität muss besser, sicherer und sauberer werden. Wir erreichen die Klimaziele nur, wenn wir die Mobilität vielfach neu denken. Dazu müssen wir die Chancen der Digitalisierung für die Mobilität konsequent nutzen, den ÖPNV zum Rückgrat vernetzter Wegeketten machen, die Chancen der Elektrifizierung des Fahrrades nutzen und das Fahrrad überall im Land für die Pendler nutzbar machen. Und Deutschland muss wieder Bahnland werden. Die Zäsur besteht darin, dass das alles nicht nur von breiten Schichten der Bevölkerung mitgetragen wird, sondern dass jetzt auch sehr viel Geld dafür da ist und wir umsetzen.

Ihre Heimat und ihr Wahlkreis liegen in Rhede, direkt an der niederländischen Grenze. Was machen die Niederländer aus Ihrer Sicht besser und was würden Sie gerne übernehmen?
Unsere Nachbarn in den Niederlanden machen seit Jahren eine sehr pragmatische Verkehrspolitik. Davon haben wir uns viel abgeguckt, denn lange Zeit war das in Nordrhein-Westfalen politisch nicht gewollt. In den Niederlanden ist es zum Beispiel selbstverständlich, dass in Infrastruktur für jeden Verkehrsträger investiert wird. In Nordrhein-Westfalen wurde viel zu lange Parteipolitik zulasten der Infrastruktur gemacht. Jetzt müssen wir große Rückstände bei der Sanierung und Modernisierung aufholen. Auf der Schiene. Auf der Straße. Und bei Wasser- und Radwegen.

Angesichts von Kämpfen um Platz für Fahrrad und Auto verweisen Sie in Interviews gerne auf intelligente Verkehrskonzepte aus den Niederlanden. Was kann man sich aus Ihrer Sicht hier konkret abschauen?
In den Niederlanden wird pragmatisch nach Lösungen gesucht, nicht um jeden Preis nach Konflikten. Bei unseren Nachbarn wird jedem Verkehrsträger nach seinen Stärken Raum gegeben. Es wird in langen Linien gedacht und dann Schritt für Schritt konsequent umgesetzt.

Aus dem Umfeld des Landesministeriums ist zu hören, dass das Fahrradgesetz mit hoher Priorität vorangetrieben wird, warum ist Ihnen das Thema wichtig?
Ich komme aus dem Münsterland. Da ist das Fahrrad schon immer Teil der Alltagsmobilität. Mit digital vernetzten Wegeketten wird das Fahrrad – ganz besonders mit E-Bikes und Pedelecs – zu einem vollwertigen alltagstauglichen Allround-Verkehrsmittel, das das Klima schont und auch noch gesund ist. Wir wollen in Nordrhein-Westfalen Fahrradland Nummer 1 bleiben. Deswegen investieren wir Hirn und Herz in das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz. Radverkehr ist ein elementarer Bestandteil moderner Mobilitätskonzepte.

Mitte Juni dieses Jahres haben Sie bereits Eckpunkte für ein Gesetz zur Förderung des Radverkehrs und der Nahmobilität (FaNaG) vorgestellt. Wie geht es jetzt weiter?
Zurzeit wird der Referentenentwurf erstellt, dann geht’s in die Ressortabstimmung und ins Kabinett. Danach wird es die Verbändebeteiligung geben. Anschließend soll der Gesetzentwurf in den Landtag eingebracht werden, damit er dieses Jahr verabschiedet werden kann und das Gesetz Anfang 2022 in Kraft tritt.

Radverkehr ist ein elementarer Bestandteil moderner Mobilitätskonzepte.

NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst

Sie haben die Forderung der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“, dass künftig 25 Prozent des Verkehrsaufkommens in NRW auf das Rad entfallen sollen, als Ziel übernommen. Ist das realistisch?
Ja. Wir sind überzeugt, dass sich mit den angestrebten Verbesserungen für den Radverkehr so viele Menschen fürs Radfahren entscheiden, dass ein Radverkehrsanteil von 25 Prozent im Modalsplit erreicht wird. Der Modalsplit liegt im Münsterland im Durchschnitt schon jetzt deutlich über 25 Prozent. In Bocholt bei 38 Prozent, in Borken bei 30, in Coesfeld bei 32 Prozent. Mit E-Bikes und Pedelecs und besserer Infrastruktur geht das überall.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass es bei neuer Radinfrastruktur, wie Radschnellwegen, nicht richtig vorwärtsgeht. Woran liegt das?
In Nordrhein-Westfalen wurden seit dem Regierungswechsel 2017 485 Kilometer neue Radwege gebaut. Der Bau eines Radschnellweges ist nicht weniger aufwendig als der Bau einer Straße. Bis auf Lärmschutzgutachten gelten dort dieselben Regeln. Aber klar ist: Ich will mehr! Und es muss schnell vorangehen. Deshalb erhöhen wir seit Jahren die Haushaltsmittel für den Radverkehr. Standen 2017 noch 29 Millionen Euro zur Verfügung, werden es 2021 54 Millionen Euro sein. Zusätzlich stellt auch der Bund insgesamt 900 Millionen Euro Bundesmittel bis 2023 für den Radverkehr bereit.

Der passionierte Alltagsradler Hendrik Wüst bei der Eröffnung eines Teilstücks des Radschnellwegs RS1 in Mülheim an der Ruhr im Jahr 2019.

Wie wollen Sie die Prozesse künftig verbessern und beschleunigen?
Wir forcieren seit dem Regierungswechsel 2017 einen Planungs-, Genehmigungs- und Bauhochlauf. Und zwar für alle Infrastrukturen: Schiene, Straße, Wasser- und Radwege. Konkret heißt das: Neben unserer eigenen „Stabsstelle Radverkehr und Verkehrssicherheit“ im Verkehrsministerium haben wir zehn Planerstellen beim Landesbetrieb und fünf Stellen bei den Bezirksregierungen für mehr Tempo bei Planung, Genehmigung und Bau der Radinfrastruktur geschaffen.
Bei der Akquise der Fachleute gehen wir neue Wege. In Kooperation mit der AGFS starten wir eine Fachkräfteinitiative, um junge Menschen für das Berufsfeld der Radwegeverkehrsplanung zu begeistern. Flankiert wird das von einer Stiftungsprofessur „Radverkehr“ des Bundes bei uns an der Bergischen Universität Wuppertal.
Wir haben zudem das Landesstraßen- und Wegegesetz geändert, in dem auch die Planung der Radschnellwege geregelt ist, und dort überflüssigen Planungsaufwand herausgenommen.

Welche Änderungen sind mit dem Fahrradgesetz konkret in der Fläche zu erwarten?
Mit dem Gesetz werden wir unter anderem ein Radvorrangnetz in Nordrhein-Westfalen etablieren. Auf Premium-Radschnellverbindungen bieten wir den Menschen Routen für schnellen, sicheren und störungsfreien Radverkehr an. Mit dem Gesetz soll zudem die Möglichkeit geschaffen werden, verstärkt Wirtschaftswege für den Radverkehr zu nutzen. Durch Verbesserung von Wirtschafts- und Betriebswegen kann das Radwegenetz schnell durch zusätzliche Kilometer erweitert werden. Außerdem vernetzen wir das Fahrrad mit anderen Verkehrsträgern und schaffen so die Voraussetzung, dass das Rad mindestens für einen Teil der Wegstrecke zu einer echten Alternative für Pendlerrinnen und Pendler wird.

Die Mitinitiatorin der Volksinitiative Dr. Ute Symanski hofft auf starken Rückenwind durch das Gesetz für die Verantwortlichen in den Kommunen. Was sagen Sie ihr?
Ich mache gerade in einer digitalen Veranstaltungsreihe mit den Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern, Landrätinnen und Landräten, Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern auf die erhöhte Förderung für den Radwegebau, auf unsere Zwei-Milliarden-Euro ÖPNV-Offensive und andere Fördermöglichkeiten aufmerksam. Im Wahlkampf war Mobilität oft Thema, jetzt müssen Taten folgen.

Anfang Februar 2020 stand der Minister auf der „RADKOMM Quarterly“ in Köln Rede und Antwort zu den Zielen und Problemen der aktuellen Mobilitätspolitik.

Weit nach vorne gedacht: Wie sieht die Mobilität am Ende der nächsten Legislaturperiode, also im Jahr 2027 in NRW aus?
Wir nutzen die Chancen der Digitalisierung für eine bessere Vernetzung aller Verkehrsmittel. Mobilität wie wir sie heute kennen, wird sich deutlich verändern. Wir werden vernetzte Verkehre mit digital buchbaren Wegeketten haben.
Die Mobilität der Zukunft ist multimodal, vernetzt und automatisiert – und im Mittelpunkt stehen immer die Mobilitätsbedürfnisse der Nutzer nach flexibler und sauberer Mobilität. Das Fahrrad wird zu einem alltäglichen, alltagstauglichen Verkehrsmittel – überall im Land! Dafür wird Nordrhein-Westfalen ein gut ausgebautes, lückenloses Fahrradnetz aus Radvorrangrouten und weiteren Radverbindungen haben.
Intermodale Wegeketten werden effizienter, umweltfreundlicher und attraktiver für Pendler und Reisende. So schaffen wir in Nordrhein-Westfalen ein Mobilitätsangebot, in dem die unterschiedlichen Verkehrsträger mit ihren jeweiligen Stärken kombiniert werden.
Mobilstationen sind die Schnittstelle der Verkehrsträger. Hier steigen Pendler und Reisende vom (Leih-)Fahrrad, E-Scooter, Car-Sharing-Auto um auf Bus, Bahn und On-Demand-Verkehre. Tarifkenntnisse und aufwendige Planung von Wegeketten sind Geschichte. 2021 werden wir in Nordrhein-Westfalen einen landesweiten eTarif ohne Verbundgrenzen einführen. Einfach mit dem Smartphone einchecken, am Ziel auschecken. Bezahlt wird ein Grundpreis plus die Luftlinien-Kilometer zwischen Start und Ziel. Das geht einfach, ist transparent und bequem. Solche Angebote werden für das Verkehrsverhalten der Menschen entscheidend sein.
Vielleicht werden schon 2027 Hauptbahnhöfe und Flughäfen, Messen und Universitäten, aber auch suburbane Regionen mit bezahlbaren, elektrisch betriebenen Flugtaxis erreichbar sein. In der Logistik werden auf der letzten Meile emissionsfreie und automatisierte Fahrzeuge eingesetzt. In Nordrhein-Westfalen werden viele dieser Innovationen bereits heute erforscht, entwickelt – und sind teilweise auch jetzt schon erlebbar!

***
Das Interview mit NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im Februar 2021 geführt. Erschienen in Ausgabe 1/21.

Hendrik Wüst

wurde 1975 in Rhede an der niederländischen Grenze geboren und lebt dort zusammen mit seiner Familie. Der gelernte Jurist und Rechtsanwalt war von 2000 bis 2006 Landesvorsitzender der Jungen Union Nordrhein-Westfalen und ist seit 2005 für die CDU im Landtag vertreten. Seit Juni 2017 ist Hendrik Wüst Minister für Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen. Medienberichten zufolge hat er gute Chancen, Nachfolger von NRW Ministerpräsident Armin Laschet zu werden.


Bilder: NRW-Verkehrsministerium, Anja Tiwisina; RADKOMM, Diane Müller

Schafft man die Mobilitätswende, ohne Denkweisen zu verändern und Blickwinkel zu erweitern? Gastautorin Isabell Eberlein, Mitgeschäftsführerin der Berliner Agentur Velokonzept und unter anderem engagiert bei den Initiativen Changing Cities, Women in Mobility und Woman in Cycling plädiert für mehr Diversität. Tatsächlich scheinen gerade die Bereiche Verkehr und Mobilität noch stark von alten, eigentlich überkommenen Sichtweisen, Rollenbildern und Stereotypen geprägt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


„Wo sind all die Frauen?“, fragte der Geschäftsführer des traditionsreichen Faltradherstellers Brompton, Will Butler-Adams, auf der weltweiten Fahrradleitmesse Eurobike in Friedrichshafen 2019 in einem Raum mit 200 Personen, weniger als ein Zehntel davon Frauen. „Ich sehe sie hier weder auf dem Panel noch im Publikum noch auf der Messe. Dabei repräsentieren sie die Hälfte meiner Kund*innen“. Da war es, das magische Wort: Repräsentation.
Es gibt keine aktuellen Zahlen über die Beschäftigungsquote von Frauen in der Fahrradwirtschaft. Wo man(n) auch hinblickt in der Industrie, im Handel oder bei den Dienstleistern: In den leitenden Positionen herrscht wenig Diversität. Natürlich gibt es die tollen Beispiele von Geschäftsführerinnen, Selbstständigen, Händlerinnen und Mechanikerinnen. Aber sie sind bis heute leider die Ausnahme und nicht die Regel. Richtet man den Blick über die Fahrradwirtschaft hinaus, dann sieht es ähnlich aus. Nur jedes zehnte Rathaus in Deutschland wird von einer Frau regiert. In der Fahrradwirtschaft und der Radverkehrsplanung sucht man fast ebenso vergeblich nach Frauen wie in leitenden Positionen der Zivilgesellschaft. Zwar beschäftigen NGOs und Stiftungen etwa 70 Prozent Frauen, doch nur rund 30 Prozent der Positionen in Leitungs- und Kontrollgremien sind derzeit mit Frauen besetzt, wie aus dem ersten „Fair Share“-Monitor hervorgeht. Was sind die dahinter liegenden Gründe?

Gleich sucht gleich

In einem Branchengespräch Ende November gab es mehr Männer mit Vornamen Frank auf dem Podium als Frauen – trotzdem wurde das Thema Diversität und vor allem der Fachkräftemangel heiß diskutiert. Die Fahrradbranche zeichnet beispielsweise gerne ein Bild von sich selbst als Traumarbeitgeber für alle Rad- und Sportbegeisterten und witzelt darüber, dass man sich um gute Köpfe zwar bemühen muss, aber es viele gibt, die im Fahrrad ihre Passion und ihren Purpose sehen. Das Problem hierbei ist aber: Menschen umgeben sich gerne mit ihresgleichen, weil es auf den ersten Blick weniger konfliktär erscheinen mag. Dafür schwebt man in der gleichen Blase: gleiche Prägung, Vorstellung und Einstellung. Sexismus gibt es nicht bei uns, sagt der Aufsichtsrat. Wie ist der besetzt? Akademisch, männlich, weiß, mittleren Alters.

Diversität als Prozess

Diversity-Management für Unternehmen beinhaltet nach der „Charta der Vielfalt“ (charta-der-vielfalt.de) einen fünfstufigen Prozess:

1) Wie und wo liegt der Nutzen von Diversität in der Organisation im Hinblick auf Nutzerinnen, Kundschaft oder Geschäftspartnerinnen?

2) Als Nächstes muss die Ausgangssituation analysiert und auch geprüft werden, ob bereits Maßnahmen unbewusst durchgeführt werden.

3) Im folgenden Schritt muss Diversität im Unternehmen umgesetzt werden. Dazu müssen sich die Umsetzungsdauer und Wirkung sowie etwaige Risiken bewusst gemacht werden.

4) Die tatsächliche Umsetzung und

5) die Messbarkeit von Erfolg.

Vielfalt: der nicht gehobene Schatz

Wenn der Fahrradsektor nur die Stimmen der Menschen hört, die sowieso schon Fahrrad fahren, ist er auf mindestens einem Auge blind. Roger Geller (Bicycle Coordinator, Portland Office of Transportation) unterscheidet nämlich vier Typen des Radfahrens: 0,5 % „Kampfradlerinnen“ (die überall und immer fahren), 6,5% überzeugte Radfahrerinnen und 33 %, die niemals unter irgendwelchen Umständen zum Radfahren zu bewegen seien. Die große Masse mit 60% würde dagegen mit der passenden Infrastruktur und den passenden Produkten Rad fahren. Tatsächlich erlebt das Fahrrad seit 2020 einen nie da gewesenen Boom und viele neue Zielgruppen entdecken es als pandemieresilientes Verkehrsmittel. Gleichzeitig werden viele potenzielle Adressatinnen außer Acht gelassen, an die das Fahrrad bisher nicht herankommt. Um diverse Zielgruppen wie beispielsweise post-migrantische Milieus zu erreichen, braucht es Vorbilder und vielleicht auch neue Wege der Kommunikation. Denn das Fahrrad ist noch längst nicht in allen Teilen der Gesellschaft als vollwertiges Verkehrsmittel anerkannt. An einer Schule in Berlin-Neukölln fand zum Beispiel vor rund einem Jahr eine Projektwoche zum Thema Fahrradmobilität statt. Zum ersten Mal seit Kindheitstagen mit dem Fahrrad konfrontiert, war der Eindruck der Jugendlichen wenig divers. Fahrradfahren sei körperlich viel zu anstrengend, dabei gleichzeitig zu langsam und vor allem aber peinlich! Wie erreicht man eine solche Gruppe, die die Radfahrerinnen der Zukunft sind oder sein sollen? Wohl, indem man sie direkt fragt und mit an den Tisch holt, Influencer aus ihren Bereichen wirbt und Personen identifiziert, die dieses Bild aufbrechen können. Denn Diversität bezieht sich nicht nur auf das Geschlecht, sondern auch auf Alter, Hintergrund, sozialen Status, Religion und körperliche Fähigkeiten.

Durch Paritätsregelungen und eigene Wertungen bei Rennen ist Bewegung in den männlich dominierten Radsport gekommen.

Repräsentation: Wie denken wir alle mit?

Die Autorin Caroline Criado-Perez beschreibt in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“, wie sehr die bebaute Umwelt am „Standardfaktor Mann“ orientiert ist. Vom Anschnallgurt über Crashtest-Dummys bei Autounfällen bis zur Frage, welche Wege zuerst von Schnee und Eis befreit werden. Die meisten Glätte-Unfälle passieren übrigens auf Fuß- und Radwegen, die im Allgemeinen mehr von Frauen genutzt werden. Wir müssen also die Repräsentation von Diversität, die Beteiligung unterschiedlicher Zielgruppen und deren Bedürfnisse an allen Stellen, die das Radfahren betreffen, berücksichtigen. Angefangen von der bebauten Umwelt, die ein anderes Verhalten durch sichere, zugängliche und durchgängige Infrastruktur überhaupt erst ermöglicht, über eine Mobilitätskultur, die das Fahrradfahren als gleichwertiges und normales Verkehrsmittel für alle wahrnimmt, bis hin zu Design- und Entwicklungsprozessen von Produkten, die maßgeblich die spätere Nutzbarkeit und Zugänglichkeit gestatten.
Wenn sich die Menschen nicht in den Produkten und Kampagnen wiedererkennen, dann kaufen oder nutzen sie diese auch nicht. Dabei gilt es noch einmal deutlich festzuhalten, dass Diversität über die faire Repräsentation von Frauen hinausgeht und die Vielfalt in Alter, Herkunft, sozialem Status und religiöser Weltanschauung beinhaltet. Diese müssen auch in den unterschiedlichen Positionen repräsentiert sein. Dafür ist die „Mobility of Care“ ein gutes Beispiel. Bisher sind es zu einem Großteil Frauen, die die Pflegearbeit von Kindern und älteren Menschen erledigen. Doch dieses Bild bricht langsam auf und Lebensmodelle werden fließender. Deswegen hier noch mal der Warnhinweis: Frauen und Männer mit dem gleichen akademischen Hintergrund sind noch keine diverse Gruppe und Organisationen müssen sich immer wieder kritisch hinterfragen, ob sie für unterschiedliche Lebensentwürfe Möglichkeiten vorhalten. Was tun? Zunächst einmal sollte das Thema Diversität ernst genommen und nicht als nettes Zusatzthema betrachtet werden. Eine Studie von Boston Consulting aus dem Jahr 2017 belegt, dass diversere Teams 20 Prozent mehr Umsatz erwirtschaften. Dabei geht die Studie nicht nur auf das Zahlenverhältnis zwischen Frauen und Männern ein, sondern zeigt, dass auch die Repräsentation auf verschiedenen Ebenen dazu passen muss. Diversität bezieht sich gleichzeitig auf mehr als nur Gleichberechtigung der Geschlechter und darüber hinaus auch auf Vielfalt im Denken und im Handeln.

„Der Deutsche Fahrradpreis – best for bike“: Mit Dr. Eckhart von Hirschhausen ist die „Fahrradfreundlichste Persönlichkeit 2021“ zum siebten Mal in Folge ein Mann.

Wenig diverse Vorbilder

Es ist an der Zeit zu verstehen, dass Diversität elementar für die Zukunft des Fahrrads und des Radverkehrs ist. Das Fahrrad ist ein leicht zugängliches Verkehrsmittel. Mit der notwendigen Infrastruktur, die allen ein sicheres Fahrradfahren ermöglicht, geht auch eine neue Mobilitätskultur einher. Zählen Sie einmal, wie viele Frauen mit Kopftuch Sie heute schon auf dem Fahrrad gesehen haben. Oder wie viele Personen in Businesskleidung? Oder welche Personen ihr online bestelltes Essen liefern. Durch Werbung, Bilder und Sprache prägt die Industrie einen Lifestyle, aber wer ist auf den Fotos abgebildet und in welcher Situation? Kürzlich entbrannte zum Beispiel eine Diskussion in den sozialen Medien zur Verleihung des Preises „Fahrradfreundlichste Persönlichkeit 2021“, die zum siebten Mal in Folge an einen Mann verliehen wird. Aufsehen erregte zudem, dass der diesjährige Preisträger Dr. Eckhart von Hirschhausen in sportlichem, neonfarbenem Lycra abgebildet wurde, was deutlich eine Freizeit- statt einer Alltagsnutzung des Fahrrads darstellt. In den vergangen 19 Jahren, in denen der Deutsche Fahrradpreis verliehen wurde, ergibt sich eine Quote von 15 Männern gegenüber 4 Frauen, darunter keine Person mit Migrationshintergrund oder körperlichen Einschränkungen. Die Debatte zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur einen Typus als Radfahrenden abzubilden, sondern abzuwechseln, sodass sich alle angesprochen fühlen.
Wenn das Fahrrad ein Verkehrsmittel für alle ist, dann müssen unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen auch mitreden. Wie kann der Fahrradsektor also diverser werden? Wichtig ist, diesen Prozess der Diversifizierung anzugehen, sich und das eigene Unternehmen oder die eigene Organisation zu hinterfragen und unangenehmen Gesprächen nicht aus dem Weg zu gehen. Hier gilt es klarzustellen, dass Diversität nicht bedeutet, unterschiedliche Personen mit unterschiedlichen Backgrounds auf Fotos abzubilden und so in eine Art Diversity-washing zu verfallen. Es geht vor allem darum, Diversität aktiv zu fördern!

Neu: Women in Cycling

Es gibt bereits sehr erfolgreiche Netzwerke zur Vernetzung von Frauen, darunter „Women in Mobility“, die kürzlich beim Deutschen Mobilitätspreis 2020 mit einem Sonderpreis ausgezeichnet wurden, oder „Women in Transport“ auf europäischer Ebene, die das Thema Vernetzung im Mobilitätsbereich über die Verkehrsmittel hinaus erfolgreich vorangetrieben haben. „Frauen im Fahrradsektor müssen sichtbarer werden, sodass keiner mehr fragen muss, wo sind die Frauen“, sagt Lauha Fried der Vereinigung Cycling Industries Europe. „Sie müssen repräsentiert sein auf Panels, in Magazinen, Berichten, Kongressen, Messen und Fachveranstaltungen in ihren unterschiedlichen Positionen.“ Deswegen gründeten Cycling Indus-tries Europe, die European Cyclist Federation, die niederländische Beratungsfirma Mobycon und die Berliner Agentur Velokonzept das Netzwerk „Women in Cycling“, das den ganzen Fahrradsektor umschließt, also Industrie, Handel, Infrastrukturplanung, Forschung, aber auch NGOs, Medien und den Sport inkludiert. Die Vision des Netzwerks ist ein diverserer und inklusiverer Fahrradsektor, der faire und gleiche Möglichkeiten für alle schafft und somit auch das volle Potenzial des Fahrrads ausschöpft. „Women in Cycling“ schafft eine Plattform, um sich zuerst untereinander in den eigenen Bereichen und über die Altersgrenzen hinweg zu vernetzen, und fördert eine stärkere Präsenz von Frauen in Beiräten, Entscheidungsgremien, auf Podien und in den Medien als Expertinnen.
Die Chance der Zusammenarbeit mit Akteurinnen aus anderen Bereichen über Wettbewerbsgrenzen hinweg ist ein wichtiges Werkzeug, um die gesellschaftliche Bedeutung des Fahrrads zu fördern. Mit einem Expertise-Portal schafft das Netzwerk
ein öffentlich zugängliches Tool, an dem alle Kuratorinnen und Organisatorinnen die passenden Expertinnen auswählen können. Damit sollten „All-male-Panels“ im Fahrradsektor ab jetzt der Geschichte angehören. Außerdem plant das Netzwerk, durch Mentoring und Leadership- Skills-Programme den Nachwuchs zu fördern. Durch Netzwerk, Förderung und Repräsentation zielt Women in Cycling letztendlich stark auf systemische Veränderungen ab. Zuletzt bleibt nur noch zu sagen, dass ein diverser Sektor allen zugutekommt, aber es auch eine Aufgabe aller ist, diesen Wandel zu beschreiten. Das heißt, wir können uns alle selbst fragen, welche repräsentativen Aufgaben wir vielleicht mal abgeben können, wie wir unser Umfeld bestärken und so gemeinsam den Fahrradsektor voranbringen.

Isabell Eberlein

ist Fahrrad- und Mobilitätsexpertin und berät als Teil der Berliner Agentur Velokonzept unter dem Namen „Okapi“ Unternehmen und öffentliche Verwaltungen mit Blick auf ein zukunftsfähiges Mobilitätsmanagement. Zudem engagiert sie sich im Verein Changing Cities, bei Women in Mobility und im neu gegründeten Netzwerk Woman in Cycling.


Bilder: VELOBerlin, Sebastian Doerken, Deutscher Fahrradpreis / Hirschhausens Quiz des Menschen XXL

Wer Menschen in die Züge locken will, darf mit Parkplätzen für Fahrräder nicht geizen. Die Bahn hat mit ihrem Bike+Ride-Service die Errichtung für die Kommunen beschleunigt. Ein Blitzlicht und Projektbericht von Campaigner Heinrich Strößenreuther, der als Projektmanager half, die DB-Bike+Ride-Offensive mit aufzubauen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


Die Verkehrswende ist eine Aufgabe, die es nicht nur in den Städten, sondern auch außerhalb zu lösen gilt: Denn jedes Auto, das nicht in die Stadt fährt, reduziert dort den Stau, die Parkplatzsorgen und den Flächenkonflikt. Klima- und verkehrspolitisch gesehen wird es noch interessanter: Auch, wenn 50 Prozent aller Pkw-Fahrten kürzer als fünf Kilometer sind und in der Stadt aufs Rad verlagert werden können, sorgen grob gerechnet ein Drittel aller Fahrten (die über 10 Kilometer) für fast Dreiviertel der Emissionen im Pkw-Verkehr. Die Pkw-Entfernungsklassen von 10 bis 30 Kilometern der ein- und auspendelnden Verkehre sind das verkehrspolitische Handlungsfeld, bei der die geschickte Kombination zwischen Fahrrad und ÖPNV/Schienennahverkehr städtische Verkehrsprobleme lösen kann, mit gut ausgestatteten Haltepunkten als Schlüssel.

Fahrräder und E-Bikes als Zubringer denken

Betrachtet man das Fahrrad zusammen mit der Schiene konzeptionell und aus Nutzersicht als einen Verkehrsträger („Bike-Transit“), ergeben sich daraus mehrere verkehrspolitische Handlungsfelder:

  • Die Einrichtung von Fahrradabstellanlagen am Zubringer-Bahnhof
  • außerhalb der Stadt.
  • Die Einrichtung von Fahrradabstellanlagen bei den Innenstadt-Haltepunkten.
  • Die Einrichtung von geschlossenen Fahrradabstellanlagen für hochwertige Fahrräder wie E-Bikes.
  • Die Bereitstellung von ausreichenden Bikesharing-Angeboten.
  • Die sichere und attraktive An- und Abfahrt mit dem Rad zum Bahnhof.
  • Die Mitnahme von Fahrrädern im Zug.


Der Bike-Transit ist der reinen Autofahrt in vielen Punkten deutlich überlegen: Er ist häufig schneller, da er nicht mit Staus zur Rushhour konfrontiert ist. Dazu kommt, dass die Zeit im Zug heute mit modernen Devices bestens produktiv oder zur Unterhaltung genutzt werden kann. Der Bike-Transit ist im Vergleich zum Bus-Bahn-Bus zudem wesentlich pünktlicher, da Radfahrende auf der ersten und letzten Meile nicht durch Staus beeinträchtigt werden. So manche Familie erspart sich so den Zweit- oder Drittwagen. Richtig designt kann damit zudem die eine oder andere Autobahn oder Ausbauspur überflüssig werden, ganz abgesehen von weniger Verschleiß und Straßeninstandsetzung. Ebenfalls wichtig: Bei einem attraktiven, passenden Angebot spielt die Mitnahme von Fahrrädern in den Zügen für Pendler kaum noch eine Rolle, wie Erfahrungen aus den Niederlanden eindrucksvoll zeigen. Insbesondere in den Ballungsräumen ist der Bike-Transit damit häufig dem Auto-Pendeln überlegen.

„Die systematische Verknüpfung von Fahrrad und Bahnhof stand jahrzehntelang nicht im Fokus.“

Meike Niedbal, DB Station&Service

Hohe Potenziale zum Umsteigen

Bei unseren niederländischen Nachbarn ist die enorm hohe Ausstattung mit Bike+Ride-Plätzen nicht nur ein Ergebnis jahrzehntelangen systematischen Managements des Bike-Transits; sie ist ebenfalls durch starke verkehrspolitische Unterstützung aus den entsprechenden Ministerien und Kommunen entstanden. Während dort die Fahrradmitnahme-Kapazitäten gegenüber deutschen Nahverkehrszügen bestenfalls ein Viertel der Menge betragen, verfügen die Bahnhöfe über hervorragende Abstellmöglichkeiten – als High-End-Parkhäuser, aber auch als große, nicht überdachte Doppelstockanlagen. Und in Deutschland? „Die systematische Verknüpfung von Fahrrad und Bahnhof stand jahrzehntelang nicht im Fokus. Mit der Mobilitätswende wird es aber immer wichtiger, aktive Angebote für den Umstieg auf die Schiene zu machen“, erläutert Meike Niedbal, Leiterin Produktmanagement von DB Station&Service die Ausgangslage. In ihren Verantwortungsbereich fällt die Bike+Ride-Offensive, an deren Start sie 2018 beteiligt war. „Die Verantwortung für den ruhenden Verkehr wurde mit der Bahnreform 1994 den Kommunen übertragen. Für die Verantwortlichen in den Bahnhofsmanagements hießen zusätzliche B+R-Plätze mehr Investitionen und Aufwand ohne zusätzliche Erlöse zur Refinanzierung.“
Schaut man nach dem Bedarf an Bike+Ride-Anlagen in Deutschland, fällt auf, dass die meisten Fahrradabstellanlagen hierzulande regelmäßig stark überfüllt sind. Tatsächlich klagt eigentlich jeder darüber, dass selbst an die letzte Laterne Fahrräder gekettet sind, um den Diebstahl zumindest zu erschweren. Gleichzeitig wächst der Radverkehr seit einigen Jahren überproportional: Waren es in den 2010er-Jahren bislang häufig nur 5 Prozent pro Jahr, so zeigen die Zählstellen, aber auch die Navigations- und Handydaten von Dienstleistern wie Strava für die 2020er-Jahre (und im Corona-Jahr) an einzelnen Messstellen und Straßen jährliche Steigerungen um 10 bis 30 Prozent.
Bei einer Fahrgastanalyse für die S-Bahn Halle-Leipzig stellte sich schon im Jahr 2015 heraus, dass jeder fünfte Fahrgast zum Bike-Transit gehört und entweder die erste oder die letzte Meile mit dem Rad fuhr (oder auch beide). Überraschenderweise waren die Fahrgäste mit Rad im Zug die absolute Minderheit (nur 5 Prozent). Insgesamt kamen in diesem Großraum aber nur 13 Prozent mit dem Rad zum Bahnhof und nur 9 Prozent fuhren mit dem Rad weiter. Zum Vergleich: In den Niederlanden kommt jeder zweite Bahnfahrer mit dem Rad zum Bahnhof und jeder Zehnte fährt am Zielort mit dem Rad weiter. Aus Befragungen des BMVI (2015) wird deutlich, dass Radfahrer durchschnittlich 5,6 Kilometer radeln, aber beim Bike-Transit nochmals 11,6 Kilometer im Zug dazukommen. Das Einzugsgebiet einer Stadt steigt damit um das Neunfache von 100 auf 930 Quadratkilometer. Auch das Zehnminuten-Einzugsgebiet um einen Bahnhof steigt um das Zehnfache, wenn Bahnreisende nicht zu Fuß, sondern mit dem Rad zum Bahnhof kommen. Vorausgesetzt ist dabei natürlich, dass sie ihre wertvollen Fahrräder oder E-Bikes dort auch sicher abstellen können und es wiederfinden, wenn sie abends mit der S-Bahn nach Hause kommen.

Der Roll-out läuft. 100.000 zusätzliche B+R-Plätze hat sich die Deutsche Bahn bis 2022 vorgenommen. Doppelstockanlagen sind ein guter Kompromiss aus Bahnsteignähe, Platzangebot und Bedarf.

In sechs Schritten zum B+R-Erfolg

Mit dem Bundesumweltministerium und dem Projektträger Jülich konnte im Rahmen der Kommunalrichtlinie ein Förderinstrumentarium aufgebaut werden, das den Kommunen in der Regel 60 bis 70 Prozent der Kosten per Antrag über den Projektträger Jülich erstattet und mit weiteren Drittförderungen von Landes- oder EU-Ebene aufgefüllt werden kann. Diese Förderung ist in den Prozess integriert, den die Bahn ihrerseits aufgebaut hat und der neben dem zentralen B+R-Team Mitarbeiter von DB Immobilien und in den rund 50 Bahnhofsmanagements umfasst.

Zum Ablauf:

  1. Die Kommunen melden für ihren Bahnhof ihr Interesse, ihr Projekt und ihren Bedarf an. Das Projektteam meldet sich dann innerhalb kurzer Zeit für ein erstes Projektscreening.
  2. In einer gemeinsamen Bahnhofsbegehung von Kommune, Bahnhofsmanagement und B+R-Team, bei kleineren Bahnhöfen und während der Lockdown-Zeiten teilweise auch als Videokonferenz, werden Bedarf und mögliche Standorte sowohl auf DB- als auch auf kommunalen Flächen identifiziert. Im Kern erhält die Kommune nach diesem Schritt ein kostenloses Grob-B+R-Konzept.
  3. Für alle gewünschten DB-Flächen werden DB-intern die Verfügbarkeiten geprüft und gegen eine Bearbeitungsgebühr von 950 Euro ein Gestattungsvertrag ausgefertigt. Die Flächen der DB werden mietfrei für mindestens fünf Jahre bei stillschweigender jährlicher Verlängerung zur Verfügung gestellt, sofern sie nicht für Schienenausbau-Vorhaben, Notfall- oder Logistikflächen erforderlich sind.
  4. Das Projektteam unterstützt die Kommunen, wenn der Förderantrag über die Kommunalrichtlinie des Bundesumweltministeriums gestellt wird; gleichzeitig muss die Kommune ihre eigenen Genehmigungen, verkehrlichen Widmungen und ggf. Beschlüsse rechtzeitig sicherstellen.
  5. Schließlich kann die Kommune ohne weitere Ausschreibung in die Rahmenverträge der Bahn auf eigene Rechnung einsteigen; diese sind EU-weit im Offenen Verfahren, dem strengsten Ausschreibungsverfahren, ausgeschrieben worden; ein weiteres Novum für den DB-Konzern, sodass den Radverkehrsbeauftragten hier viel Arbeit abgenommen wird und mindestens drei bis sechs Monate Zeit eingespart werden.
  6. Abschließend begleitet das lokale Bahnhofsmanagement die Kommune und den Lieferanten bei der Montage und Inbetriebnahme der Anlage.

2018: Start des B+R-Ausbaus bei der DB

Die Idee für den Aufbau einer Bike+Ride-Offensive hatte ich im Herbst 2017 an die Bahn herangetragen. Standen im Winter 2017/18 erste Gespräche mit dem Bundesumweltministerium auf der Agenda, gab es kurze Zeit später das Signal für einen schnellen gemeinsamen Startschuss noch im Jahr 2018. Im Sommer 2018 bekam ich den Auftrag, das Projekt für die DB Station&Service, die Bahnhofstochter des Bahn-Konzerns, mit aufzubauen. Eine erste Benchmark-Analyse im In- und Ausland half, den derzeitigen Stand an B+R-Plätzen sowie den kurz- und mittelfristigen Ausbaubedarf abzuschätzen. An rund 5.400 Haltepunkten gibt es in Deutschland zurzeit ca. 400.000 Plätze, die kurzfristig für den Bedarf auf 650.000 Plätzen ausgebaut werden müssten. Mittelfristig, mit Horizont 2030, lässt sich ein Zielbedarf von ca. zwei Millionen Plätze ableiten – verteilt auf verschiedene Ausführungen, von einfachen, kurzfristig installierbaren Anlagen bis hin zu hochwertigen, aber nicht schnell verfügbaren Fahrradparkhäusern.
Als erstes Ziel hat sich die B+R-Offensive 100.000 zusätzliche Plätze bis 2022 vorgenommen. Um diesen enorm großen Zuwachs „kurzfristig“ realisieren zu können, wurde der Fokus auf schnell wahrnehmbare Veränderungen, eine konsequente Standardisierung und hohe Prozesseffizienz gelegt. Ein Problem war die Standardisierung für den Kunden „Kommune“. Bahnintern fehlten Regelprozesse und Zuständigkeiten, was es den Kommunen und Planern nicht einfach machte. Auch die dünne Personaldecke aufseiten der Kommunen machte einfache standardisierte Prozesse erforderlich. Dementsprechend wurden schnell montierbare Anlagen in den Fokus genommen, die auch Zwischenlösungen ermöglichten und vor allem keine Tiefbauplanung benötigten: einfache Reihenbügelanlagen, Doppelstockanlagen für große Kapazitäten auf begrenzten Flächen sowie Dächer und Sammelschließanlagen. Fahrradstationen oder Fahrradparkhäuser wurden zunächst zurückgestellt, um für die einfachen Lösungstypen effektive, schnelle und kundenorientierte Serviceleistungen einzuführen. „Wir wollten unseren Partnern, den Kommunen, einen Service anbieten, mit dem sich B+R-Projekte kurzfristig und unkompliziert umsetzen lassen“, so Marco Ladenthin, verantwortlicher Projektmanager bei der DB. „Dieses Ziel haben wir erreicht und haben gleichzeitig das Image gewonnen, schnell und effektiv helfen zu können.“ Die Offensive traf auf eine riesige Nachfrage: Inzwischen wurde ein zehnköpfiges Team aufgebaut, das die Kommunen berät, sie bei der Flächensuche unterstützt, ihnen zu mietfreien Gestattungsverträgen verhilft und außerdem bei der Anlagen-Beschaffung unter die Arme greift.

Zahlen

  • 71 % der Befragten sagen gemäß Fahrrad-Monitor 2017, dass Fahrradabstellplätze das Wichtigste sind, um mehr mit dem Fahrrad zu fahren.
  • 55 % der Befragten erwarten von der Politik, für sichere Radabstellanlagen zu sorgen, und 43 % erwarten von der Politik mehr Abstellanlagen.
  • In den Niederlanden beginnt schon heute jede zweite Bahnfahrt mit dem Fahrrad. Jede zehnte Bahnfahrt wird am Zielort mit dem Fahrrad fortgesetzt.
  • 85 % aller Bike+Ride-Nutzer in den Niederlanden schließen ihr Fahrrad an Reihenbügel- oder Doppelstock-Anlagen ab, nur 15 % nehmen das Angebot des zahlungspflichtigen Einschließens wahr.

Quelle: Factsheet DB Bike+Ride-Offensive, Stand 11/2018

Zwischenfazit und Ausblick

Trotz Corona haben mit über 400 Kommunen Vor-Ort-Termine zur Flächenidentifikation stattgefunden, die für hochgerechnet 50.000 B+R-Plätze stehen. Für über 30.000 neue Stellplätze liegen bereits fertige B+R-Konzepte vor – abgestimmt zwischen DB und Kommune sowie mit einem mietfreien Gestattungsvertrag für DB-Flächen, sofern nötig. Die schnellsten 30 Kommunen haben in Summe bereits 4.000 Plätze in Zusammenarbeit mit den DB-Rahmenvertragspartnern für die B+R-Anlagen installiert. „Die Verknüpfung von Fahrrad und Bahn leistet gerade im Pendlerverkehr einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz. Um hier deutlich voranzukommen, hat das Bundesumweltministerium seine Förderung ausgebaut und deutlich verbessert“, resümiert Dr. Sven Reinhardt, Referatsleiter des Referats Nationale Klimaschutzinitiative und Kommunaler Klimaschutz. „Das Interesse der Kommunen an der Initiative ist groß. Um auch unerfahrenen Kommunen bei der Antragstellung zu helfen, können sie mit Antragspaten durch das Verfahren begleitet werden.“
Die ersten Anlagen wurden in der Pilotphase in weniger als 18 Monaten vom ersten Kontakt bis zur Einweihung realisiert, unter anderem in Freising (800 Plätze), Mainz (700), Fulda (225) und Aschaffenburg (124). Im eingespielten Ablauf soll die Realisierungszeit deutlich weniger als ein Jahr betragen. Die Bahn hat ihre Zusage gehalten, einen kundenorientierten, schnellen und effektiven Service für Standardanlagen zu realisieren. Aktuell sind die Kommunen gefordert, die Prozesse ihrerseits auf einen zügigen Ablauf auszurichten. Jede Abweichung vom einfachen Standard verzögert beispielsweise die Abläufe. Entsprechend wurden in den Niederlanden viele Anlagen ohne Dach (und damit ohne Stromversorgung, Kabellegung und die dann etwa erforderliche Sprengstoffprüfung) errichtet.
Für die Zukunft werden zunehmend auch Fahrradstationen mit Stellplatzgrößen über 500 Plätzen oder Fahrradparkhäuser mit mehr als 2.000 Plätzen erforderlich sein, um die Kapazitätsanforderungen an den großen Bahnhöfen umsetzen zu können. Das Bundesumweltministerium hat seine Förderung im Rahmen der Kommunalrichtlinie inzwischen auf Fahrradparkhäuser ausgeweitet und fördert hier bereits die ersten kommunalen Projekte. Man könnte meinen, dass der Appetit beim Essen kommt.

Infos und Leitfaden Bike+Ride

Das baden-württembergische Ministerium für Verkehr hat im November 2019 einen Leitfaden mit 42 Seiten erstellt, der motivieren und dabei unterstützen soll, das Thema Bike+Ride ambitioniert anzugehen, mit Informationen zur bedarfsgerechten Planung und dem nutzerorientierten Betrieb.

Zum Download:
vm.baden-wuerttemberg.de/de/service/publikation/did/leitfaden-bike-ride

Weitere Informationen zum Vertiefen: deutschebahn.com/bikeandrideclevere-staedte.de/projekt/BikeAndRide

Heinrich Strößenreuther

ist „serial political entrepreneur“ und laut der Tageszeitung taz Deutschlands erfolgreichster Verkehrslobbyist. 2015 hat er den Volksentscheid Fahrrad, 40 Radentscheide und das Berliner Mobilitätsgesetz und 2019 GermanZero mit seinen 20 Klimaentscheiden und einem 1,5-Grad-Klimagesetz angeschoben. Er ist Geschäftsführer der Agentur für clevere Städte, die die Rheinbahn, die BVG und die Deutsche Bahn in B+R-Projekten als Berater unterstützte.


Bilder: DB Station&Service AG / Bike+Ride / Philipp Boehme, Qimby, Tony Schröter und ADFC SH e.V.

Die französische Hauptstadt, einer der größten Ballungsräume Europas, entwickelt sich zum Vorreiter für die Neuorganisation und Transformation einer Region, mit dem definierten Ziel, mehr Lebensqualität für alle zu schaffen. Bemerkenswert ist der große Konsens bei den Bürgern und in der Politik von links bis rechts. Im Bereich Verkehr geht es mit großen Schritten Richtung Fahrrad, vor allem auch durch das willkommene Engagement versierter Aktiver mit konkreten Plänen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


Ein Kreisverkehr mit sicherem Platz und Vorrang für Radverkehr: Der Umbau des Place de Catalogne war ein wichtiger Erfolg für die Fahrradlobby.

Sébastien Marrec ist Wissenschaftler, Spezialist für Fragen der urbanen Mobilität und bekannter sozialmedialer Multiplikator, wenn es um die Radinfrastruktur in Frankreich geht. Und jetzt ist er zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort: „Auf der Welt gibt es nur selten solche Gelegenheiten, wie wir sie gerade hier in Frankreich und insbesondere in Paris erleben“, sagt der Doktorand der Universität Rennes 2, der in der Stadtverwaltung der Hauptstadt recherchiert und mitarbeitet: „Das Fahrradfahren ist der große Gewinner und es gibt eine einzigartige Chance, jetzt die Verkehrsinfrastruktur maßgeblich umzubauen.“
Paris, die Metropole an der Seine, und der Ballungsraum um die Stadt bieten derzeit spannende Erkenntnisse über den Umbau eines Verkehrssystems im laufenden Betrieb. Eine kompakte, verwinkelte, dicht besiedelte und von historischen Gebäuden dominierte Zweimillionenstadt liegt im Herzen eines der größten urbanen Siedlungsräume Europas, der Region Île-de-France mit mehr als zwölf Millionen Einwohnern. Hier drücken nicht nur sehr erfolgreich Fahrrad-Aktivisten aufs Tempo, sondern inzwischen auch Politikerinnen und Politiker von ganz links bis ziemlich weit rechts. Als die Sozialistin Anne Hidalgo 2014 neue Bürgermeisterin von Paris wurde, verkündete sie schnell ambitionierte Pläne. Von einer Linken, noch dazu in einer Koalition mit den Grünen, konnte man das erwarten. Eine Wahlperiode später aber gibt es einen großen Konsens: „Auch die Konservativen haben relativ schnell erkannt, dass man auf das Fahrrad als Verkehrsmittel bauen muss“, sagt Sébastian Compagnon, auf den urbanen Verkehr spezialisierter Redakteur bei der Tageszeitung „Le Parisien“.

„Der Radverkehr ist in der Stadt in den vergangenen zwei Jahren auf das Zweieinhalbfache gewachsen.“

Sébastien Marrec

Vélopolitain: Miteinander verbundene und vorrangigen Routen sollen es Radfahrenden aller Altersgruppen und Niveaus ermöglichen, das Radfahren zu ihrer täglichen Reiseart zu machen. Konkret geht es um 170 km durchgehende und gut identifizierte Radwege. Breit, komfortabel und sicher und als hochrangiges Netz, das in das regionale Express-Fahrradnetz (RER V) integriert ist und Paris und die umliegenden Gemeinden verbindet. Die geschätzten 250 Millionen Euro Budget entsprechen laut der Initiative „Paris en Selle“ dem Bau von 7 Kilometern Straßenbahn oder 2 Kilometern U-Bahn.

Stadtspitze geht entschlossen voran

Weniger Stau, bessere Luft, weniger Autos, mehr Lebensqualität: Diese Versprechen und Ziele verband Hidalgo zu Beginn ihrer ersten Amtszeit mit vielen anderen Stadtoberen in Europa. Doch mit symbolkräftigen Maßnahmen und wachsender Entschlossenheit hat die Sozialistin mit ihrer Koalition das Thema auch tatsächlich vorangetrieben. Einen Pflock ins Herz der vormals autogerechten Stadt rammte die neue Stadtregierung bereits 2016, als die Linkskoalition den Autoverkehr von der rechten Seine-Seite auf mehr als drei Kilometern mitten in der City verbannte. Hidalgo sprach von einer „Rückeroberung“. Seither hat sie in der internationalen Öffentlichkeit einen Ruf als Vorkämpferin. Stein van Oosteren, der den Radaktivistinnen und -aktivisten der Region unter dem Dach der Initiative „Colectif Vélo Île de France“ eine Stimme gibt, sieht Hidalgos Antritt auch als einen entscheidenden Moment für den Umbau des gesamten Verkehrs in der Region an. „Im politischen Denken hat sich seither viel verändert.“ Wobei Philipp Hertzog, deutscher Übersetzer in Paris und Aktivist beim Verein „Paris en Selle“ (Paris im Sattel) schon vorher einen wichtigen Grundstein für die Akzeptanz des Fahrrads als Fortbewegungsmittel im Alltag gesehen hat: Vélib‘, das Pariser Bike-Sharing-System, das schon 2007 startete.
Aber bis vor einem guten Jahrzehnt war das Fahrrad kein Verkehrsmittel, das die Planer in Paris ernst genommen hätten. Der Anteil des Radverkehrs am Straßenverkehr betrug 2010 entsprechend nur etwa 3Prozent im Stadtgebiet und 1,6 Prozent im Großraum Paris. So annoncierte die Stadtregierung unter Hidalgos erster Regentschaft ein ambitioniertes Ziel: Bis 2020 den Modal Share der Radfahrer im Stadtgebiet auf 15 Prozent zu bringen. Das hat sicher nicht geklappt. Aber der Anteil der Radfahrer wuchs immerhin schon auf 5 Prozent, so lassen es die Daten der Stadtverwaltung extrapolieren. Der Umbau und die Akzeptanz für das Fahrrad als Fortbewegungsmittel sind rasant vorangeschritten. Und Hidalgo, die 2020 erneut zur Bürgermeisterin gewählt wurde, lässt ihre Verwaltung gerade eine neue Radstrategie ausarbeiten und stockt das Fahrradbüro in der Straßenbau-Administration langsam, aber sicher personell auf.
Und so gilt die Seine-Metropole so manchen Medien inzwischen, trotz katastrophaler Ausgangslage, als Musterbeispiel für die „Verkehrswende“ – etwa beim „Spiegel“. Dabei ging es mit den Maßnahmen etwas schleppend los, erst drei Jahre nach Hidalgos Wahl kam einigen Gesprächspartnern zufolge Zug in die Umsetzung des Plans, der mit 150 Millionen Euro budgetiert war und eine Verdopplung der Radwege von 700 auf 1.400 Kilometer vorsah. „Richtig los mit der Umsetzung ging es erst ab 2018“, beobachtete Paris-en-Selle-Aktivist Hertzog. Aber alles braucht seine Zeit und Inspiration: In der Stadtverwaltung musste Know-how aufgebaut werden, während in der Bürgerschaft der Wunsch wuchs, das Fahrrad aufzuwerten. Ein Bürgerhaushalt 2015 war auch die Geburtsstunde von Paris-en-Selle: Junge Radfahrende schlossen sich zusammen und sorgten dafür, dass ihr Thema zum wichtigsten Vorhaben bei dieser Bürgerbeteiligung wurde. In der Folge stellte die Stadt acht Millionen Euro für die Verbesserung der Radinfrastruktur bereit. Ein Meilenstein.

Vélib‘ Métropole

Das Bikesharing-System Vélib‘ Métropole (bis 2018 Vélib) gilt mit über 13.000 Fahrrädern, davon rund ein Drittel E-Bikes, an mehr als 1.200 feststehenden Verleihstationen in Paris und Gemeinden im Umland als das weltweit größte seiner Art. Vélib‘ ist ein Kunstwort, das sich aus den Begriffen Fahrrad (vélo) und Freiheit (liberté) zusammensetzt. Anfang 2018 erhielt ein neues Konsortium die Konzession für 15 Jahre.

Radverkehr mehr als verdoppelt

Wer heute nach Paris schaut, sieht erstaunliche Entwicklungen. „Der Radverkehr ist in der Stadt in den vergangenen zwei Jahren auf das Zweieinhalbfache gewachsen“, erklärt Sébastien Marrec. Ein einschneidendes Erlebnis für die Pariser war der Generalstreik gegen die Rentenreform Ende 2019. Viele Menschen stiegen aufs Fahrrad, um nicht im Stau festzustecken. Es folgte das Corona-Jahr – und dann preschte die Stadtregierung, inzwischen politisch sekundiert von der französischen Regierung, voran. Es entstanden sogenannte Corona-Pistes, gesicherte bidirektionale Fahrradwege auf großen Hauptstraßen. Dafür nahm man dem Autoverkehr Platz weg. 50 Kilometer solcher Strecken waren bis Anfang November auf dem Pariser Stadtgebiet bereits eingerichtet, noch mal 10 Kilometer in Planung. „Was auf diesen Wegen los ist, ist verrückt, vielerorts reichen sie schon nicht mehr aus“, beschreibt Journalist Sébastian Compagnon die aktuelle Lage.
Der Umbau geschieht nicht auf Nebenwegen, sondern auf Hauptverkehrsachsen: Auf der Rue de Rivoli zwischen Place de la Concorde und Place de la Bastille, also mitten im Herzen der Stadt, gibt es eine solche Spur. Hidalgo erklärte im September, dass aus einer spontanen Maßnahme eine permanente Infrastruktur werde. „Dort geht es bereits um eine Erweiterung der Radspur“, sagt Compagnon. Woanders dringen die Aktivisten auf einen raschen Ausbau, etwa am Parc de la Villette, wo das Radaufkommen mit bis zu 10.000 Menschen am Tag so groß war, dass die Stadt die Velofahrer mit Hubbeln ausbremste – und die Fahrradbewegung im Januar rote Teppiche auslegte, um einen besseren Streifen zu erstreiten. Andernorts macht die Verwaltung den Fortschritt messbar, inzwischen stehen in Paris 70 Zählstationen. In der Rue d’Amsterdam zwischen der Place de Clichy und dem Bahnhof Saint-Lazare, entstand die erste Fahrradstraße der Stadt. Und auf der Place de Catalogne hat der Radverkehr nun im gesamten Kreisverkehr nicht nur eine gesicherte und in gelber Farbe abgesetzte Spur, sondern auch Vorfahrt. „Man erkennt jetzt, dass es einen Paradigmenwechsel gegeben hat“, erklärt der Forscher Marrec. Die Verwaltung in Paris ist immer stärker dazu übergegangen, eine separate Infrastruktur für Radfahrende einzurichten, anstatt sie auf geteilten Fahrbahnen etwa mit Bussen zu halten. „Man teilt inzwischen den Ansatz der niederländischen Denkschule“, sagt Marrec.

„Die Politik ist gegenüber den Wünschen der Aktivisten immer zugänglicher geworden.“

Stein van Oosteren, Colectif Vélo Île de France
Klare Symbolik, die alle verstehen: Die Mitglieder von Paris-en-Selle haben die geforderte Aufrüstung der Radinfrastruktur in den Alltag gebracht.

Zivilgesellschaft treibt die Transformation an

Die rasche Transformation geht entscheidend auf das Konto der Zivilgesellschaft – und das macht die Geschichte in Paris noch bemerkenswerter. Die Mitglieder von „Paris en Selle“ sind nur eine von zahlreichen Gruppen, die systematisch fürs Radfahren werben. Philipp Hertzog erklärt, der Fokus liege auf der Infrastruktur. Zudem setzten die Aktivisten seit Beginn ihrer Kampagnen auf klare Botschaften, mit denen die Bürger etwas verbinden. In Paris entstand so die Idee einer „Vélopolitain“. Das ist ein Kunstwort und verbindet „Vélo“ mit dem Namen der bei den Parisern geliebten U-Bahn, die zwar hocheffizient ist, aber außerhalb der Corona-Pandemie längst an ihre Kapazitätsgrenze stieß. Die Idee der Aktivisten war es, eine parallel dazu laufende Rad-Infrastruktur zu schaffen, die ebenfalls durch farbige und nummerierte Linien symbolisiert wird. Bürgermeisterin Hidalgo nahm diesen Plan mit in den Wahlkampf 2020 und versprach, 60 Hektar an Pkw-Stellfläche zugunsten der „Vélopolitain“ zu entfernen. Das Erstaunliche am Kommunalwahlkampf war auch, dass es für die Fahrrad-Lobby von den Spitzenkandidaten nur noch Zustimmung gab.
Die verkehrspolitischen Ansätze der Special-Interest-Vertreter sind theoretisch durchdacht und greifbar gemacht. „Sie wissen, wie sie es vermarkten“, beobachtet Sébastian Compagnon. Neben der Vélopolitain vertritt Hidalgo auch das Konzept der „Stadt der Viertelstunde“, wo Bürgerinnen und Bürger jeden Alltagsbedarf, Unterhaltung und die Arbeit zu Fuß oder per Fahrrad erreichen. Hinter diesem Ansatz steckt der Sorbonne-Professor Carlos Moreno. Moreno gilt als einer der Hintermänner in Hidalgos mutiger Infrastrukturpolitik. In der „Financial Times“ erläuterte Moreno das Konzept. So erhofft er sich verschiedene Nutzungsformen für ein und dasselbe Gebäude, weniger Autos auf den Straßen und „ein neues Verhältnis zwischen Bürgern und dem Lebensrhythmus in ihren Städten“.
Ob die Stadt der Viertelstunde eine Utopie bleibt oder ein realistisches Ziel wird in einer sich verändernden Lebenswelt, bleibt abzuwarten. Fakt aber ist, dass es heute zwischen der Kernstadt Paris und ihrem mehr als zehn Millionen Einwohner zählenden Umland erhebliche Pendel- und Alltagsbeziehungen gibt. Auch hier gilt der Radverkehr inzwischen, befeuert durch grüne Erfolge bei den Kommunalwahlen 2020, als Schlüsselelement. „Die Olympischen Spiele 2024 sind ein wichtiger Anlass, den Verkehr umzubauen“, urteilt Sébastien Marrec. Das ist jedoch alles andere als simpel, denn in der Region gibt es eine Vielzahl an Zuständigkeiten. Neben der Stadtregierung in Paris gibt es einen Polizeipräfekten und einen Präfekten von Paris, die beim Umbau von Straßen mitreden, außerdem hat die staatliche Architekturorganisation ABF einen wachenden Blick auf die Bau-Ensembles, wenn ins Stadtbild eingegriffen wird. Jenseits der Stadtgrenzen sind es die Départements und die Städte, die für Straßen und Verkehr zuständig sind, zudem thront darüber noch die Präsidentin der Region und es gibt den sehr mächtigen RATP, Betreiber des ÖPNV im Großraum Paris. In diesem Dickicht ist es keine Selbstverständlichkeit, eine durchgehende Radinfrastruktur anzulegen.

Auch die kältere Jahreszeit hat den Fahrrad-Boom nicht gestoppt, ganz im Gegenteil. Längst fordern die Radvertreter deshalb eine Erweiterung der Spuren auf den Hauptachsen.

Erfolgsmodell: Aktive Hand in Hand mit Politik und Verwaltung

Darauf aber zielt der Niederländer Stein van Oosteren, der Sprecher des Zusammenschlusses „Colectif Vélo Île de France“. Es sei schön und gut, wenn es im Stadtkern von Paris vorangeht. Aber gerade die Vorstädte bräuchten einen Schub in Sachen Radverkehr. Van Oosteren war es, der 2017 über Social Media nach Menschen suchte, die Ideen für den Ausbau der Radinfrastruktur haben könnten – Menschen wie er selbst. Dabei bemerkte er, dass die einzelnen Gruppen in der Region kaum miteinander vernetzt waren. Das galt es zu ändern, um gemeinsame Ziele zu entwickeln. Als „Kernreaktion“ bezeichnet er, was dann am Abend vor Weihnachten 2017 passierte: Betroffene aus der Region setzten sich erstmals zusammen, Vertreter von damals 21 Vereinen gründeten dann 2019 das Kollektiv und kümmern sich seither um das „wahre Problem“. Das liege, sagt van Oosteren, nicht „in den Städten, sondern zwischen den Städten.“
Auch das „Colectif Vélo Île de France“ setzt auf eingängige Ideen. Über Monate sammelten die Vertreter in der Region Ideen für ein besseres Netzwerk, konstruierten daraus einen Plan und gaben ihm einen ansprechenden Namen: RER-V. Jeder Bewohner der Region und auch die meisten Touristen denken beim Begriff RER an die beliebte Schnellbahnlinie, und wie die Metro-Radlinien im innerstädtischen Paris soll auch das RER-Vélo-Netzwerk entsprechende Verbindungen nachbilden. „Wir haben das Netzwerk kopiert und auch einen Kostenplan erstellt“, sagt Stein van Oosteren. 500 Millionen soll die Umsetzung kosten. Dass auch im Umland von Paris, politisch befördert durch Frankreichs Zentralregierung, immer mehr Corona-Radwege entstanden, machte die Angelegenheit greifbar. Vor allem aber, sagt Van Oosteren, sei immer deutlicher geworden, dass die Politik den Wünschen der Aktivisten zugänglich sei. Der Niederländer arbeitet für die Vertretung seines Landes bei der Unesco in Paris, er kennt sich aus in Diplomatie, und so arbeitet er hinter den Kulissen geschickt daran, die Ambitionen in der Abstimmung der Behörden untereinander umzusetzen. Auch hier erlebt er, dass die Aktivistinnen und Aktivisten mit ihren gut vorbereiteten Plänen auf offene Ohren stoßen.

„Auch die Konservativen haben relativ schnell erkannt, dass man auf das Fahrrad als Verkehrsmittel bauen muss.“

Sébastian Compagnon, Le Parisien

Paris und Umland wachsen zusammen

Das Fahrrad als Transportmittel – es vereint die Politiker. Während die Linke in Paris ihre Pläne für die nächste Legislaturperiode neu schreibt, steigt auch die konservative Chefin der Region, Valérie Pécresse, in den Wettbewerb pro Fahrrad ein. Schon 2019 startete sie ihr eigenes Mietradprogramm, fokussiert auf mehrmonatige Miete von E-Bikes. Und nun stellte sie sich hinter den RER-V, ein gewaltiger Erfolg für van Oosteren und seine Mitstreiter. 300 Millionen Euro versprach die konservative Politikerin und nahm damit auch die Städte und Départements in die Pflicht. „Solch einen Umbau auf Antrieb von unten hat es seit Beginn der Republik nicht gegeben“, jubelt der Niederländer. Vielerorts häufe die Verwaltung jetzt Wissen an zum fahrradgerechten Umbau der Straßen, in Montreuil lud man niederländische Experten ein und eröffnete in diesem Jahr bereits das erste Teilstück der RER-V-Linie A. Es wächst also etwas zusammen. Im Übrigen auch zwischen Paris und dem Umland. Sébastian Compagnon weist auf ein besonderes Teilstück hin: Zwischen der Hauptstadt und der futuristischen Wirtschaftsvorstadt La Défense konnten sich die Vertreter der Behörden einigen. Auch hier, auf der Pont de Neuilly, nahm die Verkehrsdirektion den Pkw-Fahrern eine Spur weg – und ermöglichte es so 5.700 Radlern pro Tag, die Strecke direkt und in Sicherheit zurückzulegen.


Bilder: PCA-Stream, Stein van Oosteren, Paris-en-Selle, Sébastien Marrec, stock.adobe.com – olrat, Paris-en-Selle – Pierre Morel, Léo Wiel